Seelenkinder - Sarah Hilary - E-Book

Seelenkinder E-Book

Sarah Hilary

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Beschreibung

Ein grauenvoller Fund: Im Garten seines Hauses in einer Londoner Neubausiedlung entdeckt Familienvater Terry Doyle einen alten Bunker – und darin, dreieinhalb Meter tief in der Dunkelheit, zwei Kinderleichen. Für das Team um Detective Marnie Rome türmen sich die Fragen auf: Wer waren die Kinder? Warum wurden sie nie als vermisst gemeldet? Welche Rolle spielt Clancy, der verhaltensauffällige Ziehsohn von Terry? Die Begegnung mit Clancy ist für Marnie wie eine Falltür in die Vergangenheit – er erinnert sie an ihren Adoptivbruder Stephen, den Mörder ihrer Eltern. Und als Clancy plötzlich mit Terrys leiblichen Kindern verschwunden ist, ahnt Marnie: Jetzt zählt jede Sekunde.

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Zum Buch

Ein grauenvoller Fund: Im Garten seines Hauses in einer Londoner Neubausiedlung entdeckt Familienvater Terry Doyle einen alten Bunker – und darin, dreieinhalb Meter tief in der Dunkelheit, zwei Kinderleichen. Für das Team um Detective Marnie Rome türmen sich die Fragen auf: Wer waren die Kinder? Warum wurden sie nie als vermisst gemeldet? Welche Rolle spielt Clancy, der verhaltensauffällige Ziehsohn von Terry? Die Begegnung mit Clancy ist für Marnie wie eine Falltür in die Vergangenheit – er erinnert sie an ihren Adoptivbruder Stephen, den Mörder ihrer Eltern. Und als Clancy plötzlich mit Terrys leiblichen Kindern verschwunden ist, ahnt Marnie: Jetzt zählt jede Sekunde.

Zur Autorin

SARAH HILARY lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Bristol. Sie arbeitet bei einem bekannten Reiseführerverlag, war jedoch auch schon als Buchhändlerin oder bei der Royal Navy tätig. Herzenskalt, der erste Teil der Reihe um die unerschrockene Ermittlerin Marnie Rome, wurde in England als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet.

SARAH HILARY

SEELENKINDER

Thriller

Aus dem Englischenvon Astrid Finke

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel No Other Darkness bei Headline Publishing Group, London.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017

Copyright © 2015 by Sarah Hilary

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Lee Avison/Trevillion Images; © Shutterstock/EsraKeskinSenay

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

cb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-17283-1V002

www.btb-verlag.de

Für meine Mutter, die beste der Welt.

Fünf Jahre vorher

Fred weint wieder, ein verrotztes Geräusch mit einem Winseln darin, wie der Hund, wenn er ausgesperrt ist. Archie ist der Ältere, deshalb ist es seine Aufgabe, sich um Fred zu kümmern, wenn Mum und Dad nicht da sind, aber er hat es satt, Freds Tränen zu trocknen und ihm die Nase zu putzen. Vor allem hat er es satt, Fred zu sagen, dass alles gut wird. Archie lügt nicht gern, besonders nicht seinem kleinen Bruder gegenüber.

Fred ist erst fünf, aber er kann einen ansehen wie der Hund, wenn er weiß, dass man lügt. »Nichts mehr übrig, Süße. Alles weg«, aber Budge hat immer gewusst, dass Dad lügt, sie hat schon gewinselt, bevor er sie ausgesperrt hat. An der Schiebetür ist ein verschmierter Fleck, wo sie immer die Nase an die Scheibe gedrückt hat, wenn sie gebettelt hat, um wieder reingelassen zu werden.

»Ich will zu Mummy«, hickst Fred. »Wo ist Mummy?«

Er hat den Schlafsack so verdreht, dass Archie den Reißverschluss nicht sieht. An der Seite ist ein langer schmutziger Streifen, wo der Stoff auf dem Betonboden gerieben hat. Der Schlafsack riecht schlecht, wie alles andere hier unten. Fred riecht schlecht und Archie auch.

Er sagt: »Du musst still liegen. Es ist Nacht, schlaf jetzt.«

»Es kommt mir aber nicht vor wie Nacht«, jammert Fred.

Hier unten gibt es keine Fenster, deshalb kann Archie Fred die Dunkelheit draußen nicht zeigen, wie er es zu Hause tun würde. Also hält er Fred das Zifferblatt hin, obwohl Fred gerade erst lernt, die Uhr zu lesen. »Der kleine Zeiger steht auf der Elf, siehst du? Das heißt, es ist elf Uhr.«

»Ich will eine Banane«, schluchzt Fred. »Um elf krieg ich immer meine Banane.«

»Das ist um elf Uhr vormittags. Jetzt ist es elf Uhr abends.«

»Dann soll Mummy mich zudecken.«

Archies Haut spannt um den Hals herum. »Du bist schon zugedeckt«, sagt er. »Ich habe dich zugedeckt.«

Er dreht Fred den Rücken zu. Das ist gemein, aber das macht Archie zu Hause auch immer, deshalb denkt er, dass Fred den Wink vielleicht versteht und einschläft. Nach einer Weile glaubt er, es muss wohl funktioniert haben, denn Fred ist still, bis auf ein bisschen Schniefen und dieses Pfeifen in seiner Brust. Sein Gesicht ist weiß, aber es ist ein heißes Weiß, als würde die Sonne hinter Wolken hängen.

Das Pfeifen in der Brust bedeutet, dass da drin etwas nicht in Ordnung ist.

Fred ist krank.

Archie weiß, dass sein Bruder Hunger hat, weil auch er Hunger hat. Wenn er jetzt zu Hause wäre, würde er sagen: »Ich bin am Verhungern«, aber hier hat er Angst, das zu sagen, falls es stimmt. Falls sie wirklich dabei sind, zu verhungern, er und Fred. Archie will nicht lügen, und er will keine Dinge – schreckliche Dinge – sagen, die vielleicht wahr sind. Um sie nicht zu beschreien.

Wenn Fred sagt »Mummy kommt nie mehr, Daddy auch nicht«, dann sagt Archie ihm, er soll ruhig sein. Das sind die einzigen Momente, in denen er böse mit seinem Bruder wird. »Natürlich kommen sie. Halt die Klappe.«

Archie blinzelt in die Dunkelheit. Er braucht sich für Fred nicht zu verstellen, im Moment mal nicht. Selbst wenn er wach ist, kann Fred ihn nicht sehen. Die Uhr konnte er nur erkennen, weil sie ein kleines Licht an der Seite hat, aber seinen Bruder kann er nicht sehen, dazu ist es zu dunkel, und außerdem dreht Archie ihm den Rücken zu. Er könnte in der Nase bohren oder nach Mum und Dad weinen, solange er leise weint, und Fred würde nichts merken. Er kann Archies Gesicht nicht sehen, nur die Rückseite seines T-Shirts, wo das Etikett heraussteht.

Archie hätte vor dem Ins-Bett-Gehen einen Schlafanzug anziehen sollen. Er hat Fred einen anziehen lassen, aber das war ein hartes Stück Arbeit, und am Ende war er zu müde, um sich um seinen eigenen zu kümmern, und hat sich einfach in T-Shirt und Unterhose hingelegt. Das hat er zum ersten Mal gemacht: gegen die Regeln verstoßen. Er hätte sich auch die Zähne putzen sollen, hat er aber nicht. Fred hat er putzen lassen und dann so getan, als hätte er auch, während Fred auf dem Eimer war.

Es macht Archie Angst, dass er anfängt, gegen die Regeln zu verstoßen, aber er fühlt sich dadurch auch mutig, wie damals, als er sich in der Schule gegen Saul Weller gewehrt hat. Anstatt Archie dafür noch fester zu schlagen, hat Saul ihn anerkennend mit der Faust geknufft. Manchmal lohnt es sich, die Regeln zu brechen.

Das Etikett vom T-Shirt kitzelt. Archies Nacken ist knochig, und ihm tut absolut alles weh. Ständig ist ihm kalt. Zu Hause würde er die Bettdecke höher ziehen. Der Schlafsack lässt sich nicht ziehen. Innen ist er verschwitzt, und er stinkt. Archie hasst den Gestank beinahe so wie die Dunkelheit, obwohl er das niemals zugeben würde, Fred gegenüber nicht und noch nicht mal sich selbst gegenüber.

Zu Hause liegt ihr Kinderzimmer im obersten Stock, und Mum hat früher immer gesagt, sie würde spezielle Vorhänge besorgen, um das Licht abzuhalten, aber das hat sie nie getan, und Archie ist froh darüber, denn er mag die Dunkelheit nicht, und außerdem steht vor ihrem Fenster ein Baum, in dem eine Amsel nistet. Wenn die Vorhänge speziell wären, könnten sie die Amsel nicht sehen.

Archie wünschte, es gäbe ein Fenster hier unten.

Aber das Einzige, was er sähe, wäre Erde, festgedrückt und schwarz.

Selbst wenn das Fenster im Dach wäre, wie das bei Saul Weller zu Hause, könnte er nur Erde sehen.

Sie sind vergraben, unterirdisch.

Bei dem Gedanken daran wird Archie schlecht, seine Handgelenke pochen, als wäre er um die Wette gelaufen. Ein saurer Geschmack sickert in seinen Mund, wie Kotze, die hochkommt. Er will nicht darüber nachdenken. Er kneift die Augen fest zu und denkt an die Amsel mit dem gelben Schnabel und den Knopfaugen, die er durch die Äste des Baums ganz oben im Haus beobachtet, wo das Licht hereinfällt und Streifen auf das Fußende von seinem Bett malt, und auf dem von Fred.

