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Sarah Hilary

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Beschreibung

Ein packender Thriller aus London. Für alle Leser von Nicci French. Erstmals auf Deutsch.

Eine Reihe mysteriöser Vermisstenfälle hält London in Atem. Junge Mädchen, die von zu Hause ausgebrochen sind, verschwinden von einem Tag auf den anderen spurlos. Das Gerücht geht um, ein geheimnisvoller Mann habe seine Finger im Spiel. Schon bald wird die erste Leiche gefunden, hindrapiert wie eine Puppe. Marnie Rome von der Kriminalpolizei London wird zum Tatort gerufen. Marnie, die brillante Ermittlern, die aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, Opfer zu sein. Und die sofort spürt, dass man sich auf die Fürsorge dieses Mannes nicht verlassen kann ...

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Zum Buch

Eine Reihe mysteriöser Vermisstenfälle hält London in Atem. Junge Mädchen, die von zu Hause ausgebrochen sind, verschwinden von einem Tag auf den anderen spurlos. Das Gerücht geht um, ein geheimnisvoller Mann habe seine Finger im Spiel. Schon bald wird die erste Leiche gefunden, hindrapiert wie eine Puppe. Marnie Rome von der Kriminalpolizei London wird zum Tatort gerufen. Marnie, die brillante Ermittlerin, die aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, Opfer zu sein. Und die sofort spürt, dass man sich auf die Fürsorge dieses Mannes nicht verlassen kann …

Zur Autorin

SARAH HILARY lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Bristol. Sie arbeitet bei einem bekannten Reiseführerverlag, war jedoch auch schon als Buchhändlerin und bei der Royal Navy tätig. »Herzenskalt«, der erste Teil der Reihe um die unerschrockene Ermittlerin Marnie Rome, wurde in England als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet.

Sarah Hilary

Puppen-heim

Thriller

Aus dem Englischen von Beate Brammertz

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Tastes Like Fear bei Headline Publishing Group, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung April 2020

Copyright © 2016 by Sarah Hilary

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Ensuper; 7th Sun

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-22952-8V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Francis,einen der Mutigen.

Zwei Jahre zuvor

Regen hatte sämtliche Türme Londons glanzlos gemacht, die Wolkenkratzer geschrumpft, die Hochhäuser in Pfützen voller Dreck begraben. Selbst die Schornsteine der Battersea Power Station waren gedrungen, ihre langen Schatten flirrten im Wasser. Nicht nur Tage, sondern Wochen des Regens. Herabprasselnde Sintfluten, Gestank aufwühlend, die einem den Boden unter den Füßen verschoben, dich nicht vergessen ließen, dass diese Stadt auf Grabhöhlen gebaut war.

Der Regen fand seinen Weg in alles, sickerte durch Mauerwerk, brachte das Glas von zerbrochenen Fensterscheiben zum Erzittern, füllte die leere Dose, die Christie zur Hauptverkehrszeit aufgestellt hatte. Mit dem Finger fuhr sie am schartigen Rand entlang, brachte sich eine blutige Wunde bei – der Beweis, dass sie immer noch da war. Eine Dose Guinness, der Deckel mit einem stumpfen Messer abgetrennt, Steine als Gewicht am Boden. Mit Münzen hätte es genauso funktioniert, aber seit Tagen hatte niemand Kleingeld hineingeworfen. Sie saugte an ihrem Finger, schmeckte Fleisch und Kupfer. Wund im Innern, eine schmerzhafte Leere, aber Ich bin immer noch da, dachte sie. Sie wünschte, sie hätte einen besseren Beweis als ihren blutigen Finger.

Die Welt war eine Wand aus Regenschirmen. Sie kannte die Pendler auf diesem Weg, hatte sie in ihren Sommerkleidern und Hemdsärmeln schwitzen gesehen. Jetzt mit finster dreinblickenden Gesichtern, die Köpfe gesenkt, hochgezogene Schultern. Wütend auf sie, weil sie auf ihrem Gehweg Platz für sich beanspruchte, ihre schmutzigen Füße in die halb geschlossene Tür ihres Gewissens schob. Der Regen war eine Ausrede, um sie noch mehr zu hassen, als sie es ohnehin schon taten.

Als sie neu dabei gewesen war – vor wie langer Zeit? Monaten? –, hatte sie die Menschenmenge nach freundlichen Gesichtern abgesucht. Doch sie hatte schnell gelernt, dass es nicht Freundlichkeit war, die Münzen gab. Leute schleuderten ihr Kleingeld zu, wie sie es in Parkautomaten warfen. Um vorbeizukommen, weg. Bald würden sie nicht mehr so tun müssen, als bemerkten sie sie nicht. Sie wäre dann durchsichtig. Der Regen wusch sie aus.

»Entschuldigung!«, sagte eine Frau, im Klartext Christies Füße meinend, die anscheinend im Weg waren, obwohl sie es nicht waren. Sie hatte sich so klein gemacht, kein Teil von ihr war irgendjemandem im Weg. »Herrgott noch mal, such dir ein Dach über dem Kopf.« Dünn und wutentbrannt, die Faust, erbarmungslos mit Ringen bestückt, um einen gelben Regenschirm gekrallt.

Christie hatte sich in einen Hauseingang gedrängt, in dem es fast trocken war, aber der Regen fand sie dennoch. Kroch durch alte Ziegel, erst ein Rinnsal und dann ein Strom. Sie spürte, wie seine Finger ihren Nacken kitzelten.

»Es gibt Orte, weißt du?«

Davon wusste sie nichts. Sie wünschte, sie wüsste es. Sie hatte Angst vor Regen, wie er alles zerstörte, ihre Kleidung, ihren Schlafsack – alles, was sie besaß. Vor Regen hatte sie sogar noch mehr Angst als vor Feuer.

Als das alles noch neu für sie gewesen war, kam manchmal ein junges Pärchen mit Broschüren vorbei. Sie blieben stehen und gingen in die Hocke, mit Gesichtern, die schwer arbeiteten. Über Unseren Herrn redeten und was kommen würde und »Bist du bereit?«. Christie hätte das von alten Leuten erwartet, obwohl die meisten von ihnen den Kopf schüttelten, als hätte es zu ihren Zeiten keine Bettler gegeben. Nur einmal hatte jemand über sechzig sie genauer in Augenschein genommen.

Das junge Pärchen hatte Broschüren mit Fotos von grinsenden Menschen dabei. Das Papier färbte ab, sodass ihre Hände noch schmutziger wurden. Als sie die beiden um Geld bat, wurden sie wütend. Sie gaben vor, es nicht zu sein – »Wir sind auf deiner Seite« –, aber sie sah es unter der Oberfläche ihrer Haut, wie Schlangen, die ihre Beute verschluckt hatten.

Schlimmer als die Schlangen war der kleine Mann, der immer kam und sich neben sie setzte. Er sprach nie ein Wort, hockte einfach da und ließ Kleingeld in ihre Dose fallen, einen Penny nach dem anderen, damit sie nicht aufstehen und weggehen oder ihm sagen konnte, dass er sich verpissen sollte, obwohl er ihr unheimlich war. Er roch komisch. Nicht arm-komisch. Reich-komisch. Reich zu sein helfe nicht, erklärte das junge Pärchen, es ginge nur darum, für das bereit zu sein, was kommen würde. Den Tod oder Jesus, das wusste sie nicht, aber da war ein Moment gewesen, als sie geglaubt hatte, sie könnte es tun – heucheln, religiös zu sein, damit die zwei sie vor dem hier retteten. Ein Niemand zu sein, ein Nichts, unsichtbar.

Als der Regen einsetzte, kamen sie nicht mehr.

Niemand kam mehr, abgesehen von dem kleinen Mann. In einem Plastikumhang, von dem nasse Tropfen in ihren Hauseingang rannen. Und der Kleingeld in ihre Dose warf. Sie wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, wählerisch zu sein, aber wenn er verschwunden war, stopfte sie die Hand hinein, schaufelte seine Münzen heraus und schleuderte sie weg, bevor sie sich rostiges Blut von den Knöcheln leckte. Morgen würde er mit neuem Kleingeld kommen. Sie sollte umziehen, irgendwohin, wo er sie nicht finden konnte. Ihr ganzer Körper schmerzte, als würde er zusammengequetscht werden.

Wohin sollte sie gehen?

Wer sollte sie sein?

Für die Frau mit den Ringen könnte sie sich kleiner machen, für das religiöse Pärchen so tun, als glaube sie an Gott. Mit dem unheimlichen Typ im Umhang mitgehen und … sein, was auch immer er wollte, das sie war. Nur um dem Regen für einen Tag, eine Stunde zu entfliehen. Er wusch sie aus, jegliche Farben, alles. Sie war längst nicht mehr sie selbst. Innerlich leer, ausgehöhlt. Verloren.

Genau in dem Moment hatte er sie gefunden, genau dort …

Als sie kurz davorstand, sich selbst zu verlieren.

Er war nicht wie der kleine Mann. Er war groß und blond und roch nach dem Regen, der die Schultern seines Hemds dunkel färbte. Er hatte keine Broschüren, keine Fragen. Er war nicht wütend auf sie.

Seine Hände waren leer und offen, wie sein Gesicht.

Als er vor ihren Hauseingang trat, sperrte er die Regenschirme und das Zischen und Fauchen der Reifen auf der Straße aus. Seine Schultern hielten den Regen von ihr ab.

Starke Finger, nass wie ihre, doch seine Handflächen waren trocken und warm.

Sicherheit, er war Sicherheit.

Es gibt Orte, weißt du.

