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Voll düsterer Magie, zauberhafter Bücher und schlagfertiger Buchhändler: Die Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers »Die magischen Buchhändler von London«.
Noch nie war es so wichtig, dass die Gemeinschaft der Buchhändler zusammenhält! Denn Merlin, der vielleicht beste magische Buchhändler (von der kämpfenden Sorte), ist verschwunden. Schuld daran ist die magische Karte eines geheimen Gartens, die ihn gemeinsam mit seiner Schwester Vivien und seiner Freundin Susan an einen von unserer Welt getrennten Ort entführt, an dem tödliche Magie und lebende Statuen wachen. So geraten die Buchhändler auf die Spur der mörderischen Lady of Stone, einer Serienmörderin mit unglaublichen Fähigkeiten. Wenn Merlin und seine Gefährtinnen sie nicht aufhalten können, wird sie wieder töten – und dieses Mal wird ihr Opfer kein gewöhnlicher Sterblicher sein.
Verpassen Sie keinen Band der begeisternden Serie »Die linkshändigen Buchhändler von London«!
1. Die magischen Buchhändler von London
2. Die magischen Buchhändler von London – Die geheime Karte
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Seitenzahl: 426
Merlin, der vielleicht beste magische Buchhändler (von der kämpfenden Sorte), ist verschwunden. Schuld daran ist die magische Karte eines geheimnisvollen Anwesens, die ihn gemeinsam mit seiner Schwester Vivien und seiner Freundin Susan in eine verborgene Dimension entführt, in der tödliche Magie und lebende Statuen wachen. So geraten die Buchhändler auf die Spur der mörderischen Steinernen Lady, einer Serienmörderin mit unglaublichen Fähigkeiten. Wenn Merlin und seine Gefährtinnen sie nicht aufhalten können, wird sie wieder töten, und dieses Mal wird ihr Opfer kein gewöhnlicher Sterblicher sein – sondern Susan!
Garth Nix wurde in Melbourne, Australien, geboren, doch als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit ihm und seinem Bruder nach Canberra. Er studierte an der University of Canberra und machte dort 1986 seinen Abschluss. Danach arbeitete er unter anderem als Buchhändler und Verleger. Seine Bücher wurden weltweit mehr als 5 Millionen Mal verkauft und in 42 Sprachen übersetzt. Garth Nix lebt heute mit seiner Frau Anna und seinen beiden Söhnen in einem Vorort von Sydney.
Die linkshändigen Buchhändler von London bei Penhaligon:
1. Die magischen Buchhändler von London
2. Die magischen Buchhändler von London – Die geheime Karte
Garth Nix
Die magische Karte
Roman
Deutsch von Ruggero Leò
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The sinister booksellers of Bath« bei Allen & Unwin, Sydney.
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Copyright der Originalausgabe © 2023 by Garth Nix
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon
Umschlagmotive: Shutterstock.com (steve estvanik; intueri; GB_Art; Nadezhda Shuparskaia)
HK · Herstellung: mar
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30538-3V001
www.penhaligon-verlag.de
Für Anna, Thomas, Edward, meine Familie und all meine Freunde.
Und für Katherine Tegen, die nach ihrer Pensionierung bei HarperCollins eine besondere Widmung verdient. Dieses Werk und viele andere wären ohne Katherines jahrelange Unterstützung und Ermutigung nicht entstanden.
Außerdem möchte ich fünf Autoren danken, die mich in meiner Jugend prägten und dazu beitrugen, dass ich Schriftsteller wurde: Joan Aiken, Alan Garner, Susan Cooper, Diana Wynne Jones und John Masefield.
Die Lexikoneinträge zu Beginn jedes Kapitels stammen aus dem Brewer’s Dictionary of Phrase and Fable, erschienen 1907 bei Cassell and Company.
Wie schon Die magischen Buchhändler von London spielt auch diese Geschichte in einer leicht abgewandelten Version Englands im Jahr 1983. Sie unterscheidet sich also ein wenig von der Version, die Zeitgenossen in Erinnerung haben oder Geschichtsinteressierte nachprüfen können. Ferner wird ein Besucher der geschilderten Schauplätze womöglich feststellen, dass sie anders aussehen als im Roman beschrieben. Was also ist real?
Bath, Wintersonnenwende 1977
Der junge Mann rannte panisch durch die Dunkelheit und näherte sich instinktiv der Abtei. Vor einer Minute waren die Straßenlaternen erloschen, und er war angegriffen worden. Etwas unglaublich Starkes hatte ihn gepackt und hochgehoben – er hatte gerade auf dem Boden des Musikpavillons gelegen und darüber sinniert, wie betrunken er war und wo er noch einen Drink herbekommen sollte, denn die Mittwochnacht schlug bereits in den Donnerstagmorgen um, und alle Lokale waren entweder geschlossen oder ließen ihn nicht mehr ein.
Er war dem Angreifer nur entronnen, weil er seinen Mantel eher wie einen Umhang trug und die Arme nicht in den Ärmeln gesteckt hatten. Was auch immer ihn gepackt hatte, es war kurz verwirrt gewesen, als er den billigen Oxfam-Wollmantel abgeworfen hatte wie eine Eidechse ihren Schwanz, der im Maul eines Raubtiers steckte.
Er verließ den Park über die Treppe, sprang über das verschlossene Gatter, ohne an Tempo zu verlieren, und rannte der Abtei entgegen, gänzlich davon überzeugt, dass sein Angreifer nicht menschlich war. Obwohl er sich nie für religiös gehalten hatte und seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr mit seiner Mutter in die Kirche gegangen war, lebte sein Glaube nun schlagartig wieder auf. Allein die Abtei schien ihm Schutz bieten zu können vor dem, was ihn so schnell verfolgte. So flink und in ungewöhnlicher Gangart: Von seinem Verfolger war lediglich ein durchdringendes Schaben zu hören. Es erinnerte nur allzu sehr an ein Fleischermesser, das mit einem Wetzstahl geschärft wurde.
Vor ihm in der Dunkelheit zeichnete das fahle Licht des Sichelmonds silbrige Linien auf die Umrisse der Abtei. Die Pflastersteine waren mit Raureif bedeckt, und als er um die Ecke des mittelalterlichen Bauwerks bog und der Südseite folgte, wäre er fast gestürzt. Er kam sich erstaunlich nüchtern vor und hatte unfassbare Angst.
»Hilfe!«, schrie er in die Dunkelheit. »Hilfe! So hilf mir doch jemand!«
Wie typisch, dass keiner in der Nähe war, der ihm hätte helfen können.
Vor einer Stunde hatten zwei Bullen ihren Streifenwagen angehalten und ihn von der Pierrepont Street aus gemustert, doch sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, aus dem warmen Wagen zu steigen und sich dem kalten Nieselregen auszusetzen. Sie hatten ihn beäugt, weil er ein Punk mit orangefarbenem Irokesenschnitt und einer Sicherheitsnadel im Nasenflügel war, einen einst ordentlichen schwarzen Mantel trug, bemalt mit weißer Farbe, die im Regen verlief und seines Wissens anarchistische Symbole zeigte, die in Wahrheit jedoch etwas völlig anderes bedeuteten. Aber ein einzelner betrunkener Punk im Musikpavillon in Parade Gardens war für niemanden ein Ärgernis. Er war froh gewesen, dass sie ihn in Ruhe gelassen hatten. Unter normalen Umständen würde er nie die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenken, aber wo war sie jetzt?
Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie ihm ohnehin keine Hilfe wäre. Trotzdem rief er erneut, während er an der Fassade der Abtei entlanglief. Vage erinnerte er sich daran, dass der Haupteingang gleich auf der anderen Seite lag. Die Tür war vermutlich verschlossen, aber falls er es hinschaffte, bot ihm die Kirche sicher Schutz, vielleicht sogar schon die Eingangstreppe. Doch das Ding, das ihn verfolgte, war bereits viel zu nah. Das schreckliche Schaben wurde immer lauter.
Eine kalte Hand ergriff ihn und riss ihn zurück. Eine Hand, eisiger als die Winterluft. Diesmal packte sie ihn am Hals, nicht an einem Kleidungsstück, das er hätte abstreifen können. In der Absicht, sich zu befreien, streckte er den Arm nach hinten aus, um den Griff des Wesens zu lösen, und schüttelte sich mit aller Kraft. Doch das reichte bei Weitem nicht. Weder kam er frei, noch bekam er Luft. Mit der Ferse trat er nach den Beinen des Dings, tat sich dabei jedoch nur weh. Es war, als hätte er statt der Kreatur gegen die Steinmauer der Abtei getreten, doch er wusste es besser.