Fred murmelt im Schlaf: »Mummy, Mummy …«

Er muss still bleiben. Sie müssen beide still bleiben. Das ist die erste Regel, und es ist die wichtigste. Sie haben versprochen, still zu bleiben.

Archie krümmt die Finger und steckt sich eine Faust in den Mund, um sich davon abzuhalten, Fred zu trösten, zu sagen, »Ist schon okay. Sie kommt bald, alles ist gut«, denn das ist nicht richtig.

Es ist nicht richtig zu lügen, besonders seinem kleinen Bruder gegenüber.

TEIL EINS

1

Jetzt

DS Noah Jake beobachtete Debbie Tanner, die mit ihrer Keksdose von Schreibtisch zu Schreibtisch pendelte wie eine Burlesque-Tänzerin, die dicke Trinkgelder einsammelte. DS Ron Carling steckte eine Hand in die Dose und hielt dabei den Blick auf Detective Constable Tanners Brust gerichtet, als hätte ihn jemand dort festgeklebt: Glubschaugen. Debbie besaß gewaltige Brüste, die ihre schlichte weiße Bluse wie eine Korsage wirken ließen.

»Muffins«, sagte sie. »Selbstgebacken.«

Carling nahm einen Muffin aus der Dose und stieß dazu passende, zustimmende Laute aus. Er hatte schon fast zwei Kilo zugenommen, seit Debbie zu ihrer Abteilung gestoßen war.

Noahs Handy brummte: eine SMS von Dan. Nicht kollegengeeignet, nicht mal annähernd. Noah wischte den Text mit dem Daumen weg und verkniff sich ein Lächeln. Die Keksdose landete unter seiner Nase.

»Nimm doch zwei«, sagte Debbie. »Außer, Dan hat nichts für Süßes übrig.« Sie grinste verschwörerisch. »Aber er ist mit dem bestaussehenden DS Londons zusammen, also wohl eher schon.« Sie wackelte mit der Dose. »Heute Morgen frisch gebacken.«

»Danke, aber das ist mir ein bisschen zu kurz nach dem Frühstück.«

Wann stand sie eigentlich auf, dass sie vor 9 Uhr schon Muffins gebacken hatte?

»Dann lasse ich dir einen für später da.« Sie nahm einen Muffin heraus und legte ihn neben Noahs Tastatur, wo er ihn aus seinem Papierförmchen heraus anschmollte. »Beim nächsten Mal mache ich einen jamaikanischen Teig. Banane mit Pekannüssen. Vielleicht hat deine Mutter ja ein Rezept dafür?«

»DS Jake, eine Minute?« Detective Inspector Marnie Rome winkte aus dem Türrahmen ihres Büros, sie sah aus wie aus dem Ei gepellt in ihrem anthrazitfarbenen Hosenanzug, die kurzen roten Locken aus dem Gesicht frisiert.

Noah stand auf und steckte dabei das Handy in die Tasche.

DC Tanner folgte ihm in Marnies Büro, ihre Dose schwenkend. »Muffin gefällig? Ich nehme Margarine. Das ist viel gesünder als Butter. Nicht dass Sie auf Ihre Figur achten müssten.« Mitleidig lächelnd blickte sie auf Marnies flache Brust, griff gleichzeitig mit der freien Hand nach der Topfpflanze auf der Schreibtischecke und tastete nach der um die Wurzeln festgedrückten Erde.

Marnie setzte sich und bedeutete Noah mit einem Nicken, auf dem Stuhl gegenüber Platz zu nehmen.

Die Topfpflanze war ein Kaktus, der, wenn er in Stimmung war, zarte weiße Blüten trieb. Er war gerade in Stimmung, aber Debbie prüfte trotzdem die Erde, als könnte man jemandem, der so viel zu tun hatte wie DI Rome, nicht zutrauen, sich um einen Kaktus zu kümmern. Noah krümmte sich innerlich angesichts dieser Vertraulichkeit, aber Marnie sagte nur: »Wie läuft es mit dem Papierkram, Detective?«

»Ich hab alles im Griff«, versprach Debbie. Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlenderte mit schwindelerregend wiegendem Bug und Heck zurück zu ihrem Schreibtisch. Kein Wunder, dass Ron Carling und die anderen sie anstarrten.

Noah starrte nicht. Er beobachtete DI Rome. Sie hatte ihre Arbeitsmiene aufgesetzt: eine neue Falte, dünn wie ein Faden, auf dem Nasenrücken. »Was ist los?«

»Leichen«, sagte sie. »In Snaresbrook.«

»Wie viele?«

»Zwei.« Sie sah ihm fest und mit einer Spur von Mitgefühl in die Augen. »Kleine Kinder.«

Sein erster Fall mit toten Kindern; na ja, er hatte ja gewusst, dass es früher oder später passieren würde. »Snaresbrook, das ist …«

»Draußen im Osten, hinter Leytonstone. Nicht unser übliches Revier.« Marnie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und wartete, bis Noah das Gleiche tat. »Aber es unterliegt der Zuständigkeit der Londoner Metropolitan Police, und ich kenne die Gegend, besser gesagt, die Straße. Deshalb wurde der Anruf zu uns durchgestellt.«

»Welche Straße? Ich meine, woher kennst du sie?«

»Blackthorn Road.« Marnie nahm ihre Handtasche. »Ich hab dort vor achtzehn Monaten eine Ermittlung geleitet.«

Vor Noahs Zeit bei der Mordkommission. »Worum ging es damals?«

»Ehestreitigkeiten. Mit Komplikationen.«

»Komplikationen?«, wiederholte Noah.

»Ein vermisstes Kind. Eine Zeitlang sah es nach einer Entführung aus, oder nach Schlimmerem.«

»War es aber nicht?«

Marnie schüttelte den Kopf. »Wir haben das Mädchen gesund und munter wiedergefunden. Es gibt keine erkennbare Verbindung zwischen dem Fall und … diesem.«

Die Art und Weise, wie sie diesem sagte, verursachte Noah Gänsehaut. »Nur dass es in derselben Straße passiert ist.«

»Vier Häuser weiter. Und schon vor längerer Zeit, dem Fund nach zu urteilen. Und dem Fundort.«

Sie deutete seinen fragenden Blick richtig. »Unter der Erde. Sie wurden vergraben, aber nicht im üblichen Sinne. Ich habe DS Carling gebeten, die Vermisstendatei zu durchforsten. Wir beide müssen zum Fundort.«

Noahs Fantasie beschwor Bilder herauf, jedes noch schlimmer als das vorhergehende.

Vergraben, aber nicht im üblichen Sinne …

Marnie berührte ihn kurz am Ellbogen und wies mit dem Kopf zur Tür. »Sehen wir es uns an.«

2

Schweiß klebte Marnie die Bluse am Rücken fest. Aus Protest verschloss ihre Nase sich instinktiv dem Geruch: süßlich und aufgedunsen von Verwesung. Eine Schmeißfliege streifte ihr Handgelenk, und sie zuckte trotz Latexhandschuh zusammen. Das Tier hatte nicht dort unten gebrütet, sonst wäre alles von Fliegen verseucht. Es war nur ein einzelnes Insekt, das ihr auf der Suche nach dem Ursprung des Geruchs hinabgefolgt war und mit seinem Summen die Dunkelheit durchkämmt hatte, bis es sich jetzt, wie Marnie, neben dem Bett niederließ. Zwecklos, es zu verscheuchen, es hatte gefunden, was Fliegen am liebsten mögen: totes Fleisch.

Jeder Muskel schrie Marnie an, nach draußen zu rennen, bloß weg, ihr Blut wurde von Adrenalin überflutet, die Haut kribbelte vor Widerwillen. Doch sie blieb, wo sie war, in der Hocke neben dem provisorischen Bett. Sie konnte die zwei nicht allein lassen, noch nicht. Es war unheimlich hier unten in der Dunkelheit.

Die Schmeißfliege war ruhig geworden, sie kroch umher. Marnie unternahm keinen Versuch, sie fortzujagen, in gewisser Hinsicht war sie dankbar für das Geräusch, das sie machte, ein fast menschliches Geräusch. Es war zu still hier unten.

Hoch über ihrem Kopf kauerte der Himmel.

Ein kleines Quadrat Himmel, zu weit weg für Wärme oder Licht. Marnie musste sich auf ein Trio Polizeitaschenlampen verlassen, auf Flutlicht eingestellt, die in Intervallen durch den Raum flackerten.

Falls man diesen etwa 30 Quadratmeter großen unterirdischen Albtraum überhaupt als Raum bezeichnen konnte mit seinen Betonwänden und dem -fußboden, fleckig von Feuchtigkeit, die Decke von zwei Säulen gestützt.

Dreieinhalb Meter tief unter der Erde eingelassen.

Es war eine Grube.

Vergraben, aber nicht im üblichen Sinne …

Marnie hatte Noah angewiesen, bei der Familie zu bleiben, die das Loch entdeckt hatte, oben in der sauberen Luft des Gartens der Blackthorn Road Nummer vierzehn. Dann war sie hinuntergestiegen, weil sie sehen musste, womit sie es zu tun hatten.

Man gelangte durch eine Einstiegsluke über eine rostige Leiter hinunter. Die Sprossen hatten in ihre Handschuhe eingeschnitten, scharfkantige Flocken orangefarbenen Eisens waren abgeblättert.

Weißes Taschenlampenlicht brannte auf den nackten Wänden und dem Behelfsbett.

Marnie konnte das Bett nicht ansehen, nicht richtig. Sie war noch nicht so weit.

