Die Märchenmörder - Frank Schätzing - E-Book

Die Märchenmörder E-Book

Frank Schätzing

4,0

  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Was hat Aschenputtel mit Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle zu tun? Gab es den Wolf und die sieben Geißlein auf der Titanic? Und spielt Dornröschen tatsächlich im Jahr 2471? Hat Rapunzel in Albanien gelebt? Schneewittchen in Hollywood? Und war Al Capone der Trauzeuge von Schneeweißchen? Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, kennen Sie die Antworten. Dreizehn Topautoren haben aus dreizehn Märchen dreizehn Krimis gemacht: Frank Schätzing, Ingrid Noll, Zoë Beck, Andreas Izquierdo, Stefan Slupetzky, Angela Eßer, Norbert Horst, Thomas Kastura, Sandra Niermeyer, Ralf Kramp, U.A.O. Heinlein, Anke Gebert und Kai Hensel. Mit märchenhaften Illustrationen von Egbert Greven und einem Vorwort von Julius Moll.

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Seitenzahl: 253

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Märchenmörder

Ein außergewöhnliches Lesevergnügen

von

Frank Schätzing

u.a.

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-672-7

MOBI ISBN 978-3-95865-673-4

Erstausgabe Oktober 2010

© 2010, Kölnisch-Preußische Lektoratsanstalt

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

INHALT

Julius Moll Vorwort

Andreas Izquierdo Aschenputtel

Ralf Kramp Bremer Stadtmusikanten

Angela Eßer Der Wolf und die sieben Geißlein

Norbert Horst Schneeweißchen und Rosenrot

Zoë Beck Rapunzel

Anke Gebert Rotkäppchen

Thomas Kastura Die Schneekönigin

Kai Hensel Hänsel und Gretel

U. A. O. Heinlein Sonne, Mond und Talia

Sandra Niermeyer Schneewittchen

Stefan Slupetzky Das Mädchenmit den Schwefelhölzchen

Ingrid Noll Der Machandelbaum

Frank Schätzing Der Witz und der Tod

Egbert Greven Illustrationen

VORWORT

Julius Moll

Nahezu jeder kennt die Situation. Man kommt später als erwartet nach Hause und trifft auf den Lebenspartner, der die unangenehme Frage stellt: „Wo kommst du denn jetzt her?“ Meist sind die Antworten sehr einfach und ehrlich; beispielsweise, dass der Geschäftstermin länger gedauert habe als angenommen oder dass der Stau auf der Autobahn … und so weiter und so fort. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verspäten. Und die vermutlich häufigste Replik auf derartige Entschuldigungsversuche lautet: „Erzähl mir doch keine Märchen!”

Das eigentlich Erschreckende dieses Anwurfs ist nicht etwa das unverhohlene Misstrauen, das da zwischen allen Wörtern hervorquillt, sondern die Unkenntnis darüber, welch wichtige Rolle Märchen bei der Entwicklung unserer Zivilisation gespielt haben. Vielen von uns wird es kaum vorstellbar sein, aber es gab Zeiten ohne Fernsehen und Radio. Man musste sich irgendwie anders unterhalten. Und was eignet sich besser als Geschichten über Königshäuser, Feen, Zwerge, böse Frauen im Wald und wilde Tiere, die hinter jeder verbotenen Ecke lauern.

Aber nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur Unterweisung der Jugend waren Märchen wunderbar geeignet. Eine Ermahnung, dass man den nahe gelegenen Wald nicht allein betreten solle, weil man sich dort vielleicht verläuft, ist nun wirklich nichts, was einen entschlossenen Acht- oder Neunjährigen davon abhalten könnte. Erschröckliche Schilderungen von grimmigen Wölfen oder Hexen, die zudem noch Kinder fangen und mästen, um sie dann zu verspeisen, machen da schon eher Eindruck. Zumal ja immer gleich irgendein Held mitgeliefert wird. Großes Ah und Oh inklusive Beifall, wenn Gretel die alte Frau in den Backofen schubste, beifälliges Gemurmel, wenn der Müller Max und Moritz zu Tierfutter verarbeitete. Verdient hatten sie es alle, weil sie sich nicht an die Regeln hielten.

Heutzutage haben die Massenmedien das Märchenerzählen übernommen, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Und besonders das Medium Film hat sich der Produktion von Hochglanzmärchen verschrieben. Erzählt wird nicht mehr in Worten, sondern in Bewegtbildern. Bestes Beispiel ist die Weltraumgeschichte einer Prinzessin, ihrem Bruder, dem bösen Imperator und dem radebrechenden Zauberer mit den spitzen Ohren, die nicht zufällig mit den Worten beginnt: „Es war einmal …“

Mündlich werden Märchen nur noch von Politikern erzählt, die sich jedoch in schöner Regelmäßigkeit gleich wieder von ihren Erzählungen distanzieren. Umso mehr ist zu loben, wenn sich die schreibende Zunft des Märchens besinnt, zumal wenn es solch hochkarätige Autoren übernehmen wie in diesem Buch. Es ist verblüffend, an welche Orte und in welche Zeit sich die alten Geschichten versetzen lassen; und aufregend, wie sie trotzdem ihre inhaltliche Wucht behalten. „Die Märchenmörder“ – ein außergewöhnliches Lesevergnügen.

