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Detective Marnie Rome ermittelt – alle drei Thriller der Reihe in einem Band!
„Herzenskalt“: Kein Opfer gleicht dem anderen. Keiner weiß das besser als Marnie Rome von der Kriminalpolizei London. Denn sie selbst – die brillante Ermittlerin, klug, schnell, zuverlässig – ist ein Opfer: Vor fünf Jahren wurden ihre Eltern brutal ermordet. Marnie hat sich zurück ins Leben gekämpft, nur wenige wissen um die dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit. Auch ihr junger Kollege Noah nicht, mit dem sie in einem Frauenhaus eine Zeugin vernehmen will. Sie hat sich vor ihrem prügelnden Mann dorthin geflüchtet. Routine, ein klarer Fall – doch im Laufe der Ermittlungen beschleichen Marnie Zweifel: Jeder hat etwas zu verbergen, Täter wie Opfer. Jeder hat eine Vergangenheit, die er nur noch vergessen möchte – wie Marnie selbst…
„Seelenkinder“: Ein grauenvoller Fund: Im Garten seines Hauses in einer Londoner Neubausiedlung entdeckt Familienvater Terry Doyle einen alten Bunker – und darin, dreieinhalb Meter tief in der Dunkelheit, zwei Kinderleichen. Für das Team um Detective Marnie Rome türmen sich die Fragen auf: Wer waren die Kinder? Warum wurden sie nie als vermisst gemeldet? Welche Rolle spielt Clancy, der verhaltensauffällige Ziehsohn von Terry? Die Begegnung mit Clancy ist für Marnie wie eine Falltür in die Vergangenheit – er erinnert sie an ihren Adoptivbruder Stephen, einen Mörder. Und als Clancy plötzlich mit Terrys leiblichen Kindern verschwunden ist, ahnt Marnie: Jetzt zählt jede Sekunde.
„Puppenheim“: Eine Reihe mysteriöser Vermisstenfälle hält London in Atem. Junge Mädchen, die von zu Hause ausgebrochen sind, verschwinden von einem Tag auf den anderen spurlos. Das Gerücht geht um, ein geheimnisvoller Mann habe seine Finger im Spiel. Schon bald wird die erste Leiche gefunden, hindrapiert wie eine Puppe. Marnie Rome von der Kriminalpolizei London wird zum Tatort gerufen. Marnie, die brillante Ermittlern, die aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, Opfer zu sein. Und die sofort spürt, dass man sich auf die Fürsorge dieses Mannes nicht verlassen kann ...
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Seitenzahl: 1601
Detective Marnie Rome ermittelt – alle drei Thriller der Reihe in einem Band!
Herzenskalt: Kein Opfer gleicht dem anderen. Keiner weiß das besser als Marnie Rome von der Kriminalpolizei London. Denn sie selbst – die brillante Ermittlerin, klug, schnell, zuverlässig – ist ein Opfer: Vor fünf Jahren wurden ihre Eltern brutal ermordet. Marnie hat sich zurück ins Leben gekämpft, nur wenige wissen um die dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit. Auch ihr junger Kollege Noah nicht, mit dem sie in einem Frauenhaus eine Zeugin vernehmen will. Sie hat sich vor ihrem prügelnden Mann dorthin geflüchtet. Routine, ein klarer Fall – doch im Laufe der Ermittlungen beschleichen Marnie Zweifel: Jeder hat etwas zu verbergen, Täter wie Opfer. Jeder hat eine Vergangenheit, die er nur noch vergessen möchte – wie Marnie selbst…
Seelenkinder: Ein grauenvoller Fund: Im Garten seines Hauses in einer Londoner Neubausiedlung entdeckt Familienvater Terry Doyle einen alten Bunker – und darin, dreieinhalb Meter tief in der Dunkelheit, zwei Kinderleichen. Für das Team um Detective Marnie Rome türmen sich die Fragen auf: Wer waren die Kinder? Warum wurden sie nie als vermisst gemeldet? Welche Rolle spielt Clancy, der verhaltensauffällige Ziehsohn von Terry? Die Begegnung mit Clancy ist für Marnie wie eine Falltür in die Vergangenheit – er erinnert sie an ihren Adoptivbruder Stephen, einen Mörder. Und als Clancy plötzlich mit Terrys leiblichen Kindern verschwunden ist, ahnt Marnie: Jetzt zählt jede Sekunde.
Puppenheim: Eine Reihe mysteriöser Vermisstenfälle hält London in Atem. Junge Mädchen, die von zu Hause ausgebrochen sind, verschwinden von einem Tag auf den anderen spurlos. Das Gerücht geht um, ein geheimnisvoller Mann habe seine Finger im Spiel. Schon bald wird die erste Leiche gefunden, hindrapiert wie eine Puppe. Marnie Rome von der Kriminalpolizei London wird zum Tatort gerufen. Marnie, die brillante Ermittlern, die aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, Opfer zu sein. Und die sofort spürt, dass man sich auf die Fürsorge dieses Mannes nicht verlassen kann ...
Die Autorin:
Sarah Hilary lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Bristol. Sie arbeitet bei einem bekannten Reiseführerverlag, war jedoch auch schon als Buchhändlerin oder bei der Royal Navy tätig. »Herzenskalt«, der erste Teil der Reihe um die unerschrockene Ermittlerin Marnie Rome, wurde in England als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet.
Sarah Hilary
Die Marnie-Rome-Reihe
Drei Romane in einem Band
Herzenskalt Seelenkinder Puppenheim
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»Herzenskalt«
Copyright © 2014 by Sarah Hilary
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: © Shutterstock/Rob van Esch; Tamara Kulikova
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
»Seelenkinder«
Copyright © 2015 by Sarah Hilary
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umschlagmotiv: © Lee Avison/Trevillion Images; © Shutterstock/EsraKeskinSenay
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
»Puppenheim«
Copyright © 2016 by Sarah Hilary
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock/Ensuper; 7th Sun
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
978-3-641-28512-8
www.btb-verlag.de
SARAH HILARY
Aus dem Englischen von Astrid Mania
Für Anna, in Unbeugsamkeit.
Als sie endlich heimkommt, wird das Haus gerade abgesperrt. Ein Uniformierter, sie kennt ihn nicht, wickelt mechanisch das Band ab.
Marnie sieht ihm vom Schutz ihres Wagens aus zu, die eiskalten Finger am Autoschlüssel, der Motor läuft noch, als ob sie gleich wieder Gas geben, flüchten wollte, weg hier, nichts wie weg hier …
Man wird sie nicht hinter die Absperrung lassen; doch sie muss da durch. Was immer sich im Haus befinden mag – und sie hat Angst davor, so große Angst, dass es im Kiefer schmerzt –, es warten dort auch Antworten. Sie muss ins Haus.
Sie macht den Motor aus und vergräbt den Schlüssel in der Faust. Die Zinken bohren sich in ihre Hand. Sie zittert schon, dabei ist sie noch gar nicht ausgestiegen.
Ein Krankenwagen, da steht ein Krankenwagen, doch er verharrt ganz still. Keine Sirene, kein Blaulicht. Die Besatzung ist im Haus, niemand drängt zur Abfahrt. Das ist kein gutes Zeichen. Dann gibt es keine Hoffnung mehr, dann ist das Schlimmste eingetreten. Ihr Gesicht wird feucht, sie hält nach Regen Ausschau, doch der Himmel ist leer, grau, wie von einer Plane überzogen. Kein Regen, nur der dumpfe, schwere Druck, der von Gewitter kündet, liegt in der Luft.
Es regnet schon den ganzen Monat. London ist daran gewöhnt, auch Marnie – ein Schirm liegt stets in ihrem Handschuhfach, ein weiterer auf dem Revier, ein dritter steckt in der Tasche über ihrer Schulter. Sie will doch trocken bleiben, wenn sie auf ihren Kaffee wartet, aus der U-Bahn kommt oder sich an einem Tatort aufhält. Allzeit bereit ist keine Losung, es ist eine Frage der Vernunft. Vorausgesetzt, man hat es im Griff. Vorausgesetzt, es ist nicht so groß und grässlich, dass man Angst hat, es sich näher anzuschauen.
Sie sieht sich nach dem zuständigen Beamten um.
Da ist er, die reflektierende Weste über der Uniform, gleich neben Dads Wagen, dem braunen Vauxhall, seinem ganzen Stolz. Das Auto glänzt, obwohl die Sonne gar nicht scheint, genau wie die Fensterscheiben. Das Haus blendet. Alles jenseits der Absperrung wirkt, als wäre es aus Glas, zerbrechlich. Selbst der Hängekorb über der Tür mit den Petunien. Auch er, aus Glas.
Marnie steht auf dem Bürgersteig, mit klappernden Zähnen. Sie muss ins Haus, sie schafft es nicht.
Sie ist wieder vierzehn, kommt viel zu spät nach Hause, aber vielleicht hat sie Glück und kann sich unbemerkt hineinschleichen. Wimperntusche brennt in den Augen, ihre Zunge fühlt sich ganz pelzig vom Tequila an. Eine Schlange sitzt in ihrem linken Schuh und wickelt sich langsam um ihren Fuß, um ihren Knöchel. Marnie humpelt vorwärts, wie eine Heldin, aber auch voller Reue. Sie wird es niemals heil da rein schaffen …
Sie reißt sich von der Vergangenheit los. Sie ist keine vierzehn, sondern achtundzwanzig. Und vor Angst gelähmt. Vor dem, was hinter der Absperrung wartet. Vor der Stille und dem schwarzen, tierhaften Gestank, der stundenlang in ihrer Kleidung und viel länger noch an ihrer Haut haften wird.