Stattdessen betrachtete sie den Fußboden, das Durcheinander aus Dosen und Kleidung, Bilderbüchern und Spielzeug. Verhielt sich ganz ruhig, aus Respekt vor dem Tatort, wartete auf Fran Lennox und die Spurensicherung. Sie ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen, erstellte im Geiste schon mal eine vorläufige Inventarliste vor der späteren offiziellen.

Zwei Paar kleine schwarze Turnschuhe mit Klettverschluss standen am Fußende des Bettes. Zwei blaue Anoraks mit Tarnmuster hingen an einem in die Wand geschlagenen Nagel. Eine Handvoll Bücher lag auf dem Betonboden. Sie waren aufgequollen, wie ein Telefonbuch aufquillt, wenn es vor der Tür eines leeren Hauses im Regen liegt. Tinte war auf den Umschlägen verlaufen und hatte aus Enten und Hundewelpen und Robotern Monster gemacht.

An einer Wand war eine flache Pyramide aus Konservendosen aufgestapelt. Die Feuchtigkeit hatte die Etiketten abgelöst und sich in das Blech gefressen. Die Dosen waren durch Abreißlaschen am Deckel zu öffnen, knifflig für kleine Finger. Die Stofftiere – ein Affe im gestreiften T-Shirt, ein Eichhörnchen mit rotem Schwanz – waren schlaff vor Nässe. Unter den abgeblätterten Teilen eines Puzzles war die grüne Pappe zum Vorschein gekommen. Der Deckel der Schachtel zeigte einen geschäftigen Bauernhof unter einem blauen Himmel. Das Puzzle war eigentlich einfach genug für Kindergartenkinder, aber wegen der Feuchtigkeit war der darauf abgebildete Himmel nun nicht mehr vom Gras zu unterscheiden, die Ecken unwiederbringlich abgebröckelt.

Marnies Augen brannten beim Anblick des Puzzles. Wie grausam musste man sein, um ein Bild von Gras und Himmel hier hinunterzubringen, wo es nur grauen Beton und schleichende Nässe gab?

Sie horchte auf Geräusche aus dem Garten oben, aber es war still. Der Beton war dick und von einem Meter Erde bedeckt, es drang kein Laut herein. Oder heraus.

Nicht weit hinter dem Garten verlief der Fluss, sie konnte ihn riechen. War er hier unten hereingeströmt und wieder abgeflossen? Hatte sie es mit Tod durch Ertrinken zu tun? Sie glaubte es nicht.

Auch kein Gift. Die Leichen waren zu …

Sie suchte nach dem passenden Wort. Friedlich? Entspannt? Beides traf es nicht, aber ein Tod durch Gift hätte anders ausgesehen. Die Leichen auf dem Bett waren aneinandergeschmiegt. Schlafend, aber das stimmte natürlich nicht. An einem schmalen, zarten Handgelenk hing eine Armbanduhr. Sie tickte schon lange nicht mehr.

Was sah sie vor sich? Langsames Verhungern? Krankheit? Erstickung?

Nein, Erstickung wahrscheinlich nicht. Moder und Schimmel bedeuteten, dass Luft hereingekommen war, ob nun gewollt oder versehentlich. Dies hier war ein Bunker, höchstwahrscheinlich als Lagerraum gedacht, wobei sie Atomkriegsparanoia nicht ausschließen konnte. Er war für die Lebenden gebaut worden, nicht für die Toten.

Was irgendjemanden nicht davon abgehalten hatte, ihn dafür doch zu nutzen.

Sachte legte sie die Hand auf die Bettseite, auch wenn es jetzt keine Rolle mehr spielte. Sie kam zu spät. Ihrer Einschätzung nach mehrere Jahre zu spät. Vier, fünf? Fran Lennox wüsste es. Sie war mit einem kompletten Kriminaltechnikteam auf dem Weg hierher. Die Spur war kalt, so kalt, dass zwanzig Minuten nichts mehr ausmachen konnten. Bald schon würde Marnie anfangen, einzutüten und zu beschriften. Dann wäre sie Polizistin. Jetzt wollte sie ein Mensch sein. Ein entsetzter Mensch, der schweigend bei zwei anderen, kleineren saß. Nur eine Minute lang; Fran würde bald kommen.

Marnie murmelte es den beiden kleinen Körpern auf dem Bett zu: »Sie ist unterwegs. Sie ist gleich da.«

Sie wandte sich vom Bett ab und der Wand zu, an der die Pyramide aus Konservendosen stand. Der Bunker war wie ein normaler Wohnraum aufgeteilt: das Essen so weit wie möglich entfernt von der Ecke, in der ein mit einem schimmligen Handtuch abgedeckter Eimer stand. Das Bett war von dem Platz zum Spielen durch einen freien Streifen abgetrennt, der offenbar zum Umziehen gedacht war. Die säuberliche Einteilung ließ vermuten, dass es sich um ein langfristiges Arrangement handelte. Dauerhaft, auf die Weise, wie eine lebenslange Freiheitsstrafe dauerhaft war. Mitleiderregend.

Sie versuchte, sich das Eintüten und Beschriften des Bunkerinhalts vorzustellen. Das meiste würde bei der ersten Berührung zerfallen. Rost hatte sich unter die Aufreißlaschen der Konservendosen gefressen und geisterhafte grüne Blüten wachsen lassen. Die Dosen rührten an eine schwache Erinnerung in ihrem Hinterkopf. Stahl möchte Eisenoxid sein. Das hatte sie in der Schule gelernt, sie erinnerte sich, dass der Klassenlehrer erklärt hatte: »Wir graben es aus und schmieden es zu Stahl, aber das hält nicht ewig. Stahl möchte Eisenoxid sein.« Töpfe, Dosen und Autos, die Fundamente tausender Hochhäuser, alles lechzte tief im Inneren danach, wieder Eisenoxid zu werden, zu korrodieren und zu zerbröckeln. Es geschah hier unten, im Dunklen. Sie schmeckte das Eisen auf der Zunge, sein Aroma wie Blut.

Marnie richtete die Taschenlampe auf die Dosen, um zu überprüfen, ob irgendein Versuch gemacht worden war, sie zu öffnen, und um zu lesen, welche Art von Lebensmitteln sie enthielten.

Auf dem Rest eines Etiketts entzifferte sie: Pfirsiche.

Als Kind musste sie Dosenpfirsiche gegessen haben. Süß, glitschig, ein rosa Geschmack, obwohl die Frucht eher orange war. Marnie streckte die Hand aus und hielt eine Fingerspitzen, nur eine Kuppe, an die nächststehende Dose. Rost flüsterte unter ihrem Handschuh, wie Federn.

Hier unten waren keine Fingerabdrücke zu holen.

Aber wie sollten sie dann herausfinden, wer das getan hatte?

Sie musste wissen, wer für das verantwortlich war, was sie sich nicht ansehen konnte, noch nicht.

Ihr Handy bohrte sich fest in ihre Hüfte, während sie neben dem Bett hockte. Das Licht brachte nichts, nicht so richtig. Es wühlte nur die Schatten auf, wie ein Stock Schlamm aufwühlte. Marnie sah sich nach Taschenlampen in Kinderhandgröße um. Es war doch wohl nicht von den beiden erwartet worden, sich im Dunkeln umzuziehen oder im Dunkeln den Eimer zu benutzen, und warum ihnen Bücher erlauben, wenn nicht …

Unter dem Kissen.

Sie hatten die Taschenlampen unter die Kissen gelegt, um sie sicher und griffbereit zu haben. Wegen der Dunkelheit hatten sie sich aneinandergekuschelt. Verängstigt.

Verängstigt.

Das Wort war nicht groß genug.

Marnie richtete sich etwas auf, damit das Telefon nicht mehr in die Hüfte drückte.

Sie hatte Noah zu dieser Party eingeladen, sein erster Fall mit toten Kindern. Nun spürte sie leichte Gewissensbisse. Sie hatte schon viele Tatorte gesehen. Schön waren sie nie. Aber dieser hier rangierte ganz oben – hier unten – bei den schlimmsten. Ihr Körper verkrampfte sich, schickte ein Durcheinander von Stresssignalen ans Gehirn. Sie sollte hochgehen, an die frische Luft zurück.

Du darfst sie hier unten nicht allein lassen.

Das durfte sie nicht. Nicht, bis die Spurensicherung eintraf.

Die Familie dort oben – die Familie, die den Bunker gefunden hatte –, wie viel wusste sie?

Die Grube befand sich in ihrem Garten, wo ihre Kinder spielten. Von den Kindern hatte Marnie noch keines gesehen, aber sie hatte den Vater kennengelernt, Terry. Er hatte gerade ein neues Gemüsebeet gegraben, als er den Bunker fand, war immer noch grau vor Schock gewesen, als Marnie und Noah eintrafen. Der Spaten hatte im Gras gelegen, die Schneidekante silbrig poliert vom Auftreffen auf den Deckel der Einstiegsluke.

»Wir sind erst vor einem Jahr hergezogen.« Seine Stimme war ihm in die Kehle gerutscht. »Im Baugrundgutachten stand nichts, was auf so was hingedeutet hätte. Ich habe die Bodenuntersuchungen auf Kontaminierung überprüft, Abwasserrohre. Da war nichts. Deshalb dachte ich ja, es wäre kein Problem, runterzusteigen.« Immer wieder wischte er sich die Hände an der Jeans ab. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Nase zugeklemmt. Ein gutaussehender Mann, vom Schock gezeichnet. Terry Doyle.

Er wartete im Garten auf Marnie und Noah. Seine Frau Beth war im Haus, weit weg von den Leichen, dank der Größe des Gartens. Marnie erhaschte einen Blick auf das Gesicht der Frau, ein Kleinkind mit dem Daumen im feuchten Mund auf der Hüfte.