Aschenputtel (Gebrüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen)

Nach dem Tod der Mutter ergeht es Aschenputtel schlecht: Der Vater heiratet erneut, doch Stiefmutter sowie die beiden Stieftöchter schikanieren Aschenputtel, wo sie nur können. Trost findet sie nur am Grab der Mutter. Als der Prinz heiraten will, lässt er ein dreitägiges Fest ausrichten, zu dem alle Jungfrauen des Landes eingeladen werden. Aschenputtel darf nicht mit. Am Grab der Mutter findet sie ein prächtiges Kleid und nimmt unerkannt am Fest teil, wo sich der Prinz in sie verliebt. Aschenputtel kann zweimal fliehen, beim dritten Mal verliert sie ihren Schuh. Der Prinz lässt nach ihr fahnden. Aschenputtels Stiefschwestern versuchen vergebens, den zierlichen Schuh über ihre Füße zu ziehen, schneiden sich jeweils Zehe und Ferse ab, aber der Betrug fliegt auf. Aschenputtel hingegen passt der Schuh und so wird sie des Prinzen Braut.

ASCHENPUTTEL

Andreas Izquierdo

Sie stahl wie eine Elster, und ihre Fingernägel waren niemals sauber. Wenn es Nacht wurde in Schottland, wenn Gaslaternen die steilen, engen Gässchen Edinburghs in gelbes Licht tauchten und die Stadt zu Füßen der Burg schlafen ging, dann flog sie davon, über Schindel und schwarzen Kater, und nur wer nicht schlief und sich nach ihr sehnte, konnte sie dann und wann im fahlen Mondlicht tanzen sehen. Sie war die schwarze Fee, die nach kaltem Rauch und heißem Schornstein suchte, die darin abtauchte und sich alles nahm, was durch Fenstergitter und verschlossene Tür gesichert schien. Sie war Königin in der Nacht und Bettlerin am Tag, hat mich beraubt, gerettet und mir die Augen geöffnet für eine Welt, die ich vorher nicht kannte.

Das alles ist jetzt schon Jahre her, seltsam, dass ich gerade jetzt daran denken muss, ausgerechnet hier, vor den eisigen Küsten der Arktis, an Bord unseres Robbenfängers Hope, soweit von Zuhause entfernt. Ich blicke durch das kleine Bullauge hinaus auf eine kalte, schwarze See, höre das Pumpen der Dampfkessel und frage mich, was ich hier, am Ende der Welt, eigentlich suche? Abenteuer? Ich sehne mich nach Abenteuern, doch ohne sie bleibt alles grau.

In einer Kommode neben meine Bett finde ich die Heilige Schrift und darunter einige Dutzend Bögen Papier, und ich denke, vielleicht könnte das die Lösung sein: schreiben. Ihre Geschichte. Meine Geschichte. Und all die Geschichten, die sich noch in mir wie kleine schwarze Feen verstecken. Auf dass ich sie freilasse und sie über Schindel und Kater im Mondlicht tanzen lasse.

Edinburgh, 1874.

Es waren ihre Hände. Zu zart für einen Schornsteinfegerjungen, für den sie sich ausgab. Sie selbst war unter Ruß und Asche nicht zu erkennen, wie sie dastand mit ihrem Vater, der gleichzeitig ihr Lehrmeister war, um den Lohn ihrer Arbeit entgegen zu nehmen: Silbern klimpernd fielen Münzen auf schwarze Haut, während sich ihre Finger zu einer Faust schlossen. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke, und es war, als tippte sie gegen mein Herz, und alles schwang und summte und wollte nicht mehr aufhören nachzutönen. Die Hände. Die Augen. Ich musste wissen, wer sie war.

Sie verließ unser Haus, während ich ihr in aller Heimlichkeit aus der Altstadt hinaus folgte, dorthin, wo die Armen wohnten, und ich sah, wie sie sich in einem kleinen Hof mit kalten Wasser die Asche aus dem Gesicht wusch und darunter das schönste Mädchen der Stadt zum Vorschein kam, vielleicht vierzehn Jahre alt. Eine Frau kam aus dem Haus, eleganter, als man es für eine Gegend wie diese vermutet hätte, und rief hart: „Aschenputtel!“

Sie blickte auf und folgte ihr nach drinnen. Heimlich schlich ich an ein fast blindes Fenster und sah sie in der Küche neben dem Herd in der Asche sitzen. Zwei Schwestern hatten Linsen und Erbsen hineingekippt und waren kichernd davongelaufen. Ich dachte an sie. Steckte Prügel ein, weil ich im Unterricht meinen Gedanken nachhing. Konnte nicht schlafen, weil ich in der Dunkelheit ihr Gesicht sah, vom Ruß befreit. Sie winkte mir zu, und fast war ich soweit, mich aus der Kammer zu schleichen, vorbei an meinen schlafenden Geschwistern, auf leisen Sohlen über das neblige Kopfsteinpflaster, wie ein Dieb in der Nacht. Hoffen, dass sie wach war. Doch was dann?