Sie hatte nicht daran geglaubt, bis zu diesem Moment.

1

Gegenwart

Noah Jake war spät dran. Er schnappte sich einen Bagel und verließ das Haus, das Frühstück zwischen die Zähne geklemmt, die Hände frei, um nach seiner Oyster Card und den Schlüsseln und seinem Handy zu suchen, das genau in diesem Moment die Titelmelodie von Die Füchse spielte …

»Jake.« Bagel rausnehmen, noch ein Versuch. »DS Jake.«

»Verdammt, Mann.« Ron Carling lachte. »Du hörst dich an, als wäre es Telefonsex. Wobei störe ich gerade?«

»Frühstück. Was ist los?«

»Bei dir wohl nicht viel, so wie du klingst. Lange Nacht?«

»Die langen Nächte sind nicht das Problem. Es ist das frühe Aufstehen, das mich umbringt.« Die Oyster Card blieb unauffindbar. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass sein kleiner Bruder Sol sie ihm geklaut hatte. »Bin auf dem Weg.«

»Die Chefin braucht dich in Battersea.«

»Wo genau?«

Ron lieferte eine Adresse, die Noah kannte. »Wann?«

»Vor zehn Minuten. Schnall lieber deine Disco-Rollschuhe an.«

Vierzig Minuten später, der Verkehr auf der York Road wurde von Unfallschildern der Polizei umgeleitet. Ein chaotisches Durcheinander aus Autos fraß sich durch die Straßen zu beiden Seiten der Battersea Power Station. Noah marschierte im breiten Schatten des Bauwerks, die Neigung ihrer Schornsteine wie verfärbte Finger, die zum blauen Himmel zeigten. Schon seit Jahren stillgelegt, diente das Kohlekraftwerk gelegentlich als Filmkulisse oder für Ausstellungen, meistens stand es jedoch leer. Dan hatte hier gearbeitet, als es eine Kunsthalle gewesen war, und erklärt, es ließe die Tate wie das Kuriositätenkabinett einer altjüngferlichen Tante aussehen. Jetzt wurde dem Kraftwerk eine neue Gestalt verpasst, ein Schornstein fehlte bereits, ließ es wackeln wie ein umgedrehter Tisch. Penthouses wurden für sechs Millionen zum Verkauf angeboten, und es kursierten Gerüchte über exklusive Clubs und Restaurants. Noah würde das alte Kraftwerk vermissen. Sunset Boulevard mit einem krassen Gesichtslifting, immer noch verstohlen sechzig Zigaretten am Tag rauchend …

Er hörte das Absperrband, bevor er es sah, laut hin und her flatternd.

Schwarzer Geruch von Brandflecken am Unfallort. Ein SUV war in einen Audi gefahren, der Aufprall hatte beide Wagen ineinander verkeilt gegen eine Betonmauer geschleudert, wo sie noch dazu einen Laternenpfahl mitgerissen hatten.

DI Marnie Rome stand bei einem Verkehrspolizisten, die roten Haare aus dem Gesicht gebunden, ihr eleganter Anzug derselbe Farbton wie der metallisch graublaue Audi, der gerade weggeräumt wurde. Der SUV war bereits fort, nur die Schramme von der Karosserie in der Wand. »DS Jake. Guten Morgen.«

»Tut mir leid, ich bin zu spät.«

»Jeder ist zu spät«, sagte der Verkehrspolizist, »wegen dem hier.«

»Wie schlimm ist es?«, erkundigte Noah sich bei Marnie. »Ron sagte, keine Toten.«

»Noch nicht. Vier im Krankenhaus, zwei in kritischem Zustand. Unser Augenzeuge behauptet, ein Mädchen wäre auf die Straße spaziert.«

Keine Erwähnung eines Mädchens im ersten Online-Lagebericht. »Sie ist eine von denen im kritischen Zustand?«

»Sie ist davonspaziert. Nicht der kleinste Kratzer, zumindest nicht von diesem Unfall. Der Fahrer des Audis hatte Glück. Seine Frau nicht. Ebenso wenig wie der Beifahrer im SUV.«

»Wer sind die beiden in Lebensgefahr?«

»Ruth Eaton vom Audi. Logan Marsh vom SUV. Er ist achtzehn. Sein Dad hatte ihn von einem Freund nach Hause gefahren. Kopfverletzungen. Sieht nicht gut aus.«

»Aber das Mädchen hat keinen Kratzer abbekommen? Wo ist sie?«

»Ich wünschte, das wüsste ich.«

»Als du sagtest, sie wäre davonspaziert …«

»War das wortwörtlich gemeint. Wir müssen sie finden. Laut der Beschreibung liegt eine Kindeswohlgefährdung vor. Halb nackt, mit Schrammen übersät. Schockzustand.« Marnie betrachtete die Spuren der Verwüstung, die vom Unfall stammten. »Der Audi-Fahrer ist unser einziger Augenzeuge. Joe Eaton. Er ist mit seiner Frau im St Thomas.«

»Wie alt war das Mädchen?«

»Sechzehn, siebzehn?« Sie nahm Noahs nächste Frage vorweg. »Rote Haare, nicht blond. Es hört sich nicht nach May Beswick an.«

Seit zwölf Wochen suchten sie nun schon nach May. Noah hatte gehofft …

»Dieses Mädchen ist mager«, sagte Marnie, »und halb nackt. Niemand in der Vermisstendatei passt auf ihre Beschreibung.«

»Die Beschreibung ist etwas dürftig.« Zwölf Wochen waren lang genug, damit May hätte abmagern und sich die Haare rot färben können. »Ist ihm nichts weiter an ihr aufgefallen?«

»Er war damit beschäftigt, sie nicht zu überfahren.«

»Ich habe einmal einen Beinaheunfall erlebt. Ein Kind ist auf die Straße gerannt, einem Ball hinterher. Ich konnte bremsen, gerade noch. Er hat sich seinen Ball geschnappt, dann war er weg.« Noah schnippte mit den Fingern. »Ich habe ihn nur eine Sekunde gesehen, aber ich sehe immer noch die Sommersprossen auf seiner Nase, den Schorf an seinen Knien. Wie ein Foto. Das war vor zwei Jahren.«

»Flashbacks …« Marnies Augen verdunkelten sich zu einem Tintenblau. »Vielleicht erinnert sich Mr Eaton an mehr, als er denkt. Finden wir das heraus.«

2

Im St Thomas roch es wie immer, eine hauchdünne Schicht Sauberkeit mit dem sauren Nachhall von Körperausdünstungen. Aus reiner Gewohnheit atmete Noah durch die Nase ein. Er und Marnie gingen einen Korridor hinab, in dem Rollwagen schwarze Streifen an den Wänden hinterlassen hatten und die Böden wie im Fieberwahn schimmerten, zu dem Zimmer, in dem Joe Eaton auf Neuigkeiten von seiner Frau wartete.

Eaton war Mitte dreißig, wäre aber auch als achtundzwanzig durchgegangen. Dunkle Haare. Graue Augen, das linke von einer subkonjunktivalen Blutung getrübt, die das Weiß rot gefärbt hatte. Schicker Anzug, verunstaltet von einer Halsmanschette wegen des Schleudertraumas. Knapp über einen Meter achtzig groß. Nackte Angst im Gesicht, als er Marnie und Noah erblickte.

»Mr Eaton, ich bin Detective Inspector Rome, das ist Detective Sergeant Jake. Wie geht es Ihnen?«

»Gut.« Er straffte die Schultern. »Mir geht’s gut. Ruth ist im OP. Sie glauben, es ist eine Milzruptur.«

»Es tut mir leid«, sagte Marnie, »aber wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Wie geht es Logan? Ich habe in der Nacht mit seinem Dad gesprochen.« Joe schlug sich die Hand auf den Mund. »Es hat schlimm geklungen, schlimmer als bei Ruth. Und er ist doch noch ein Kind.«

»Wir haben noch nicht mit Mr Marsh geredet. Sollen wir uns hinsetzen?« Marnie zog einen Stuhl heran und drehte ihren schlanken Körper so, dass sie den Mann direkt ansah.

Joe nickte, folgte ihrem Beispiel. Noah konnte seinen Stress riechen: abgestandener Schweiß unter CK One, grünes Handreinigungsgel aus einem der Krankenhausspender.

»Ich hatte gehofft, Sie könnten uns etwas über die junge Frau erzählen, die sie gestern Abend gesehen haben.«

»Sie ist einfach auf die Straße gelaufen. Ich hatte keine andere Wahl, als auszuweichen. Sonst hätte ich sie überfahren.« Er strich sich mit der Hand durchs Haar. Verzog das Gesicht. »Hat sie Ihnen gesagt, warum sie auf die Straße gelaufen ist?«

»Von ihr fehlt jede Spur«, sagte Marnie. »Wir suchen nach ihr.«

»Sie meinen, sie ist abgehauen? Nach dem Unfall?« Er wirkte erschrocken, eher verängstigt als wütend. »Sie hat das getan und ist dann weggelaufen?«

»Wir sind auf der Suche. Sie glaubten, sie sei verletzt?«

»Sie war mit Kratzern übersät. Aber ihr geht’s wohl gut, muss es ja, ansonsten hätte sie nicht abhauen können.«

»Wir würden gern noch einmal Ihre Aussage von gestern Abend durchgehen. Für den Fall, dass wir irgendetwas übersehen haben.«

»Ich habe keinen einzigen Kratzer, das ist, was ich nicht verstehe. Nur dieses Teil durch das Schleudertrauma.« Joe berührte die Halskrause, dann streckte er die Hände aus und starrte sie an. »Selbst Logans Dad … Wir konnten ohne Hilfe aussteigen, beide. Aber ich bin der Einzige, der nicht den kleinsten Kratzer abbekommen hat, und ich bin für den ganzen Scheiß verantwortlich.«

Marnie und Noah warteten schweigend.