»Wie lange«, flüsterte Terry Marnie und Noah zu, als sie neben der Grube standen. »Wie lange sind sie schon da unten?«

»Das finden wir heraus. Mr Doyle? Bitte warten Sie im Haus bei Ihrer Frau. DS Jake wird sich um Sie kümmern.«

»Ich konnte sie nicht … ich wollte sie nicht allein lassen.« Seine Augen bestanden nur aus Pupillen, sie mussten sich erst wieder mühsam an das Licht gewöhnen, nachdem er unten in der Dunkelheit gewesen war. »Es kam mir einfach nicht richtig vor, sie allein zu lassen. Sie sind doch noch so klein.«

»Das verstehe ich. DS Jake?«

Noah hatte den Mann am Arm genommen, diskret, und ihn zurück zum Haus gesteuert, wo seine Frau wartete. Marnie war in die Grube hinuntergestiegen, ausgerüstet mit Polizeitaschenlampen, um die Schwärze aufzubrechen. Am Fuße der Leiter hatte sie den Schritten der beiden Männer in Richtung Haus gelauscht. Man konnte sie gerade so eben wahrnehmen, weshalb sie sich jetzt fragte, ob jemand vielleicht ein Weinen oder Rufen aus dem Bunker gehört hatte. Nicht die Doyles, die das Haus erst vor einem Jahr gekauft hatten. Davor hatte es dort jahrelang nur Wiesen gegeben.

Als Marnie vor achtzehn Monaten in der Blackthorn Road gewesen war, waren die Häuser nagelneu gewesen.

Die Leichen lagen schon viel länger hier.

Terry hatte sie nicht allein lassen wollen. Das machte ihn sympathisch in Marnies Augen. Die meisten Leute hätten sich geekelt, allein schon wegen des Geruchs. Er war erschüttert, aber auf die gleiche Art wie Marnie. Er war nicht weggelaufen, obwohl er gesehen hatte, was sie jetzt sah.

Wie weit war er hinuntergestiegen, bevor er begriff, was er gefunden hatte? Sie mussten ihn auf DNA-Spuren untersuchen, nur zur Sicherheit. Fran könnte seine Frage beantworten, wie lange die Leichen schon dort lagen. Sie könnte auch Marnies Frage beantworten, wie sie gestorben waren. Wenn sie Glück hatten, fände Fran Hinweise darauf, wer das getan hatte, so dass Marnie mit der richtigen Arbeit anfangen konnte, anstatt hier zu sitzen, in dem Wissen, dass sie zu spät gekommen war.

Von oben fiel ein Schatten auf sie. Einen Moment lang kroch er die Wände hinauf, als hätte er Angst vor dem Taschenlampenlicht, dann ließ er sich auf Marnies Hals nieder. Die Stelle, wo er liegen blieb, brannte unter einem forschenden Blick.

Blind sah sie hinauf zu der offenen Luke.

Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, entdeckte sie den Umriss eines Kopfes und Schultern.

Nicht groß genug für Noah oder Terry Doyle.

Ein Junge?

Ein halbwüchsiger Junge, das Gesicht vor dem Himmel verschwommen.

Marnie überlief Gänsehaut.

Die Erinnerung riss sie mit, nur eine Sekunde lang. Von der nach Tod stinkenden Dunkelheit und den mitleiderregend zusammengekauerten kleinen Gestalten, die sie zuerst in Terry Doyles Augen entdeckt hatte, zu einem anderen Moment, in dem sie selbst auf dem Boden gehockt hatte, aus Angst, hinzusehen, aus Angst, wegzugehen. Die Schmeißfliege, die um ihr Handgelenk summte, holte sie zurück.

Sie blinzelte, und als sie erneut den Kopf hob, war der Junge verschwunden.

Nur noch sein Geist war geblieben, ein Abdruck auf der Netzhaut, vor dem gedrungenen Himmel.

3

Im Spurenzelt roch es grün. Nicht nach Tod, eher nach Kompost.

Rechts von Noah stieg eine dicke Säule verdorbener Luft auf. Der Boden unter seinen Füßen war schwammig. Er war froh, dass er seine Jacke im Wagen gelassen hatte, denn die Plastikwände des Zelts begannen zu schwitzen, und er tat es ebenfalls.

»Was Sie hier sehen, ist Penicillin. Es wächst am liebsten auf totem Fleisch.« Fran Lennox grinste bitter über die Schulter. »Das ist das Zeug, das man schlucken muss, wenn man krank ist.«

»Wie putzig.« Schon beim bloßen Anblick der schmalen Luke wurde Noah schwindlig. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Marnie sich dort unten in der Dunkelheit mit den Leichen gefühlt hatte.

Nach Frans Eintreffen war Marnie ins Haus gegangen und hatte Noah gebeten, den Umkreis des Tatorts zu überwachen. Es sollte wohl seine Standfestigkeit auf die Probe gestellt werden, nahm er an.

Die Kriminaltechniker hatten die Leichen überaus behutsam heraufgeholt, hatten die Kinder so vorsichtig getragen, dass das Penicillin unversehrt war. Schimmelfäden krochen aus den eingesunkenen Nasenlöchern der kleinen Gesichter. Die Knochen beider Schädel waren weiß und rund durch die teilweise fehlende Kopfhaut zu erkennen.

»Der Bunker war also nicht luftdicht?«

»Und das ist auch gut so, denn ohne Luft wären sie stärker verwest.« Fran hatte den Blick nicht von den Leichen lösen können. »Ich musste mal einen luftdicht verschlossenen Sarg aufmachen. Wie Suppe in einer Suppenschüssel.«

Schweigend beobachtete Noah, wie sie sich um die Vorbereitungen zur Überführung der Leichen in die Rechtsmedizin kümmerte. Sein Kopf schmerzte. Kein körperlicher Schmerz, mehr wie das stetige Pochen eines Pulses. In diesem Job fühlte es sich manchmal wie ein Affront an, am Leben zu sein.

Die toten Kinder waren sechs, sieben Jahre alt gewesen. Noch klein. Der Schimmel hatte sie zu alten Männern mit spröden weißen Bärten gemacht.

Einer von Frans Kollegen verpackte die Kleidung aus dem Bunker in Tüten: Turnschuhe und Pullis. Blaue Anoraks, mit Tarnmuster bedruckt. An dem kleineren Körper: die löchrigen Überreste eines rotkarierten Schlafanzugs.

»Sind es Jungen?«, fragte Noah.

»Kann man nicht sagen«, gab Fran zurück. Er hörte den Schmerz in ihrer Stimme unter der schützenden Schicht von morbidem Humor. »Sie waren noch nicht in der Pubertät. Keine nennenswerten Geschlechtsunterschiede.«

Beide Leichen passten problemlos zusammen in einen Sack. Sie hier schon zu trennen war zu riskant. Das nähme Fran später in ihrem Labor in Angriff. Dann war sie an der Reihe mit Wachehalten.

»Wie lange, glauben Sie, waren sie da unten?«

»Wer weiß?« Fran legte ihre Hand sachte auf den Leichensack. »Ich würde sagen, sie sind seit vier Jahren tot, vielleicht auch länger.«

Die Kinder hatten sich aneinandergekuschelt, ihre Körper bildeten ein enges Komma. Das größere umschlang den Brustkorb des kleineren, der Anblick eines Ellbogens, von dem nur mehr ein jämmerliches Klümpchen Knochen übrig war, tat Noah in den Augen weh. Als Fran den Reißverschluss des Leichensacks zuzog, blinzelte er und spürte das Brennen von Tränen hinter den Augenlidern.

Um das Spurenzelt herum war der Garten der Doyles eine einzige Farbenexplosion. Das Haus hatte das geschrubbte Aussehen eines Neubaus. Drei Stockwerke, ein von Solarzellen verschandeltes Ziegeldach, zwei grüne Tonnen zum Sammeln von Regenwasser. Die Beete waren zu beiden Seiten eines langen Rasens angelegt. Gemüse, Noah erkannte die Blätter von Kartoffelpflanzen, Radieschen und Roter Bete.

»Ist das nicht furchtbar?« Debbie Tanner lief über den Rasen auf ihn zu, das Gesicht vor Bestürzung verzerrt. »Wie alt waren sie, glaubst du? Sechs, sieben? So kleine Würmchen.«

»Gibt es schon was Neues aus der Vermisstendatei?«

»Ron sucht noch. Nichts in den letzten fünf Jahren, aber wir haben noch nicht viele Anhaltspunkte.«

»Wie geht es der Familie?«

»Die Sanitäter haben sie auf Schock untersucht, besonders den Vater. Er sagt, er ist nur froh, dass sie nicht gesehen hat, was da unten war. Der arme Kerl ist ziemlich fertig, hat sich die Augen ausgeweint. Die Chefin ist gerade bei ihnen und vollbringt ihre Wunder.«

»Wunder?« Noah wusste, was sie meinte, aber er wollte gern hören, wie Debbie beschrieb, was Rome tat.