So blieb ich, wo ich war. Bis zu jenem Tag, an dem zwei Herren bereits am frühen Morgen in unserer Küche standen und sich mit meinem Vater unterhielten, der mich mit ernster Miene zu sich winkte.

„Das ist mein Sohn“, sagte er knapp. „Er hat heute Geburtstag! Fünfzehn.“

Der größere der beiden, ein Schlacks mit einer Habichtsnase, dunklem Anzug und Zylinder gab mir die Hand und lächelte: „Was für ein betrüblicher Anlass, sich kennen zu lernen. Wie heißt du, mein Junge?“

„Arthur!“, antwortete ich eingeschüchtert, denn nie zuvor hatte ich mit der Polizei zu tun gehabt. „Arthur Ignatius Conan Doyle.“

Er nickte meinem Vater freundlich zu: „Was für ein wohl erzogener Bursche, ihr Sohn doch ist, Mister Doyle!“ Dann sah er mich wieder an, musterte mich, hielt weiterhin meine Hand. Dieser Blick! Seinen Augen entging nichts, sie suchten unentwegt.

„Das ist Inspector Holmes“, sagte mein Vater. „Und der Herr hinter ihm ist Sergeant Watson.“

„Freut mich, Sir.“ Der Sergeant erwiderte meinen Gruß, indem er mit dem Finger an seinen Helm tippte, der für rangniedere Polizisten seit elf Jahren Pflicht war. Er war kleiner und athletischer als Holmes, jedoch mit ebenso aufmerksamen Augen. Der Inspector ließ mich los und nahm von meinem Vater ein Blatt Papier entgegen.

„Ich habe Ihnen eine Aufstellung der gestohlenen Gegenstände gemacht, Inspector.“

Holmes warf einen Blick drauf und sah mich dann freundlich an: „Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass auch dein Geburtstagsgeschenk darunter war, Arthur.“ Ich schluckte und nickte tapfer.

„Aber ich verspreche, dass ich den Dieb finden werde. Das soll mein Geburtstagsgeschenk an dich sein.“

„Danke, Sir. Sehr freundlich. Haben Sie denn schon eine Spur?“

Holmes schüttelte den Kopf: „Nein, mein Junge. Es gibt eine Serie von Einbrüchen, aber es gibt keine Spuren. Geschlossene Räume, die nicht geöffnet wurden. Und doch war jemand darin. Sehr mysteriös.“

„Verstehe, Sir.“

Holmes antworte mit freundlicher Ironie: „Hören Sie, Watson? Der junge Mann versteht!“ Watson lächelte still über die Bemerkung. Dann nickten beide meinem Vater zum Gruß zu und verließen das Haus.

Menschen versteckten ihre Geheimnisse, doch wer genau hinsah, konnte sie sehen, ganz gleich unter wie viel Ruß sie verborgen sein mochten. Und auch verschlossene Räumen gaben nur dann Rätsel auf, wenn man ihre Eingänge so verbissen suchte, dass man nicht mehr sah, was für jedermann offensichtlich war: Kamine. Oh, ich verstand! Und bewunderte Aschenputtels Wagemut. Und doch hatte sie jetzt etwas, was mir gehörte.

Ich schlich davon und hoffte, dass mein Vater nicht herausfinden würde, dass ich die Schule schwänzte, denn ich musste sie sehen. So durchquerte ich die ganze Stadt, wich den Kutschen und Reitern aus, den eleganten Damen mit den gerafften Kleidern und den hochgeschlossenen Kragen, den Gentlemen in Anzug, Hut und den wuchtigen Backenbärten, verließ das feine Edinburgh und betrat das unfeine. Die harte Arbeit hatte die Menschen hier krumm und grau gemacht, und obwohl mein Aufzug auffallen musste, beachtete mich niemand.

Der Hof vor Aschenputtels Haus war menschenleer, so dass ich einen heimlichen Blick durch das Küchenfenster wagte. Dort war sie, zusammen mit ihren Schwestern, der Mutter und dem Vater, der gerade Geld – viel Geld – aus einer Schatulle nahm, um in der Stadt einzukaufen. Er hatte sich einen guten Anzug angezogen und hörte sich die Wünsche der Mädchen an, die Perlen, Edelsteine und schöne Kleider haben wollten. Als die Reihe an Aschenputtel war, höhnte die Mutter, ihrer Stieftochter würde ein Haselreis gut stehen. Aschenputtel sagte nichts und lief davon. Sie sah mich nicht, als sie aus dem Haus stürmte, und ich folgte ihr, so gut ich konnte. Eine ganze Weile lief sie vor mir her, als sie plötzlich auf den Friedhof abbog, an ein Grab kam und dort niederkniete. Lange blieb sie dort. Weinte leise. Und ich wagte nicht, sie zu trösten.