Der Griff um seine Kehle lockerte sich ein wenig, und er schnappte nach Luft. Der Angreifer zerrte ihn fort von der Abtei, hob ihn hoch, als wöge er kaum mehr als ein Stück Holz, und trug ihn über den Kirchhof. Jeder Schritt war begleitet von dem schrecklichen Schaben. Schr, schr, schr, schr.
Sie traten aus dem Schatten der Abtei ins Mondlicht. Der Punk wandte den Kopf, sodass er seinen Peiniger sehen konnte, und wünschte sich, er hätte es nicht getan. Das Ding, das ihn mit unnachgiebigem Griff am Hals gepackt hielt, sah aus wie eine Frau. Sie war zwei Meter groß, hatte glatte graue Haut, die seltsam gesprenkelt war, als hätten sich Tausende versteinerter Muscheln zu dunklem Marmor verbunden. Lebendiger Stein, sofern so etwas überhaupt möglich war. Ihre farblosen Augen blickten grimmig, ihr Mund zuckte verärgert. Ihr schlichtes kariertes Kleid mit hoher Taille und Puffärmeln schien wie der Rest aus unfassbar flexiblem Gestein zu bestehen.
Sie hatte keine Füße. Ihre Beine endeten auf Höhe der Knöchel in rauen Stümpfen – der Grund für das schreckliche Schaben bei jedem Schritt auf dem Pflaster.
Die graue Steinfrau blieb im Licht des Mondes stehen und schüttelte das Papier, das sie in der rechten Hand hielt, um es zu entfalten. Es handelte sich um ein altes, vergilbtes Pergament, das Einzige an ihr, was nicht aus Stein bestand. Offenbar war es eine Art Karte.
Einen Moment lang hoffte der Punk, sie würde ihn loslassen, um die Karte ordentlich aufzufalten, doch das tat sie nicht. Sie schüttelte die Karte ein-, zweimal und hielt sie ins Mondlicht, woraufhin das Papier von innen heraus zu leuchten begann.
Der Punk nahm einen metallischen, schwefelartigen Geruch wahr. Für einen Moment war ihm, als käme er von der leuchtenden Karte. Dann hörte er Wasser plätschern und sah Dampfschwaden aus den engen Ritzen zwischen den Pflastersteinen aufsteigen. Die Steinfrau öffnete den Mund und stieß ein Knurren aus – der erste auch nur annähernd menschliche Laut, den sie von sich gab.
»Du betrittst meinen Grund und Boden«, sagte eine andere Frau, die der Punk nicht sehen konnte. Viel Dampf erfüllte die Luft, und es roch stark nach Eisen. Heißes orangerotes Wasser stieg zwischen den Pflastersteinen empor, eine plötzliche Flut, die die rauen Stümpfe der Marmorfrau umwallte.
Alles war in Dampf gehüllt, und der Punk verzog blinzelnd das Gesicht in dem Versuch, etwas zu erkennen. Doch ihm bot sich nur ein noch seltsamerer Anblick: eine Gestalt mit einem Gesicht aus gehämmertem Gold und einem undefinierten Körper aus Dampf und rostrotem Wasser. Das goldene Antlitz kam ihm merkwürdig vertraut vor. Er hatte es schon einmal irgendwo gesehen.
»Ich habe meine Beute und werde jetzt gehen«, sagte die Steinfrau. Ihre Stimme klang seltsam hallend und fern, als dränge sie aus einem Loch in der Erde.
»Ich habe dir nicht erlaubt, hier zu jagen. Du wurdest verwarnt und bestraft, als du zuletzt meinen Grund und Boden betreten hast«, sagte das goldene Gesicht. Das Haar der Gestalt war zu einer Art Krone geflochten, und anders als bei der Marmorfrau blieb der Mund reglos, wenn sie sprach, als trüge das wässrige Wesen lediglich eine goldene Maske. »Außerdem gehört er mir.«
Die Marmorfrau antwortete nicht.
»Ernsthaft?«, fragte der Punk.
»Travis Zelley«, sagte die dampfumhüllte Erscheinung. »Deine Mutter gab dir einen Sixpence, den du in mein Wasser warfst, als du mich an deinem siebten Geburtstag angebetet hast.«
»Äh, hab ich das?«, krächzte Travis. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er nur einmal Geld in Wasser geworfen, und zwar bei einem Ausflug zur römischen Therme ganz in der Nähe. Ihm fiel wieder ein, dass seine Mutter ihm tatsächlich einen Sixpence gegeben hatte. Er wollte ihn für Lollis ausgeben, doch sie hatte ihn gezwungen, die Münze in einen Brunnen der Therme zu werfen. Einen echten silbernen Sixpence, ein paar Jahre vor der Umstellung auf die Dezimalwährung mit den langweiligen Fünf-Pence-Münzen. Danach hatten sie ihren Nachmittagstee im Restaurant getrunken. Er hatte die Münze nicht ins Wasser geworfen, um jemanden anzubeten. Doch ihm fiel wieder ein, woher er das goldene Gesicht kannte. Es war eine Maske, ausgestellt im Museumsteil der römischen Therme.
Unvermittelt schwang die steinerne Frau den Arm und schleuderte Travis zur Karte, als wäre die ein Fenster. Sie ließ ihn los, und kurz freute er sich, dass er doch noch entkommen konnte – bis er feststellte, dass er nicht auf das Kopfsteinpflaster, sondern auf Gras fiel, an einem völlig anderen Ort. Plötzlich war es so hell, dass er kurz die Augen schließen musste. Als er sie blinzelnd wieder öffnete, erkannte er, dass er sich irgendwo im Freien befand, jedoch umgeben von hohen Mauern. Es war heiß, unerträglich heiß nach der kalten Winternacht, in der er noch einen Moment zuvor gewesen war.
Er wollte aufstehen, doch unversehens tauchte die Steinfrau vor ihm auf und zwang ihn wieder zu Boden. Sie zischte vor Wut. Die Karte, die sie nach wie vor in der rechten Hand hielt, spannte sich in der Luft, als hielte eine unsichtbare Person das andere Ende fest, und schließlich riss sie entlang des Falzes. Ein Viertel der Karte verschwand, und rostrotes Wasser spritzte auf den Arm der Steinfrau.
Sie drehte sich zu ihm um und krümmte die Finger der Hand zu einer furchterregenden Klaue. Als sie ihn aufhob, durchdrangen ihre steinernen Fingernägel seine Haut bis auf die Knochen. Die Frau schüttelte ihn wie ein Terrier eine Ratte.
»Du hast mich mehr gekostet, als ich zu zahlen bereit war«, erklang ihre unheimlich hallende Stimme. »Das Ritual verlangt nicht, dass du vor deinem Tod Schmerzen erleidest, aber du wirst leiden.«
Travis begann zu schreien, doch da war niemand, der ihn hätte hören können.
Das heiße Wasser auf dem Kirchhof der Abtei versickerte so schnell, wie es aufgestiegen war, dann war alles fort: der Dampf, die seltsame Gestalt, das goldene Gesicht. Flackernd erwachten die Straßenlaternen wieder zum Leben. Eine kalte Brise kam auf und wehte den Unrat durch die Straßen und Gassen, darunter auch ein schweres Blatt antiken Papiers: den abgerissenen Kartenteil der steinernen Frau. Der Fetzen tanzte und glitt am Brunnenhaus vorbei, wurde nach Westen in Richtung Stall Street geweht, wo er am anderen Ende der Kolonnade auf eine Säule traf. Dort blieb das nasse Pergament kleben, bis eine Straßenfegerin es am frühen Morgen entdeckte. Sie löste den Fetzen ab, erkannte, wie ungewöhnlich er war, und nahm ihn mit nach Hause. Es verblüffte die Frau, wie schnell das Pergament trocknete, ohne jegliche Flecken des rostroten Wassers. Und es freute sie sehr, dass ihr Schwager es am folgenden Mittwoch an seinem Flohmarktstand in der Guinea Lane für zehn Pfund verkaufte, an seinen Stammkunden, den bibliophilen Sir Richard Wedynk.