Sie zwingt sich, an etwas anderes zu denken. Einen anderen Tatort, einen, den sie irgendwie ertragen hat, obwohl er schlimmer war als das, was sie hier im Haus erwartet. Albie Crane …
Sie denkt an Albie Crane. Ein älterer Obdachloser, keine Angehörigen. Bei lebendigem Leib verbrannt, in einer Durchfahrt unten bei den Docks, weil irgendwelche Kids ihr Taschengeld für irgendwelche Pillen ausgegeben hatten. Er hatte es zu seinem Platz geschafft, bevor der Regen anfing, sodass sein alter Mantel und die sechs flachgedrückten Kartons eine ganze Nacht lang lodern konnten, bis sie zu etwas Klebrigem verkohlten. Zu geschundenen Rippen, einem schwarz glasierten Schädel. Wer sollte schon den alten Albie Crane beweinen? »Es hat ihn im Schlaf erwischt«, hatte sie sich eingeredet, als ob man durch so etwas hindurchschlafen könnte. Es war das Schlimmste, was sie je gesehen, je gerochen hatte. Bis zum nächsten Mal: ein Paar, das bei einem Hausbrand ineinandergeschmolzen war.
Der Beamte ist so jung, er hat noch Akne, doch das spielt keine Rolle. Er hat hier das Sagen. Er könnte sogar dem Chief Constable untersagen, hinter diese Linie zu treten.
Das Absperrband macht Klick-klick-klick. Irgendetwas – der Wind, der Verkehr – zerrt und zieht daran.
Aus den Augenwinkeln sieht sie Mrs Poole, die Nachbarin ihrer Eltern, aus Haus Nummer 12. Sie kauert auf der Veranda, das Gesicht vom Schock gezeichnet, eine Foliendecke über den Schultern, doch niemand ist bei ihr. Alles spielt sich nebenan ab. Keine weiteren Opfer also, keine Verletzten, sonst wäre die Absperrung weiträumiger.
Normalerweise wäre das ein Trost, die Tatsache, dass sich das Unglück in Grenzen, in privaten Grenzen hält.
Mrs Poole entweicht ein Klagen, als sie Marnie sieht. Ihre Hand fährt zum Mund.
Marnie duckt sich unter dem Absperrband hindurch.
»Miss. Sie dürfen hier nicht rein.« Aus der Nähe ist seine Akne wirklich widerlich. Rot und eitergelb. Der Beamte baut sich breit und groß vor Marnie auf, sein Amt gibt ihm Statur.
Marnie zeigt ihm ihre Marke, und da erst geht ihr auf, dass hinter dem Dienstgrad eines Detective Superintendent ihr Nachname steht. Rome, so wie das Paar hier in dem Haus. DS Marnie Rome. Die Tochter von Greg und Lisa Rome.
Eine große Hand legt sich auf ihre Schulter. Marnie fährt zusammen.
Tim Welland, ihr Boss.
Es ist so schlimm, wie sie befürchtet hat.
»DS Rome«, sagt er ruhig. »Marnie.«
Ihr Vorname. Es ist noch viel, viel schlimmer.
»Bitte.« Sie will doch nur ins Haus. Hier draußen zittert sie vor Kälte. »Sir, bitte …«
Er dirigiert sie mit der Hand auf der Schulter zurück in Richtung Absperrband. Sie fühlt es von hinten gegen ihre Taille schlagen. »Sir …«
Welland hat Schorf über der linken Augenbraue, zu hoch für eine Wunde vom Rasieren. Eine kreisförmige Kruste; wie eine Zielscheibe. Seine Augen sind geädert, rot. Er wirkt krank. Alt.
»Lassen Sie mich reingehen«, fleht sie. »Bitte. Ich will zu ihnen.«
»Noch nicht. Noch – nicht.«
Die Bärenpranke hat Marnie fest im Griff, doch sie kann über Wellands Schulter sehen. Sie kann sehen, wie der Spurenermittler in seinem weißen Overall, die Knie blutig, aus dem Haus kommt und auf Armeslänge einen Plastikbeutel vor sich herträgt.
Darin ein Messer. Mums Brotmesser, an den Stahlzähnen Fetzen roter Haut.
Ein leiser Einspruch, wie ein Tier in stetem Schmerz, dann ein trockenes, bellendes Schluchzen. Das ist zu viel für Marnie, am liebsten würde sie sich die Ohren zuhalten, doch sie müsste sich den Mund zuhalten, denn das Klagen kommt von ihr.
Welland drückt sie sanft zu Boden, auf den Bordstein. Sie wehrt sich. Nein, zu denen wird sie nicht gehören. Zu denen wird sie nie gehören – zu denen, die heulend am Straßenrand zusammenbrechen, die es nicht ertragen, wenn es an der Tür klopft, die fallen und sich nie wieder erheben.
Die Opfer. Sie wird kein Opfer sein.
»Gönnen Sie sich eine Minute, Detective.« Wellands Hand liegt Marnie schwer im Nacken. Sie kann sich nicht länger dagegen wehren und lässt sich auf den Boden sinken. »Nur … eine Minute.«
Heute
Von außen bot das schmale, stuckverzierte Haus, in dem DI Marnie Rome wohnte, einen sehr gepflegten Anblick. Die Einrichtung stellte Noah Jake sich sachlich vor, mit einem Sinn für funktionale Schönheit. Hölzerne Jalousien, eine gräuliche Vase mit hohen, orangefarbenen Blüten. Vermutlich zwei Zimmer. Noah war neugierig, jedoch nicht so neugierig, dass er sich aufgedrängt hätte, also legte er die Hände auf das Lenkrad und wartete. Als die Sonne den Londoner Wolkenhimmel durchbrach, reflektierte sie den weißen Stuck in ihrem Licht.
An manchen Tagen war zu spüren, dass die Stadt auf den Gräbern von Pestopfern errichtet war. Nirgends gab es Stillstand, auch hier vibrierte die Straße unter dem nahen Zubringer in Richtung West End. Irgendwo hatte Noah gelesen – wahrscheinlich in einem von Dans Architekturführern –, dass Primrose Hill beinahe zur Massenbegräbnisstätte geworden wäre. Im 19. Jahrhundert hatte es Pläne für den Bau einer mehrstöckigen Pyramide gegeben, die St Paul’s überragen und Platz für mehr als fünf Millionen Tote bieten sollte. Die Auswüchse der Ägyptomanie. Die Städteplaner hatten sich von den britischen Grabräubern infizieren lassen, die nach ihrer Heimkehr das ganze Land mit Hieroglyphen verzieren wollten. Nun rotierte eine Kirchturmspitze hoch über der Stadt, die Spindel des London Eye, allherrschend und allsehend.
Noah schaute auf die Uhr, zurück zum Haus.
Die massive Haustür mit den Sicherheitsschlössern, durch die DI Rome nun treten sollte, glänzte dunkelblau. Genau wie ihre Augen. Noch eine Minute, und DI Rome käme zu spät. Und sie kam nie zu spät. Ob er klopfen sollte? Nein, das wäre aufdringlich. Er arbeitete seit fünf Monaten mit Marnie Rome zusammen und wusste dennoch kaum etwas über ihr Privatleben, nur, dass sie sehr viel Wert darauf legte, dass es ihr Privatleben blieb.
Die blaue Tür öffnete sich noch vor Ablauf der Minute. DI Marnie Rome kam die Treppe herunter, in einem dunklen Hosenanzug mit weißer Bluse, über der Schulter eine Ledertasche. Gepflegt von Kopf bis Fuß, von den roten Locken bis zu den flachen Absätzen.
Noah schaute prüfend auf den – bereits sauberen – Beifahrersitz und wischte über seine Anzugärmel. Er reckte sich zur Seite und öffnete ihr von innen die Tür. »Morgen.«
»Guten Morgen.« Sie glitt in den Wagen und stellte die Tasche auf den Boden. »Da hatten Sie aber Glück mit dem Parkplatz.«
»Ich war früh, ich hatte gedacht, wir sollten besser pünktlich sein.«
»Gut gedacht.«
Noah ließ den Motor an und wartete darauf, dass sich Marnie anschnallte.
Sie verstand, lächelte und legte sorgfältig den Gurt an. »Sicherheit geht natürlich vor, Detective.«
Eine halbe Stunde später war es angesichts der Fotos, die sich Noah Jake im Büro von Commander Tim Welland ansehen musste, mit dem Gefühl von Sicherheit vorbei.
»Nasif Mirza.« Welland warf die Fotos der Reihe nach auf seinen Schreibtisch, als würde er Spielkarten austeilen. »Wir halten ihn der schweren Körperverletzung für verdächtig. Die Waffe war übrigens ein Krummsäbel, falls das noch nicht klar ist.« Auf dem Schreibtisch breitete sich Stück für Stück das Storyboard zu einem Horrorfilm aus. Frei ab 18, Bonus-Schocker-Material auf DVD.
Marnie Rome nahm eins der Bilder in die Hand, schaute es sich gründlich an und legte es zurück an seinen Platz. Noah behielt die Hände unter dem Schreibtisch.
Welland erklärte: »Worauf Sie da gerade schauen, ist ein Stück von Lee Hurrans rechtem Arm.«
Das Stück war gelblich. Knorpeliges Fett, zerfetztes Fleisch. Der Säbel hatte die Hand vom Gelenk getrennt. Eine saubere Amputation sah anders aus; offenbar hatte der Täter zwei oder drei Versuche benötigt und dabei den Knochen grob zersplittert.
Auf Noahs Handflächen kribbelte der Schweiß. Es war drückend heiß. Tim Welland hatte einen Hautkrebs überstanden und drehte nun das ganze Jahr die Heizung auf. Welland war gegen die Hitze in seinem Büro immun, er schwitzte nie. Marnie Rome offenbar auch nicht. Noah schaute verstohlen zur Seite, auf ihren makellosen Kragen, die kühle Haut in ihrem Nacken. Ihm lief ein langsamer, kitzelnder Schweißtropfen über den Rücken, genau zwischen den Schulterblättern hindurch.