Es wurde Nacht und ein großer, weißer Mond ließ die Katzen singen, als ich sie über First und Giebel springen sah, meine kleine, schwarze Fee, die jeder Schwerkraft zu trotzen schien, so flink und lautlos huschte sie die Wände hinauf, um im nächsten Moment in einem Kamin zu verschwinden. Bald darauf tauchte sie wieder auf, und sprang mit einem auf dem Rücken geschnürten Bündel zurück in die Dunkelheit, dort, wo kein Licht war und sie mit einem Wimperschlag im Nichts verschwand. Eine halbe Nacht hatte ich auf sie gewartet, hatte gehofft, dass ich sie sehen würden, war ihr mit klopfendem Herzen gefolgt und voller Bewunderung für ihre Geschicklichkeit, ihren Mut und ihre Raffinesse. Und als ich sie dann Zuhause wusste, als ich selbst müde und beglückt in mein Bett kroch, da wurde mir klar, dass ich ihr Geheimnis vor den Augen anderer verstecken wollte, ganz gleich wie sehr die danach suchen würden.

Schon bald wurden meine nächtlichen Ausflüge Routine, und ich wurde recht geschickt im lautlosen Ausbüchsen aus dem Elternhaus, so dass ich mir keine Sorgen machte, eines Tages dabei ertappt zu werden. Erstaunlicherweise waren Aschenputtels nächtliche Raubzüge kein Thema in der Zeitung, was möglicherweise damit zusammenhing, dass die Stadt schon seit Wochen der Ankunft eines orientalischen Prinzen entgegenfieberte, dessen Reichtum und Pracht Stadtgespräch waren, obwohl niemand etwas Genaues über ihn wusste. Ich war sicher, dass Polizei und Verwaltung ein besonderes Interesse daran hatten, dass die Diebstähle kein adäquates Thema für einen Gast wie den Prinzen waren: Edinburgh wollte sich von seiner schönsten Seite zeigen und die Ankunft mit einem dreitägigen Fest feiern.

War ich anfangs noch aus reiner Neugierde gefolgt, so stellte sich bei mir bald die Überzeugung ein, dass ich durch meine bloße Anwesenheit einen Teil zum Gelingen ihrer Ausflüge beitrug. Ich war ihr Schatten und ihr Bruder im Verbrechen, derjenige, der über sie wachte und sie beschützte, der ihre Bewegungen kannte, den Rhythmus des Einstiegs, des Verweilens und des Ausstiegs. Und schloss ich meine Augen, so war mir, als ob ich sie durch den dunklen Schlund ins Haus begleitete, Füße und Hände gegen das heiße Mauerwerk gepresst, blitzartig hinab, am Rand des Kamins die Schuhe ausziehend, Wertsachen einpacken

und dann zurück. Ich war der Geist, der alles sah und niemals eingriff.

Bis zu jener Nacht im Juni, als ich spürte, dass das Uhrwerk aus dem Takt geraten war, die Zeit plötzlich stillstand und ein einsamer Kamin ins Mondlicht ragte, aus dem sich nicht einmal mehr Rauch schlängelte. Ohne nachzudenken kletterte ich hinauf und sah in die schwarze Öffnung: nichts. Doch hörte ich ein leises Husten, ein Kratzen, Stemmen und Strampeln. Sie steckte fest, und unter ihr glimmte noch Glut. Sie würde im Rauch ersticken oder musste um Hilfe rufen.

Ich sprang zurück und fand in einer nahen Scheune ein Tau, das ich mit aufs Dach nahm und in den Kamin warf. Ich spürte, wie sie danach griff, dann zog ich sie mit aller Kraft hinauf – der Widerstand gab ruckartig nach und schon im nächsten Moment wurde das Seil ganz schlaff: Sie hatte es geschafft und kletterte den Steig hinauf. Dort oben auf dem Dach stand sie mir gegenüber. Sah mich lange an.

Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange: „Ich bin Aschenputtel!“

Und ich antwortete: „Ich weiß!“

Ich konnte nicht mehr schlafen. Nicht mehr essen. Nicht mehr denken. Meine Welt kreiste nur um sie, alle meine Gedanken wurden von ihr beherrscht und mir war, als brannte ihr sanfter Kuss noch tagelang in meinem Gesicht. Meine schulischen Leistungen ließen rapide nach, meine Eltern waren in Sorge, dass ich ernsthaft erkrankt sein könnte, doch stellte der Arzt kein körperliches Leiden an mir fest. Wie auch? Ich schlich weiterhin des Nachts aus dem Haus, aber sie sprang nicht mehr über die Dächer, so dass ich deprimiert und flau vor lauter Sehnsucht mit dem ersten Morgengrau zurückkehrte.