»Sie ist direkt vor uns auf die Straße gelaufen. Hätte ich sie angefahren, wäre sie tot. Ich bin allerhöchstens dreißig gefahren, aber das reicht, um jemanden umzubringen. Ich musste ausweichen.«

»Aus welcher Richtung ist sie gekommen?«, fragte Marnie.

»Von links. Ich schätze, das ist … Westen?«

»Und sie ist nach Osten gegangen?«

»Da ist eine Wohnsiedlung auf dieser Seite der York Road, vielleicht wohnt sie dort? Die haben einen Alkoholtest durchgeführt, ich bin nicht über dem erlaubten Spiegel gewesen. Ich hatte ein Glas Wein mit Ruth, aber wir haben Spaghetti gegessen. Ich war bis oben hin voll mit Kohlenhydraten, und ich hatte zwei Kaffee. Wir haben Kinder. Sie sind bei Ruths Schwester, zu klein, um zu verstehen, was mit ihrer Mum los ist.«

»Wie alt sind sie?«, fragte Noah.

»Sorcha ist zwei. Liam zehn Monate. Carrie kümmert sich toll um sie. Sie lieben ihre Tante.« Joe wischte sich über die Augen, legte dann die Hände um den Tischrand. »Okay. Das Mädchen gestern Abend? Sie hat wie siebzehn ausgesehen, vielleicht ein bisschen jünger. Schwer zu sagen, weil sie nicht richtig angezogen war, nur dieses Männerhemd anhatte, viel zu groß für sie, weiß. Und ihre Haut war unglaublich blass, abgesehen von den Kratzern. Sie hat sich wie ein Aufziehspielzeug bewegt. Nicht schnell, aber als würde … als könnte sie nicht stehen bleiben. Ihr Gesicht war … unheimlich.« Er blinzelte. »Sie wäre nicht stehen geblieben.«

»Hat sie nach Hilfe gerufen?«

»Nein, aber ihr Gesicht … Es war, als würde sie schreien.« Er verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf, als wollte er das Bild vertreiben, das er heraufbeschworen hatte.

»Mr Eaton.« Marnie reichte ihm eine Fotografie. »Ist das hier das Mädchen, das Sie gesehen haben?«

»Ist das nicht … May Beswick?« Er hielt das Foto an den Ecken hoch. »Die verschwundene Schülerin?«

»May Beswick. Ja.«

Noah hielt den Atem an, während Joe das Gesicht von May betrachtete, aber …

»Das ist sie nicht gewesen.« Joe gab das Foto zurück. »Tut mir leid.«

»Sind Sie sicher? Sie könnte an Gewicht verloren haben, seit das Foto geschossen worden ist. Sich die Haare gefärbt, ihr Aussehen verändert haben. Wie groß war das Mädchen, das Sie gesehen haben?«

»Kleiner als Ruth. Eins fünfzig? Sicher nicht viel größer. Ein Kind halt, ein Teenager. Vielleicht sogar eher fünfzehn. Und echt mager. Knochige Knie. Rote Haare.« Ein Blick zu Marnie. »Nicht wie Ihre. Rot rot, wie Farbe.« Stirnrunzelnd zwang er seine Augen zurück zum Foto. »Es ist gefärbt gewesen.«

»Lange Haare oder kurze?«

»Schulterlang. Aber völlig durcheinander, als hätte sie es irgendwie toupiert. Total wirr und wild.«

May Beswick war einen Meter fünfundfünfzig, nicht mager, aber auch nicht dick. Auf dem Foto waren ihre blonden Haare hüftlang, ordentlich gekämmt. Sie trug einen grünen Pullover über einer weißen Bluse, und sie lächelte, wobei die Oberlippe die Schneidezähne nicht berührte, mit warmen braunen Augen, die sich in den Augenwinkeln leicht kräuselten. Noah musste sich das Foto nicht ansehen, um sich sämtliche Details ins Gedächtnis zu rufen. Er sah ihr Gesicht seit zwölf Wochen im Schlaf.

»Was hat sie sonst noch getragen«, fragte Marnie, »abgesehen von dem Hemd?«

»Nichts. Eine Unterhose, nehme ich an.« Joe errötete. »Keine Hose, keine Schuhe. Keinen BH. Vielleicht ist sie doch siebzehn gewesen. Keine Ahnung. Sie hätte einen BH tragen müssen.«

Irgendwo wurde eine Tür aufgerissen. Joes Kopf wirbelte in Richtung des Geräuschs. Seine Hände waren auf dem Tisch geballt, sein Hals rot in der Manschette.

»Erzählen Sie uns von den Kratzern«, sagte Marnie.

»Die waren über… überall. An ihren Beinen, ihrem Bauch, ihrer Brust.« Er verzog das Gesicht. »Einfach überall.«

Auf der Fotografie war Mays Gesicht glatt, genau wie ihre Haare. Runde Wangen, eine breite Stirn, keine Akne. Keine einzige Schramme, vor zwölf Wochen.

»War ihr Gesicht zerkratzt?«

»Ihr Gesicht nicht. Aber alles andere.«

»Waren die Kratzer frisch?«, fragte Noah.

»Ich glaube nicht. Schwer zu sagen im Licht der Scheinwerfer, und ich habe sie bloß eine Sekunde gesehen. Sie wirkten schwarz, nicht rot, nicht wie frisches Blut.« Er atmete tief ein. Hielt die Luft in seiner Brust. Stieß sie wieder aus. »Ruth hat sie besser gesehen als ich. Das Mädchen ist von links gekommen, ihrer Wagenseite. Falls …« Er presste sich die Hände auf die Augen. »Sobald sie aufwacht, wird sie Ihnen eine bessere Beschreibung geben können. Ruth fällt immer Zeugs auf. Darin ist sie echt genial.«

Er presste die Hände fester zusammen, die Knöchel bleich unter dem Druck. »Ich kann ihr Gesicht nicht vergessen. Vielleicht war es May Beswick, keine Ahnung. Sie hat ihr nicht ähnlich gesehen, aber sie sieht anders aus. Was auch immer ihr widerfahren ist … sie wirkte … panisch vor Angst.«

Er ließ die Hände in den Schoß sinken und blickte zu Marnie und Noah auf. »Sie hat keinen Laut von sich gegeben, nichts, aber ihr ganzes Gesicht hat geschrien.«

3

Aimee

Vor drei Monaten habe ich gedacht, ich wäre sicher. Hätte ein Zuhause, im Trocknen, weg von der Straße. Und nicht nur ich. Alle von uns haben dasselbe gedacht, dass wir auf den Füßen gelandet sind. Wie Katzen. Er hat uns alle bei sich aufgenommen.

Er hat die neue Wohnung unser Zuhause genannt, aber nicht so, wie man es glauben mag. »Es ist völlig offen«, hat er gesagt.

Ein offener Grundriss, hatte der Makler gesagt, aber Harm meinte es anders, die Sorte Ort, wo man übersehen wird, wo man verschwindet, selbst wenn man es überhaupt nicht vorhat. London ist voller solcher Orte. Tote Winkel, blinde Flecken. Leere Hauseingänge, Lücken zwischen Gebäuden. Orte, bei denen niemand auf den Gedanken kommt hinzuschauen, weil sie nicht hinsehen, nicht richtig. Vielleicht haben sie es früher getan, aber sie haben es sich abgewöhnt. Selbst wenn man genau dort sitzt, wo sie jeden Morgen entlangkommen, wenn deine Hand ausgestreckt ist und du sie um etwas Hilfe bittest, selbst wenn man einen verdammten Hund dabeihat. Etwas kann direkt vor deiner Nase sein, sagte Harm, und du siehst es trotzdem nicht. Einige Dinge sind einfach … unsichtbar.

Grace wollte nicht unsichtbar sein. Sie hatte angefangen, ihm Paroli zu bieten. Hat sich nicht an die Spielregeln gehalten, und ich wollte nur, dass sie die Klappe hält. War ständig unter Strom, weshalb sie gezappelt hat, weshalb diese verrückten roten Haare abgestanden haben, als hätte sie mit einem Luftballon darüber gerubbelt. Sie konnte nicht still sitzen, und sie konnte nicht ruhig sein, und ich dachte, irgendwas stimmt nicht mit ihr. Irgendwas stimmt mit uns allen nicht, danach hat er uns auch ausgewählt. Die Lauten wie Grace und solche wie mich, die einfach verschwinden – wie ein Feuerwerk verbrennen, bis nichts mehr übrig ist.

Bei Harm wären wir in Sicherheit, hat er gesagt. Wir müssten nur auf ihn hören, zulassen, dass er uns hilft. Grace hätte die Klappe halten müssen. Zumindest hatte sie ein Dach über dem Kopf.

Ein neues Dach. Das Haus, in dem er uns untergebracht hatte, wurde allmählich zu klein, wirkte zu sehr wie ein besetztes Gebäude. Wir platzten aus allen Nähten, machten Dreck. Diese neue Wohnung war viel besser. »Großes Potential«, sagte Harm.

Dem Makler gefiel das. »Manche sehen nur ungenutzten Raum, aber ich spüre, Sie sind einer von der cleveren Sorte.«

Harm nickte und drehte ihm den Rücken zu. Er hielt den Mann für einen Arschkriecher, das konnte ich in seinem Gesicht ablesen. Harm hasste Arschkriecher; es war eines der ersten Dinge, die ich über ihn erfahren hatte.