»Hurran verweigert jede Aussage. Hat wohl Angst um seine andere Hand, oder seine Eier.« Welland wies mit dem Kinn auf die Fotos. »Nasif ist mit dem Schlächtermesser nicht gerade zimperlich.«
»Noch ist Hurran im Krankenhaus.« Marnie warf einen raschen Blick auf das Blutbad vor ihr. »Noch wird er überwacht, wegen der Infektionsgefahr. In der Wunde war viel Schmutz … Vielleicht fühlt er sich zu Hause etwas sicherer.«
»Wenn sein Zuhause dieses Drecksloch ist, in dem man ihn gefunden hat, bezweifle ich das sehr.«
»Wir haben den Säbel. Mit Mirzas Fingerabdrücken. Reicht das nicht?«
»Nicht einmal ansatzweise. Die Staatsanwaltschaft«, Welland lag jede einzelne Silbe faulig auf der Zunge, »braucht weitere Beweise, um gegen Nasif vorzugehen. Offenbar ist das … Gemetzel hier noch nicht genug.«
Marnie pickte sich das grässlichste Foto heraus und betrachtete es gründlich. Noah beneidete sie um ihre Distanz. Ihn ekelte es viel zu schnell; er musste härter werden, sich an solche Dinge gewöhnen. Dinge wie …
Lee Hurrans angenagte Hand. Ein Festschmaus für die Ratten oder eine verwilderte Katze. Die Hand war nicht etwa in dem Lagerhaus verblieben, wo der Angriff erfolgt war. Nasif Mirza, oder wer auch immer, hatte sie über eine Mauer geworfen, auf eine Brache, ein Paradies für Fliegen.
»Ayana Mirza …«, setzte Marnie an.
»Die Staatsanwaltschaft will, dass sie aussagt«, warf Welland ein, »sie soll bezeugen, dass ihr Bruder eine Neigung zur Gewalt hat. Am liebsten wäre denen, wenn sie ihn für das, was er ihr angetan hat, anzeigt.«
»Wir können Nasif auch ohne ihre Aussage verhaften.«
»Wegen dem hier?« Welland zeigte auf die Fotos. »Oder der anderen Sache?«
An die andere Sache wollte Noah gar nicht denken – an das, was Nasif Mirza seiner Schwester angetan hatte, im Schoße der Familie. Die Bilder von Hurrans angenagter Hand waren schlimm genug.
Weder er noch Marnie waren Ayana Mirza bislang begegnet. Sie hatten den Fall von einer anderen Abteilung geerbt, die den jüngsten Kürzungen im öffentlichen Sektor zum Opfer gefallen war.
»Die Staatsanwaltschaft will bei Nasif auf Nummer sicher gehen«, sagte Welland. »Gibt es fremde Fingerabdrücke? Dann wurde der Säbel womöglich gestohlen, bla bla bla. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass Ayanas Zeugenaussage die Wende bringt. Sie will Ayana als lebenden Beweis für Nasifs Widerwärtigkeit. Keine Frage, sie würde sich vor Gericht gut machen.«
»Und das sieht die Staatsanwaltschaft nicht als Nötigung eines Opfers?«
»Die Staatsanwaltschaft will sich absichern, Detective. Sie und ich wissen doch, was in einem solchen Fall passiert.«
»Ich weiß vor allem, was Ayana passiert ist.« Marnies Blick verdüsterte sich. »Außerdem war das nicht Nasif allein. Sie waren zu dritt – ihre Brüder gemeinsam.«
»Was in Familien so alles vorkommt …« Welland fuhr zusammen und wandte den Blick von Marnie ab.
Sie zuckte bloß mit den Schultern. »Davon kann man prima leben, vorausgesetzt, man ist Psychiater.«
Noah hatte das Gefühl, dass ihm das Wesentliche gerade entgangen war. Die Hitze kochte sein Gehirn zu Brei. Wie konnte Welland nur so arbeiten?
»Sie sollten behutsam vorgehen. Sie hat panische Angst davor, entdeckt zu werden. Von ihren Brüdern. Sie versteckt sich …« Welland sah auf seinen Notizblock. »In einem Frauenhaus in Finchley«, half ihm Marnie weiter. »Ich habe mit Ed Belloc schon gesprochen.«
»Finchley.« Welland nickte. »Was konnte Ed über sie berichten?«
Ed Belloc arbeitete bei der Opferhilfe. Noah war ihm noch nie begegnet. Marnie beschrieb ihn als guten Mann in einem harten Job. Er hatte der Polizei bei der Suche nach Ayana Mirza geholfen, nachdem sie vor ihrer Familie geflohen war.
»Sie will sich im Frauenhaus bestimmt nicht unbeliebt machen«, sagte Marnie, »oder, schlimmer noch, ihren Platz riskieren. Sie hat nicht viele Optionen, ohne Geld. Sobald sie eine Sozialversicherungsnummer bekommt, ob durch Job oder Arbeitslosigkeit, wird sie für ihre Brüder auffindbar. Also versucht sie, unter dem Radar zu bleiben.«
Welland nickte. Er stand auf. »DS Jake, Sie sollten Ihre E-Mails checken. DI Rome, auf ein Wort.«
Marnie wartete, bis Noah das Büro verlassen hatte. Sie wusste, was nun kommen würde. Sicherheitshalber faltete sie die Hände im Schoß. Sie hätte sie gern gewaschen, weil sie sich von den Fotos klebrig anfühlten. Dass Tim Wellands Büro die reinste Sauna war, machte es nicht besser. Garantiert wusch sich Noah Jake gerade im Waschraum des Reviers mit kaltem Wasser das Gesicht.
Als sie allein waren, lehnte sich Welland zurück und legte die Daumen unter das Kinn. »Wie geht es Ihnen?«
Unter dem heißen Licht wirkte seine Schädeldecke gläsern, fleckig, das Gesicht, ohne Wimpern oder Augenbrauen, kahl und offen. Verlockend. Mit solch einem Gesicht konnte man sein Gegenüber zu Vertraulichkeiten, zu Geständnissen verleiten. Dabei hätte Welland beinahe ein Auge an den Krebs verloren. Selbst jetzt, zwei Jahre später, zerrte die Krankheit an der Haut, sodass die, die von den Operationen – dem Kampf – nichts wussten, scherzten, Tim Welland würde wohl mit einem offenen Auge schlafen.
»Mir geht es gut.« Sie lächelte ihm quer über den Schreibtisch zu. Die Hitze glühte auf den Fotos. Bissspuren an Lee Hurrans toter Hand. Hatte er sie sehen wollen? Hurran. Hatte er seine Hand sehen wollen, obwohl es keine Chance mehr gab, sie anzunähen? Als man die Hand endlich gefunden hatte, war sie abgestorben.
»Mir geht es gut«, wiederholte sie.
Welland suchte in ihrem Gesicht nach einer anderen Antwort. Vermutlich arbeitete er gerade eine Liste ab. Grundkurs Management: Zeigen Sie Interesse an Ihren Untergebenen, besonders in Zeiten seelischer Belastungen. Freude machte ihm das nicht. »Ich mag zwar wie ein unsensibles Arschloch wirken, doch ich weiß, was heute für ein Tag ist.«
»Freitag«, wich sie aus, noch immer lächelnd.
Er wies mit dem Kinn in Richtung Wandkalender. Brücken. Welland liebte Brücken. Auf dem aktuellen Blatt, dem Monat März, prangte die Rollbrücke von Paddington Basin. Ein gewaltiges Hamsterrad.
»Morgen … ist es auf den Tag genau fünf Jahre her. Wie kommen Sie klar?«
»Indem ich diesen Tag nicht zähle«, sagte Marnie.
Ich zähle nicht, gedenke nicht. Und rede nicht.
»Aber Sie besuchen ihn noch immer.«
»Ja.« Um die Besuche hatte sie nie ein Geheimnis gemacht; Welland hätte es sowieso herausgefunden. Wenn ein Mitglied der Mordkommission in ein staatliches Gefängnis ging, schrillten alle Glocken im System. »Um genau zu sein, morgen wieder.«
»Morgen«, wiederholte Welland. »Am Jahrestag.«
»Ich habe den Termin vor einer Ewigkeit vereinbart. Und keine Sorge, ich schenke ihm sicher keine Luftballons.« Das Lächeln schmerzte, doch sie behielt es bei. »Falls Sie an so was dachten.«
»An so einen Quatsch doch nicht. Ich hab daran gedacht, was er getan hat, vor exakt fünf Jahren …«
»Das ist eine lange Zeit, fünf Jahre.« Marnie nahm eins der Fotos vom Schreibtisch und gab vor, Lee Hurrans Hand noch einmal gründlich zu betrachten. Ein guter Vorwand, das Lächeln abzusetzen. »Für ihn. Für Stephen sind fünf Jahre eine lange Zeit.«
»Nicht lang genug«, knurrte Welland. Er räusperte sich, rückte auf dem Stuhl nach vorne. »Detective Inspector … Marnie.« Er zog eine Grimasse. Das mit den Vornamen lag ihm nicht. Es war ihm damals schon schwergefallen, vor fünf Jahren, vor ihrem Elternhaus.
Sie entschied sich, ihm weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. »Auf mich wartet Arbeit.« Sie stand auf. »Wir müssen der Staatsanwaltschaft den Weg bereiten, richtig?«
Welland sank erleichtert in seinen Stuhl zurück, löste die Finger und rieb sich eine Stelle im Gesicht, wo die Haut besonders spannte. »Richtig.«
Als Marnie und Noah in Finchley eintrafen, hatten die Wolken die Sonne schon wieder bezwungen.