Bath, Samstag, 10. Dezember 1983
Bienen. Bei den Römern galt ein Bienenschwarm als schlechtes Omen.
Der Kleine Buchladen in Bath war in Wirklichkeit gar nicht klein. Die beengt wirkende Ladenfläche nahm das halbe Erdgeschoss des dreistöckigen georgianischen Reihenhauses ein. Die andere Hälfte belegte ein nicht minder vollgestelltes Geschäft, dessen Besitzerin dubiose Pfeifentabakmischungen aus eigener Herstellung verkaufte sowie Zigaretten aus Ländern »östlich von Istanbul«. In Wahrheit war der Kleine Buchladen ein Außenposten des St.-Jacques-Clans, daher verbarg sich dahinter mehr, als das Auge sah, sowohl im Geschäft selbst als auch darunter. Sogar der Tabakladen war nur Fassade, geführt von einer rechtshändigen Buchhändlerin, die mit ihrem fürchterlichen Sortiment die Kundschaft abschrecken wollte, um Zeit für ihr Studium der Werke Izaak Waltons und obskure Fischzauber zu finden.
Die übrigen fünfzehn Beschäftigten gehörten zum festen Bestand der Kleinen Buchhandlung, darunter ein Dutzend Linkshänder: Agenten, Vollstrecker und gelegentlich auch Henker. Sie waren vor allem vor Ort, um die Interaktion der Menschen mit dem Wesen zu überwachen, das die Römer Sulis Minerva nannten. Sie verbarg sich in der beliebten römischen Therme, und brachte man ihr Opfergaben mit der richtigen Inschrift dar, spendete sie machtvolle Segen, vor allem Leuten, die Rache üben wollten. Jedes Jahr besuchten Zehntausende Menschen die Bäder, daher war es harte Arbeit für die Buchhändler, in der Warteschlange am Eingang Ausschau zu halten. Sie suchten nach Todeskultisten und dergleichen, die Sulis Minerva darum bitten wollten, für jemanden einen tödlichen Unfall oder eine erstaunlich schnell verlaufende Krankheit herbeizuführen. Außerhalb der Öffnungszeiten wurde die Therme nicht ständig überwacht, sondern in den Abend- und Nachtstunden von Patrouillen kontrolliert.
Der Buchladen diente häufig vorübergehend als Lager für größere Mengen gebrauchter Bücher aus dem Westen. Meist stammten sie »aus einer Versteigerung der Bibliothek einer noblen Lady« oder »aus dem Besitz eines Gentlemans, der vornehmlich Bücher besaß«. Die Werke wurden sortiert, katalogisiert und verschickt: an den Neuen Buchladen in London, den Mews Bookshop in York oder, wenn sie zu okkult zum Verkauf waren, an die Crawley-Tunnel-Bibliothek in Edinburgh, die Salzmine in Cheshire oder an andere geheime Einrichtungen der St. Jacques.
Traf eine Lieferung aus einem solchen Kauf ein, wurden weitere Rechtshänder in die Kleine Buchhandlung abkommandiert, die dann vor der Katalogisierung alles sichteten. Sie waren zwar keine Kämpfer wie die Linkshänder, aber versiert in den Künsten des Arkanen, darunter auch in einer, die oft irrtümlich für rein weltlich gehalten wurde: Sie hatten umfangreiches Wissen über Drucktechniken, Papier, Buchbinderei und die Geschichte des Buchhandels. Ein Buch mit arkanen Themen konnte auf verschiedene Weise den Methoden zur Magieerkennung entgehen, etwa durch einen Einband mit Runenknochen, die unter Steifleinen verborgen waren. Oder man platzierte es an siebzehn Neumonden in einer Silberschale auf einem der drei magischen Hügel Englands, um ein Feld der lunaren Irreführung zu erzeugen (eine Prozedur, die oft der Regen zunichtemachte). Diese Methoden wirkten gut gegen allgemeine Entdeckungszauber, nützten aber nichts, wenn ein Rechtshänder ein markantes Detail bei Einband, Schrift, Titel, Inhalt oder Herkunft fand und genauer hinsah.
Vivien St. Jacques, eine rechtshändige Buchhändlerin, hatte eine solche Diskrepanz an einem Buch von Thomas Moule gefunden, das Karten der englischen Grafschaften enthielt. Die Goldprägung auf dem Buchrücken bezeichnete das Werk als »Eine Kartensammlung«, und auf der gravierten Titelseite hieß es weiter: »Eine Sammlung von Landkarten von Thomas Moule, gebunden für Sir Richard Wedynk von Amos Carlyle aus Salisbury, im Jahre 1954.« Alles schön und gut, denn Moules Landkarten der englischen Grafschaften waren hübsch gestaltete Sammlerstücke, und Carlyle war ein bekannter Buchbinder von ausgezeichnetem Ruf. Vivien hatte jedoch eine leichte Beule im Inneren des Schubers entdeckt und darüber hinaus einige wenig fachmännische Näh- und Klebearbeiten am Ledereinband, die nicht Carlyles Standard entsprachen. Das deutete darauf hin, dass der Einband nachträglich geöffnet worden war, um etwas darin zu verbergen.
Sie stellte den Wälzer auf dem Arbeitstisch ab und musterte ihn erneut. Der Daumen ihrer rechten Hand, die in ihrem weißen Baumwollhandschuh steckte, kribbelte leicht – vielleicht wegen des Buches, vielleicht auch nicht. Es könnte eine allgemeine Warnung sein, die Vorahnung von etwas Schlimmem.
»Hmmm«, brummte sie.
»Hast du was Interessantes?«, fragte Ruby vom Nachbartisch. Sie war ebenfalls eine Rechtshänderin, eine der wenigen, die ständig im Kleinen Buchladen arbeiteten. Nach dem kürzlichen Kauf der Bibliothek des verstorbenen Sir Richard Wedynk hatte sie um Verstärkung gebeten, und Vivien war ihrem Ruf gefolgt und aus London angereist. Ruby war Anfang dreißig, zehn Jahre älter als Vivien, und hatte das Sagen. Die rechtshändigen Buchhändler arbeiteten meist in einer Art anarchistischem Kollektiv, das sich von gemeinsamen Interessen und Pflichten leiten ließ. Sie legten ihre Aufgaben selbst fest, um die größeren Ziele zu erreichen. Allerdings nahmen sie auch Anweisungen der Ältesten entgegen, und das Wort von Großtante Evangeline war das ultimative Gesetz.
»In dem Einband ist definitiv etwas versteckt«, sagte Vivien. Sie schob ihren Stuhl zurück, erhob sich, ging zwischen den Reihen aus Teekisten hindurch, die voller Bücher waren, und trat an den Utensilienschrank neben der Tür zur Treppe. Jeder Arbeitsraum der rechtshändigen Buchhändler hatte einen solchen Schrank. Manche sogar mehr als einen. Sie unterschieden sich im Stil, enthielten aber alle das Gleiche. Dieser Schrank war ein Haushälterinnenschrank aus dem achtzehnten Jahrhundert mit drei Fächern über zwei Schubladenreihen. Vivien berührte mit dem behandschuhten Zeigefinger die dritte Schublade von rechts, die sogleich aufsprang. Sie schaute hinein und runzelte die Stirn.
»Jemand hat die Wünschelrute nicht zurückgelegt.«
»Oh, ich hab sie.« Ruby hielt einen Y-förmigen Haselnusszweig hoch, doch nur der Zweig und ihre Hand ragten über die Reihe aus Teekisten hinaus. »Tut mir leid.«
Vivien folgte dem schmalen Gang zwischen den Kisten und konnte es gerade noch vermeiden, sich die neue weiße Laura-Ashley-Bluse an einem verbogenen Stück Blechbeschlag zu zerreißen, mit dem die Ecke einer Sperrholzkiste versehen war. Die meisten jungen Rechtshänder hätten die Bücher lieber in Pappkartons gelagert, die älteren bestanden jedoch noch immer darauf, den beträchtlichen Vorrat an Teekisten zu nutzen, die ständig zwischen den St.-Jacques-Standorten hin- und hertransportiert wurden wie Treibgut von der Flut.