»Du weißt schon. Gibt ihnen das Gefühl, dass nichts anderes auf der ganzen Welt wichtig ist, nur sie und das, was sie erlebt haben. Sie ist großartig. Die meisten DIs gehen ja nicht mal in die Nähe von Zeugen, oder auch von Opfern. Nur wenn es eine Beschwerde gab. Ich jedenfalls habe noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, der so was macht. Wahrscheinlich hat sie ein besonderes Einfühlungsvermögen, nach dem, was passiert ist.«

Debbie hatte Einzelheiten aus Marnies Vergangenheit herausgefunden, von denen Noah nichts gewusst hatte, bis sie ihr Wissen auf dem Revier ausplauderte. Er war seit weniger als achtzehn Monaten in Marnies Team. Debbies Geschichten reichten fünf Jahre zurück. Noah hatte sie gewarnt, sie müsse aufpassen, dass DI Rome nichts davon erfuhr – weder von dem, was sie entdeckt hatte, noch davon, dass Debbie diese Informationen ungehemmt ihren Kollegen weitererzählte –, denn das konnte nicht gut ausgehen. Marnie hatte ein Recht auf Privatsphäre, und selbst wenn nicht, würde sie darum kämpfen, sie zu bewahren, das wusste Noah, genau wie sie darum kämpfen würde, aufzudecken, was mit den Kindern aus dem Bunker geschehen war.

»Hat sich schon jemand von der Presse blicken lassen?«

»Noch nicht, aber du weißt ja, wie die sind. Die Kollegen sind unterwegs.« Debbie verschränkte die Arme unter der Brust. »Kinder sind immer für Schlagzeilen gut.«

Nicht diese Kinder, zumindest nicht vor fünf Jahren, sonst hätte die Vermisstenstelle ihnen inzwischen Namen geliefert.

Wer waren sie also? Und warum hatte niemand sie als vermisst gemeldet?

4

Die Erde aus dem Garten der Doyles war ins Haus getragen worden, eine dunkle Spur von den Beeten bis in die Küche hinein. Dieselbe Erde steckte unter Terrys Fingernägeln und unter denen seiner Frau.

»Wir legen einen Gemüsegarten an, um die Kinder zur Selbstversorgung anzuleiten.« Terry wischte sich die Hände an der Jeans ab. Sie waren wund, als hätte er sie mehr als ein Mal gewaschen, seit er den Bunker gefunden hatte. »Ich war gerade allein draußen, Gott sei Dank.«

Marnie musste seine Stiefel mitnehmen, vielleicht auch seine Kleidung, je nachdem, wie nahe er bei den Leichen gewesen war. »Sie sagten, in den Bodengutachten deutete nichts auf einen Bunker hin?«

»Nein. Deshalb dachte ich ja, es wäre kein Problem, den Deckel aufzumachen.«

»Wie leicht ging das?«

»Jedenfalls nicht schwer. Ich habe schon Steinfliesen getragen, die deutlich mehr gewogen haben.« Er zog kurz den Kopf ein, als hätte er Angst, sie würde das als Machismo deuten. Er war knapp eins fünfundachtzig groß und schlank, in guter Verfassung für einen Mann Anfang vierzig. »Wenn ich gewusst hätte, was da drin ist … Ich habe dann sofort die Polizei benachrichtigt. Aber ich habe einen Tatort verunreinigt.« Sein Mund verzog sich. »Das tut mir so leid. Ich habe es Ihnen schwerer gemacht, denjenigen zu finden, der das getan hat. Entschuldigen Sie bitte.«

»Daran kann man jetzt nichts mehr ändern.« Marnie hob den Becher Tee hoch, den er gekocht hatte, und stellte die nächste Frage so sanft wie möglich. »Wie weit sind Sie runtergestiegen?«

»Vier, vielleicht fünf Sprossen?« Seine Stimme klang leblos, in seinen Augen standen glühende Tränen, von der Art, die man unbedingt zurückhalten möchte.

»Haben Sie – verzeihen Sie bitte –, haben Sie außer der Leiter etwas angefasst?«

Er schauderte. »Überhaupt nichts.«

»Gut. Ich muss Ihre Stiefel mitnehmen, um eventuelle Veränderungen des Tatorts Ihnen zuordnen zu können.«

Nickend gab er sein Einverständnis dazu, und sie wartete einen Moment ab, um ihm zu bedeuten, dass dieser Teil der Befragung vorbei war. »Sie haben hier viel gearbeitet.« Die Erde war mehr als nur ein Mal umgegraben worden. »Haben Sie vorher schon mal etwas Ungewöhnliches gefunden? Ich meine nicht den Bunker. Andere Dinge, Kleidung oder Schmuck vielleicht?«

»Nichts. Wir graben seit ein paar Monaten, um die Beete für das Einpflanzen vorzubereiten. Der Boden war nicht besonders brauchbar, als wir angefangen haben. Wir haben es geschafft, ihn zu verbessern.«

»Wie macht man das?«, fragte Marnie. »Den Boden verbessern?«

»Als wir eingezogen sind, bestand er hauptsächlich aus Sand. Ich vermute mal, das ist billig für die Bauunternehmer, aber zum Gemüseziehen taugt er nichts. Zum einen keine Nährstoffe, zum anderen hält er das Wasser nicht. Ich musste viel Komposterde aufschütten und während des Winters immer wieder umgraben.« Er unterstrich seine Ausführungen mit dazu passenden Handbewegungen. Dabei konnte Marnie erkennen, wie viel Kraft in seinen Handgelenken steckte. »Zum Frühjahr hin hatten wir halbwegs anständige Beete für das Gemüse.«

»Terry ist ein toller Gärtner«, sagte Beth. »Er kümmert sich um die meisten Gärten in der Straße.« Es war das erste Mal, dass sie sprach, seit sie drei zusammen in der Küche waren. »Für die Kinder ist es gut, einen Sinn für Beständigkeit zu bekommen und sich selbst zu versorgen.«

»Müssen wir ausziehen?«, fragte Terry. »Während Ihrer Ermittlungen?«

»Leider ja. Das ist das Beste. Es wird hier eine Weile einiges los sein. Da hätten Sie kaum Ihre Ruhe.«

Die Presse kam bald. Marnie konnte die Hitze ihrer Neugier im Nacken spüren. Auch Commander Tim Welland war unterwegs. Wie er sagte: »Um sich ein Bild von der Kacke zu machen, bevor sie zu dampfen anfängt.«

»Es wäre nett, wenn Sie eine Unterkunft für uns finden könnten, die groß genug ist, damit wir als Familie zusammenbleiben können«, sagte Terry. »Ich weiß, dass wir nicht konventionell sind, aber das ist wichtig. Wir haben sehr hart für das hier gearbeitet.«

Nicht konventionell?

Beth sagte: »Tommy schläft. Ich hab es geschafft, ihn zu einem Mittagsschlaf hinzulegen.« Das Kleinkind, das sie vorhin auf der Hüfte getragen hatte. »Carmen kommt bald aus dem Kindergarten. Eine der anderen Mütter bringt sie. Ich passe vormittags auf ihren kleinen Sohn auf.« Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. »Dann ist da noch Clancy.«

Terry griff nach Beths Hand und hielt sie fest. »Wir sind seit kurzem Pflegeeltern.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Für unsere Sünden. Wenn Sie uns also etwas suchen könnten, wo wir alle zusammenbleiben können …«

Marnie wusste, was Tim Welland dazu sagen würde. Sie hatte in erster Linie den Tatort abzuschirmen. Zuallererst war sie den Toten verpflichtet, nicht den Lebenden. »Seit wie kurzem sind Sie Pflegeeltern?«

»Seit wir hier wohnen. Es ist einer der Gründe, warum wir ein großes Haus wollten.«

»Von wie vielen Kindern sprechen wir hier?«

»Nur Clancy, vorerst.« Terry drückte die Hand seiner Frau. Marnie wäre es entgangen, wenn Beth nicht ihr Zucken schnell in ein Lächeln verwandelt hätte. »Clancy Brand.«

»Wie alt ist Clancy?«

»In zwei Monaten wird er fünfzehn.«

»Ist er in der Schule?«

»Er ist nicht ganz fit«, sagte Terry zögerlich.

»Wir haben ihn heute zu Hause behalten«, ergänzte seine Frau. »Falls es ansteckend ist.«

Die Lüge färbte ihren Hals mattrot.

Manche Menschen konnten lügen, ohne zu erröten, aber Beth Doyle gehörte eindeutig nicht dazu. Sie war hübsch, jedoch auf eine unauffällige Art. Man hätte Schwierigkeiten, sich an ihr Gesicht zu erinnern, wenn sie nicht direkt vor einem stand. Mund und Augen trugen einen weichen Ausdruck, und sie hatte die Art von hellem Haar, das schmuddelig aussah, wenn es nicht frisch gewaschen war.

»Mit Tommy, Carmen und Clancy sind also insgesamt drei Kinder im Haus?«

»Vier.« Beth legte sich eine Hand auf den Bauch. Man sah noch nichts, die Beule war unter einem weiten Jeansoberteil versteckt.

»Glückwunsch«, sagte Marnie.

»Das Haus ist groß. Es braucht Kinder. Jeder sagt, wir haben zu viel Liebe für drei Kinder.«

Der Küche nach zu urteilen hatten sie allem in dem großen Haus ihren Stempel aufgedrückt: gemütlich und chaotisch, Glasabdrücke auf dem Tisch, der aussah, als wäre eine Granate in einem Glas Aufstrich explodiert; die Trümmer des Familienfrühstücks. An der Wand mit Tesa festgeklebte Kinderzeichnungen neben schmutzigen Daumenabdrücken in Kleinkindhöhe. Marnie war kein Freund von Unordnung, aber Unordnung bedeutete Lebendigsein – Risiko, Mut und Fehlschläge, alles, was von Bedeutung war.

Wegen eines Geräuschs auf der Straße stand Beth auf. »Das muss Vic sein, mit Carmen.« Sie ging zur Haustür.

Terry erhob sich und räumte die Becher vom Tisch ab. Marnie half ihm und trug einen Teller mit verschrumpelten Orangenschnitzen zum Mülleimer. »Kompost.« Mit einer Grimasse nahm Terry ihr den Teller ab und kippte die Reste in einen grünen Plastikbehälter mit Luftschlitzen im Deckel.