Das Frauenhaus war ein Gebäude aus bräunlichem Beton, zusammengekauert unter einem Flachdach mit dickem Teerbelag. Ein Baugerüst umgab die Fassade mit rot-weiß umwickelten Stangen, die an riesige Mikadostäbe erinnerten. Vom Dachrand hing eine vom Regen ausgebeulte Folie. Die Fenster waren sämtlich abgedunkelt, als wäre dieses Haus schon vor langer Zeit aufgegeben worden.
»Der erste Eindruck?«, fragte Marnie und stellte den Motor ab. »Also ich muss sagen, ich hab’s nicht so mit Sozialbauschick.«
»So etwas Deprimierendes habe ich lange nicht mehr gesehen.« Noah spähte durch die Windschutzscheibe. »Hoffentlich sieht es innen besser aus.«
»Das behauptet Ed. Zumindest von den meisten Frauenhäusern.« Marnie stieg aus dem Wagen. »Bei dem hier habe ich meine Zweifel.«
Noah folgte ihr. Der Durchgangsverkehr ließ die Folie auf dem Dach erzittern, was ein Geräusch erzeugte, das an knirschenden Sand unter Schuhen denken ließ. Schlaglöcher und Fallgruben erschwerten den Gang zur Tür. Die reinste Absteige.
»Was machen die da an dem Dach?«, fragte Noah.
»Keine Ahnung. Vielleicht ist es undicht.« Marnie blieb stehen und schaute auf die blinden Fenster. »Wenn ich so leben müsste, im Verborgenen … ich glaube nicht, dass ich das könnte. Sie?«
»Vielleicht«, entgegnete Noah. »Wenn ich sehr verzweifelt wäre und mir keine andere Wahl bliebe.«
»Sicher, wenn man total verzweifelt ist.« Marnie rieb sich den Nacken. »Wenn Ayana Mirza sich hier sicher fühlt, müssen wir das respektieren. Wenn wir sie davon überzeugen können, gegen ihre Brüder auszusagen, umso besser. Aber wir sollten behutsam vorgehen.«
Noah nickte. Über ihnen schimmerten die Wolken grau. »Das gibt Regen«, sagte er. »Hoffentlich ist das Dach vernünftig abgedichtet.«
»Kein Regen.« Marnie schaute zum Himmel. »Das gibt ein Gewitter. Riechen Sie das nicht?«
Im Haus selbst war die Luft wie ausgetrocknet, so aufgeladen, dass nun auch Noah das Gewitter riechen konnte. Es herrschte eine seltsame, gezwungene Stille in diesem Gebäude. Eine unheimliche Stille. Marnie zog die Schultern hoch und drehte sich zur Tür um, die im selben Moment ins Schloss fiel. »Haben die hier keine Sicherheitsvorkehrungen?«
Ein Monitor zeigte das Bild der Überwachungskamera, den Platz vor dem Haus. Marnie hatte ihren Ausweis gezückt, doch es war niemand da, der verlangte, ihn zu sehen.
»Die Tür war nicht verschlossen«, bekräftigte Noah. »Seltsam, oder?«
»Allerdings.« Marnie nahm die Stille in sich auf.
»Vielleicht steht das Haus leer, solange die Bauarbeiten andauern.«
»Das hätte Ed mir gesagt. Um diese Zeit sollte eine Betreuerin im Dienst sein. Von neun bis fünf, an jedem Werktag. Irgendjemand sollte Aufsicht führen.«
Sie ging voran durch einen leeren Korridor, in dem es nach altem Zigarettenqualm, Milch und Talkumpuder roch. Ganz am Ende befand sich ein Notausgang, verschlossen. Die Stille wurde immer drückender.
Noah rieb sich die Finger, ihn fröstelte. Es lag nicht nur an der Stille. Alles hier drin kam ihm falsch vor, als ob sie geradewegs in eine Falle laufen würden …
Ein Schrei zerriss die Stille.
Marnie rannte los.
Noah blieb ihr auf den Fersen. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich.
Als sie den Raum betraten, brach das Schreien wie auf Knopfdruck ab. Marnie und Noah bot sich eine surreale Szenerie: Ein korpulentes Mädchen in einem schwarzen Trainingsanzug, die Hände vor den Mund geschlagen, war umringt von einer Gruppe regungsloser Frauen; ein Zimmer mit großen verhangenen Fenstern, die Wände bunt bemalt mit wilden Tieren, die durch hohes Gras schlichen.
Auf dem Boden, zu Füßen einer weiteren Frau mit einem blutigen Messer, lag ein Mann.
DI Rome streckte die Hand aus. »Alles gut. Es ist alles gut.«
Ein grimmiger Blick schoss zu ihr. Das Messer bebte.
Noah hatte nach seinem Handy greifen wollen, hielt aber in der Bewegung inne. Er würde beide Hände brauchen, falls die Fremde Marnie oder eine der anderen Frauen angriff. Sein Herzschlag dröhnte. Auf dem Boden zuckten Füße. Noah hätte sich zu dem Mann hinunterbeugen, ihm helfen müssen, doch er wagte es nicht, sich zu bewegen, nicht, solange diese Frau so vor ihm stand: entfesselt, wie von Sinnen, das Haar elektrisiert, in blonden Stacheln rings um das Gesicht.
Marnie sagte: »Das ist DS Jake.« Sie sprach unbeirrt, bedächtig. »Ich bin DI Rome. Polizei. Wir wollen Ihnen helfen.« Sie nickte Noah zu, den Blick auf die Faust und das Messer gerichtet.
Das Beben hörte auf. Die Fremde lauschte angespannt, mit dem ganzen Körper, und schaute wie hypnotisiert in Marnies ruhiges Gesicht.
Noah hatte ganz vergessen, dass Marnie Rome das konnte. So auf andere einwirken. Er hatte es auf dem Revier erlebt, aber noch nie bei einem bewaffneten Zwischenfall. Das Messer fest im Blick, zog er sein Handy hervor und wählte den Notruf. »Wir brauchen einen Krankenwagen.« Er musste, gegen alle Regeln, die Adresse nennen, die ein so gut gehütetes Geheimnis war – zum Schutz der Frauen.
Ein Küchenmesser, ein ganz gewöhnliches Küchenmesser. Dort, im Klammergriff der Frau.
Ein opulenter Strauß aus gelben Rosen lag wie hingeschleudert auf dem Boden. Die Füße des Mannes zuckten unentwegt, traten Blütenblätter in den Teppich. Der Fremde keuchte; Rot breitete sich auf seiner Brust aus.
»DS Jake«, gab Marnie vor.
Noah steckte sein Handy ein, bückte sich, befühlte den Hals, suchte mit einer Hand nach dem Puls, mit der anderen nach der Verletzung: eine einzige Stichwunde auf der rechten unteren Seite des Brustkorbs. Noahs Finger glitten in das aufgerissene Gewebe. Er kippte leicht nach vorn. Ihm wurde übel. »Tut mir leid, tut mir leid …« Er musste sich mit einer Faust auf dem Boden abstützen, die andere Hand drückte er unbeirrt und fest auf die Wunde.
»Es ist alles gut«, hörte er jemanden sagen. Erst nach einer Weile ging ihm auf, dass Marnie mit der blonden Frau in seinem Rücken sprach. »Legen Sie das Messer hin, oder geben Sie es mir. Ich kümmere mich darum. Ich kümmere mich um Sie.«
Der Verletzte hatte ein eckiges Gesicht, narbig, teigig. Sein Atem stolperte, aus seinem Mund quoll rosa Schaum. Noah schaute auf, um sich ein Bild von dem zu machen, was geschehen war. Das Gesicht der Frau war weiß, ihre Augen glühten schwarz. Ihre Faust war rot. Sie hatte die gesamte Klinge in die Brust gestoßen, so tief, dass sein Blut über ihre Finger rann. Eine zwanzig Zentimeter lange Klinge. In die Brust, der Länge nach. Das hieß …
Noah spürte den Sog der Wunde unter seiner Hand. Helle Spucke schäumte aus dem Mund des Mannes. Die Lunge war perforiert.
Scheiße.
Noah musste unbedingt verhindern, dass die Lunge kollabierte. Er musste etwas tun, sofort.
Entschlossen drückte er die linke Hand auf die schmatzende Wunde und schob den anderen, freien Arm unter den Hals des Verletzten, um ihn aufzurichten. Das war keine leichte Aufgabe bei einem Mann, der über einen Meter achtzig groß und von massiger Statur war, mit einem Polster aus Fett und Muskeln.
Blut drang heiß in Noahs Hand. Er musste die Stichwunde abdichten, versiegeln.
Er wusste, wie es ging …
Trauma-Training. Theoretisch wusste er, was tun. Doch in der Praxis war es das erste Mal.
»Hier.« Ein schlankes, dunkles Mädchen kniete sich zu ihm, mit einer Telefonkarte und einem Baumwollschal in Rosa und Orange. »Nehmen Sie das hier.«
Erleichterung jagte das Adrenalin an seinen Bestimmungsort. »Danke.« Die Telefonkarte war brauchbar, nicht jedoch der Schal. »Gibt es hier Klebeband? In der Küche?«
Sie nickte kurz und kantig, richtete sich auf und verschwand aus seinem Blickfeld. Noah stützte den Mann und sagte: »Wenn Sie können, spucken Sie.« Je weniger Schaum in seinem Mund, desto besser.