Unser neuer Unterschlupf war eine Wohnung, aber auf zwei Etagen. Maisonette, sagte der Makler, Loft-Feeling. Ein Raum höher als die anderen, eine Treppe rauf. Mein Zimmer. Unfertig, als wir es dieses erste Mal gesehen haben. Unverputzte Wände mit faustgroßen Löchern für die Stromkabel, und der Makler ließ den ganzen Scheiß vom Stapel über indirekte Beleuchtung und Fußbodenheizung, aber man konnte das Geld sehen, das sie in diese Wohnung stecken müssten, nur damit überhaupt jemand darin leben könnte. Kein Wunder, dass es ihnen ausgegangen ist. Es hat aber schön ausgesehen, damals. Der Schwanzlutscher hat uns allein gelassen, damit wir die Aussicht bewundern können. Ganz London, ein funkelndes Lichtermeer unter uns. »Ich gebe Ihnen einen Moment«, sagte er.

Harm drehte ihm den Rücken zu.

Man muss wissen, genau dann ist er gefährlich – wenn er einem den Rücken zukehrt. Das bedeutet, dass er es nicht mehr aushält, dich anzusehen. Du hast ihn angewidert, ihn wütend gemacht. So angewidert und wütend, dass er dich nicht anschauen kann. Er will, dass du aufhörst zu reden, aufhörst ihn anzusehen, aufhörst zu existieren. Wir alle wussten das, selbst Grace, aber der Makler nicht. Er hat zu der Sorte Mensch gehört, die einfach ausgewichen ist, als ich bettelnd auf der Straße gesessen habe, weshalb ich auch wollte, dass er aufhört zu reden und aufhört zu existieren, genau wie Harm.

Schlussendlich hat Harm dem Mann die Hand geschüttelt, woraufhin seine Augen aufgeleuchtet haben, einen Verkauf witternd. Das war damals, bevor ihnen das Geld ausgegangen ist, als sie immer noch an indirekte Beleuchtung und Fußbodenheizung geglaubt haben. Damals, bevor Grace aufgehört hat, unter Strom zu stehen. Bevor er es ihr ausgetrieben hat.

Ich erinnere mich genau, wie er sich angefühlt hat, dieser erste Tag in der neuen Wohnung.

Die anderen sind Harm und Christie nach draußen gefolgt, aber ich bin geblieben, wollte mich sammeln, musste wissen, womit ich es zu tun habe.

Harm ist zurückgekommen. Ich habe ihn auf der Treppe nicht gehört, aber ich habe Staub gesehen, der vom Boden aufwirbelte, als seine Füße darüber glitten, ohne den kleinsten Laut von sich zu geben.

Dann seine Hitze hinter mir …

Das feuchte Gewicht seines Schattens auf meinen Schultern, in meinem Nacken.

Er bestand darauf, dass meine Haare kurz geschnitten waren. Ich konnte das Brennen seiner Augen auf meiner Haut spüren.

Keine Berührung. Er berührte uns nie. Das hier war viel schlimmer.

Sein Blick war heißer als Finger oder eine Zunge.

Ich konnte ihn riechen, sein Lächeln.

Er war so schwer hinter mir.

»Das ist es«, flüsterte er. »Unser Zuhause.«

4

Wie Joe Eaton hatte auch Calum Marsh eine Halskrause und eine Schlinge für den rechten Arm, die den Druck von seinem stark geprellten Schlüsselbein nahm. Er saß am Fußende des Krankenhausbettes und versuchte, seinen linken Fuß in einen Lederschuh zu zwängen. Wer auch immer ihm die Schuhe ausgezogen hatte, hatte die Schnürsenkel nicht aufgeknotet, und er mühte sich verzweifelt ab, das Gesicht vor Konzentration verzerrt. Er trug eine Chinohose und ein halb zugeknöpftes Hemd, in aller Hast übergeworfen, um loslaufen und nach seinem Sohn sehen zu können. Seine gesamte Panik und sein Schmerz manifestierten sich dort in seinem Kampf mit dem Schuh.

»Mr Marsh, ich bin DI Rome, und das ist DS Jake.« Marnie ging in die Hocke und nahm den Schuh, befreite die Schnürsenkel aus dem Würgegriff des Knotens. »Wir sind hier, um herauszufinden, was vorgefallen ist.«

Calum spähte sie verwirrt an. »Haben Sie ihn gesehen? Logan?« Seine Füße und sein Gesicht zuckten vor Stress. »Ich bin eingeschlafen. Ist seine Mum hier?« Sein Blick glitt von Marnie weg, richtete sich auf Noah. »Geht es ihm gut? Was ist los?«

»Wir müssen noch etwas warten, bis wir mit dem Arzt sprechen können. Logan ist im OP.« Marnie blieb in der Hocke, den aufgeschnürten Schuh in Händen. »Ich habe jemanden gebeten, Sie zu informieren, sobald es Neuigkeiten gibt.«

»Ich kann nichts tun. Das haben sie im Krankenwagen gesagt. Und hier. Die Schwestern haben dasselbe gesagt.« Calum wischte sich die Hand am Laken ab und hinterließ einen rostroten Fleck, wo sein Schweiß eingetrocknetes Blut verflüssigt hatte. »Nichts!« Er war Anfang vierzig, gut gebaut, ergrauende Schläfen und Dreitagebart, Blut in den Fältchen unter den Augen. Sofern sein Hemd keine Verletzungen verbarg, die Noah nicht sehen konnte, stammte das Blut von seinem Sohn.

»Es müsste bald Neuigkeiten geben.« Marnie stellte den Schuh beiseite und richtete sich auf, bevor sie einen Schritt zurücktrat. Sie nickte Noah zu, der einen Stuhl ans Bett schob.

»Wir haben gerade mit Joe Eaton über den Tathergang gesprochen«, sagte er. »Wir versuchen, das Mädchen zu finden.«

»Das Mädchen.« Calums Gesicht war ausdruckslos. Er blinzelte, konzentrierte sich. »Welches Mädchen?«

»Das Mädchen, das auf die Straße gelaufen ist. Der Grund, weshalb Joe Eaton ausweichen musste.«

»Er ist direkt auf mich zugefahren.« Calum hob die Hand, Handfläche nach außen. »Direkt auf mich zu.« Seine Hand war breiter als die von Joe, an einigen Stellen vernarbt, und sie zitterte vor Schock wie der Rest von ihm.

»Joe behauptet, ein Mädchen wäre ihm vor den Wagen gelaufen.« Noah bemühte sich, den Mann nicht zu bedrängen. »Deshalb ist er ausgewichen. Um das Mädchen nicht zu überfahren.«

»Das hat er gesagt? Der andere Fahrer … Er hat gesagt, da wäre ein Mädchen …?«

»Sie haben sie nicht gesehen?«

»Kein Mädchen, nur das Auto, das auf uns zugerast ist, und … die Wand. Dann Logan, der gegen die Windschutzscheibe geknallt ist, mit diesem Geräusch.« Er malträtierte seinen verletzten Arm mit der linken Hand. »Sein Kopf hat dieses Geräusch gemacht, als würde etwas platzen. Er hat die Windschutzscheibe mit dem Kopf zertrümmert …« Streckte blindlings die Hand aus. »Er darf nicht sterben. Nicht so. Nicht durch meine Schuld, es darf nicht meine Schuld sein, er ist doch noch ein Kind. Mein Kind!«

»Okay.« Noah nahm die Hand des Mannes, eiskalt und klebrig vom Blut seines Sohnes, der Nachhall des Schocks ließ seine Finger zur Faust ballen und wieder öffnen. »Mr Marsh? Calum. Es ist okay.«

Marnie verschwand und kehrte mit einer Krankenschwester zurück, die Logans Dad ins Bett bugsierte. Noah wartete, bis er lag, bevor er seine Hand aus der Umklammerung des Mannes löste.

»Tut mir leid«, sagte Calum immer und immer wieder, zur Krankenschwester, zu Noah. »Es tut mir leid.«

Marnie war im Flur, wartete.

»Er hat kein Mädchen gesehen«, sagte Noah. »Glaubst du, Joe Eaton hat sich geirrt?«

»Etwas war da, das Joe zum Ausweichen gezwungen hat. Er ist nicht betrunken gewesen, und es hat nicht geregnet. Die Verkehrsverhältnisse waren gut. Warum ein Mädchen erfinden? Insbesondere ein halb nacktes, mit Schrammen übersätes Mädchen?«

Sie holte ihr Handy heraus. »Wir müssen wissen, wer sonst noch auf der Straße unterwegs gewesen ist. DC Tanner sichtet die Überwachungskameras. Ob es sich nun um May Beswick handelt oder nicht, dieses Mädchen steckt in Schwierigkeiten.« Sie wählte eine Nummer, hielt das Handy ans Ohr. »Ed, ruf mich zurück, wenn du das hier abhörst. Ich brauche deine Meinung.«

Ed Belloc arbeitete für die Opferhilfe, einer ihrer besten. Er und Marnie waren seit sechs Monaten zusammen, vielleicht ein bisschen länger.