Als er die Becher abwusch, ließ er das heiße Wasser zunächst sparsam laufen und dann länger, schrubbte an seinen bereits angegriffenen Händen herum und hielt die kräftigen Handgelenke wiederholt unter den Strahl, bis sie von der Hitze erst weiß und schließlich rot wurden.

»Wenn Sie reden wollen«, sagte Marnie. »Ich kenne jemanden von der Opferhilfe.«

»Danke.« Terry hörte auf zu spülen und griff nach einem Geschirrtuch, um sich die Hände abzutrocknen. »Ich komme schon klar. Ich denke mal, je weniger Fremde im Haus, desto besser, zumindest fürs Erste.« Er tupfte die Nässe zwischen seinen Fingern ab, die Augen leer und traurig.

Die Sanitäter hatten bei ihm nichts festgestellt, aber Marnie kannte die Tücken eines Schocks, dass er sich zunächst versteckte und einen dann mehrmals wieder ansprang. »Der Mann, den ich meine, ist sehr gut. Er stellt keine Fragen. Er hört einfach zu, wenn Sie das brauchen. Sie haben hier einiges zu verarbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit Beth über das reden wollen, was Sie gesehen haben.«

»Nicht in ihrem Zustand«, sagte Terry mechanisch.

»Ich habe es auch gesehen«, sagte Marnie. »Ich weiß, wie schwer es ist.«

Er nickte. »Danke. Wenn Sie mir die Nummer der Opferhilfe geben, rufe ich ein bisschen später an, wenn es hier ruhig ist.«

Marnie schrieb Ed Bellocs Namen und Nummer auf und gab ihm den Zettel.

Er faltete das Blatt einmal, dann noch einmal. »Wenn Sie herausfinden, wer die beiden sind, sagen Sie mir die Namen?« Er faltete das Blatt Papier ein drittes Mal und strich die Kante mit dem Daumennagel glatt. »Bitte. Ich würde gern ihre Namen wissen.«

Marnie nickte. »Ist gut.«

Beth kam mit einer Dreijährigen in einem rosa Mantel in die Küche zurück. Das Kind zog ein finsteres Gesicht, die blonden Zöpfe waren zerzaust, der kleine Mund über einem trotzig vorgeschobenen Kinn zugekniffen.

»Carmen ist wieder da«, sagte Beth. »Hier ist Daddy, siehst du? Geh ihn begrüßen.«

Carmen marschierte zu ihrem Vater, vergrub das Gesicht an seinen Schienbeinen und begann zu heulen. Terry nahm sie nicht auf den Arm, sondern ging in die Hocke. »Hattest du einen schlimmen Tag, Schätzchen?« Er legte ihr einen Arm um die Schultern und streichelte ihr in einem gleichmäßigen Rhythmus über die Haare.

Carmen vergrub weinend den Kopf an seiner Brust. Tränen der Empörung, vermutete Marnie, dem zornigen Geräusch nach. Terry warf Beth einen fragenden Blick zu, woraufhin diese niedergeschlagen den Kopf schüttelte. Immer noch streichelte er dem Kind übers Haar. »Schätzchen, alles ist gut. Du bist jetzt zu Hause.«

Beth sagte: »Komm, wir gehen spazieren, du und ich, ja? Wir ziehen uns unsere Gummistiefel an und suchen uns ein paar Pfützen zum Reinspringen.« Sie griff nach den Stiefeln, die Terry ausgezogen hatte.

»Entschuldigung«, erinnerte Marnie sie. »Die muss ich mitnehmen.«

»Ach ja.« Beth sah sich nach einem anderen Paar um.

Als sie allerdings versuchte, Terry das Kind abzunehmen, machte Carmen sich ganz steif und fing an zu schreien, in einer Stimmlage, die die Alarmanlagen von Autos lieblich klingen ließ.

Fünf Minuten später, als Marnie das Haus verließ, schrie sie immer noch.

5

In der Blackthorn Road unterhielt Noah sich gerade mit einem Beamten, der ihm in forensischer Detailtreue erklärte, wie viel besser das Absperrband früher gewesen war, in der guten alten Zeit. »Mit dem neuen Zeug würde ich mir nicht mal den Arsch abwischen.«

Als Marnie aus der Nummer 14 trat, ging Noah auf sie zu.

»Wie geht es ihnen? Wie geht’s Terry?«

»Steht unter Schock, bemüht sich, damit klarzukommen.« Sie drehte sich zum Haus der Doyles um. »Ich habe ihm Eds Nummer gegeben. Was hat Fran gesagt?«

»Dass sie anruft, sobald sie was weiß. Die beiden sind noch zu klein, um erkennen zu können, ob es Jungen oder Mädchen sind.« Er zögerte. »Der Kleidung nach würde ich auf Jungen tippen. Was glaubst du?«

»Jungen«, sagte Marnie. »Aber ich kann mich auch täuschen.« Sie musterte das Haus.

Dasselbe hatte Noah auch getan. Die Rückseite eines Hauses war nur die halbe Geschichte, man musste die Fassade sehen, die es der Straße zuwandte. Häuser gehörten zu den größten Lügen, die man sich auftischte, hatte er das nicht mal irgendwo gelesen? Bei den meisten ging es nicht um die Notwendigkeit, zu wohnen; sie spiegelten Geld oder Geschmack oder ein Streben danach wider. Hypotheken bedeuteten, man brauchte nicht zu haben, man brauchte nur haben zu wollen.

Das Haus Nummer 14 war nichtssagend und eher trist, seine breiten Schultern schmiegten sich an den linken Nachbarn. Es war ein Eckhaus, auf dem das Gewicht der ganzen Reihe ruhte. Die Eingangstür war weiß gestrichen, aber vom Wetter angegriffen. Fingerabdrücke verschmutzten den Bereich um das Schloss herum. Drei Mülltonnen standen links von der Tür. Im Vergleich zu anderen Lügen war die Nummer 14 eine moderate. Das Haus war aufdringlich gesichtslos, wie die meisten Neubauten. Sieben Häuser auf jeder Straßenseite. Die Nummer 14 war etwas größer, aber nicht sehr viel. Jedes Haus besaß drei Stockwerke, wobei das dritte der ausgebaute Dachboden darstellte. Sie sahen nicht aus, als seien sie vor mehr als zwei Jahren gebaut worden.

»Was war hier vorher?«, fragte Noah.

»Wiesen«, sagte Marnie. »Und Buchen.«

Die Buchen hatten überlebt, seitlich hinter dem Garten der Doyles. Als die Kinder in dem Bunker begraben wurden, standen die Häuser noch nicht da.

Noah sagte: »Du warst vor achtzehn Monaten hier.«

»Als die Häuser nagelneu waren, genau.«

»Hast du da mit den Leuten gesprochen, die damals in der Nummer vierzehn wohnten?«

»Da wohnte niemand. Es war das letzte Haus, das verkauft wurde.«

»Das letzte?« Noah sah sie überrascht an. »Aber es hat eine gute Größe. Die Eckhäuser gehen doch normalerweise zuerst weg. War es viel teurer?«

»Nein, nur viel unfertiger.« Ihre Stimme klang trocken. »Es war das Musterhaus der Baufirma. Sie haben gepfuscht, damit es rechtzeitig steht. Dann hat jemand bemerkt, dass die Lüftungsrohre nicht angeschlossen waren. Der Überlauf führte in die Wände statt nach draußen. Solche Kleinigkeiten eben.«

»Das und der Bunker im Garten – glaubst du, der Bauunternehmer wusste davon?«

»Irgendjemand wusste es auf jeden Fall.«

»Sie haben die Häuser über die Jungen gebaut?«

»Wenn es Jungen sind«, sagte Marnie. »Dann ja.«

Eine Bewegung an dem Fenster im Dachgeschoss zog ihre Blicke an, aber sie hatten zu spät reagiert, um mehr als die zurückschaukelnden Vorhänge zu sehen.

»Clancy«, sagte Marnie mit derselben trockenen Stimme wie vorher. »Die Doyles haben ihn als Pflegekind aufgenommen. Unten im Bunker hat er mich auch schon beobachtet.«

»Ja, ich hab ihn im Haus gesehen.« Noah hasste das Gefühl, beobachtet zu werden. Er vermutete, dass es Marnie genauso erging.

Eine Weile sahen sie zu dem Fenster hinauf, aber der Vorhang blieb unbewegt.

Marnie schauderte. »Komm. Bevor die Geister mich erwischen.«

Sie machte sich auf den Weg zum Streifenwagen, Terrys Gummistiefel in der Hand.

Noah folgte ihr. »Geister?«

»Diese Straße«, sie blickte über die Schulter, »ist voller Geister. Spürst du sie nicht?«

6

Haftanstalt Lawton Down, Durham

Die Geister sind heute in Scharen gekommen. Ich kann sie riechen. Süß und nach Keks, wie frisch gewaschene Haare vor dem Schlafengehen. Ich möchte sie zudecken und mich neben sie legen, ihren Duft einatmen, meine Nase an ihren kleinen Hälsen vergraben und durch die Dunkelheit flüstern.

Das traue ich mich natürlich nicht.

Zum einen würde Esther mich hören.

Die Geister haben Angst vor Esther. Wenn sie hier ist, kommen sie nicht mal in die Nähe, egal, wie weit ich meine Arme ausbreite. Es ist, als würde sie sie immer noch umbringen, wieder und wieder.

Sie kann nicht aufhören. Ich glaube nicht, dass sie das jemals kann.