Hinter ihm hielt DI Rome die blonde Frau im Arm. Noah sah das Messer nicht mehr, doch er hörte Weinen, Zähneklappern. Eine der Frauen fragte: »Wie ist er hier reingekommen?« Eine Mädchenstimme, die sich zu einem Schreien steigerte: »Wie verdammt noch mal ist er hier reingekommen?«
Marnie murmelte etwas, das Geschrei hörte auf. Dann kehrte das andere Mädchen mit einer Rolle Klebeband zurück. Noah presste die Telefonkarte auf die Stichwunde, damit aus der punktierten Lunge keine weitere Luft entwich, griff nach dem Klebeband und mühte sich damit ab, bis die junge Frau sich neben ihn kniete und sie abwechselnd die Rolle hielten, während ihm die junge Frau half, das Gewicht des Verletzten zu stützen. Sie war stark, trotz ihrer zierlichen Gestalt, und riss das Band, nachdem Noah die Brust des Mannes drei Mal umwickelt und die Wunde luftdicht verschlossen hatte, mit den Zähnen ab.
»Danke.« Da erst schaute er sie an. Glattes, dichtes schwarzes Haar, ovales Gesicht, mandelförmige Augen, das linke milchig, verätzt an Lid und Braue. »Ayana?«
»Ja.« Nasif Mirzas Schwester, die Frau, die sie befragen wollten. Sie war neunzehn Jahre alt, wirkte aber deutlich jünger.
DI Rome kauerte sich zu ihnen. »Wie geht es ihm?«
»Seine Lunge kollabiert. Wir haben getan, was wir konnten, aber er muss sofort ins Krankenhaus.«
Marnie strich sich mit dem Handrücken eine lose Strähne aus den Augen. »Sein Name ist Leo. Leo Proctor.« Sie nickte Noah zu. »Gut gemacht, Detective.«
»Ich hatte Hilfe.«
Marnie nickte Ayana zu. »Gut gemacht.«
Ayana wischte sich ihre blutige Hand an der Bluse ab. »Ich begreife nicht, wie er hier reingekommen ist. Hier ist es sicher. Die Türen sind immer verschlossen. Das habe ich selbst überprüft.« Sie verstummte, als sie merkte, dass ihre Stimme unnatürlich laut durchs Zimmer klang. Der Verletzte trat nicht mehr um sich, sein Atem rasselte feucht in seiner Brust. »Die Türen sind immer verschlossen«, wiederholte Ayana.
Jemand weinte; die blonde Frau mit der blutverschmierten Hand. Eine junge farbige Frau mit geflochtenen Haaren hielt sie fest im Arm. Beide trugen die gleiche unförmige Kleidung: T-Shirt und graue Jogginghose.
»Sie steht unter Schock.« Marnie sah auf den Verletzten. »Ihr Name ist Hope Proctor. Das hier ist ihr Mann … Ich sorge mal dafür, dass der Krankenwagen zu uns findet.«
Fuck. Zwei Polizeiautos. Drei, wenn er den Ford Mondeo zu den Streifenwagen zählte.
Hat das Miststück auch noch Beistand.
Er rutschte in den Fahrersitz und zog sich die Kappe, die er extra an einem Straßenkiosk gekauft hatte, tiefer ins Gesicht: I London. Der Schirm verdeckte Mund und Augen. Er sollte nicht hier sein. Nicht in einem Auto, und erst recht keine hundert Meter von einem Frauenhaus entfernt. Plötzlich heulte eine Sirene. Er fuchtelte vor Schreck mit dem Wagenschlüssel herum, rammte ihn schließlich mit Gewalt ins Zündschloss. Ungeschickter Idiot.
Das war alles ihre Schuld …
Er legte die Hand in den Schoß und schaute prüfend in die Spiegel. Der Regen prasselte unbeirrt, dicke, kalte Tropfen, als wären die Himmel entfesselt. Im Wagen dampfte es. Er machte die Scheibenwischer an und rieb mit dem Ärmel seines Overalls über die Innenseiten der Scheiben. Er brauchte freien Blick.
Wenn er jetzt verschwand, war alles für den Arsch.
Es hatte Wochen gedauert, sie in diesem Loch hier aufzutreiben. Diesem Frauenhaus, das selbst aus der Entfernung stank. Feucht. Muffig. So wie sie. Das hatte ihn mal angemacht. Damals.
Ein Krankenwagen fuhr rechts ran, streifte den Bürgersteig, Regen schwappte aus dem Rinnstein hoch, die Hintertüren gingen auf.
Scheiße.
Er sank noch tiefer in den Sitz. Er musste im Auge behalten, wer aus dem Frauenhaus getragen wurde, Mann oder Frau, tot oder lebendig.
Hauptsache, nicht sie …
Hauptsache, verdammt noch mal nicht sie.
Das wollte er selbst erledigen. Sie. Mit bloßen Händen. Nur sie und er, genau wie früher. Aber diesmal würde er ihr nicht den Rücken zudrehen.
Das war wirklich dämlich gewesen.
Diesen Fehler würde er kein zweites Mal machen.
Die Sanitäter – ein Mann und zwei Frauen – glänzten feucht vor Regen. Er hatte im Lauf der letzten Stunde eingesetzt. Nun klatschte er mit Monsunstärke auf das Dach des Krankenwagens und in die Schlaglöcher vor dem Haus.
»Wir haben ihn, danke.« Ein Sanitäter nickte Noah zu.
Noah rutschte beiseite und richtete sich auf, zitternd und mit steifen Knien.
Der Sanitäter schaute zu ihm auf. »Alles okay?«
Noah nickte. »Ja.«
»Leo, nicht wahr? Okay, Mann, wir machen es Ihnen erst einmal bequemer.«
Noah trat beiseite.
Leos Frau saß auf dem Sofa, in eine Decke eingehüllt, umarmt von ihrer Freundin. Daneben kniete eine Sanitäterin und legte Hope, die sich mit dem Messer offenbar selbst verletzt hatte, an der rechten Hand einen Verband an. Ihre Freundin hielt in der linken Faust einen rostig roten Wattebausch. Hinter ihnen ragte der penetrant grüne Dschungel auf: Durch hohes Gras schob sich ein rosa Löwenmaul.
Als ein gelbes Licht über die Decke zuckte, fuhren die Frauen zusammen. Ein Blitz.
Das Gewitter kam. DI Rome hatte recht gehabt. Ruhig informierte sie die Polizisten, die zeitgleich mit dem Krankenwagen eingetroffen waren und ihr aufmerksam zuhörten. Noah beobachtete die Szene. Er wusste, was Marnie durch den Kopf ging: Die Spuren mussten gesichert, die Zeugen vorsichtig befragt werden, und sie musste in der Lage sein, all das später vor Gericht zu rekonstruieren. In der Ausbildung hatte man es ihnen eingebläut: »Sie haben nur eine Chance, es korrekt zu erzählen, und zwar in der richtigen Reihenfolge.«
»Wir legen Sie jetzt auf die Trage, Leo.«
Ayana und die anderen Frauen sahen den Sanitätern mit der trügerischen Ruhe derer zu, die schon allzu oft erfahren hatten, wie Gewalt aussah. Noah musste sich dringend das Blut von den Händen waschen, damit er weniger verstörend wirkte.
Er ging in die Küche. An den Wänden und am Kühlschrank hingen Kinderzeichnungen. Vom Fenster aus konnte man in den Hof aus nacktem Beton blicken; er war leer, nur der Regen stürzte laut vom Himmel. Alles wirkte so normal, dass Noah blinzeln musste. Hatte er wirklich eben erst einen Schwerverletzten versorgt, die Lunge des Mannes mit einer Telefonkarte abgedichtet? Ja, an Noahs Händen klebte Leo Proctors Blut. In seinen Fingerspitzen kribbelte Adrenalin. Und er hatte einen billigen Geschmack im Mund, nach Kupfermünzen.
Unter dem Waschbecken gähnte eine Schublade. Noah schob sie zu. Wahrscheinlich hatte Ayana Mirza dort das Klebeband gefunden. Er schaute in die anderen Schubladen, auf der Suche nach Besteck. Nach Messern, ähnlich dem, das die Spurensicherung gerade eingetütet hatte – die Klinge mit den Spuren von Leo Proctors Lungengewebe. Er fand nichts, was schärfer als ein Kartoffelschäler gewesen wäre. Schließlich entdeckte er die Messer doch, hoch oben auf dem Kühlschrank, in einem schwarzen, klebrigen Messerblock. Außer Reichweite von Kindern. Auch Hope Proctor hätte auf einen Stuhl steigen müssen. Noah rührte den Messerblock nicht an. Er drehte das heiße Wasser auf, schrubbte sich die Hände mit den Daumen und wartete darauf, dass sich sein Puls beruhigte.
Ein Blitz fuhr durch den Hof, das helle Leuchten fing sich jäh im Waschbecken. Noah zählte bis sechs, dann kam der Donner. Das Gewitter rückte näher.
»Wie geht es Ihnen?« Marnie Rome stand plötzlich auf der Schwelle.
»Gut.« Noah riss ein Papiertuch ab. Trocknete sich die Hände. »Sie hatten recht mit dem Gewitter.« Es klang, als würde draußen etwas brutzeln, Regen zischte, Qualm stieg auf.