»Ob es sich nun um May Beswick handelt oder nicht«, wiederholte Noah. »Denkst du, es besteht die Chance, dass sie es ist?«

»Keine Ahnung. Ich würde es gern hoffen. Zumindest … Dieses Mädchen ist vor jemandem weggelaufen. Verletzt, allem Anschein nach. Sie ist nicht stehen geblieben, nachdem sie den Unfall verursacht hat. Ich frage mich, ob sie untergetaucht ist, in irgendeinem Versteck, wenn sie genug Glück hatte, eins zu finden. Ed wird welche in Battersea kennen und wissen, wie leicht es ist, einen sicheren Unterschlupf in diesem Teil der Stadt zu finden, wenn man verzweifelt ist.«

»Sie könnte verzweifelt sein, weil sie den Unfall verursacht hat. Falls Logan stirbt oder Ruth … könnte sie vor uns Angst haben.«

Hinter ihnen, durch die Wand, das gedämpfte Geräusch von Calum Marshs Kummer.

»Wir müssen sie finden«, sagte Marnie.

5

Aimee

Nägel kratzten an der Tür. »Essen ist fertig. Er will dich bei uns.«

Ich wollte nicht essen, also habe ich keine Antwort gegeben. Ashleigh kam ins Zimmer, mit der Schulter die Tür aufschiebend. Harm hatte einen Türschließer eingebaut; sie knallte zu, wenn man nicht achtgab. »Du kannst mit uns essen, sagt er.«

»Ich bin nicht hungrig.«

»Sei nicht blöd!« Sie blickte sich um. »Und reit mich nicht in die Scheiße. Mal wieder.« Ihre Augen waren gierig, glitten überall hin. Ich hatte zu viel Zeug bekommen.

Harm machte mir ständig Geschenke. Die Haarbürste war meine neueste Errungenschaft, echtes Silber, mit eingraviertem Feingehaltstempel. Ashleigh ging geradewegs auf sie zu, wo sie auf einem Frisiertisch lag, Glühbirnen um den Spiegel, als wäre ich der Star eines Softpornos. »Hübsch.« Ihre Stimme war ausdrucksleer. Sie hasste mich. Sie fasste die Bürste aber nicht an. Das hat sie nicht gewagt. Im Licht der Glühbirnen sah es aus, als hätte sie einen Ausschlag.

»Du musst kommen und mit uns essen.« Sie ging zu Tür. »Steh auf!«

Ich blieb noch ein bisschen auf dem Bett liegen, bevor ich tat, was sie von mir verlangte. Sie hasste mich, aber sie hatte recht. Ich konnte sie nicht schon wieder in die Scheiße reiten, nicht so schnell nach dem letzten Mal.

Die anderen warteten unten um den Tisch. Keine Gracie, was bedeutete, dass sie mal wieder in Schwierigkeiten steckte, weggesperrt in ihr Zimmer. Ashleigh hatte angefangen, sie Disgracie zu nennen. Es war lustig, außer dass es das nicht war. Sie hat mir schrecklich leidgetan. Auch wenn es mir nicht im Geringsten besser erging. Ich war schlimmer dran als alle anderen, kein Berg an silbernen Haarbürsten konnte das ändern.

In der Küche roch es heiß und braun, und bei dem Gedanken, was auch immer auf dem Herd köcheln mochte, hätte ich mich am liebsten übergeben. Dosen, immer aus Dosen. Lieber wäre ich verhungert, nur dass das natürlich Quatsch war. Ich hatte genügend Nächte auf der Straße verbracht, in denen ich fast verhungert wäre. Verhungern ist was für reiche Kids, die nie weiter als eine Armlänge von einem anständigen Essen entfernt sind. Ich würde diesen Fraß essen, was auch immer es war, und dankbar sein.

May lächelte mich an, saß mit durchgedrücktem Rücken auf dem Stuhl, die Haare fein säuberlich gekämmt, alles an ihr von der Schuluniform bedeckt. Die Strumpfhose juckte sie an den Beinen, genau wie mich. Keine von uns wagte es allerdings, sich zu kratzen, zumindest nicht am Tisch. Ashleigh nahm ihren Platz ein, legte eine Serviette auf ihren Schoß, verbarg jede Spur des Miststücks, das sie oben gewesen war.

Am Herd schöpfte Harm braunes Essen auf graue Teller. Er bewegte sich langsamer als üblich, als müsste er uns ins Gedächtnis rufen, wie das hier funktionierte – wer das Sagen hatte. Meine Finger zuckten, bis ich mich zwang, es zu lassen. Alles, was anders war, jede noch so kleine Veränderung, machte mich nervös.

Alles musste immer, immer gleich sein.

Das war, was er uns beigebracht, was er uns eingetrichtert hatte. Ich hasste es, wie bedächtig er sich bewegte. Die Kerzen saugten an seinem Schatten, zerrten ihn bis zum Tisch. Meine Finger krochen außer Reichweite.

Christie half Harm, zwei Teller in jeder Hand wie eine Kellnerin. Sie war groß und kräftig, echter als der Rest von uns. Blonde Haare, die ihr über den Rücken fielen, genau wie er es mochte. Ein Baumwollkleid, das ihr bis zum Knie reichte und stolz ihre Waden zur Schau stellte. Sie hatte prächtige Muskeln. Im Vergleich zu Harm war sie nichts. Sie spähte zu mir, nickte anerkennend. Mir war gestattet worden, nach unten zu kommen, und ich war der Anweisung ohne großes Theater gefolgt. Braves Mädchen. Braver Hund. Ich zog einen Stuhl heraus und setzte mich neben May, deren Hand sich unter dem Tisch verstohlen in meine schob. Ihre Hand war warm oder meine kalt. In meinem Zimmer wurde es nie warm, nicht richtig. Diese Fußbodenheizung war eine große Lüge, genauso wie alles andere.

Ashleigh kratzte mit den Füßen über den Boden, dann hielt sie inne und saß still da.

Wir drei in unseren weißen Blusen, schwarzen Röcken und Strumpfhosen, die Gesichter mit Seife und Wasser geschrubbt, die Haare hübsch säuberlich gekämmt. Wir sahen aus, als könnte uns kein Wässerchen trüben.

Christie brachte die Teller an den Tisch. Harm war ein guter Koch, sagte sie. Als bräuchte man einen Michelin-Stern, um den Dreck zu kochen, von dem wir uns ernährten, Essen, so voll von Konservierungsstoffen, dass es noch in hundert Jahren genießbar wäre. May hatte einmal versucht, Gemüse anzupflanzen, aber er hat es verboten. Alles musste lang haltbar sein. Schleimige Scheiben rekonstituierter Aubergine, als hätte sich die Zunge eines Stiefels an der Seite meines Tellers zersetzt.

Wir aßen schweigend, das einzige Geräusch das Kratzen von Gabeln auf Blechtellern. Wir tranken Wasser aus Blechtassen. Nichts auf unserem Tisch war zerbrechlich, außer es zählte die angespannte Stille von Teenagermädchen, Leibeigene eines gutaussehenden und großzügigen Mannes. Am liebsten hätte ich wirklich gekotzt.

»Wir sind, was wir sind«, sagte Christie immer.

Ich hatte mal einen Horrorfilm von Jim Mickle mit diesem Titel gesehen, aber das behielt ich für mich.

Wir sind, was wir sind.

Hätte man durchs Fenster geschaut, was hätte man dann gesehen? Einen Vater und seine blutjunge Ehefrau, die mit ihrer Familie aus geschniegelten Püppchen beisammensaßen, glatte Haare bis zur Hüfte, erblühende Titten unter sauberen Hemden. Und ich – das Kuckucksei am Tischende, flachbrüstig und mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren, an die seine dicke silberne Bürste vergeudet war.

Es war alles eine Lüge. Christie war nicht seine Frau. Wir waren nicht seine Töchter, nicht einmal Schwestern. Natürlich hätte man auch nicht durch das Fenster schauen können. Zum einen gab es da Verdunklungsrollos.

Harm füllte meine Tasse mit Wasser auf, ein Hauch von Besorgnis auf seinem Gesicht. »Nicht dehydrieren!«

Ashleigh riskierte ein Augenrollen, das sie sogleich in ein Blinzeln verwandelte, bevor Harm sie dabei ertappte.

Das Wasser schmeckte nach Münzen, so wie meine Hände am Ende eines guten Tags Betteln auf der Straße gerochen hatten. »Vielen Dank.« Meine Stimme brach beim letzten Wort.

Ashleigh war die Erste, die ihren Teller aufgegessen hatte. »Das war fein.« Sie leckte sich über die Lippen und warf Harm ein weißes Lächeln über den Tisch zu, Augen so hell leuchtend wie ihre Zähne. Sie hatte etwas auf ihre Lider getan.

Fuck …

Sie hatte sich Vaseline auf Lider und Mund geschmiert. Kein Make-up im Haus. Eine der goldenen Regeln. Die Vaseline verlieh ihrem Mund einen feuchten Schimmer. Sie sah nicht wie ein Schulmädchen aus. Sie sah erwachsen aus, nuttig. Du dumme, dumme Kuh …

Harm hasste alles Erwachsene. Und nuttig sogar noch mehr. Wir sollten seine perfekten Puppen sein, geschlechtslos, keusch. Das wusste sie. Ashleigh wusste es. Sie saß zu weit nach vorn gebeugt da, mit den Händen am Saum ihres Hemds ziehend, sodass es vorne hauteng anlag. Er würde es bemerken. Schon seit Wochen versuchte sie, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Fuck. Wie konnte er ihre Titten nicht bemerken, wenn sie so dasaß?

Christie schob ihren Stuhl zurück. »Ashleigh, du bist an der Reihe, den Tisch abzuräumen.«

Ashleigh erhob sich, die Hüften hin und her wiegend wie ein Slinky-Spielzeug, das eine Treppe hinabsteigt. Ich spürte den Schlag in Christies Blick, als hätte sie mir eigenhändig eine Ohrfeige verpasst.