Just in dem Moment, an dem ich es nicht mehr aushielt und beschloss, sie aufzusuchen, drückte mir auf der Straße vor unserem Haus ein kleiner Junge eine Mitteilung in die Hand, die ich in meiner Kammer mit klopfendem Herzen öffnete. Sie hatte mir geschrieben! Und obwohl die Nachricht nur aus zwei Worten bestand, hätte sie nicht aufrührender sein können: Hilf mir! Und ich jubelte in Gedanken: Ja, Ja, Ja!

Noch in der selben Nacht wartete ich im Dunkeln vor ihrem Haus. Plötzlich stand sie neben mir und zog mich fort, über die Straße in einen kleinen Park, der dunkel und einsam dalag.

Eine Weile sagte niemand etwas, dann lächelte sie mich an: „Ich wusste die ganze Zeit, dass du da warst.“

„Wirklich?“

Sie kicherte: „Ja, du bist nicht sehr geschickt im Verfolgen von Menschen … “

Ich seufzte. „Aber du hast eine gute Beobachtungsgabe. Niemals zuvor hat jemand mein Geheimnis entdeckt.“ Das Eis war gebrochen, und wir redeten die ganze Nacht. Sie erzählte mir vom Tod ihrer Mutter, und dass sich der Vater daraufhin eine neue Frau genommen hatte, die zwei Töchter mit in die Ehe gebracht hatte. Und dass er ihr hörig war und alle ihre Wünsche zu erfüllen suchte, und sie deshalb zu stehlen begonnen hatte – nur wegen ihr.

Ich schwieg und nickte hier und da, denn einiges hatte ich mir selbst zusammenreimen können, doch als ich hörte wie groß ihr Kummer war, wie schmerzlich die täglichen Demütigungen und Misshandlungen, da bekam ich großes Mitleid und zog den kleinen Zettel aus der Tasche, den sie geschrieben hatte.

„Sag mir, was ich tun soll?“ Sie beugte sich zu mir rüber, umfasste mit ihrer Hand meinen Nacken, so dass sich unsere Wangen berührten. Und flüsterte.

Es war gefährlich, halsbrecherisch und verrückt, aber ich zögerte keine Sekunde, meinen Teil dazu beizutragen. Ich wollte mit Aschenputtel einen gemeinsamen letzten Raubzug wagen, und so malte ich mir auf dem Heimweg aus, wie der Coup gelingen könnte, wie wir anschließend meiner Heimat den Rücken kehrten, um irgendwo neu anzufangen. Ich war bereit für das Abenteuer meines Lebens: Ich würde Aschenputtel retten – und sie mich!

Jemand legte seine Hand auf meine Schulter, und ich wirbelte erschrocken herum.

„Sieh an, der junge Mister Doyle! Guten, Abend, Arthur … oder sollte ich besser sagen: Gute Nacht?“ Inspector Holmes hatte mich am Wickel, in einem Viertel, das wahrlich nicht den besten Ruf genoss. Hinter ihm stand Sergeant Watson, wie immer schweigsam. Beide sahen mich neugierig an.

„In … In … Inspector … “

„Holmes. Sehr richtig, Arthur. Darf ich fragen, was Du hier machst?“

„I … I … Ich … “ Zwei Trunkenbolde näherten sich uns, lärmten und sangen,

selbst noch, als sie fast vor Holmes und Watson standen. Der größere von beiden trug eine auffällige blaue Samtjacke, dazu schulterlanges Haar, ein kecker Bohemien, der offensichtlich die Provokation liebte.

„Inspector Holmes, ich bin schockiert! Ein Mann mit Ihren Prinzipien in einem Viertel wie diesem?“

Holmes antwortete kühl: „Die Prinzipien sind nicht das einzige, was uns unterscheidet, Mister Stevenson. Und wie ich sehe, begleitet Sie wieder einmal Ihr verkommener Cousin Bob.“

Bob verbeugte sich grinsend und antwortete: „Stets zu Diensten, Inspector.“

Stevenson zeigte auf mich und fragte frech: „Sie zeigen ihm das Vergnügungsviertel unserer schönen Heimatstadt?“

Holmes war wütend, aber er blieb äußerlich völlig ungerührt: „Ziehen Sie weiter, Mister Stevenson. Denn möglicherweise komme ich sonst auf die Idee, Ihre Taschen zu durchsuchen und Ihnen das Haschisch abzunehmen.“

„Guter Gott, nein, Inspector! Immer gleich zum Äußersten!“ Er grinste amüsiert, dann beugte er sich zu mir herab und sagte leise: „Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Junge?“ Ich starrte ihn erschrocken an, nicht sicher, ob er vielleicht verrückt war. Er flüsterte: „Menschen sind nie das, was sie scheinen. Am Tag ein eloquenter Doktor, des Nachts eine wilde Bestie. Und du weißt nie, wer von beiden dir im nächsten Moment begegnen wird.“

Er richtete sich wieder auf, lachte und schwankte mit seinem Cousin weiter, drehte sich noch einmal um und rief Holmes zu: „Sie gäben einen guten Piraten ab, Inspector John Holmes. Ich

werde Sie von nun an Long John Silver nennen!“ Ein Hustenanfall beendete seinen Spott, dann verschwanden die beiden in der Dunkelheit.