Marnie kam zum Waschbecken. »Das mit den Zeugenaussagen wird wohl eine Weile dauern. Die Frauen sind zwar überwiegend ruhig, aber ich bezweifle, dass dieser Zustand anhält.« Sie zog sich die Jacke aus, rollte die Ärmel hoch und seifte sich, wie Noah, die Hände ein. »Die Sanitäter waren von Ihrem Einsatz sehr beeindruckt. Gar nicht schlecht für einen Bullen, so das Urteil.«
»Trauma-Training«, sagte Noah. »Haben sie gesagt, wie seine Chancen stehen?«
»Nein. Nur, dass Sie gut waren, aber eine punktierte Lunge ist eine punktierte Lunge.«
»Hat sie gesagt, warum sie es getan hat?«
»Nicht ein Wort.« Marnies rascher Blick eilte zu dem Messerblock. Sie fasste sich links an den Hals, als hätte sie dort Schmerzen. »Ihre Freundin mit den Zöpfen, Simone, sagt, das Messer würde Leo gehören. Er sei bewaffnet hergekommen. Falls das stimmt, war es womöglich Notwehr.«
»Er soll das Messer mitgebracht haben?« Leo Proctor war, von Schmerz gemartert, ungeheuer schwer gewesen. Hope war nur halb so groß wie ihr Mann und wog vermutlich um die fünfzig Kilogramm. Leo eher über hundert. Noah tat der Arm noch immer weh an der Stelle, wo er Leo bis zum Eintreffen der Sanitäter aufrecht gehalten hatte. »Wie ist es ihr denn gelungen, ihm das Messer abzunehmen?«
»Keine Ahnung. Das müssen wir herausfinden. Es mangelt uns ja nicht an Zeugen, aber um die Aussagen aufzunehmen, ist es noch zu früh. Sagen jedenfalls die Sanitäter.«
Wieder erleuchtete ein Blitz den Innenhof. Gleißend hell wie ein funkensprühendes Kabel. Marnie rollte die Ärmel nach unten, schloss die Manschetten aber nicht.
»Dann mache ich mal Tee …«
Noah suchte im Schrank über dem Herd nach Tassen.
Marnie füllte den Wasserkocher und stöpselte ihn ein. »Wir sollten Hope in Ruhe lassen, bis sie nicht mehr ganz so unter Stress steht.« Sie sah zum Fenster, wo sich der Regen verdichtete. »Simone sagt, dass sie Angst vor Wasser hat. Dass Leo sie gezwungen hätte, stundenlang in der Dusche zu hocken, damit sie sauber wird.« Sie schaute ins Leere, ihr Blick verschloss sich. »Und das ist offenbar nur einer der Gründe, warum sie sich in diesem Haus versteckt.«
Noah dachte an den Schrei: Wie ist er hier reingekommen? Und das galt nicht nur für Leo Proctor. Es war gut möglich, dass die Frauen auch vor ihm Angst hatten. Einem fremden Mann. Er verstand ohnehin nicht, warum Marnie ihn mitgenommen hatte. »Wie ist Leo ins Haus gekommen?«
»Auch das weiß ich nicht. Jeanette – das ist die, die geschrien hat – besteht darauf, dass sämtliche Türen verschlossen waren. Standardmäßig. Sie ist für die Sicherheit verantwortlich, was immer das bei ihr auch heißen mag. Ihrem Geruch nach zu urteilen hatte sie eine kleine Zigarettenpause eingelegt, bevor es passierte. Und sie ist sehr darauf bedacht mitzuteilen, wie gut sie sich um alles kümmert. Etwas zu sehr.«
»Sie glauben, dass sie für alle Fälle schon mal vorbaut?«
»Ich ziehe es als Möglichkeit in Betracht.«
»Steht sie unter Arrest?«
»Hope? Ich muss sie, bevor ich sie befrage, erst auf ihre Rechte hinweisen.« Marnie klang sehr unwillig. »Das kann warten, bis sie sich beruhigt hat. Sie läuft uns sicher nicht davon.«
Noah hatte noch immer vor Augen, wie sehr Hope gezittert hatte, als ihr Mann ihr mit einer kollabierenden Lunge zu Füßen gelegen hatte, mit großen hohlen Fäusten. Leo trug einen Ehering. Und Hope? Er hatte nicht darauf geachtet. Auf solche Details musste er sich in Zukunft noch besser konzentrieren. »Was ist mit ihrer Hand passiert? Die Sanitäterin hat sie verbunden.«
»Sie hat sich an dem Messer verletzt, aber es ist wohl nur oberflächlich, ein Kratzer.« Marnie goss das kochende Wasser in die Tassen. »Jeanette hat angeblich auch nicht mehr gesehen als wir. Sie war auf ihrem Posten und ist erst in den Aufenthaltsraum gekommen, als Leo schon am Boden lag.« Marnies Tonfall ließ erahnen, dass sie kein Wort davon glaubte. Sie zupfte sich ein zerdrücktes gelbes Blütenblatt vom Hosenbein. »Rosen. Wie romantisch …«
»Glauben Sie, er wollte sie mit dem Messer attackieren?«
»Warum sonst hätte er eins mitgebracht? Vermutlich sollten die Rosen das Messer verbergen.«
Noah öffnete den Kühlschrank und nahm eine Packung Milch heraus. »Wie viele Zeuginnen haben wir?«
»Simone. Ayana. Mab, sie hat sich hinter dem Sofa versteckt, hatte aber freie Sicht. Mit zwei weiteren muss ich erst noch sprechen … Jeanette lasse ich für den Moment mal außen vor.«
Fünf Zeuginnen. Alles Frauen, die auf der Flucht vor gewalttätigen Männern waren. Was sie wohl empfunden hatten, als Leo Proctor mit blitzendem Messer ins Haus gekommen war? Als Hope ihren Ehemann damit, womöglich lebensgefährlich, verletzt hatte?
»Gibt es im Aufenthaltsraum keine Überwachungskamera?«
»Nein, nur am Eingang – falls sie funktioniert. Ich habe im Revier angerufen, damit wir auf die Bilder zugreifen können. Im Haus selbst gibt es keine Kameras. Die Frauen wollen auf keinen Fall das Gefühl haben, dass sie unter Beobachtung stehen. Sie fühlen sich so sicherer …« Marnie griff nach dem Tablett. »Und Sie denken, dass wir es leichter hätten, wenn es unvoreingenommene Aussagen zu den Geschehnissen gäbe?«
»Wesentlich leichter.«
»Ihnen ist Glück lieber als mühevolle Puzzlearbeit?« Marnie wirkte bekümmert. »So was Schönes ist uns nicht vergönnt.«
Hope Proctor hatte sich nicht bewegt. Sie saß noch immer mit ihrer Freundin auf dem Sofa, vor dem großen Löwenmaul. Noah schaute sich um, zum ersten Mal nahm er den Raum bewusst wahr. Ein großer Flachbildfernseher dominierte eine Wand, an den Stahlklammern riss bereits der Putz. Sämtliche Sofas und Sessel schauten in seine Richtung, wie zu einer Feuerstelle. Alles wirkte billig, auf Vergänglichkeit getrimmt. Katalogware mit oberflächlichen Versprechungen. Auf dem abgenutzten Teppich zeigte sich ein schaler Fleck, der sich schwarz verfärbte. Die Rosen waren fort, nur einige zerdrückte Blütenblätter waren übersehen worden.
Hope und Simone waren nicht allein. Auf dem Sofa daneben saßen drei der anderen Bewohnerinnen, zwei junge, dunkelhaarige, und eine dritte, deutlich ältere Frau. Sie trug ein Blumenkleid und Handschuhe, als wollte sie etwas verbergen. Ihr Mund saugte sich nach innen, die Wangen waren, wo die Zähne fehlten, eingefallen. Mab, nahm Noah an. Jeanette, die die Tür hätte bewachen sollen, saß ein wenig abseits. Ayana Mirza stand am Fenster und zwirbelte an ihrem Schal herum.
Die Außenwelt lag hinter dicken Vorhängen verborgen. Der Regen trommelte beständig seinen Marsch, schlug an Fenster und Wände. Hope zuckte jedes Mal zusammen, als ob der Regen heiß auf ihre nackte Haut einprasseln würde. Simone hielt sie im Arm, die Foliendecke knisterte. An Simones Fingern schimmerte Hopes Blut.
»Tee.« Marnie Rome trug ihr Lächeln in den Raum. Es war ein großartiges Lächeln, aufheiternd und doch nicht übertrieben. Noah nahm sich vor, sich dieses Lächeln abzuschauen.
»Ich weiß nicht, wer von Ihnen Zucker möchte. Kann mir jemand helfen? Simone?«
Simone stand auf. Sie hatte ihre Zöpfe mit gelben Glasperlen verziert, die bei jeder Bewegung aneinanderschlugen, als sie sich auf die ihr zugedachte Aufgabe konzentrierte. Sie war zwar etwas älter als Ayana, doch jung genug, um stolz zu sein, dass Marnie sie ausgewählt hatte.
Hope Proctor griff nach Noahs Hand. »Sie waren bei ihm. War er ängstlich? Wütend? O mein Gott …« Ihre Stimme, leidenschaftlich, beinahe männlich, kam aus großer Tiefe in ihrer Brust. Ihr Gesicht war fleckig vor lauter Stress, die bandagierte Hand so zierlich wie die eines Kindes, die Fingerspitzen eisig kalt vom Schock. »Es tut mir so leid, es tut mir so leid. War ihm bewusst – dass er stirbt? War er sehr wütend?«
Noah setzte sich auf den Platz, den Simone freigemacht hatte. »Er stand unter Schock«, erwiderte er. »Genau wie Sie.«
»Die Sanitäter waren sehr schnell da«, fügte Marnie hinzu. »Das ist gut. Dadurch erhöhen sich die Chancen, dass er durchkommt.«
Hope drehte sich zu Marnie. Sie wurde noch bleicher. »Durchkommt … durch… O mein Gott.« Sie legte sich die Hände ans Gesicht. Das graue Sweatshirt war ihr viel zu groß, die Ärmel rutschten hoch und offenbarten Unterarme voller Blutergüsse. Noah musste wegsehen.
Ayana trank am Fenster ihren Tee. Woher hatte sie gewusst, dass man mit einer Telefonkarte die saugende Wunde in Leo Proctors Brust versiegeln konnte? Was wusste sie womöglich noch?
Noah hatte nicht vergessen, weshalb sie hergekommen waren, was Commander Welland von ihnen und diesem Besuch erwartete: eine Aussage, die bestätigte, dass Nasif Mirza zu Gewalttätigkeit neigte.