»Danke.« Vivien nahm die Wünschelrute, hielt sie in bewährter Manier und kehrte zu ihrem Tisch zurück. Als sie die Rute über das Buch führte, ging ein Ruck durch das Holz, und ihre Hand wurde von der kleinen Ausbuchtung im Einband angezogen wie von einem Magneten. Sie musste beträchtliche Kraft aufwenden, um sie festzuhalten, hielt sogar kurz den Atem an und führte die Rute mit ein wenig Magie zur Seite. Als sie sie losließ, wurde die Rute wieder zu einem normalen Haselnussast.
»Darin ist etwas Mächtiges verborgen«, sagte Vivien. »Kannst du mir helfen, Ruby?«
»Natürlich!« Eifrig schob Ruby ihren Stuhl zurück, stand auf und gesellte sich zu Vivien. »In der ganzen Kiste sind nur Ausgaben von Alice im Spiegelland. Und zwar nur uninteressante. Keine Erstausgaben, nicht mal ein früher Druck, nichts, was vor 1896 erschien.«
»Schade«, sagte Vivien. »Ich hol die Ausrüstung.« Sie kehrte zum Utensilienschrank zurück und nahm ein versilbertes Rasiermesser und zwei ebenfalls versilberte Zangen heraus, die womöglich einst als Salatbesteck gedient hatten, sowie eine alte silberne Hutnadel. Hastig kehrte sie um, blieb mit der Bluse an der Ecke der Teekiste hängen und fügte ihr so einen Riss zu, was sie jedoch ignorierte, denn ihre Gedanken kreisten allein um das geheimnisvolle Objekt im Bucheinband. »Die Fixierung auf Alice deutet darauf hin, dass Sir Richard ein Interesse an Esoterik hatte. War er auf dem Gebiet ein bekannter Fachmann oder so was?«
»Wahrscheinlich ein Grenzgänger.« Ruby stand dicht über den Kartenwälzer gebeugt und musterte ihn durch eine Juwelierlupe. »Ein guter Kunde der Buchhandlung, aber nicht aktiv, soweit wir wissen. Er wurde 1965 und 1978 überprüft, und dabei wurde ihm keine Verbindung zur Alten Welt nachgewiesen. Ich glaube nicht, dass er clever genug gewesen wäre, das zu verheimlichen. Er hat sicher einen Verdacht gehegt, ist ihm aber nie nachgegangen.«
»Keine Verbindung zu Sulis Minerva?« Vivien kehrte an den Arbeitstisch zurück.
Ruby hob eine Teekiste von dem Stapel, der das Fenster teilweise verdeckte, sodass mehr des schwachen Wintersonnenlichts einfiel. An der Decke hing zwar ein Kronleuchter mit sechs Glühbirnen, der für reichlich Licht sorgte, doch sie wussten beide, dass Sonnenlicht besser geeignet war, wenn man Verborgenes aufspüren oder sich vor finsteren Dingen schützen wollte.
»Man hat ihn nie in der Therme gesehen«, sagte Ruby. »Als echter Diener hätte er sich nicht fernhalten können. Obwohl es auch noch andere Zugänge zu ihrer Macht gibt, bezweifle ich sehr, dass er sie genutzt hat. Er war, was er zu sein schien: ein widerlich reicher, liebenswürdiger alter Spießer, der nie im Leben gearbeitet und nur Bücher gesammelt hat.«
»Also liegt hier eine Anomalie vor«, sagte Vivien. »Dann wollen wir doch mal sehen …« Vorsichtig schnitt sie mit dem Rasiermesser ins obere Ende des Einbands und hob das Leder mit den Zangen an. »Sieht so aus, als hätte hier jemand eine gefaltete Seite reingeschoben. Altes Papier. Älter als das Buch.«
Unvermittelt begann Viviens rechter Daumen zu zucken. Draußen riss die winterliche Wolkendecke ein wenig auf, ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster und brachte die zuvor unsichtbaren Staubpartikel zum Schimmern. Kurz darauf schlossen sich die Wolken wieder, und der Sonnenschein verschwand, als hätte man ihn irgendwie abgeschaltet.
»Ein mächtiges Artefakt«, fügte Vivien hinzu. »Durchsetzt mit Zauberei. Ich glaube, mit der Magie einer Wesenheit, nicht der eines Menschen. Wir sollten besser einen Linkshänder hinzuziehen.«
»Ich rufe unten an«, sagte Ruby. »Ich weiß nicht genau, wer momentan verfügbar ist. Ibrahim und Polly eskortieren die nächste Lieferung aus Sir Richards Bibliothek, und eine komplette Schicht überwacht die Thermen.«
Sie eilte zur Gegensprechanlage neben der Tür und drückte den orangefarbenen Knopf. Es piepte kurz, dann meldete sich eine gereizte Frauenstimme.
»Ja? Was ist?«
»Delphine, Ruby hier. Ich bin im Sortierraum. Kannst du einen oder zwei Linkshänder hochschicken? Vivien hat was Verzaubertes in einem Buch gefunden.«
»Ich schau mal, wer verfügbar ist.«
In der Wand zwischen dem Tabakladen und der Buchhandlung gab es eine Luke. Vivien und Ruby hörten, wie Delphine zu ihr schritt, sie aufschob, etwas rief und eine undeutliche Antwort erhielt.
»Einer von euch Faulenzern wird oben im Sortierraum gebraucht. Ja, du kriegst das hin. Was? Ist mir egal, dass du keinen Dienst hast. Hoch mit dir.« Wieder waren Schritte zu hören, dann erklang Delphines Stimme, die vom vielen Rauchen ganz rau war. »Erledigt.«
Es klickte, und die Gegensprechanlage verstummte.
Ruby kam zurück an den Arbeitstisch. »Hast du schon eine Idee?«
Sie starrten beide auf das Buch, das auf der Vorderseite lag. Der Schlitz im hinteren Einband war ihnen zugewandt.
»Noch nicht«, antwortete Vivien. Sie nahm die lange Zange und ließ die Enden ein paarmal zusammenklacken.
Ruby hielt die rechte Hand fünf Zentimeter übers Buch, die Handfläche nach unten gerichtet. Sie atmete tief ein und wieder aus. »Du hast recht, was die Magie angeht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man sie wirklich einer Wesenheit zuordnen kann. Ich würde sagen, sie ist das Ergebnis einer Kooperation. Ein sterblicher Magier hat die Karte gezeichnet und den Fokus geliefert, und ein Altes Wesen hat die Macht beigesteuert. Keines, das ich kenne. Etwas Altes, Kaltes und Hartes.«
Vivien nickte. Sie neigte den Kopf und lauschte den Schritten auf der Treppe. Jemand eilte die Stufen hoch, nahm drei, vier oder sogar fünf auf einmal, in schweren Schuhen oder Stiefeln.
»Da kommt unser linkshändiger Helfer«, sagte Ruby trocken.
»Hmmm«, brummte Vivien. Die Schritte kamen ihr irgendwie vertraut vor: diese völlig unnötige Eile und Freude bei dem Versuch, so viele Stufen wie möglich auf einmal zu bewältigen. Zwar hatte sie nicht mit diesem speziellen Buchhändler gerechnet, doch überraschte es sie auch nicht, als die Tür aufflog und den Blick auf eine außergewöhnlich stilvolle junge Frau freigab, wobei ihr Stil eher der Zeit um 1816 zuzuordnen war.
Die atemberaubende Erscheinung trug eine Fuchspelzstola über einem hochtaillierten Morgenkleid aus blassblauem italienischem Taft, das an Hals und Handgelenken mit Goldbändern verziert war. Die linke Hand steckte in einem weißen Ziegenlederhandschuh, und über einer Haube trug sie einen Strohhut, der ebenfalls mit goldenen Bändern besetzt war. Ihre überraschend große Reisetasche und die schwarzen Doc-Martens-Stiefel, die unter dem fast bodenlangen Kleid hervorlugten, konterkarierten leicht die historische Genauigkeit der Kombination.
Dank ihrer »formwandlerischen Natur« konnten die Buchhändler von Zeit zu Zeit ihr Geschlecht wechseln, doch im Moment trat dieser Regency-Neuankömmling, bei dem es sich um Viviens jüngeren Bruder Merlin handelte, als Mann auf. Er hatte einfach ein Faible für alle Arten von Kleidern und ließ sich bei der Auswahl von seiner Fantasie leiten. Viviens offensichtliche Ähnlichkeit mit ihm verriet ihre Verwandtschaft, doch fehlte ihr das gewisse Etwas, mit dem Merlin meist (fast) alle Blicke auf sich zog, und das war ihr auch recht so.