Inspector Holmes wandte sich mir zu: „Ich hoffe, es ist dir Warnung genug, Arthur. Soll dein Leben so sein, wie das dieses verkommenen Literatenʻ?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Dann würde ich jetzt schnell nach Hause gehen – und nie wieder hierhin kommen!“ Das hätte ich am liebsten getan, aber er hielt meine Schulter und studierte mein Gesicht: diese ewig suchenden Augen. Ich wand mich unter seinem Blick, schlug die Lider nieder, um ihn nicht länger ertragen zu müssen.

So hörte ich nur seine leise Stimme: „Was verbirgst du vor mir, Arthur?“ Ich antwortete nicht, sah nicht auf, spürte, wie er mich losließ und lief davon – so schnell ich konnte.

Es blieb nicht viel Zeit, doch ich hatte genügend Geld, das Aschenputtel mir mitgegeben hatte und konnte so Schneider und Schuster zur höchster Eile antreiben und ihre Mühen entsprechend belohnen. Als ich ihr in der darauf folgenden Nacht von meiner Begegnung mit Inspector Holmes erzählte, wurde sie nachdenklich und versprach, kein Risiko mehr einzugehen: Sie wollte nicht mehr über die Dächer Edinburghs klettern, und ich würde nicht mehr über sie wachen. Stattdessen hielten wir Händchen, saßen in unserem kleinen Park, und wünschten, die Nacht würde nie vergehen, während wir uns die Zukunft in den schönsten Farben ausmalten.

Die Ankunft des orientalischen Prinzen war triumphal, die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein und empfing ihn jubelnd auf dem Bahnhof, wo er von Premierminister Benjamin Disraeli empfangen wurde, an dessen Seite der Bürgermeister und einige Lords, die dem Prinzen die Ehre erwiesen. Sie begleiteten ihn auf die Burg über der Stadt, wo noch am selben Abend die Festlichkeiten beginnen sollten. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass der Prinz nicht verheiratet war und das sein Reichtum sagenhaft sein musste. Grund genug für alle ledigen Damen Edinburghs sich aufgeregt rauszuputzen, die edelsten Kleider und den teuersten Schmuck anzulegen, denn die Aussicht darauf, eines Tages Königin eines märchenhaften Reiches zu werden, beflügelten Phantasie und Begierde.

Und so herrschte auch im Hause Aschenputtels große Aufregung, denn auch ihre Stiefschwestern wollten auf den Ball am Abend, wollten ihr Glück beim Prinzen versuchen und waren sich sicher, zu gefallen, denn jede der beiden war recht hübsch. Aschenputtel musste ihnen beim Ankleiden helfen, beim Schmücken und Schminken, musste ihre Launen ertragen, ihre Gereizt- und ihre Überdrehtheiten.

Als sie fertig waren, und draußen die Kutsche bereitstand, sahen sie auf ihre kleine Stiefschwester herab und lächelten: „Aschenputtel, möchtest du uns nicht begleiten?“

Sie sah sie überrascht an und nickte scheu: „Sehr gerne.“

Da packte eine von ihnen eine große Schüssel Linsen und kippte sie in die Asche: „Gut, sobald du alle Linsen aus der Asche gelesen hast, dann komm einfach nach.“ Sie kicherten und machten sich mit ihrer Stiefmutter auf den Weg. Aschenputtel verließ nach ihnen das Haus und eilte so schnell sie konnte zum Friedhof. Dort fand sie ein Bündel auf dem Grab ihrer Mutter, darin ein Kleid aus Gold und Silber, dazu mit Seide und Silber ausgeschlagene Pantoffeln. Ein zarter Schleier verdeckte ihr Gesicht. So eilte sie zu einem anderen Ausgang des Friedhofs, wo bereits eine Kutsche auf sie wartete, und der Kutscher war niemand anderes als ich selbst. So fuhren wir zum Schloss.

Sie trat als Letzte in den Ballsaal und mit wenigen Schritten in die glitzernde Welt der feinen Gesellschaft. Ganz ohne Scheu und sehr selbstbewusst, so dass sich schon nach wenigen Momenten die Ersten nach ihr umdrehten und sich fragten, wer die grazile Schöne sei, die dort inmitten der prächtig gekleideten Herrschaften einher schritt? Ich konnte durch eines der Fenster sehen, wie der Prinz auf sie aufmerksam wurde, wie er sie nicht mehr aus den Augen ließ, bevor er sich mit einem Nicken bei seiner Plauderrunde entschuldigte und geradewegs auf sie zuging. Er forderte sie zum Tanz auf. Und ließ sie nicht mehr gehen.