Hope wiegte sich auf dem Sofa hin und her. Sie strich sich entschlossen das Haar aus dem Gesicht. Noah roch das Blut an ihren Händen. »Es tut mir leid«, sagte sie mit wilder Stimme. »Ich bin gleich so weit. Dann können Sie mich anklagen. Sie warten ja darauf. Das verstehe ich vollkommen.«
»Wir haben keine Eile«, sagte Marnie.
»Warum waren Sie hier?« Die Frage war ein mühevolles Atmen, das Reden eine große Anstrengung, zu der Hope trotz alledem entschlossen schien. »Gott sei Dank waren Sie hier, aber warum?«
»Wir wollten zu Ayana.«
Hope blickte zum Fenster, dann zu den anderen Frauen, die alle eine Tasse in den Händen hielten. »Ich kann nichts trinken.« Sie senkte den Kopf, ihr Kehlkopf zitterte. »Bitte. Mir wird übel.« Das Blau ihrer Augen lag als dünner Ring um riesige Pupillen. Ihre angestrengte Miene furchte die Stirn noch tiefer. Dieser Zustand gesteigerter Erregung war offenbar normal für Hope.
»Sie müssen nichts trinken«, sagte Marnie.
Simone kam zum Sofa zurück, breitete die Arme aus und schloss Hope wieder darin ein.
Noah trat zu Ayana. »Wie geht es Ihnen?«
»Bestens.« Ihre Stimme war ruhig, sie blinzelte nicht. Ihr Akzent war eindeutig South London, wahrscheinlich aus der Schule.
»Sie haben sehr schnell reagiert. Mit der Telefonkarte.«
»Und Sie mit dem Klebeband.« Sie lächelte ein wenig. »Das habe ich aus dem Fernsehen. Aus einem Krimi. Ich sitze hier nämlich sehr viel vor dem Fernseher. Seifenopern. Call-in-Shows. Das ist natürlich alles schlecht. Alles hier hat einen schlechten Einfluss.« Sie verbreiterte das Lächeln und zeigte ihre Zähne. »Aber es macht Spaß. Außerdem lese ich sehr viel, und ich studiere. Kriminalpsychologie.«
»An der Fernuni?«
Sie nickte. Sie hätte das Frauenhaus auch nicht verlassen können. Ayana schaute zu dem Sofa, auf dem Mab und die beiden dunkelhaarigen Mädchen in einträchtigem Schweigen saßen. »Man hat mir angeboten, in ein Haus mit anderen Asiatinnen zu ziehen. Wortwörtlich: mitanderen Asiatinnen. Ich kannte mal eine Frau aus einem solchen Haus. In der Moschee ist viel darüber getratscht worden.« Sie legte die Lippen an die Tasse. »Da bin ich lieber hier.«
»Selbst jetzt noch?«
»Es ist mir ein Rätsel, wie er ins Haus gekommen ist. Hier ist es sicher. Alles ist sehr streng. Die Türen sind immer abgesperrt, außer wir möchten sie jemandem öffnen.« Sie zog eine Grimasse in Richtung Zimmer. »Aber verschlossen ist uns lieber.«
Ein Gefängnis. Ein Gefängnis mit Fernseher und Büchern und der Gelegenheit, zu studieren und Freundschaften zu schließen. Noah dachte an die Telefonkarte. Wessen Nummer wählte wohl Ayana, wenn sie mit jemandem reden wollte? Aber vielleicht war die Karte auch nur dazu da, um bei einer Fernsehshow anzurufen.
Der Regen lief am Fenster herunter. Noah roch ihn durch die schweren Vorhänge hindurch, blechern, kalt. »Ich besorge Ihnen eine neue Karte. Sie haben doch ein Handy?«
»Ja.« Sie fasste an ein gewebtes Täschchen, das an ihrer Taille hing. »Danke. Aber auf der Karte war sowieso nicht mehr viel drauf. Nicht einmal fünf Pfund.«
»Ich besorge Ihnen eine neue«, versprach Noah.
Sie konnten Ayana so unmittelbar nach dem Messerangriff nicht auch noch zu ihrem Bruder befragen. Es wäre unter normalen Umständen schon schwer gewesen, in dem Wissen, was Nasif und die anderen ihr angetan hatten.
Ayanas Brüder. In ihrem eigenen Zuhause. Zwei von ihnen hatten sie auf den Boden gedrückt, der dritte hatte ihr Säure in die Augen gegossen. Als sie endlich von ihr abgelassen hatten, war es Ayana irgendwie gelungen, aus dem Haus zu robben und um Hilfe zu schreien.
Das rechte Auge hatten die Chirurgen retten können. Nicht jedoch das linke.
Mit einem Auge konnte sie noch sehen. Die Staatsanwaltschaft glaubte, dass ihre Zeugenaussage dazu beitragen würde, Nasif hinter Gitter zu bringen, aber bisher hatte Ayana über die Tat ihrer Brüder geschwiegen. Aus den Unterlagen, die Noah und Marnie übernommen hatten, ging hervor, dass Ayana nach dem Säureangriff erst keinen Besuch im Krankenhaus bekommen hatte. Dann aber, am dritten Tag, war eine Frau erschienen, allein, mit einem Anorak in der Hand. »Ich bin hier, um meine Tochter abzuholen.«
Mrs Mirza. Ayanas Mutter.
Ayana hatte erst aufgehört zu schreien, als die Frau gegangen war.
»Ein Messer?«, echote Commander Tim Welland. »In einem Frauenhaus? Sollte es an so einem Ort nicht sicher sein?«
»Daran arbeiten wir gerade.« Marnie wich einer Beamtin aus, die auf dem Weg in den Aufenthaltsraum war. »Wir müssen herausfinden, wie Leo in das Haus gekommen ist und woher er überhaupt wusste, dass seine Frau dort ist. Aber zuerst müssen wir dafür sorgen, dass sich alle wieder sicher fühlen.«
»Nach einem Messerangriff?« Marnie hörte förmlich, wie Welland am anderen Ende der Leitung das Gesicht verzog: Na dann, viel Glück. »Wie geht’s Ayana Mirza?«
»Sie hat Noah geholfen, Leo Proctor das Leben zu retten.«
»Falls sie es gerettet haben. Nach allem, was ich höre …«
»Als Proctor in den Krankenwagen geladen wurde, war er stabil.«
»Glauben Sie, dass sie vorhatte, ihn zu töten?«
Marnie rieb eine verspannte Stelle an ihrem Nacken, ertastete mit geübter Hand den Schmerz, der durch ihren Körper wanderte. »Es war Notwehr, sagen unsere Zeuginnen.«
»Und darauf ist Verlass?« Skepsis vergällte Wellands Stimme. »Für mich klingt ein Messer in der Lunge nach versuchtem Mord. Ich sage nicht, dass sie keine guten Gründe hatte; sie ist ja nicht freiwillig in diesem Haus.«
»Sie hätten sie sehen sollen – oder hören. Sie hat riesige Angst, dass er überlebt, und trotzdem kommt sie uns nicht mit Ausreden. Und, ja, natürlich ist sie voller Blutergüsse.«
Hopes Hand hatte gezittert, als Marnie ihr das Messer abgenommen hatte. Und Marnie hatte – zum allerersten Mal – begriffen, wie beängstigend es war, ein Messer als Waffe, als tödliche Waffe einzusetzen.
»Ich fahre gleich mit ihr ins Krankenhaus«, sagte sie zu Welland, »und lasse sie gründlich durchchecken.«
»Wie macht sich DS Jake?«
»Gut. Ich schicke ihn kurz ins Revier, zum Saubermachen. Er hat was zum Wechseln da …«
»Sieht er so übel aus?«
»Ziemlich. Proctor hat ihn vollgeblutet.«
Der kalte Unterton entging ihm nicht. »Kommen Sie klar?«
Marnie schaute durch den Korridor, auf den verriegelten Notausgang. »Es handelt sich um häusliche Gewalt mit einem Messer. Wie bei der Hälfte aller unserer Fälle also, und … Proctor ist stabil. Es würde mich sehr überraschen, wenn er es nicht schafft. Er ist ein großer Kerl, gut gepolstert … Ich mache mir, ehrlich gesagt, größere Sorgen um Hope. Ich möchte erfahren, was passiert ist, bevor sie hergekommen ist, weshalb sie hier ist.« Antworten. Marnie wollte Antworten.
»Haben sich Ihre Pläne geändert?«, fragte Welland plötzlich.
»Für morgen?« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Nein. Es sei denn, Proctor stirbt. In dem Fall verlege ich den Termin natürlich.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Welland. »Ich muss wissen, dass Sie die Sache im Griff haben.«
»Selbstverständlich.« Wellands Gesicht stand ihr klar vor Augen, wie es in all seiner Offenheit zu Vertraulichkeiten einlud. Marnie hatte kein Problem damit, Geheimnisse vor Welland zu bewahren. Er wusste ohnehin schon zu viel. Sie war für jedes Geheimnis dankbar, das ihr Schutz vor seinen Fragen, seinem Wissen bot.
Er weiß, wie sie gestorben sind, wie sie im Augenblick ihres Todes ausgesehen haben. Wie ich ausgesehen habe, als ich da draußen rumgeheult habe – aber er weiß nicht, dass ich Schokolade mit Meersalz und diese alberne Fernsehserie mag, in der die Heldin als Spionin jede Woche mit einer anderen Perücke durch die Gegend läuft und am Ende alle fertigmacht. Und – das dachte sie, falls alles andere nicht half – under ahnt nichts von den Worten. Der Schrift auf meiner Haut.
Von diesem Geheimnis wusste niemand. Nicht ihr Vater. Nicht ihre Mutter. Nicht Lexie, ihre Therapeutin, zu der sie seit dem Doppelmord gehen musste. Selbst Ed Belloc ahnte nichts, und ihm vertraute sie rein instinktiv das meiste an.