Die Luft wurde stickig, ähnlich wie vor einem Sturm. Ich schmeckte das Aufflackern von statischer Elektrizität auf meiner Zunge. Neben mir war May erstarrt, abwartend, was er tun würde. Wir waren richtig angezogen, saßen dort, wo wir sitzen sollten, aßen sein Scheißessen, aber es war nicht genug. Nichts war jemals genug.

»Ashleigh.« Seine Stimme war sanft, als wäre sie mit Kreide bestäubt, so wie ein Gewichtheber seine Hände mit Kreide einreibt. »Ashleigh.«

Sie drehte sich um, ihr Lächeln verflogen. Sie hatte versucht, sich die Vaseline von den Lippen zu lecken, aber sie war immer noch dort, in ihren Mundwinkeln, und winkte ihm zu.

»Komm her.«

Unter dem Tisch drückte May meine Finger.

Nicht nicht nicht …

»Komm her«, wiederholte Harm.

Ashleigh ging zum Tisch zurück, diesmal ohne das wiegende Hüftgewackel, ruckartig, als wäre sie angeleint. Er starrte ihr ins Gesicht. Er war so nah, sie musste seinen Atem gespürt haben. Er war der Einzige, der atmete, der Rest von uns wagte es nicht. Selbst Christie hielt die Luft an. Die Kerzen brannten schnurgerade zur Decke in der plötzlichen paralysierten Stille.

»Hast du dich am Mund verletzt?« Seine Stimme blieb kreideweich.

Ashleigh riss den Kopf von einer Seite zur anderen.

»Hast du dir die Augen verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sind sie trocken? Eingerissen?«

Und wieder.

»Warum hast du dann Vaseline im Gesicht?«

»Ich … nein. Ja. B…Bitte. Tut mir leid.« Sie betonte jedes einzelne Wort, in der Hoffnung, das richtige zu finden.

Harm hörte ihr nicht zu. Er streckte Christie die Hand hin, die ihre Papierserviette nahm und sie ihm über den Tisch hinweg reichte, was die Kerzen zum Züngeln und Flackern brachte.

Er spuckte auf die Serviette. Erhob sich zu seiner vollen Größe.

Der gesamte Raum neigte sich zur Seite und zerrte unsere Schatten zu ihm, als würde er uns alle verschlingen.

Ashleigh hatte sich nicht gerührt. Sie war jetzt sehr klein im Vergleich zu ihm, der bedrohlich vor ihr stand.

Er rieb mit der Serviette über ihren Mund. Spuckte noch einmal. Kratzte über ihre Augenlider. Als wollte er sie ausradieren. Sie ließ ihn gewähren. So vernünftig war sie zumindest. Sie krümmte sich leicht, um ihre Titten kleiner aussehen zu lassen. Gut. Spuckte. Und rieb.

Als Harm fertig war, warf er die zusammengeknüllte Serviette auf den Tisch.

Dann nahm er eine Kerze.

Meine Finger zuckten unter dem Tisch. May streichelte mit ihrem Daumen über meine Knöchel, versuchte alles, um mich zu beruhigen. Es hätte andersherum sein müssen, ich, die sich um sie kümmerte. Ich war die Einzige, die er nicht anfasste, die Einzige mit ein bisschen Macht, aber ich hatte Angst, hatte zu große Angst.

Ashleigh stand stocksteif da, während sich ihr Schatten zu ihren Füßen krümmte, als hätte sie eingenässt.

Harm hielt die Kerze so nah, dass ihre gesamte Gesichtsseite gelb glühte.

Ich nahm einen kurzen Luftzug durch die Nase, weil ich nicht länger nicht atmen konnte, aber ich wollte die Flamme keinesfalls in ihre Haare ziehen.

Er sah sie an. »Besser.« Seine Stimme hatte nie aufgehört, weich zu sein. Er schrie nie. Das musste er auch nicht. »Und nun, was sagt man?«

»D…Danke.«

»Nein, nicht das.« Jedes Wort ließ die Flamme näher an ihr Gesicht züngeln. »Was sagt man?«

»T…Tut mir leid.«

»Sag das zu allen.«

Sie musste sich zum Tisch drehen, um seinem Befehl Folge zu leisten, und ihr Gesicht geriet in die Flamme. Er zog die Kerze nicht weg, und ich konnte riechen, dass ihre Haut wie Milch brodelte, seine Spucke auf ihrem Gesicht trocknete …

Ich konnte seine Spucke auf ihr riechen.

»Tut mir leid. Tut mir l…leid.«

»Was tut dir leid?«, fragte Harm.

»Das hier ruiniert zu haben.« Sie weinte. Die Flamme leckte an ihrem Gesicht, fand ihre Tränen, ließ sie zischen. »Es tut mir leid, das hier ruiniert zu haben.«

»Das ist viel besser.« Harm stellte die Kerze wieder hin. Er breitete die Arme aus, und sie stürzte vor, schmiegte sich laut heulend an seine Brust. »Braves Mädchen.« Er streichelte ihr über die Haare, tätschelte sie. »Braves Mädchen.«

Er sah mich direkt an.

Nach einer Weile schob er Ashleigh eine Armlänge weit von sich und ließ sie gehen.

Nein, lass nicht zu, dass er dirden Rücken zudreht …

Gestern Nacht hatte er Grace den Rücken zugekehrt.

Christie begann, die Teller vom Tisch abzuräumen, durchbrach die Stille, brachte Geräusche in den Raum zurück. Harm lächelte Ashleigh an und zeigte zur Spüle. Ihr Gesicht war nun eingesunken, immer noch schimmernd von seiner Spucke. Und das nur, weil sie seine Auserwählte sein wollte. Ich wusste es besser …

Du willst nicht seine Auserwählte sein, das willst du wirklich nicht.

Alles, was sie sah, waren die Geschenke, das Geben. Das Nehmen sah sie nicht.

Harm war zurück am Kopfende des Tischs. »Aimee, iss auf.« Seine Augen glitten zu May. »Du auch.« Als wäre nichts geschehen.

Alles musste immer, immer gleich sein.

Essen war ein Privileg. Ich schaufelte es in mich hinein, als würde ich einen Graben füllen, hibbelig vor Adrenalin. Es machte mich mutig und dumm. Ich hasste es, wenn er May ansah. Hasste es. »Wo ist Grace?« Ich griff nach meiner Tasse, lauschte in die neue Stille hinein. Anders als vorhin, weil sein Augenmerk nun auf mich gerichtet war, aber alles war besser, als wenn er auf May blickte. Durch einen Mundvoll Essen wiederholte ich die gefährliche Frage. »Wo ist Grace?«

Ich hatte seine Aufmerksamkeit. Ich ganz allein. Als wären wir die einzigen zwei Menschen im Zimmer. Sein Starren ließ mich tanzen, aber ich wollte, dass er es laut sagte. Ich wollte den Beweis.

Grace war fort.

Ich konnte das Loch spüren. Ich kannte jeden Winkel hier drinnen, ob nun völlig offen oder nicht. Einer von ihnen war leer. Ein blinder Fleck. Sie war fort, und ich wollte es von ihm hören, dass es einen Weg nach draußen gab. Weg von den Geschenken und der kurzen Leine seiner Aufmerksamkeit, der Angst, was geschehen würde, wenn er die Geduld verlor oder das Essen ausging. Seine Familie war fake, toxisch. Wir waren toxisch. Er hatte uns in Sicherheit gebracht, und er hatte uns krank gemacht. Wir lebten nach seinen Regeln, sehnten uns gleichzeitig nach seiner Aufmerksamkeit und wollten sie nicht. Hassten einander, hassten ihn, weil wir ihn brauchten, weil es sonst nichts gab und wir heilig waren. Wie ausgepeitschte Hunde lebten.

Grace war fort. Sie war entkommen.

Ich wollte es aus seinem Mund hören.

Meine Hand war kalt und leer.

May sprang auf.

Nicht wie die anderen. Sie brauchte Harms Aufmerksamkeit nicht, aber sie bekam sie. Sie bekam sämtliche Aufmerksamkeit, als sie sagte: »Ich bin schwanger.«

6

Marnie stand auf der vom Unfall vernarbten Seite der Straße, unter dem starren Blick einer Überwachungskamera. London hatte quasi an jeder Ecke eine. Ihr Team hatte unzählige Stunden Filmmaterial, in denen sie nach dem Mädchen suchen könnten, das möglicherweise May Beswick war. Anwohnerbefragungen gingen schneller, hatten aber ihre eigenen Nachteile, hauptsächlich, dass die Superkraft der meisten Londoner war, Dinge nicht zu bemerken.

Joe Eatons Beschreibung war eindringlich genug, dass Marnie das Mädchen vor ihrem geistigen Auge sehen konnte. Gefärbte rote Haare, wild ins Gesicht fallend, dunkle Kratzer auf der Haut. Barfuß. Wie eine Aufziehpuppe, in den Verkehr hinein. Wer hatte sie aufgezogen? Und von wo?

Sie drehte sich zur Wohnsiedlung um, aus der weitere Überwachungskameras hervorlugten. Eine auf sechs Menschen in der Stadt. Tim Welland, ihr Boss, liebte solche Statistiken. Der Durchschnittslondoner wurde vierhundertmal am Tag gefilmt, aber nur drei Prozent der Verbrechen wurden dank der Bilder aus Überwachungskameras gelöst. Vielleicht hatte sie unrecht, was das Nichtbemerken betraf. Vielleicht war die Superkraft Paranoia. Sie eilte in Richtung Siedlung, weg von den Unfallspuren, in Gedanken bei den nackten Füßen des Mädchens. Sie war gelaufen, verletzt, auf der Suche nach einem sicheren Versteck. Warum war sie dann nicht stehen geblieben?