Sie schwebten durch den Raum, bis sie vergessen zu haben schienen, dass sie nicht alleine waren, und jeder sehen konnte, wie sehr dem Prinzen die unbekannte Dame gefiel. Und wagte jemand nach einem Musikstück Aschenputtel aufzufordern, so schüttelte er den Kopf und sagte freundlich: „Nein, das ist meine Tänzerin.“ Kurz vor Mitternacht verabschiedete sich Aschenputtel vom Prinzen.

„Ich begleite dich!“, sprach der Prinz, aber Aschenputtel verließ eilig den Ball. Draußen wartete ich bereits mit der Kutsche, in die sie hineinsprang. Dann gab ich dem Gespann die Peitsche. Wir rasten davon.

Sie war das Gesprächsthema der ganzen Stadt, geifernd und eifersüchtig geführt von den vielen, die sich selbst Hoffnungen auf des Prinzen Aufmerksamkeit gemacht hatten, und auch in Aschenputtels Haus war der Hass auf die unbekannte Schöne groß, denn Aschenputtels Stiefschwestern sahen ihre Felle davon schwimmen. Dementsprechend gereizt scheuchten sie Aschenputtel mal hierhin, mal dorthin, fauchten und schrien, denn sie wollten für den Abend besonders schön sein, um doch noch die Chance zu wahren, eines Tages Königin zu werden.

Gegen Abend verließen sie mit ihrer Mutter das Haus und eilten zum Schloss. Aschenputtel ließ sie gehen, lief dann selbst schnell zum Grab ihrer Mutter und fand dort ein weiteres Bündel vor, mit einem noch viel stolzeren Kleid als am Abend zuvor. Wieder stieg sie zu mir in die Kutsche und wieder ruhten am Abend im Ballsaal alle Blicke auf ihr, weil sie so schön war, dass sie alle anderen Damen durch ihre bloße Anwesenheit beschämte. Der Prinz schien auf sie gewartet zu haben, denn er nahm gleich ihre Hand und tanzte den ganzen Abend nur mit ihr. Als es fast Mitternacht schlug, eilte Aschenputtel erneut davon. Auf der Treppe verlor sie einen Schuh, drehte sich aber nicht um und sprang zu mir in die Kutsche. Erneut entkamen wir unerkannt. Der Prinz jedoch nahm den Schuh und sah, dass er ganz klein, zierlich und golden war.

Uns lief die Zeit davon; ich wusste es in dem Augenblick, als ich am darauf folgenden Tag aus der Schule kam und Inspector Holmes zusammen mit Sergeant Watson in unserem Wohnzimmer stehen sah. Mit den größten Befürchtungen trat ich ein, denn was, wenn mein Vater jetzt von meinen nächtlichen Ausflügen wusste? Dabei schreckte mich weniger der Gürtel als die Tatsache, dass er mir keine Gelegenheit mehr geben würde auszubüchsen. Sollte ich davonrennen? Meiner Familie den Rücken kehren, ohne ein Wort des Abschiedes oder der Erklärung? Dazu fehlten mir Mut und Rücksichtslosigkeit. Alle drei sahen mich neugierig an, Inspector Holmes mit einem rätselhaften Lächeln im Gesicht.

Mein Vater fragte: „Sag, Arthur, du erinnerst dich doch noch an die Schornsteinfeger?“ Ich war so überrascht, dass ich vor lauter Schreck kein Wort herausbrachte und nur nickte. „Ist dir an ihnen vielleicht etwas aufgefallen?“

Ich schwieg, als Inspector Holmes mir freundschaftlich auf die Schulter klopfte: „Arthur, du bist ja ganz blass! Ist dir nicht gut?“

Mein Vater antwortete mitleidig: „Er ist in letzter Zeit nicht bei bester Gesundheit, Inspector. Wir waren schon beim Arzt mit ihm, aber der hat auch keine Erklärung für seinen Zustand.“

Holmes fixierte mich mit seinen Augen und antwortete ruhig: „Vielleicht fehlt ihm nur ein wenig Schlaf … was meinst Arthur? Schläfst du in letzter Zeit schlecht?“

Ich konnte gar nicht anders als ihn ansehen und zu nicken: „Ja … schon … “

Holmes drehte sich zu meinem Vater und rief munter: „Sehen Sie, Mister Doyle! Kein Grund zur Sorge. Jungs in diesem Alter sind zuweilen … rastlos.“ Während mein Vater beruhigt nickte, stand Sergeant Watson nur da, leise grinsend. Er schien seinen Spaß zu haben.