»Hier in Bath«, sagte Merlin, der Rubys verwunderte Blicke ob seiner Kleidung bemerkte, »kann man leicht Geld verdienen. Auf dem Weg von der Manvers Street hierher hab ich vier Pfund fünfzig von amerikanischen Touristen eingenommen, weil ich mit ihnen für Fotos posiert habe. Hätte ich eine Polaroidkamera dabei, könnte ich in ein paar Tagen in Ruhestand gehen. Ich würde wohl im Durchschnitt mindestens zwei Pfund pro Bild bekommen. Erstaunlich, dass um diese Jahreszeit noch so viele hier sind. Touristen, meine ich.«
»Sie kommen in der Hoffnung auf eine weiße Weihnacht«, erklärte Ruby. »Vielleicht erfüllt sie sich dieses Jahr.«
»Bist du Jane oder eine der Nebenfiguren?«, fragte Vivien. »Und woher hast du das Kleid?«
»Ich bin natürlich Elizabeth Bennet«, erwiderte Merlin. »Das Kleid ist von der BBC, aus der Miniserie Stolz und Vorurteil, die vor ein paar Jahren lief. Du weißt schon, mit Elizabeth Garvie. Ich hab mich mit einer Assistentin der Filmrequisite angefreundet. Dieses Kleid hier trug Garvie in der ersten Hälfte von Folge zwei.«
»Die Reisetasche ist viel zu groß und modern«, kritisierte Ruby. »Eine Pompadour-Tasche wäre passender.«
Merlin zuckte die Achseln. »Ich weiß. Aber diese Touristen wissen es nicht, oder es ist ihnen egal. Davon abgesehen wäre eine Pompadour-Tasche viel zu klein.« Er stellte die Reisetasche auf der Tischkante ab und öffnete sie. Dann streifte er die Stola ab, faltete sie sorgfältig zusammen und verstaute sie in der Tasche, in der unter anderem sein bevorzugter 357er Magnum Smython und zwei Schnelllader lagen. Außerdem ein gedrechselter Pockholzknüppel mit königlichem Wappen aus der Zeit Wilhelms IV., ein Parierdolch, der angeblich einst Sir Philip Sidney gehört hatte und dessen Klinge später versilbert worden war, eine Penguin-Ausgabe von Stella Gibbons’ Cold Comfort Farm von 1977 mit dem allgemein verpönten Einband, ein in Wachspapier eingeschlagenes Chelsea-Brötchen vom Vortag, zwei Drahtkleiderbügel und noch mehr nützliche Kleinigkeiten.
»Warum bist du in Bath?«, fragte Vivien. »Ich dachte, du hättest das Wochenende frei?«
»Stimmt. Oder vielmehr hatte ich frei.« Merlin zögerte, dann fügte er hinzu: »Susan besucht gerade ihre Mutter. Ich dachte, ich könnte vielleicht später mal bei ihr vorbeischauen.«
Merlin und Vivien hatten Susan Arkshaw Anfang des Jahres kennengelernt und waren mit ihr in einen komplizierten Fall verwickelt worden. Die Sache hatte in der Verbannung einer mächtigen und boshaften Wesenheit gegipfelt, zur Entlarvung eines Verräters unter den Buchhändlern und zu der Entdeckung geführt, dass Susans Vater der Old Man of Coniston war. Ein Urherrscher, wie die machtvollsten Wesen der Alten Welt genannt wurden. Sie hatten sich mit Susan angefreundet, und Merlin war sogar ein wenig weiter gegangen, doch ihre Beziehung war in letzter Zeit in stürmische Gewässer geraten. Susans Mutter lebte in der Nähe von Bath, aber Susan studierte inzwischen an der Slade School of Art und verbrachte daher die meiste Zeit in London.
»Ich dachte, ihr zwei braucht Abstand?«, fragte Vivien. »Oder so.«
Vor Susan waren Merlins Beziehungen eher spektakulär und kurzlebig gewesen und hatten meist beiderseits ohne böses Blut geendet. Er fühlte sich zu Menschen hingezogen, die äußerlich so attraktiv waren wie er selbst – als kreuzten zwei helle Kometen mit wildem Funkenschlag ihre Bahnen, ehe beide den nächsten Kollisionskurs einschlugen, ohne zurückzuschauen.
»Susan meinte, wir sollten es eine Weile langsam angehen lassen«, erwiderte Merlin steif. Er war es offensichtlich nicht gewohnt, monatelang mit derselben Person liiert zu sein, und auch das Gefühl temporärer Zurückweisung war ihm fremd. »Sie will sich auf ihr Studium konzentrieren, daher gehen wir nur noch einmal pro Woche aus. Ich hab sie seit Mittwoch nicht gesehen!«
»Da heute erst Samstag ist, scheinst du die Sache mit dem ›einmal pro Woche‹ nicht ganz verstanden zu haben«, sagte Vivien. »Weiß sie, dass du mal bei ihrer Mutter ›vorbeischauen‹ willst?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie so sehr vermissen würde«, sagte Merlin, ohne auf die Frage einzugehen. »Das ist ziemlich ärgerlich. Außerdem geh ich erst heute Nachmittag hin.«
»Das ist ja alles sehr interessant«, trällerte Ruby. »Aber so langweilig ich meine Teekiste mit Büchern auch finde, ich muss sie sortieren, und es warten noch viel mehr auf uns. Könnten wir also dieses verzauberte Pergament untersuchen und dann mit der Arbeit fortfahren?«
»Ist mir recht«, sagte Merlin. »Womit haben wir es deiner Meinung nach zu tun?«
»Wissen wir nicht«, antwortete Vivien.
Merlin schniefte, lupfte sein Kleid bis über die Knie, fixierte es mit verborgenen Gummibändern, nahm den Pockholzknüppel aus der Tasche und warf ihn hoch. Er drehte sich flink um die eigene Achse, ehe er den Knüppel mit der linken Hand auffing, zischend hin und her schwang und dabei eine der Teekisten nur um Millimeter verfehlte.
»Bereit?«, fragte Vivien.
»Jawohl.« Ruby trat einen Schritt zurück, hob die Rechte, holte tief Luft und hielt den Atem an – die unabdingbare Vorbereitung auf das Wirken von Rechtshändermagie und zugleich eine Einschränkung, denn die Magie währte nur so lange, wie man die Luft anhalten konnte. Fast alle Rechtshänder waren Schwimmer und Taucher, und die übrigen übten das Luftanhalten in ihren Badewannen, die zumeist klauenförmige Füße aufwiesen.
Merlin sah Vivien fragend an.
»Rubys Vater war ein Admiral«, erklärte seine Schwester, bevor sie selbst die Luft anhielt und die Zange hob, um das Pergament aus dem Einband zu ziehen. Sie legte es auf den Tisch und nahm die zweite Zange zur Hand. Mit dem Geschick der Rechtshänder entfaltete sie das schwere, elfenbeinfarbene Papier, bei dem es sich um eine Karte handelte – oder zumindest um ein Kartenfragment. Offenbar hatte man es von einer größeren Karte abgerissen.
»Ein Garten«, sagte Merlin. »Achtzehntes Jahrhundert? Oder schon neunzehntes?«
Vivien nickte, nahm mit den Zangen vier Bronzegewichte auf, die sie vor Jahrzehnten aus einem Postamt entwendet hatte, und beschwerte damit die Ecken des Kartenfragments. Der Fetzen mochte vielleicht ein Viertel oder Achtel der Gesamtkarte zeigen und war sehr detailliert von Hand gezeichnet. Der Ausschnitt zeigte einen wunderschönen Garten, dessen Konzept von jemandem wie Humphry Repton hätte stammen können. Im Norden, wo das Fragment abgetrennt worden war, erkannte man den Teil eines Anwesens mit umlaufendem Wassergraben. Eine Brücke verband das Haus mit einer breiten Allee, die zu einem frei stehenden Turm führte. Letzterer war in perfekter Handschrift als »Uhrturm« betitelt. Von dort aus verlief die Allee nach Süden zu einem großen Zierteich mit nierenförmiger Insel, auf der ein griechisches Bauwerk mit der Beschriftung »Tempel der Diana« stand. Die Brücke zur Insel war ebenfalls detailliert gestaltet und als »Pont Saint-Bénézet« gekennzeichnet. Das bewaldete Gebiet östlich der Allee hieß »Wolf Wood«. In der westlichen Ecke gab es einen eingefassten Gemüsegarten, an dessen Mauer eine Reihe von Bienenstöcken stand. Ein gemauerter Torbogen, gestaltet mit einem Sammelsurium orientalischer Einflüsse, war mit »Ägyptisches Tor« beschriftet und führte in einen noch viel größeren, von Hecken umwucherten Garten. Von Osten nach Westen verliefen Blumenbeete, so gezeichnet, als stünden sie in voller Blüte – möglicherweise Rosen, doch um das zu erkennen, hätte man vermutlich Rubys Lupe zu Hilfe nehmen müssen. Südlich der Beete, noch innerhalb der Heckenmauern, begann ein Labyrinth aus Ziegel- oder Steinmauern. Es war mit Kletterrosen oder dergleichen bewachsen, und die Beschriftung lautete »Rosenhoflabyrinth«.