Vor zwölf Wochen war May Beswick ein aufgeweckter, ruhiger Teenager gewesen. Keinerlei Stimmungsschwankungen, keine Sorgen oder zumindest keine, die ihre Freunde oder Familie mitbekommen hätten. Joe Eatons Mädchen hatte geschrien.

Noah wartete an der Ecke. »Ron ist mit der Anwohnerbefragung unterwegs.« Ein Kopfnicken über die Schulter zur Garrett-Siedlung. »Er meint, er wäre heute Morgen eh hergekommen.«

»Emma Tarvin«, erinnerte sich Marnie. »Sie hat sich über Kinder beschwert, die Feuer gelegt haben.«

»Und sie bedroht haben.« Noah nickte. »Ron sagt, sie wäre ein alter Drachen, nicht die Sorte, die sich leicht ins Bockshorn jagen lässt. Schon was Neues von Ed?«

»Er telefoniert immer noch herum, aber er hat mit den nächsten Frauenhäusern gesprochen, und die haben gestern Nacht kein Mädchen aufgenommen. Sie hätte sowieso nicht einfach reinspazieren können. Sie hätte zuvor anrufen und außerdem die Nummer kennen müssen. Hätte sie ein Telefon in die Finger bekommen, hätte sie wohl eher die Polizei angerufen. Wir überprüfen sämtliche Notrufe vor und nach dem Unfall. Bisher nichts.«

Sie gingen weiter auf die Garrett-Siedlung zu. »Joe Eaton hat von nackten Füßen gesprochen.« Noah beäugte den Bürgersteig. »Auf diesen Straßen hier würde ich kein Risiko eingehen.«

»Oder auf jeder anderen Straße von London. Außerdem ist es kalt. Sie wird versucht haben, einen warmen Ort zu finden.«

»Vorausgesetzt, sie ist allein und dass der, vor wem auch immer sie weggelaufen ist, sie nicht geschnappt hat.«

»Vorausgesetzt, sie ist allein«, räumte Marnie ein.

Das Garrett war ein Wohnkomplex aus vier Hochhäusern, verbunden durch ein System aus gemeinsamen Überführungen. Laubengänge lautete der architektonische Fachbegriff. Die Türme waren seelenlose Betonschächte, in denen die Ärmsten von London in winzigen Schuhschachteln mit einem funkelnden Ausblick über den Fluss wohnten. Sozialwohnungen, doch es roch bestenfalls nach Anonymität, schlimmstenfalls nach Isolation. Mit Brettern verstärkte Türen und zugenagelte Fenster deuteten darauf hin, dass Paranoia hier gedieh, auch wenn es das Einzige war, was hier wuchs. Die Blumenbeete waren Zementtröge, mit Unrat und noch Widerlicherem gefüllt. Das Gras, das in den Fugen wuchs, war ausgedörrt, mehr grau als grün. Selbst die Graffiti waren tot, mit Sandstrahl zu pastellfarbenen Narben an den Wänden abgeschmirgelt.

Die mobile Einheit richtete sich draußen vor dem ersten Hochhaus ein, mit Ron Carling, der das Team der Anwohnerbefragung über ihren voraussichtlichen Empfang in der Siedlung informierte. »Wir sind hier in der Gegend so beliebt wie Ebola, also bleibt kumpelhaft. Wir brauchen Punkte, Punkte, Punkte, wie Larry Grayson immer gesagt hat. Oh, hallo.« Er grinste Noah schief an. »Wenn man vom Teufel spricht.«

»Emma Tarvin«, sagte Marnie. »In welcher Wohnung wohnt sie?«

»Sieben-vier-sechs. Sie bekommt manchmal die ganze Nacht kein Auge zu und liegt auf der Lauer, was als Nächstes passiert. Es ist schon so schlimm, dass sie Angst vor ihrem eigenen Schatten hat, die Ärmste.«

»Ich dachte, sie wäre ein alter Drachen«, sagte Noah.

»Heißt doch nicht, dass sie keine Angst hat.«

»Sie liegt auf der Lauer«, sagte Marnie. »An welchem Fenster?«

»Hat sie beobachtet, wie unser Mädchen gestern Abend hier entlanggelaufen ist?« Ron zeigte auf eine Fensterreihe, etwa auf halber Höhe des ersten Wohnblocks. »Vogelperspektive, und sie ist ein neugieriger alter Vogel. Muss sie auch sein, um hier zu überleben. Willkommen zu dem, was von Lambeth übrig ist. Gotham ist nichts gegen dieses Drecksloch.«

»Kopf hoch, Bruce. Du kriegst das hin.«

»Bruce?« Ron spähte zu Noah. »Oh, okay. Bruce Wayne.«

»Oder Forsyth. Ich hätte auf Forsyth getippt. Wegen des Schnurrbarts.«

Ron schnaubte, aber er grinste. »Dann lasst uns an den Türen Punkte holen.«

Auf der Südseite des Wohnkomplexes traten zwei Kinder gegen eine angekokelte Mülltonne. Beim Anblick der Polizei traten sie noch fester zu, bis einer der Uniformierten in ihre Richtung kam, dann verschwanden sie schnell zwischen den Wohnblocks, verschlungen von den langen Schatten der Hochhäuser.

»Angst ist eine normale Reaktion im sozialen Wohnungsbau.« Noah passte sich Marnies Tempo an. »Wird das nicht immer wieder gesagt?«

»Auf mich haben sie nicht wirklich verängstigt gewirkt. Vielleicht gelangweilt.«

»Mein Dad würde es Thatchers Erbe nennen. So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, nur Familien und Individuen. Konkurrierende Individuen. Jeder ist ein Konkurrent, also stellt jeder eine Bedrohung dar. Wir geben vor, sozial eingestellt zu sein, aber in Wirklichkeit machen wir uns vor Angst fast in die Hose.« Noah kratzte sich an der Wange. »Mein Dad ist eigentlich viel cooler, als ich ihn klingen lasse. Aber er liebt es, von früher zu reden, circa 1987.«

»Du bist 1987 geboren, nicht wahr?«

»An einem Ort wie diesem.« Er reckte den Hals zum Laubengang über ihnen. »Mein Dad hat es den Gulag genannt. Unter anderem.«

In dreißig Meter Entfernung fuhr ein schwarzer Junge von etwa zehn Jahren auf einem Fahrrad im Kreis, die Beanie-Mütze bis zum Nasenbein heruntergezogen. Das Rad war zu klein für ihn, pinke Nylonbändchen baumelten von den Lenkergriffen herab. Eine Karikatur der Langeweile, wie er dort ziellos in die Pedale trat, doch Noah sagte: »Er steht Schmiere. Das bedeutet, dass hier jemand mit Drogen dealt oder gestohlene Waren vertickt. Oder beides.«

Er wusste, wovon er sprach. Marnie hörte es aus seiner Stimme heraus, sah es in der wachsamen Art, wie er sich bewegte. »Denkst du, er könnte gestern Abend etwas Nützliches beobachtet haben?«

»Vielleicht, aber würde er es uns verraten?« Der Junge scherte aus und radelte zwischen zwei Hochhaustürmen hindurch. »Unwahrscheinlich.« Noah drehte den Kopf nicht nach dem Jungen um, hielt Schultern und Wirbelsäule locker, die Augen misstrauisch nach vorne gerichtet. »Würden wir ihn befragen, würde er seinen Sozialarbeiter auf uns hetzen. Kids wie der sind mit allen Wassern gewaschen.«

Für Ron war jeder in der Siedlung gleich, doch Noah wusste es besser. Er würde nicht den Fehler begehen zu glauben, dass zu große Vertraulichkeit das Einzige war, das hier Verachtung nach sich zog. Marnie war froh, ihn in ihrem Team zu wissen.

Sie hatten den Eingang des Wohnblocks erreicht, in dem Emma Tarvin lebte.

»Kommen Sie schon, meine Liebe.« Ron wartete mit dem Finger auf dem Klingelknopf, den Mund nah an der Gegensprechanlage. »Sie kennen mich doch. Machen Sie auf!«

Eine ältliche Stimme, knisternd und rauschend: »Da draußen ist eine ganze Horde von Ihnen. Wo zum Teufel waren Sie, als die Mädchen all das Zeug durch meinen Briefschlitz geworfen haben? Nirgends, verdammt noch mal.«

»Nun, aber jetzt sind wir hier. Lassen Sie uns rein, dann mache ich Ihnen eine schöne Tasse Tee. Wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Wobei? Euch zu helfen, dass ihr den Arsch hochkriegt?« Doch sie drückte auf den Summer und ließ sie in die Eingangshalle des Gebäudes.

Ron nickte in Richtung Treppenhaus. »Oder der Aufzug, wenn Sie den Gestank von Pisse mögen.« Mit schwer stampfenden Schritten ging er die Treppe voran nach oben.

Marnie und Noah folgten, sahen überall die Spuren von Feuer, schwarze Brandflecken an den Wänden, geschmolzenes Plastik am Geländer. Marnie war schon öfter in niedergebrannten Gebäuden gewesen; sie wusste, das hier war nichts – Kids, die mit Streichhölzern spielten. Was nicht bedeutete, dass sie sich nicht zu Feuerzeugbenzin oder ganzen Kanistern hocharbeiten konnten. Es mochte keine Rolle spielen, dass hier Menschen wohnten. Vor nicht allzu langer Zeit und nicht allzu weit entfernt hatte ein Teenager ein Tierheim angezündet und Dutzende Hunde getötet. Brandstifter hatten harte Herzen. Und Feuer war so schnell. Zu schnell, um es sich noch einmal anders zu überlegen.