Ich fragte zitternd: „Was hat es denn mit den Schornsteinfegern auf sich, Inspector?“

Holmes wandte sich mir wieder zu: „Es ist wie mit deiner Gesundheit, Arthur. Man sucht nach Erklärungen und zum Schluss stellt man fest, dass man die einleuchtendste einfach übersehen hat.“

„Der Inspector glaubt, dass der Dieb durch den Schornstein eingestiegen sein könnte. Und jetzt überprüft er alle Häuser, in denen etwas gestohlen wurde“, erklärte mein Vater. Holmes ließ mich nicht aus den Augen, aber er machte keine Anstalten mich zu verraten.

„Gut, wir müssen weiter!“ Er nickte meinem Vater zum Gruß zu. „Mister Doyle!“ Dann gab er mir die Hand und schüttelte sie: „Und dir wünsche ich, dass du dich bald erholst, Arthur. Du bist ein interessanter junger Mann, und ich glaube, dass wir noch viel von dir hören werden.“

Sie gingen, und ich brauchte endlose Minuten, um wieder zu mir zu kommen. Dann jedoch traf mich die Erkenntnis, dass Aschenputtel überführt werden würde, wie ein Schock, und ich

raste los, um sie zu warnen. Zu meiner großen Überraschung sah ich einen großen Menschenauflauf vor Aschenputtels Haus: Ich war zu spät gekommen! Ungeduldig drängelte ich mich durch die Menschentrauben und stand schon bald in erster Reihe, sehr nahe der Eingangstür. Wie sie alle starrten! Es war schrecklich, denn gleich würde sich die Tür öffnen und alle würden sehen, wie man Aschenputtel abführte. Doch nicht sie kam aus der Tür, ihre Stiefschwester war es. Zusammen mit dem Prinzen, der ihre Hand hielt, glücklich strahlend.

Die Menschenmenge teilte sich und gab den Weg zu einer prächtigen Kutsche frei, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Aschenputtels Schwester schritt neben dem Prinzen einher, aber ihr Lächeln war zur Maske verzerrt: Ich blickte hinab zu ihren Fuß und Blut quoll aus einem goldenen Pantoffel. Aschenputtels Schuh, den jetzt ihre Schwester trug. Einer der Diener des Prinzen eilte ihm entgegen und flüsterte ihm etwas in Ohr, worauf der Prinz auf die Zehen der Braut sah.

Er rief laut: „Blut ist im Schuh! Der Schuh ist zu klein – die rechte Braut ist noch daheim!“ Sie kehrten zurück ins Haus und einer der Neugierigen klärte mich auf, dass der Prinz schon den ganzen Tag nach der geheimnisvollen Schönen suchte, die ihn während des Balls verzaubert hatte. Der Schuh war so außergewöhnlich zierlich, dass er sicher war, auf diese Art und Weise seine Braut zu finden. Viele hatten sich gemeldet, doch keiner hatte bisher der Schuh gepasst.

Bald darauf kam die zweite Stiefschwester mit dem Prinzen heraus, doch auch hier machte einer der Diener seinen Herrn aufmerksam: Ihre weißen Strümpfe waren an den Fersen ganz rot, so dass der Prinz erneut rief: „Blut ist im Schuh! Der Schuh ist zu klein – die rechte Braut ist noch daheim!“ Er brachte Aschenputtels Stiefschwester zurück ins Haus und eilte anschließend mit der Kutsche davon. Die Menschenmenge löste sich rasch auf, viele liefen der Kutsche nach, denn sie waren begierig zu wissen, ob der Prinz seine Prinzessin finden würde. Ich konnte nicht fassen, wie kaltblütig Aschenputtels Schwestern versucht hatten zu betrügen, wie rücksichtslos gegen sich selbst. Und nach einem kurzen Blick durch das Küchenfenster konnte ich sehen, wie ihre Mutter auf sie schimpfte, während beide am Tisch saßen und weinten. Aschenputtel war nicht zu sehen.

Sie fand ihr Päckchen auf dem Grab ihrer Mutter und es war ein Kleid, wie noch nie eines zuvor, so prächtig und schillernd strahlte es. Bevor sie zu mir in die Kutschte stieg, sprang ich vom Bock herab und hielt ihre Hand: „Lass uns fliehen, Aschenputtel!“

Doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf und antwortete: „Wir sind fast am Ziel, Arthur. Vertrau mir!“

„Ich vertraue dir ja, aber ich glaube, dass Inspector Holmes weiß, wer hinter den Einbrüchen steckt.“

Sie berührte mit ihrer Hand meine Wange und sagte leise: „Heute Nacht werden wir frei sein.“ Sie war ganz ruhig, dann küsste sie mich zart auf den Mund. Mir war ganz schwindelig vor Glück. Als sie in die Kutsche stieg, drehte sie sich noch einmal um und zückte eine kleine, rechteckige Schachtel, verschnürt mit einem bunten Band.