»Entlang der Allee stehen ziemlich viele Statuen«, sagte Merlin. »Seltsame Statuen.«
Vivien atmete aus und ließ die Magie, die sie zur Vorbereitung gebraucht hatte, langsam verebben. Ihr rechter Daumen zuckte nicht mehr, sondern zitterte nur noch leicht. Die Karte war verzaubert, die Magie jedoch passiv. Von ihr ging keine unmittelbare Gefahr aus. Vivien beugte sich tiefer darüber. »Statuen von Wappentieren. Inklusive der ungewöhnlichen Tiere. Hippalektryon, Ameise, Mufflon. Ich weiß nicht, was dieses Ding mit den Hauern, dem Kamelkörper und dem Schlangenschwanz ist.«
»Ein Ypotryll«, sagte Ruby und stieß ebenfalls erleichtert die Luft aus. »Eine wahre Parade von Heraldikstatuen. Ich habe noch nie von einer so umfangreichen Sammlung gehört. Glaubst du, es gibt diesen Garten wirklich, oder ist das ein Entwurf, der nie umgesetzt wurde?«
»Ich erkenne ihn nicht wieder«, antwortete Vivien stirnrunzelnd. »Und ich habe noch nie etwas über einen solchen Garten gelesen.«
Draußen riss die Wolkendecke erneut auf, und Sonnenlicht fiel durchs Fenster herein. Wieder tanzten goldene Staubkörner in der Luft, und unvermittelt war die Karte auf dem Arbeitstisch schärfer und klarer, als wäre sie gerade erst fertiggestellt worden und die Tinte noch feucht. Eine warme Brise wehte durch den Raum und verbreitete den Duft nach frisch gemähtem Gras und Gänseblümchen, und der leise Gesang von Amseln war zu hören. Die beiden rechtshändigen Buchhändler sogen scharf den Atem ein und wichen vom Tisch zurück.
»Eine Biene!«, rief Merlin.
»Nein!«, kreischte Vivien und griff nach seinem Arm, doch es war bereits zu spät. Ihr Bruder fing die Biene mit der rechten Hand, in der Absicht, sie draußen auszusetzen. Doch als das Insekt auf seiner Handfläche landete, leuchtete die Karte noch heller auf. Merlin und die gefangene Biene verschwanden, und die Karte begann an den Rändern zu Staub zu zerfallen, als wäre sie schon jahrtausendealt und ertrage es nicht länger, der Luft ausgesetzt zu sein.
Vivien, die gerade wieder zu Atem kam, schnappte sich die silberne Hutnadel und stieß sie durch die obere rechte Ecke der Karte in den Tisch. Ruby legte ihre behandschuhte Rechte auf die linke untere Kartenecke und drückte fest zu. An beiden Stellen hörte der Zerfall auf und das Leuchten nahm ab. Die beiden anderen Ecken indes zerfielen weiter, bis Vivien sie mit je einer Silberzange beschwerte. Zu guter Letzt schob sie das Rasiermesser unter Rubys Finger. Die hob langsam die Hand und atmete aus.
Draußen zog sich die Wolkendecke zu, und der Sonnenschein verschwand. Die Karte jedoch strahlte noch immer ihr goldenes Sommerlicht aus, wenn auch gedämpft. »Der Zauber ist noch aktiv!«, rief Ruby. »Wir müssen die Karte ordentlich befestigen!«
»Ja.« Vivien eilte zum Utensilienschrank, öffnete eine Schublade und nahm eine schwarz lackierte Pappmaché-Schachtel aus dem siebzehnten Jahrhundert heraus. Sie enthielt versilberte Reißzwecken, so alt wie die Schachtel selbst. Sie eilte zurück und schüttete sie auf den Tisch. Ruby und sie fixierten die Karte, indem sie mit dem rechten Daumen Reißzwecken entlang der Kanten anbrachten, in Abständen von einem Zentimeter.
Die Karte war geschrumpft. Das große Anwesen war komplett zu Staub zerfallen, ebenso fast der gesamte Wassergraben. Von der Insel im Süden war nur noch die Hälfte übrig, ebenso vom Tempel der Diana. Die Beschriftung des östlichen Waldes lautete jetzt »Wolf Wo«, im Westen war der Gemüsegarten auf ein Drittel reduziert und der größere Garten nur noch ein schmaler Streifen an der Westgrenze des Labyrinths.
»Da ist Merlin«, sagte Ruby. »In der Mitte des Labyrinths!«
Vivien beugte sich vor und musterte die Stelle. Nur mit Mühe erkannte sie einen schön gezeichneten, winzigen Merlin, nicht einmal fünf Millimeter hoch. »Er bewegt sich«, sagte sie überrascht. »Äußerst langsam. Ich weiß nicht viel über diese Translokationskarten. Ist es normal, dass sich darauf etwas bewegt?«
»Wenn sie aktiv ist, ist sie quasi ein Fenster«, antwortete Ruby. Merlin bewegte sich zwar, aber derart träge, dass es eher so aussah, als würde die kleine Figur zittern. »Wenigstens geht das Fenster nur in eine Richtung auf. Er ist langsam. Zwischen hier und dort besteht vermutlich eine große Zeitverschiebung.«
»Ich folge ihm wohl besser.«
Vivien streckte die linke Hand aus, doch Ruby hielt sie zurück. »Nein. Dann bist auch du dort gefangen.«
»Was? Wir können diesen Ort wieder verlass…«
»Nein. Es befindet sich nirgendwo«, sagte Ruby. »Ich hab’s gespürt, als ich die Karte in der Hand hielt, und man kann es an Merlins Bewegungen sehen. Oder eher daran, dass er sich nicht richtig bewegt. Die Karte zeigt einen realen Ort, aber er wurde aus unserer Welt entfernt. Die Zeit verläuft dort viel langsamer. Du bräuchtest eine zweite Translokationskarte, um ihn zu verlassen.«
»Dann nehme ich eine mit«, sagte Vivien ungeduldig.
»Wir haben hier keine solchen Karten«, entgegnete Ruby. »Wir müssen uns eine aus London schicken lassen oder vielleicht aus Thorn House. Es besteht keine Eile. Ich würde sagen, eine Stunde hier sind dort drüben nur ein paar Minuten. Wir müssen das melden und sehen, ob jemand eine gute Idee hat. Ich bin auch keine Kartenexpertin …«
Das plötzliche Schrillen eines Feueralarms im Flur unterbrach sie, dann ließ ein lautes Krachen das ganze Haus erzittern. Der Feueralarm wurde nicht nur im Brandfall ausgelöst.
»Alle Mann auf Gefechtsstation!«, rief Ruby. »Wir brauchen jede Hand zur Abwehr der Eindringlinge.« Sie machte sich auf den Weg zur Tür, hielt inne und schaute zu Vivien zurück, die noch bei der Karte stand. »Jede Hand«, sagte sie sanft. »Die Karte kann nirgends hin. Für Merlin werden nur Minuten vergehen. Komm schon!«
Vivien folgte ihr zur Tür. Lautes Geschrei hallte die Treppe herauf, und ein Wummern ertönte, das nach einem Vorschlaghammer klang, der auf Stein prallte. Ab und an war auch ein metallisches Singen zu hören, als wäre der Hammer von seinem Ziel abgeprallt, statt es zu beschädigen.
Hinter ihnen, im Labyrinth auf der Karte, kam der winzige Merlin in Zeitlupe um den Bruchteil eines Schrittes voran.