»Nächste Etage«, sagte Ron, immer noch auf dem Weg nach oben.

Niemand kam ihnen im Treppenhaus entgegen. Keine Spur von Leben aus den Wohnungen, nur das gelegentliche Dröhnen eines Fernsehers. Wie viele Bewohner waren zu Hause? Wie viele gingen einer geregelten Arbeit nach? Die Statistiken zu diesem Teil Londons waren deprimierend. Joe Eaton und Calum Marsh waren hier in ihren hübschen Autos durchgefahren, zu besseren Leben irgendwo in einem anderen Viertel. Bis das passiert war.

Emma Tarvin wohnte im siebten Stock.

Marnie blieb im Laubengang stehen, um zur mobilen Einheit hinabzublicken, die noch immer ihr Lager aufschlug. Die beiden Kinder waren zurück, bearbeiteten den Mülleimer mit Tritten und hämmerten ihn über die Betonödnis zwischen den Wohnungen und der Hauptstraße. Dahinter lag die Baustelle um die Battersea Power Station wie eine Wunde weit aufgerissen da. Das Exil in uns …

Die Worte drängten sich ungewollt in ihr Bewusstsein. Sie hatte dafür bezahlt, dass man sie ihr auf die linke Hüfte tätowierte, damals, mit achtzehn, als sie sich für eine verschlagene Rebellin gehalten hatte. Sie las die Worte auf ihrer Haut, wann immer sie sich an- und auszog. Ed Belloc hatte sie ebenfalls gelesen, der erste Mensch, dem sie genug vertraut hatte, um sie sehen zu dürfen. Und Stephen Keele hatte sie gelesen, als Teenager in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Ihr Pflegebruder. Der Mörder ihrer Eltern. Das Exil in uns war der Grund, den er für seine Tat angegeben hatte, als hätten die Worte ihn zum Töten angestachelt. Als wäre ihre Haut ein Befehl oder eine Bitte gewesen.

Ein dumpfes Poltern von unten. Den Kindern war es gelungen, die Mülltonne umzukippen. Sie lag auf der Seite, ihre Eingeweide aus Abfall um sich verstreut. Marnie blinzelte. Konzentrierte sich wieder.

Das Mädchen, bei dem es sich vielleicht um May Beswick handelte, war gestern Abend hier entlanggekommen. Vom siebten Stock aus hatte man freie Sicht auf die Unfallstelle, und Emma Tarvin war ein Wachtposten. Hatte sie etwas gesehen?

Ron stand an der Tür von Nummer 746. »Machen Sie auf. Sie kennen mich. Wahrscheinlich haben Sie meine Visage längst satt. Aber wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Marke.« Mrs Tarvins Stimme war scharf. Ihre Wohnungstür war mit Metall verstärkt, voller Fußabdrücke von Kindern, die dagegen getreten hatten. Braune Flecken um das Schloss und den Briefschlitz, Spuren von Feuer am unteren Rand der Tür, die sich über die gesamte Wohnungslänge erstreckten. Sie lebte im Belagerungszustand.

Ron hielt seinen Ausweis vor den Türspion. »Kommen Sie schon. Ich brauche unbedingt ’ne Tasse Tee.«

»Wer ist da bei Ihnen?« Ihr Auge am Guckloch, scharf wie ihre Stimme.

»Meine Chefin, Detective Inspector Rome. Sie möchte Sie kennenlernen. Ich habe ihr erzählt, dass Sie ihr gerne mal den Marsch blasen wollen.«

Sesam, öffne dich!

7

»Wird auch Zeit, verdammt noch mal. Dachte schon, ich hätte längst ins Gras gebissen, bevor ihr euren Arsch herbewegt. Wahrscheinlich verkohlt in meinem Bett.« Emma Tarvin war eine große Frau, ihre breiten Schultern ließen den erbärmlichen Korridor noch erbärmlicher aussehen, in einem violetten Kleid und einer hellbraunen Strumpfhose, mit graumeliertem Haar, kurz geschoren über einem quadratischen Gesicht, mit Haut, die nie Tageslicht sah, ohne Make-up, überall rote Äderchen. Braune Augen, hart wie Schrotkugeln, starr auf Marnies Gesicht gerichtet, bevor sie zu Noah glitten. »Wer ist der Schönling?«

»Das ist DS Jake. Er macht einen klasse Tee«, sagte Ron.

»Sie können Tee machen. Der Schönling«, sie warf Noah ein Lächeln zu, rasiermesserscharf, »kommt mit mir mit.« Mit einer Kopfbewegung zeigte sie auf Marnie. »Die auch.«

Noah und Marnie folgten ihr ins Wohnzimmer, eine kleine Schuhschachtel, gestrichen in einem kränklich gelbstichigen Ton. Rußige Schlieren die Wände hinauf und um die nach Süden zeigenden Fenster. Gardinen, die aussahen, als wären sie mit starkem Tee gebatikt, ein aggressiver Nylonteppich, Möbel, direkt aus dem Festival of Britain, alles bis zum letzten Zentimeter mit Resopal beschichtet. Es erinnerte Noah an die Wohnung seiner Großmutter, bis hin zu den Sesselschonern und dem Spiegel in Form einer Sonne. Das Einzige, was fehlte, waren Familienfotos. Das Zuhause seiner Großmutter war voller Fotos von ihm und Sol. Emma war sechsundsiebzig. Entweder hatte sie keine Enkel, oder sie bewahrte ihre Bilder in einem anderen Zimmer auf. Kein Nippes, nicht einmal eine Blumenvase. Bücherregale, hauptsächlich mit Videokassetten und DVDs gefüllt. Breitbildfernseher. Schreibtisch am Fenster, mit Zeitschriften und Papieren übersät. Eher eine Studentenbude als die Wohnung einer Rentnerin. Es roch auch nach einer Studentenbude, männlich und muffig.

»Sie können sich da hinsetzen.« Emma ließ sich auf das Sofa sinken, nickte Noah neben sich.

Er kam ihrer Aufforderung nach, während Marnie sich in einen der zwei Sessel ihr gegenübersetzte. Ron kam mit vier Teetassen auf einem ramponierten Tablett aus der Küche zurück.

»Wer bezahlt für die?« Ein Schnauben. »Ich heiße Tarvin, nicht Tetley, verdammt noch mal!«

»Beim nächsten Mal bringe ich eine Packung Teebeutel mit.« Ron setzte sich in den anderen Sessel. »Und Kekse, wenn Sie wollen.«

»Wenn die da Sie lässt.« Ein Nicken in Marnies Richtung. »Sieht nicht so aus, als würde sie Kekse futtern. Ich persönlich kann Cadbury Fingers nicht widerstehen.« Ein weiteres rasiermesserscharfes Lächeln für Noah. »Tut mir leid wegen des Getues an der Tür, aber hier klingeln ständig Leute, die reinwollen. Die nette Alte einen Stock unter mir hat dem Sozialamt aufgemacht, können Sie das glauben? Haben natürlich alles ausgeräumt. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, ist hier in der Gegend so gut wie weg.« Sie griff nach einer Teetasse. »Sie wollen also etwas über meine Brandstifter wissen. Nehmen die Sache endlich ernst, nach dreizehn Feuern. Außer natürlich, Sie wollen mir einen Vortrag halten wie die Letzten, die hergeschickt wurden. ›Brandstiftung ist ein Hilfeschrei.‹ Hier wird sowieso schon viel zu viel geschrien. Niemand wird gehört. Ich zumindest nicht. Kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ’ne Nacht durchgeschlafen habe. Wenn sie nichts in Brand stecken, drohen sie einem oder klauen Zeugs. Kick and run, so nennt ihr das doch, nicht wahr? Haben wir früher Einbruch genannt. Oder sie brüllen den lieben, langen Tag. Ich mach mir gar nicht mehr die Mühe, ins Bett zu gehen. Bleibe wach und beobachte sie.« Sie nickte zum Fenster, kaute auf der Lippe. »Sie sind weniger angsteinflößend, wenn man sie sieht.«

»Und Sie machen sich Notizen«, sagte Marnie.

Noah folgte ihrem Blick und entdeckte das Notizbuch auf dem Tisch neben dem Fenster, halb versteckt unter einer Ausgabe der Radio Times. Er hatte es bisher nicht bemerkt.

Emma taxierte Marnie erneut. »Ich bin gründlich. Einer hier muss es ja sein.«

»Fahren Sie bitte fort. Sie meinten, Sie würden wach bleiben und sie beobachten.«

»Jede Nacht. Ein rotzfrecher Haufen. Die Mädchen sind die Schlimmsten.«

»Natalie Filton und Abigail Gull. Das waren die Namen, die Sie DS Carling genannt haben.« Marnie trank einen kleinen Schluck Tee. »Gibt es noch andere?«

»Eine Menge, aber die beiden sind die Anführer.« Eine Pause, dann: »Sie sind zu jung, um ihr Boss zu sein.« Mit dem Kinn zeigte sie auf Ron. Sah zu Noah. »Positive Diskriminierung, hm?« Sie hatte den Kiefer eines Mittelgewichtsboxers. Noah bemerkte Stoppeln an ihrem Kinn.

»Dreizehn Feuer. In wie vielen Monaten?« Marnie passte ihren Ton dem der anderen Frau an, als lieferten sie sich einen Schlagabtausch.