Die Klischees auf ihrer Haut, die jugendliche Rebellion in Großbuchstaben. Jetzt, mit über dreißig, war es ihr peinlich, nun bereute sie die Rolle des verdrießlichen Mädchens mit zu viel Wimperntusche und Bikerstiefeln, der aufgesetzten Menschenscheu und dem pseudo-autistischen Schweigen. Mit neunzehn, in Ayanas Alter, hatte sie all das hinter sich gelassen, waren die Hormone von ihr abgefallen, wie sich die Rinde durch die Großstadtgifte von den schuppigen Platanen löste. Von einem inneren Brennen getrieben hatte sie eine Karriere bei der Luftwaffe erwogen. Der Rausch der Geschwindigkeit, die Macht der Maschine, endlose Himmel, Adrenalin. In ihrer Ungeduld hatte sie sich auf den Polizeidienst eingelassen. Nicht als langfristige Lösung, damals hatte sie darin lediglich eine Chance gesehen, das nervöse Kribbeln in Füßen und Händen zu besiegen, ihren Drang zu gehen, zufliehen …
Und sie hatte Angst gehabt, wieder dieses Mädchen zu werden, wenn sie sich zu viel Zeit mit der Entscheidung ließ. Das Mädchen, das sich, wenn Greg und Lisa Rome schliefen, heimlich aus dem Haus schlich und den Bus in Richtung Stadt nahm, auf dem Weg zu einem Mann, der ungeheuer saubere Hände hatte und von Marnie Geld dafür nahm, dass er ihre Teenagerhaut mit schwarzen, stechenden Geheimnissen beschrieb.
Das war nicht sie, im Krankenwagen. Es war ein Fremder, ein riesiger Kerl mit Sauerstoffmaske.
Den kannte er nicht.
Wieder wischte er die beschlagene Windschutzscheibe mit dem feuchten Ärmel sauber. Unter der Schirmmütze – I London – verzog sich sein Mund zu einem Grinsen.
Es war nicht sie.
Dann gingen Autotüren auf und zu, überall war Polizei, er musste endlich verschwinden. Das fehlte noch, dass die ihn schnappten. Er dürfte gar nicht fahren, er hatte schon zu viele Punkte, von allem anderen ganz zu schweigen, aber wie sollte er sich sonst vom Fleck bewegen?
Die Bullen hätten ihn bestimmt gern aufgegriffen. Das war klar.
Er parkte zwei Straßen weiter, mit laufendem Motor, die Scheibenwischer schoben unentwegt das Wasser hin und her, damit er sehen konnte, wann die Polizei verschwand, wann ihm rote Rücklichter freie Bahn signalisieren würden. Er benötigte nicht viel. Nur eine Gelegenheit. Zwanzig Minuten, vielleicht noch weniger.
Die Straßenlaternen gingen an, wie üblich viel zu früh. London. Immer so bemüht. Es reichte eben nicht, irgendwo ein neues Gebäude hinzuklotzen, davon verschwanden all die Scheiße, die Bettler und besoffenen Weiber, die Kotze und die Nutten auch nicht.
Neulich hatte er im Fernsehen wieder so einen Mist gesehen, irgendein Politiker hatte einen Typen ins Koma geprügelt, und nun stand er vor laufender Kamera im Regen und heulte Rotz und Wasser. Dazwischen Aufnahmen von oben, London aus der Luft, ein bisschen L.A., Wolkenkratzer und Hubschrauberlandeplätze, war das krank. So sah London doch nicht aus, jedenfalls nicht von unten, vom Boden aus, wo das Leben stattfand.
Er wartete zehn Minuten, dann fuhr er einmal um den Block, wieder näher an das Frauenhaus heran. Der Regen rauschte durch die Einfahrt, freudlos rann ein Wasserfall vom Dach.
Der Mondeo war immer noch da. Auch die beiden Streifenwagen standen nach wie vor an ihrem Platz, aber nicht seinetwegen und auch nicht ihretwegen. Das war reiner Zufall.
Wer glaubte schon an Zufall, die meisten waren für so etwas doch blind, sahen in die andere Richtung. Genau, was er jetzt brauchte. Zehn Minuten nur, vielleicht auch zwanzig, in denen keiner hinsah und er es endlich, endlich erledigen konnte …
Sie erledigen konnte.
Das Frauenhaus wirkte als Versteck nicht besonders sicher. Glaubte diese blöde Kuh im Ernst, er käme hier nicht an sie ran? Und außerdem hatte dieses verdammte Haus ein Loch im Dach. Besser ging’s doch gar nicht.
Er bräuchte nicht viel Zeit. Er hätte sie gern gehabt, doch das gehörte der Vergangenheit an, der langsame Tanz, wenn sie sich wand und krümmte.
Diesmal würde es hart, schnell – aus. Und wenn er mit ihr fertig war, würde Schluss sein mit dem albernen Weglaufen und Verstecken.
Zwanzig Minuten. Höchstens.
Du verfickte miese Schlampe, du bist tod. Du denkst, du bist in Sicherheit? Dass denkst nur du, du Fotze.
Blauer, kratziger Kugelschreiber auf liniertem Papier, das Blatt gewaltsam aus dem Block gerissen. An manchen Stellen war die Tinte klumpig, durchscheinend an anderen. Dort, wo der Kugelschreiber versagt hatte, hatte der Schreiber die Worte nachgezogen.
Marnie Rome hielt das Blatt gegen das Deckenlicht im Krankenhaus, betrachtete Klumpen und Kratzer, die narbige Oberfläche des Papiers.
Die Handschrift, die Wahl von Werkzeug und Papier, verriet viel über einen Menschen. Man konnte erkennen, auf welcher Unterlage er geschrieben hatte, ob er betrunken oder krank war. All das ließ sich aus der Neigung der Buchstaben und dem Druck des Stifts herauslesen. Zur Not auch ohne das Original, nur mit der Unterlage. Es gab immer Durchschreibspuren – man musste nur auf der leeren Seite ein Vakuum erzeugen, mit einem elektrischen Stab darüberfahren und Kohlepulver verstreuen, das sich in die Rillen setzte, und wie von Zauberhand standen dann die Worte da. Marnie hatte mit einem polizeilichen Dokumentenprüfer zusammengearbeitet. Sie kannte die Tricks, die wissenschaftlichen Methoden.
Du denkst, du bist in Sicherheit? Dass denkst nur du, du Fotze.
Hierfür war kein Zauber nötig. Hier verbarg sich kein Geheimnis. Die Drohung war deutlich, drei hasserfüllte Sätze.
Marnie hatte den – anonymen – Brief in Hope Proctors Handtasche entdeckt.
Ob er von Leo Proctor stammte, ließ sich allerdings nicht an Ort und Stelle klären. Marnie hatte seine Brieftasche durchsucht, aber die Unterschrift auf seinen Kreditkarten war verblichen und verschmiert. Dieser Tage ging alles über Chip und Pin. Also rief sie Noah Jake an. »Ich brauche eine Probe von Leos Handschrift.«
»Geht klar«, sagte Noah. »Was haben Sie gefunden?«
»Nicht viel.« Sie drehte den Zettel hin und her. »Nur ein wenig heitere Lektüre von einem Legastheniker … Wo sind Sie?«
»Auf dem Revier, ich ziehe mich gerade um. Was macht Leo?«
»Er lebt, den neuesten Informationen zufolge. Versuchen Sie bitte, mir eine Probe seiner Handschrift zu besorgen. Vielleicht finden Sie ja was im Frauenhaus, bei Hopes Sachen. Und schauen Sie, ob Sie bei der Gelegenheit mit Ayana reden können. Sie haben schließlich einen Draht zu ihr.«
»Einen Draht?«, echote Noah.
»Sie hat Ihnen geholfen, Leo das Leben zu retten. Sie waren ein gutes Team. Nutzen Sie das. Vielleicht bekommen Sie auf diesem Weg, was Welland von uns will.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie mit mir reden wird? Mit mir allein?«
»Sie sind ja nicht allein. Die Opferhelfer sind auch noch da. Außerdem habe ich Ed Belloc gebeten, nachher mal vorbeizuschauen. Nur … um zu sehen, wie es Ayana geht. Sie redet garantiert mit Ihnen. Manchmal hilft es, wenn jemand von außen kommt.«
»Okay«, sagte Noah. »Ich gebe mein Bestes.«
»Gut. Wir sehen uns später dort, ich will erst noch mit dem Arzt und mit Hope sprechen.« Sie legte auf und schaute auf ihre Armbanduhr.
In acht Stunden würde der nächste Tag anbrechen. Der fünfte Jahrestag ihrer Ermordung. Was hatte sie am Morgen noch zu Welland gesagt?
Ich zähle nicht.
Na dann.
Sie faltete den Drohbrief zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. Fürs Erste musste sie ihn ignorieren; was Noah ihr bringen würde, war reine, verlockende Spekulation. Der Brief hatte womöglich überhaupt keine Ähnlichkeit mit Leos Handschrift, oder er hatte seine Schrift verstellt und absichtlich Fehler eingebaut. Hope war sprachgewandt und intelligent. Wie wahrscheinlich war es da, dass ihr Mann nicht richtig schreiben konnte? Er arbeitete auf dem Bau. Viel mehr wusste Marnie nicht. Noch nicht. Sie brauchte die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung, als Beleg dafür, wie übel Leo seine Frau misshandelt hatte. Sie verstand sehr wohl, dass Hope nach den Vorkommnissen an diesem Morgen gern einen Rest an Würde und Intimität bewahrt hätte, doch Marnie hatte auf der Untersuchung bestanden. Auf den harten Fakten, wie Welland so was nannte.