Sie ist einfach so.

Jeder hat Angst vor Esther, sogar erwachsene Männer, Polizisten.

Sie ist eine besondere Art von Monster.

Meine Art.

7

London

Commander Tim Welland wirkte wie eine Lawine in voller Fahrt, die Stirn streng gerunzelt im großflächigen Gesicht. »Womit haben wir es zu tun, Kollegen? Und nichts beschönigen.«

»Zwei kleine Kinder«, sagte Marnie. »Seit mindestens vier Jahren tot da unten. Fran beeilt sich mit der Obduktion.«

Welland blickte die Blackthorn Road hinauf und hinunter. »Wer hat sie gefunden?«

»Terry Doyle. Ihm gehört der Garten, aber vor vier Jahren gab es da noch keine Gärten, nur Wiesen. Wir suchen nach jemandem, der diese Stelle kannte, bevor die Häuser hochgezogen wurden.«

»Die Vermisstenstelle konnte noch keine Namen liefern, richtig?«

»Noch nicht.«

»Vor vier Jahren.« Welland zupfte an seiner Unterlippe.

»Mindestens.« Marnie sah auf die Uhr. »Fran müsste bald ein paar Antworten für uns haben. Vielleicht noch nichts Endgültiges, aber irgendwas. Und was die Vermisstenstelle betrifft: Zwei kleine Kinder können nicht einfach verschwinden, ohne dass jemand das meldet. Nicht mal in London.«

»Genau.« Welland hing dem Wort nach, bis es an Kraft verlor. Er schnüffelte. »Ich rieche Aasfresser – die Medien sind unterwegs. Das sollten Sie besser abblocken, Detective.«

»Kein Problem.« Marnie nickte. »Pressekonferenz in ein paar Stunden auf dem Revier.«

»Haben Sie mit den Finchers gesprochen?«, fragte Welland.

»Noch nicht.«

»Und mit diesem Nachbarn, wie hieß er noch? Dougal?«

»Douglas. Doug Cole.«

»Ach ja, Dorftrottel Douglas.« Welland kräuselte spöttisch die Lippen. »Haben Sie mit dem schon geredet?«

»Nein. Ich wollte keine Zeit vergeuden. Wir suchen nach jemandem, der vor vier oder fünf Jahren hier war. Cole und die Finchers wohnen noch keine zwei Jahre hier.«

»Sie suchen nicht nach jemandem, der hier gewohnt hat, sondern nur nach jemandem, der von dem Bunker wusste.«

»Und Sie glauben, Mr Cole könnte davon gewusst haben?«

Welland legte den Kopf in den Nacken. »Was halte ich von Mr Cole?« Er senkte den Blick auf Marnie hinab. »Ich glaube, dass Dorftrottel Douglas genau die Sorte Irrer ist, der ein Haus in der Nähe der Stelle kauft, wo er Jahre zuvor Leichen vergraben hat.«

Marnie schwieg einen Moment lang. Dann sagte sie: »Okay. Da forsche ich mal nach.« Ihr Tonfall ließ jedoch erkennen, dass sie es für eine Sackgasse hielt. »Vielleicht erinnert sich jemand daran, wie der Bunker gebaut wurde.«

Wieder schnüffelte Welland. »Und suchen Sie den Drecksack, der Häuser daraufgesetzt hat. Dem hauen wir zumindest einen Verstoß gegen die Bauvorschriften um die Ohren, wenn sonst nichts geht.«

Noah sagte: »Ein paar Straßen weiter gibt es eine Siedlung von Sozialwohnungen, die aussieht wie aus den Sechzigern. Irgendjemand dort sollte sich doch wohl an sämtliche Bauarbeiten erinnern, die stattgefunden haben.«

Marnie nickte. »Wir könnten ein bisschen Verstärkung gebrauchen«, sagte sie zu Welland.

»Hören wir erst mal, wie laut die Presse jault. Das verschafft uns normalerweise Aufmerksamkeit an höheren Stellen.«

»Wollen Sie nicht vorbeugend zuschlagen?«

»Bei dem Etat? Das Einzige, dem ich vorbeuge, ist ein gesprengtes Budget. Sie haben ein gutes Team.« Er deutete mit dem Kopf auf Noah. »Holen Sie raus, was geht.«

Eine Bewegung am obersten Fenster von Nummer 14 lenkte ihn ab. »Wer ist das Gespenst?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

Derselbe Vorhang wieder. Er schaukelte zurück, als sie die Köpfe hoben.

»Clancy Brand«, sagte Marnie. »Das Pflegekind der Doyles.«

»Wie alt?«

»Vierzehn.«

»Na super.« Welland wischte sich mit den Fingern die Nase ab. »Halten Sie seine Teenagerhormone möglichst von unserem Tatort fern.«

Nachdem Welland weggefahren war, liefen Marnie und Noah zu Hausnummer acht.

Douglas Coles Heim lag in der Mitte der Reihe und besaß die gleiche freudlose Ausstrahlung wie Nummer vierzehn. Marnie klopfte, und sie warteten, aber es kam niemand. Auf dem dazugehörigen Parkplatz stand kein Wagen. Leere Mülltonnen waren vor der Tür abgestellt. Noah sah sich um.

»Heute war Müllabfuhr«, sagte Marnie. »Ich habe die Doyles gefragt. Wahrscheinlich ist er gerade auf dem Heimweg. Kommen Sie.«

Sie gingen zu Marnies Auto zurück.

»Hast du mit Clancy gesprochen?«, fragte sie Noah. »Als du ihn im Haus gesehen hast?«

»Nicht so richtig. Ich habe ihn gefragt, ob bei ihm alles okay ist, und er hat mich angegrunzt. Er ist ein typischer Teenager, würde ich sagen. Nicht dass ich Experte für typische Teenager wäre.«

»Du hast einen jüngeren Bruder«, erinnerte Marnie sich.

»Sol.« Noah nickte. »Er ist typischer als ich, denke ich mal.«

»Typisch wird überschätzt. Du hast Clancy also gefragt, ob bei ihm alles okay ist.«

»Wollte ich. Er war nicht gerade kommunikativ. Ich würde sagen, er ist kein Fan der Polizei.«

»Glaubst du, er hatte schon mal Ärger mit uns?«

»Durchaus möglich. Könnte aber auch einfach ein Autoritätsding sein. Du sagtest, er war heute nicht in der Schule?«

»Beth behauptet, er wäre krank, aber ich frage mich, ob er nicht eher vom Unterricht ausgeschlossen wurde.«

Marnie steckte die Gummistiefel in eine Spurensicherungstüte aus ihrem Kofferraum. »Irgendwas ist mit ihm, irgendwas, worüber sie nicht mit mir sprechen wollten.«

»Ich sehe mir das mal an«, sagte Noah. »Clancy Brand, richtig?«

»Ja.« Marnie massierte sich mit dem Handballen eine Verspannung aus dem Nacken, sie roch den Bunker an ihren Sachen. »Ich bin Carmen begegnet, drei Jahre alt. Sie sieht nach Stress aus. Tommy ist noch ganz klein, und Beth ist wieder schwanger. Wir müssen vorsichtig sein.«

Sie stiegen ins Auto.

»Vier Kinder, das ist keine Familie«, meinte Noah, während er sich anschnallte. »Das ist eine Armee.«

»Glaubst du nicht an zu viel Liebe?«

»Nur wenn viel Alkohol im Spiel ist. Aber was weiß ich schon?«

»Irgendwas müssen die Doyles richtig machen, sonst bekämen sie kein Pflegekind.« Marnie fädelte sich in den Verkehr Richtung Innenstadt ein. »Ich mag die beiden, vor allem ihn. Er ist nett mit den Kindern umgegangen, wollte sie nicht allein dort unten lassen.«

»Irgendjemand aber wollte es«, sagte Noah. »Wie soll es sonst passiert sein?« Er zog eine finstere Miene.

Marnie wusste, dass er sich Mühe gab, diesen Fall wie jeden anderen zu behandeln. Wusste auch, wie unmöglich das war. Tote Kinder änderten alles.

»Glaubst du, dass es Brüder sind?«, fragte Noah.

»Könnte sein.«

Schwer, eine körperliche Ähnlichkeit zwischen den Kindern festzustellen. Fast unmöglich, überhaupt eine Ähnlichkeit zu jemandem festzustellen, der je gelebt oder gelacht hatte oder einen Ball durch einen Garten geschossen oder nach seiner Mutter gerufen, wenn er hingefallen war und sich das Knie aufgeschürft hatte, sich mit seinem Bruder vor dem Schlafengehen gestritten hatte. Nur wie sie gestorben waren, so eng zusammengekuschelt, deutete an, wie sie waren, als sie noch lebten. Das ältere Kind hatte das kleinere beschützt, oder sie hatten einfach versucht, sich gegenseitig zu wärmen.

»Ron möchte die Kinder-Sexualstraftäter in der Gegend mal unter die Lupe nehmen«, sagte Noah. »Ich habe ihm gesagt, das soll er ruhig machen.«

»Aber mach ihm klar, dass es mindestens vier Jahre her wäre.«

Noah nickte. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Wer ist denn überhaupt Dorftrottel Douglas?«

»Ein Buchhalter, Freund der Finchers.«

»Und das stört Commander Welland an ihm.«

»Wir alle wünschen uns eine Abkürzung zum Täter.« Marnie wollte Noah nicht zu viel Hoffnung machen. »Es stimmt schon, Mr Cole ist bei Welland angeeckt. Aber du und ich wissen, wie schnell das gehen kann.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, dass es Cole war?«

»Überhaupt nicht.« Sie schwieg kurz. »Aber ich hab mich schon öfter getäuscht. Ich hab seine Telefonnummer. Wir unterhalten uns mit ihm, sobald er wieder zu Hause ist. Und wir reden mit den Finchers.«

»Die Familie mit dem vermissten Kind. Aber das ist damals gut ausgegangen, sagtest du.«

»Menschen haben ein gutes Gedächtnis, und eine Zeitlang war es unschön. Ich werde die Kollegen über den Vorfall informieren. Wir sollten der Vermisstenstelle Druck machen. Je eher wir Namen haben, desto besser.«

»Ron bleibt dran«, sagte Noah.