Bath, Samstag, 10. Dezember 1983
Löwe. In der Heraldik wird jeder Löwe, der nicht aufrecht steht, sondern schreitet, als leopardierter Löwe bezeichnet.
Als Vivien und Ruby die Buchhandlung im Erdgeschoss erreichten, war der Lärm verstummt. Sie sprangen vom untersten Treppenabsatz in den Laden und sahen gleich vor der Schwelle ein Dutzend Trümmer am Boden, die von einem steinernen Löwen stammten. Da es sonst kein Anzeichen auf Eindringlinge gab, nahmen Vivien und Ruby an, dass die zerstörte Skulptur der Angreifer gewesen sein musste. Irgendwie.
Ein Trümmerstück war der Kopf mit der Mähne. Cameron, ein linkshändiger Buchhändler, hatte ihn mit einem beidhändigen Schlag vom Körper abgetrennt. Nun versuchte er die schmiedeeiserne Stange, mit der er zugeschlagen hatte, wieder gerade zu biegen, denn eigentlich diente sie als Hebel für die große Schraube der antiken Buchbinderpresse, die die linke Ladenecke auf der Vorderseite zierte. Sie bestand aus mattem Eisen und stand hinter den rußigen Fenstern, die seit 1911 absichtlich nicht mehr geputzt worden waren.
Glücklicherweise war die Statue größtenteils bei der Tür zerstört worden. Die wertvolle Ware lagerte überwiegend in drei zu engen Regalreihen, gleich hinter dem Tresen mit der Kasse. Letzterer war von einem aufgeprallten Trümmerstück beschädigt worden, und der schöne Perserteppich – ein alter Kerman – war leider an einigen Stellen zerrissen. Ansonsten jedoch waren sowohl die Bücher als auch der Laden unversehrt geblieben.
Nicht so die Eingangstür. Wie bei allen sicheren Gebäuden der Buchhändler bestand auch sie aus schwerem Eichenholz, war unauffällig mit einer Stahlplatte verstärkt und hing in einem zwei Zoll dicken Stahlrahmen. Nun jedoch hing sie nur noch schief an einem von sechs stabilen Scharnieren, weil ein zwei Tonnen schwerer Steinlöwe mit großer Wucht dagegen geprallt war. Kalter Wind wehte durch die offene Tür und trug beißende Graupelpartikel herein. Er vertrieb das bisschen Wärme der alten Heizkörper völlig, die den Raum in den ersten zwei Winterwochen ohnehin stets einige Grad unter Wohlfühltemperatur gehalten hatten.
»Keine lebenden Steinlöwen mehr in Sicht«, verkündete Stephanie, eine linkshändige Buchhändlerin, die soeben den Laden durch die Tür betrat. Sie hielt die zweite Stange der Buchpresse in der Hand, die ebenfalls verbogen war. Da sie beim Drehen der Schraube starke Belastungen aushielt, war wohl eine enorme Kraft vonnöten gewesen, um sie zu verbiegen. Mehr als nötig wäre, um normales Gestein zu zerschlagen. »Aber da kommt ein neugieriger Polizist.«
»Das dürfte Purbeck-Marmor sein«, sagte Ruby, die eine abgeschlagene Pranke musterte. »Das erkennt man am unauffälligen Muster der fossilen Muscheln und dem gräulichen Weiß. Seltsam. Eine Skulptur aus dem achtzehnten Jahrhundert, würde ich sagen, und keine sonderlich gute. Dem Algenbewuchs zufolge war sie unter Wasser, und der Marmor ist verwittert. Kennt einer diese Löwenstatue?«
»Sieht aus wie einer der Löwen, die im Hedgemead Park standen«, antwortete Cameron. Er war in den Fünfzigern, gut aussehend und erinnerte ein wenig an Sidney Poitier. Seine Eltern stammten von den Bahamas, doch Cameron war in Schottland aufgewachsen, sprach mit Clydeside-Akzent und kleidete sich wie ein zerstreuter Professor: Flanellhosen, abgetragene, zu große Hemden, die immer aus der Hose hingen, und eine oder mehrere Strickjacken mit vielen Taschen. Heute trug er drei Strickjacken übereinander, zwei braune und eine grüne. Er war ständig im Kleinen Buchladen postiert und bediente die meisten Kunden, die ihn daher für den Inhaber hielten. »An der Lansdown Road. Aber die Löwen sind vor einer Weile verschwunden. Sie wurden gestohlen, was ganz schön aufwendig gewesen sein muss, denn jede davon wiegt sicher mehrere Tonnen.« Er gab den Versuch auf, die Stange gerade zu biegen, und führte sie so weit wie möglich in die Fassung der Buchpresse ein. »Der hat uns ganz schön überrascht«, fuhr er fort. »Die Schutzzauber aktivierten sich, und kurz darauf rannte der Löwe gegen die Tür. Beides hat ihn nicht aufhalten können.«
»Die Schutzzauber sollen Lebende mit böser Gesinnung abwehren«, sagte Ruby. »Und auch Untote mit böser Absicht. Aber nicht belebten Stein mit beschränkter Intelligenz, jedenfalls nicht so etwas wie das da. Da müssen wir die Zauber wohl nachbessern. Ich werde das Thema bei der nächsten Personalversammlung ansprechen.«
»War der Löwe wirklich nur eine belebte Statue? Kein Geschöpf?«, fragte Stephanie. »Er wirkte schon ein bisschen dumm. Hat sich überhaupt nicht gewehrt, nur die Tür eingerannt und wollte zur Treppe.«
Stephanie war jünger als Vivien und hatte eben erst ihren Abschluss in Wooten Hall gemacht. Sie lief ständig mit Adidas-Trainingsanzug und Rucksack herum, der zweifellos mehr Waffen enthielt als Camerons vollgestopfte Strickjackentaschen und das, was er unter dem heraushängenden, übergroßen Hemd trug. Heute hatte Stephanie einen türkisfarbenen Trainingsanzug mit orangen und schwarzen Streifen an. Er schien denselben Zweck zu erfüllen wie Tarnkleidung im Krieg, zumindest wenn sie im Außeneinsatz war.
Im Buchladen gab sie sich meist als Camerons »aushelfende Verwandte« aus, wie schon viele ihrer mutmaßlichen Geschwister und Cousins zuvor. Cameron wurde immer wieder auf Linkshänder angesprochen, die früher bei ihm ausgeholfen hatten, was den Eindruck vermittelte, er stamme aus einer weitverzweigten Familie, die Mitglieder diverser Ethnien aufzubieten hatte. Das stimmte sogar, allerdings auf andere Weise, als die Leute glaubten.
»Ich glaube, es war kein Lebewesen«, sagte Vivien. »Wir müssen das untersuchen. Wie nah ist dieser Polizist?«
Stephanie schritt an der lädierten Tür vorbei ins Freie, kam sogleich wieder herein und legte die Eisenstange, die sie noch immer hielt, vor der Wand ab. »Er ist schon hier«, sagte sie und richtete sich im selben Moment auf, als ein großer, schnaufender Beamter der Avon and Somerset Police die Treppe hochkam, auf der Schwelle verharrte und auf den Fersen wippte wie eine stereotype Krimifigur. Sein Mantel war vom Schneeregen durchnässt, und sein Gesicht lag im Schatten des etwas zu großen Helms, der beim Zurückwippen nach vorn gerutscht war.
»Guten Morgen«, sagte er, wobei seine nasse Kleidung, der schief sitzende Helm und die für ihn zu jung wirkende Stimme jegliche Autorität schmälerten, die er zu verströmen hoffte. »Ich bin PC Wren und habe Grund zu der Annahme, dass hier ein Verbrechen begangen wurde.«
Die Buchhändler bissen sich auf die Lippen, und einer von ihnen konnte sein Kichern kaum unterdrücken. Der Wachtmeister stockte.