Irgendjemand vermisste die toten Kinder, ob sie nun Geschwister waren oder nicht. Vielleicht sollte Marnie auf Brüder hoffen; nur ein Elternpaar, das von der Nachricht getroffen wurde. Vorausgesetzt, sie wussten nicht schon Bescheid. Vorausgesetzt, sie waren nicht verantwortlich dafür, dass es geschehen war oder geschehen konnte. Früher oder später müssten sie sich mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen.

»Sie sahen aus wie Brüder«, sagte Noah. »So, wie sie geschlafen haben.« Traurigkeit ließ sein Gesicht schmaler wirken. »Ich glaube, es waren Brüder.«

Als sie am Revier ankamen, spielte Marnies Handy Fran Lennox’ Klingelton.

Sie bog auf den Parkplatz und hob ab. »Fran, hast du was für mich?« Ihr Blick wanderte zu Noah. »Für uns?«

»Es wird dir nicht gefallen«, sagte Fran. »Aber ja. Nicht viel, noch nicht, aber ich hab was.«

»Ich bin gleich da.« Marnie legte auf.

»Was Neues?«, fragte Noah. Eine Anspannung in seinem Tonfall; auf der Hut sein angesichts dieses Falls.

Marnie überlegte, in welcher Hinsicht Noahs Bruder Sol ein typischerer Teenager gewesen war. Weniger sensibel vielleicht, oder leichter zufrieden mit einfachen Antworten auf die schlimmsten Fragen des Lebens.

»Bleib du hier. Organisier bitte die Anwohnerbefragung und behalte das Team im Auge.« Jetzt schon konnte sie die Frustration der anderen spüren wie eine statische Aufladung. »Ich komme zurück, so schnell ich kann.«

»Was ist mit der Pressekonferenz?«, fragte Noah.

»Halte die noch ein bisschen hin. Erklär ihnen, wir machen echte Polizeiarbeit, und das dauert eben seine Zeit. Wenn wir Glück haben, weiß der eine oder andere das sogar zu schätzen.«

8

Fran sagte: »Es sind Jungen. Keiner von beiden älter als acht. Die Methode ist nicht unfehlbar, aber der Größe der Backenzähne und des Kinns nach zu urteilen würde ich sagen, wir haben zwei Jungen, einer circa acht, der andere zwischen vier und fünf. Nach den richtigen Tests weiß ich mehr.«

Marnie zog einen Stuhl heraus und setzte sich Fran gegenüber an den Schreibtisch. Das Büro war winzig, es gab kaum genug Platz für eine Person, geschweige denn für zwei. »Was noch?«

Vor sich hatte Fran einen Teller mit Toastbroten und zwei Becher Tee. Marnie hatte sie noch nie etwas Richtiges essen sehen. Es erklärte, wie ausgehungert sie immer wirkte, eine magere Elfe mit blondem Igelschnitt. »Ich glaube, es sind Brüder. Ohne weitere Tests kann ich das nicht bestätigen, aber du hast ja ihre Schädelform gesehen. Zu ähnlich, um reiner Zufall zu sein. Und die kurzen Schienbeine, die schmalen Schultern.« Sie klappte eine Scheibe Toast zusammen und biss hinein. »Natürlich ist manches davon der Unterernährung geschuldet, und dem Lichtentzug. Ich würde sagen, sie waren einige Wochen da unten, bevor sie gestorben sind.«

»Und wie lange hinterher, seit wann sind sie tot?«

»Mindestens vier Jahre, vielleicht sogar fünf.« Fran klappte eine zweite Toastscheibe zusammen, obwohl sie noch an der ersten kaute. »Keine Verletzungen an den Körpern, nichts Auffälliges in den Atemwegen und kein Hinweis darauf, dass sie gefesselt wurden. Kein Anzeichen dafür, dass sie sich gewehrt haben, alle Knochen unversehrt.«

Marnie verarbeitete diese Informationen schweigend. »Also wie sind sie gestorben?«

»Nach der Obduktion weiß ich mehr, aber wenn du mich nach meinem Bauchgefühl fragst, würde ich sagen, sie sind langsam verhungert.«

Marnies Kehle zog sich abwehrend zusammen. »Aber es waren Lebensmittel im Bunker. Dosen.«

»Vielleicht waren sie zu schwach geworden, um sie zu öffnen. Vielleicht war es auch die Kälte, Unterkühlung. Lichtmangel, faulige Luft. Sie waren eine ganze Weile da unten. Gut möglich, dass sie einfach schläfrig wurden, sich zum Wärmen aneinandergekuschelt haben und nicht mehr aufgewacht sind.« So, wie Fran das sagte, war klar, dass es friedlich klingen sollte, nach einem sanften Tod.

Für Marnie klang es grauenhaft. »Wer macht denn so was, sie einfach da unten sterben lassen?«

Fran wischte sich Krümel von der Bluse. »Das ist deine Baustelle. Meine wäre es nur, wenn ich die DNA dieses Arschlochs an ihren Körpern fände, oder in ihren Körpern, was ich inständig hoffe, nicht zu tun. Tut mir leid, dass ich nicht optimistischer bin.«

»Wir haben da unten alles abgepinselt, was wir konnten. Eins noch – glaubst du, der Bunker war die gesamte Zeit nach ihrem Tod geschlossen?«

»Das ist jetzt nur geraten, aber ja. Was anderes wäre es, wenn er luftdicht wäre.« Fran kaute eine Minute und dachte nach. »Sie waren ziemlich gut erhalten. Wenn die Luke geöffnet worden wäre, müsste es meiner Ansicht nach mehr Anzeichen von Verwesung geben. Und Insekten, Nager. Alles Mögliche. Forensische Fauna, wie man uns nahelegt, es zu nennen. Aber es gab nichts dergleichen.«

Forensische Fauna. Ratten meinte sie damit. Und Fliegen, wie die eine, die mit Marnie zusammen in die Dunkelheit hinabgeflogen war. »Aller Wahrscheinlichkeit nach hat also, wer auch immer das war, sie nach da unten gebracht und ist nie zurückgekommen? Nicht mal, um nachzusehen, ob sie tot waren?«

»Da müsste man nicht nachsehen. Wer auch immer unsere Jungs da unten eingesperrt hat, wusste genau, was er tat.«

Unsere Jungs.

»Wobei er oder sie Essen und Wasser dagelassen hat, Decken. Vielleicht wollte er zurückkommen.«

»Und dann was – wurde er abgelenkt?« Fran schüttelte den Kopf. »Wir reden hier nicht von einem Hund in einem heißen Auto. Das waren kleine Jungen, die ohne Tageslicht unterirdisch eingesperrt waren und langsam schwach und krank wurden.«

»Vielleicht konnte der Täter sie nicht holen kommen«, sagte Marnie. »Weil etwas passiert ist.«

»Du glaubst, der Mörder ist tot?«

»Nicht unbedingt tot. Aber er oder sie könnte verhaftet worden sein. Falls unsere Jungs nicht die ersten Kinder waren, die er entführt hatte.«

»Oder unsere Jungs waren doch die ersten, aber er oder sie hat sich noch mehr gesucht?« Fran wischte sich den Mund mit einem Papierhandtuch ab. »Das wäre möglich. Aber wenn wir von einer Verhaftung reden, warum hat er der Polizei nicht von dem Bunker erzählt? Diese Jungen sind nicht schnell gestorben. Vielleicht wäre noch Zeit gewesen, sie zu retten, was mildernde Umstände hätte einbringen können.«

»Stimmt.« Marnie hatte ohnehin nur halb an eine Verhaftung oder an einen Unfall geglaubt. Das wäre zu sauber und viel zu naheliegend. »Du sagst, sie sind nicht schnell gestorben. Kann man irgendwie feststellen, wie lange sie allein dort unten waren? Wir gehen davon aus, dass sie anfangs Gesellschaft hatten.«

»Das Essen und der Eimer.« Fran nickte. »Spuren von Putzmitteln im Eimer deuten darauf hin, dass er nicht lange, bevor er zum letzten Mal benutzt wurde, gereinigt wurde. Wenn sie lange unbeaufsichtigt dort unten gewesen wären, würde ich mehr Müll erwarten, mehr Unordnung. Zwei kleine Kinder in einem geschlossenen Raum. Ich tippe eher auf Tage als auf Wochen. Aufs große Ganze gesehen nicht lang.«

Sie griff nach ihrem Becher. »Natürlich können wir nicht sicher sein, dass sie allein gestorben sind. Wer auch immer das war, ist vielleicht da unten geblieben, um zuzusehen.« Sie nippte am Tee. »Vielleicht ist er oder sie erst gegangen, als unübersehbar war, dass die Jungen tot waren oder im Sterben lagen.«

»Um zuzusehen?« Marnie erschauerte. »Großer Gott. Das wäre eiskalt.«

»Eine völlig neue Steigerung von Abscheulichkeit, aber ich würde es nicht ausschließen, zumindest nicht zu schnell. Wer auch immer das war, wie auch immer es passiert ist, es war schlimm. Man kann das nicht immer säuberlich einstufen.«