»PC Wren?«, fragte Ruby. »Wirklich?«
Der Constable seufzte und wünschte sich einmal mehr, bald befördert zu werden. Als »Sergeant Wren« würden sich Literaturkenner nicht länger darüber lustig machen, dass er sich als Autor der »Beau Geste«-Romane vorstellte. In einer Buchhandlung hätte er darauf achten sollen, sich als »Constable Wren« vorzustellen, statt die Abkürzung »PC« zu verwenden. »Wie ich schon sagte«, fuhr er stoisch fort, »habe ich Grund zu der Annahme, dass hier ein Verbrechen begangen wurde.« Er beäugte die Trümmer der Statue und die zerstörte Tür. »Allerdings ein anderes Verbrechen, als ich annahm.« Mit einer Bewegung des Unterkiefers schob er sich den Riemen seines Helms in den Mund und saugte kurz nervös daran, ehe er merkte, was er tat, und damit aufhörte. »Um elf Uhr sechs sah ich einen als Löwen verkleideten Pantomimen die Straße entlanglaufen, und da ich ihn für einen Straßenkünstler ohne Lizenz hielt, habe ich …«
»Wenn ich Sie kurz unterbrechen darf, Constable.« Cameron zog eine schwarze Brieftasche aus seiner Strickjacke, öffnete sie und zeigte seinen Ausweis vor. »Schauen Sie sich den an und besprechen Sie sich kurz mit Inspector Torrant in der Broadbury Road, aber nicht über Funk.«
Constable Wren sah Cameron zweifelnd an, musterte den Ausweis jedoch sorgfältig. Seine Miene nahm einen noch steiferen Ausdruck an, und er schaute nicht mehr auf die Trümmer oder die kaputte Tür, sondern auf einen Punkt im Raum, etwa dreißig Zentimeter vor seiner Nase. »Ich verstehe. Inspector Torrant«, sagte er. »Ich habe schon von ihr gehört.« Er deutete auf das ziegelsteingroße Funkgerät der Firma Burndept, das an einem Nylonriemen an seinem Mantel hing. »Mein Funkgerät kann ich sowieso nicht benutzen. Es ist kaputt. Ist wohl zu nass geworden.« Cameron zeigte auf das Telefon auf dem Tresen, ein schwarzes Bakelit-Modell aus dem Zweiten Weltkrieg. Es stand neben der noch älteren mechanischen Registrierkasse, deren Schublade beim Öffnen einen so lauten Ton von sich gab, dass alle Kunden regelmäßig zusammenzuckten.
Der Polizist schritt majestätisch zum Telefon und rief die Wache an. Seine aufgesetzte Unbekümmertheit verpuffte, als er sich verwählte und erneut anrufen musste, wobei er mit dem Zeigefinger die Wählscheibe kreisen ließ.
»Das war Mr Cutts, der Metzger«, flüsterte Ruby so leise, dass nur die Buchhändler mit ihrem hervorragenden Gehör es mitbekamen. Sie unterdrückten ihr Kichern, da sie im Blickfeld des Constable standen. Ein Witz auf seine Kosten war mehr als genug.
»Sergeant? Ich bin’s, Wren. Ich bin im Kleinen Buchladen, Ecke George und Bartlett Street. Ja, sagte ich doch gerade. Verstehe … also, da war ein als Löwe verkleideter Pantomime … nein, vergessen Sie das … jedenfalls ist hier ein Herr mit einem Ausweis, der wohl aus dem Scherzartikelladen stammt. Er meint, ich soll Inspector Torrant anrufen …« Er lauschte, richtete sich merklich auf und wippte nicht länger auf den Absätzen. Als sich der Sergeant am anderen Ende der Leitung verabschiedete, legte Wren den Hörer so vorsichtig auf die Gabel, als hätte er Angst, ein schlafendes Baby zu wecken. »Ich soll draußen warten«, murmelte er. »Und in die andere Richtung schauen. Sergeant Lucas verständigt Inspector Torrant.«
»Sehr gut«, sagte Cameron. »Vielen Dank, Constable.«
Der Polizist verließ den Laden, ohne nach rechts oder links zu sehen.
Stephanie stemmte sich gegen die massive Tür, die mindestens dreihundert Pfund wiegen musste, und richtete sie wieder auf. »Zum Glück waren keine Kunden da«, sagte sie. »Ich nehme an, von euch weiß keiner, was hier eben passiert ist?«
»Wir haben eine Vermutung«, erwiderte Vivien. »Wir haben oben eine Translokationskarte in einem Buch entdeckt. Sie ist mit dem Garten eines großen Anwesens verbunden, das aus der Zeit gerissen wurde. Ein Garten mit vielen Statuen. Darunter auch zwei Löwen, die diesem hier sehr ähnlich sehen.«
»Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, ob es einen Zusammenhang gibt«, sagte Ruby. »Aber ich halte es für wahrscheinlich. Vermutlich sollte dieser Löwe die Karte holen. Als wir sie aktiviert haben, wachte auch der Löwe auf. Ich frage mich, wo er herkam. Wann sind die Löwen aus dem Hedgemead Park verschwunden, Cameron?«
Der linkshändige Buchhändler kratzte sich an der Nase. Er trug einen weißen Baumwollhandschuh, der zu einem Antiquar passte. »1977«, sagte er nachdenklich. »So gegen Weihnachten.«
»Du erwähntest zwei Löwen«, sagte Stephanie. »Also gibt es irgendwo da draußen noch so ein Exemplar. Wir müssen das London melden, oder?«
»Ja. Wir sollten Una und Großtante Evangeline um Rat fragen«, meinte Vivien. »Aber am wichtigsten ist, uns die nächstbeste Translokationskarte zu besorgen, damit wir Merlin holen können.«
»Wo ist er?«, fragten Stephanie und Cameron gleichzeitig.
»Transloziert«, antwortete Vivien. »Er hat eine Biene berührt, die aus der Karte kam. Jetzt ist er in diesem Garten. Der sich nicht in unserer Welt befindet.«
»Und ohne eine Karte, die einen zurückbringt, kommt man nicht mehr von dort weg«, folgerte Cameron. »Ach, das ist ärgerlich. Wir hatten früher zwei solche Karten hier. Eine führte zu einem Schloss in Devon und die andere zu einem ziemlich schönen Fleckchen im Wear. Aber die Klugscheißer wollten die Karten für irgendeine Studie in London haben. Wir haben sie letztes Jahr rübergeschickt.«
»Zu den Tanten Zoë und Helen?«, fragte Vivien.
Cameron nickte. Die zwei beidhändigen Buchhändlerinnen kannten sich bestens mit Papierkonservierung und anderen dunklen Bibliothekskünsten aus, sowohl mit weltlichen als auch eher esoterischen.
»Ich rufe sie an, sobald ich mit Evangeline gesprochen habe.«
»Benutz Delphines Telefon«, sagte Cameron. »Ich rufe London an.«
»Ich telefoniere schon mit London«, erklang Delphines Stimme durch die offene Luke des Tabakladens. »Denn im Gegensatz zu manch anderen kenne ich die korrekten Abläufe und trödle nicht herum.«
»Evangeline ist in keinem der zwei Buchläden, sondern auf einer Buchhändlerkonferenz in Brighton.«
»Wir haben eine Konferenz in Brighton?«, fragte Ruby. »Das hat mir keiner gesagt.«
»Da nehmen nur normale Buchhändler teil«, erklärte Delphine. »Veranstalter ist ›The Bookseller‹. Das Motto lautet: ›Ho, ho, ho, wie man sein Weihnachtsgeschäft ankurbeln kann‹ oder so ähnlich. Lasche Konferenz mit dem einen oder anderen brauchbaren Tipp.«
Vivien verzog das Gesicht. »Das klingt nicht gerade verlockend. Ich komme rüber.« Sie ging zwischen den Bücherregalen hindurch zur Verbindungstür im hinteren Teil des Ladens.
»Wir sollten uns auf weitere Angriffe vorbereiten«, rief Cameron ihr nach. »Du behältst die Straße im Auge, Stephanie. Ibrahim und Polly müssten spätestens in einer Stunde zurück sein. Delphine, da du so heiß darauf bist, das Protokoll zu befolgen, hast du wahrscheinlich schon den Wachposten in der Therme alarmiert?«
»Natürlich«, antwortete Delphine und schniefte. »Advika will wissen, ob sie jemanden herschicken soll. Und damit du Bescheid weißt: Vor etwa fünf Minuten gab es eine kleine Störung. Drei Akolythen der Sulis Minerva sind aus der Therme aufgetaucht und haben sich kurz umgesehen, ehe sie wieder verschwanden. Die Herrscherin hat also gespürt, dass etwas im Busch ist.«
»Interessant«, sagte Vivien. »Sulis Minerva hat also mitbekommen, dass die Karte und der steinerne Löwe aktiviert wurden, obwohl das nicht auf ihrem Herrschaftsgebiet geschah.«