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Als Inspektor Avi Avraham aus seinem Urlaub zurückkehrt, wird neben einem Kindergarten in Cholon ein Sprengsatz gefunden. Eine Attrappe, wie sich herausstellt, aber bald darauf geht eine Warnung ein, dass das erst der Anfang sei. Avi muss sich mit seinen Ermittlungen beeilen und trifft auf eine Mauer des Schweigens. Doch dann findet Avi eine Spur, die alles in ein anderes Licht rückt, eine, an die außer ihm niemand glaubt.
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Seitenzahl: 433
Dror Mishani
Ein Fall für Avi Avraham
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Diogenes
Für meinen erstgeborenen Sohn Benjamin
»Es gibt Geheimnisse, die nicht gestatten, dass man sie ausspricht.«
Edgar Allan Poe, Der Mann in der Menge
Im Verlauf des langen Sommers, den sie zusammen in Brüssel verbrachten, gab es einen Moment, in dem das unbeschwerte Glück, das sie umfing, einen Riss bekam, durch den in sein Bewusstsein, oder genau genommen in ihrer beider Bewusstsein, sickerte, dass es auch anders sein konnte.
Sie saßen auf einer schattigen Bank an einer der breiten Alleen im Parc de Bruxelles, neben dem Museum für Moderne Kunst. Avraham saß, und Marianka lag, den Nacken auf seinem Oberschenkel. Es war sechs Uhr abends und der Himmel blau und wolkenlos. Sie las, und er spielte mit ihrem kurzen Haar. Er mochte nicht mehr lesen, da er den größten Teil des Tages mit der Lektüre eines Kriminalromans von Boris Akunin verbracht hatte, zuerst in ihrer Wohnung, dann in zwei Cafés, während er darauf wartete, dass ihr Dienst zu Ende ging. Wie immer konnte er, als er das Buch fertig gelesen hatte, beweisen, dass der Detektiv im Roman einem Irrtum aufgesessen war.
Plötzlich hörten sie hinter sich einen Schrei.
Avraham verstand nicht, was die schwarze Frau kreischte, aber er sah, wie sie auf sie zulief. Sie schlug sich mit der linken Hand gegen den Kopf und kratzte sich über das Gesicht, doch er unternahm nichts. Marianka fuhr von der Bank hoch und ging auf die Frau zu, die groß gewachsen war und ein verblichenes Kleid trug, das an ein Totengewand erinnerte. An den Füßen hatte sie mehrere Paar dicker Socken übereinander und darüber Sandalen. Marianka blieb vor ihr stehen und sprach auf sie ein, packte ihr Handgelenk, damit sie aufhörte, sich das Gesicht zu zerkratzen. Auf Englisch sagte sie zu Avraham: »Jemand hat ihre Tochter entführt. Sie sucht nach ihr und kann sie im Park nicht finden. Ich begleite sie zur Polizeistation.«
Und Avraham fragte: »Willst du, dass ich mitkomme?«
Er blieb sitzen, mit Mariankas Rucksack und ihrem Buch, das aufgeschlagen mit den Seiten nach unten auf der Bank lag. Er sah den beiden Frauen hinterher. Marianka hatte ihren Arm um die Taille der Frau gelegt und hielt mit der anderen Hand noch immer ihren Arm fest. Sie hatten die Plastiktüte der Frau bei ihm zurückgelassen, worin er lediglich andere Plastiktüten sehen konnte. Unzählige Plastiktüten der Spielzeugladenkette Toys’R’Us.
Als sie zurückkam, ließ sich Marianka in einigem Abstand vom ihm auf der Bank nieder und bat um eine Zigarette. Er sah, dass sie geweint hatte.
»Hat man sie gefunden?«, fragte er. Marianka antwortete nicht. »Marianka, hat man sie gefunden? Hat jemand sie entführt?«
Schließlich antwortete Marianka: »Sie hat gar keine Tochter. Die Polizistin kennt sie. Sie läuft schon seit drei Wochen hier durch den Park. Bei den ersten Malen haben sie noch nach ihrer Tochter gesucht, aber dann haben sie herausgefunden, dass sie gar keine Tochter hat. Zumindest nicht hier in Brüssel. Sie ist vor ein paar Jahren aus dem Kongo gekommen. Sie kratzt sich bis zur Besinnungslosigkeit.«
Zu Hause nahmen sie ein sommerliches Abendessen zu sich, das Avraham vorbereitet hatte, ehe er aufgebrochen war. Und sprachen wenig dabei.
Am nächsten Morgen empfanden sie schon nicht mehr so, aber an jenem Abend hatten sie geahnt, dass alles, was entzweigehen konnte, entzweigehen würde.
Und genau das geschah.
Ein Schauder lief durch Avrahams Körper, als er zum ersten Mal nach drei Monaten den Verhörraum betrat. Die Klimaanlage arbeitete seit den Morgenstunden, und in dem Zimmer war es kalt. Er erinnerte sich noch gut an das letzte Mal, als er dort gewesen war, und an die Frau, die vor ihm gesessen hatte.
In den vergangenen Monaten hatte er mehr als nur einmal an die nächste Vernehmung gedacht, die er in diesem Raum führen würde. Hatte sich zunehmend detaillierter ausgemalt, wie er zum ersten Mal das Zimmer wieder betreten würde, gefestigt und selbstsicher, hatte sich erste Fragen überlegt, die er mit harter Stimme stellen würde. Das hätte zwar nicht an diesem heutigen Tag passieren sollen, aber vielleicht war es gut, dass es so gekommen war. Wie der Sprung von einer Klippe ins tosende Meer, ohne viel Vorgeplänkel.
Das Erste, was er bemerkte, als er vor dem Verdächtigen Platz nahm, waren dessen schmales dunkles Gesicht, die kleinen schwarzen Äuglein und danach die dünnen Arme, an denen dicke Adern sichtbar hervortraten. Seine Hände waren schmutzig, die Fingernägel auch. Er war von mittlerer Größe, hager und unrasiert. Vielleicht Anfang, Mitte dreißig. Der Verdächtige saß auf der anderen Seite des langen Tisches. Er fragte: »Wer sind Sie?«
Avraham überging seine Frage. Er ordnete seine Unterlagen vor sich, als wäre er allein im Zimmer. Sich eingehend mit dem Material in der Akte zu befassen, dazu hatte er keine Zeit gefunden. Während des kurzen Gespräches, das er mit der Streifenbeamtin führte, die den Verdächtigen in den frühen Morgenstunden festgenommen hatte, hatte er alles einmal überflogen.
Dem Bericht der Kollegin zufolge war die Meldung über den Sprengsatz um 6.44 Uhr in der Telefonzentrale eingegangen. Obgleich es sich wahrscheinlich um einen Fehlalarm handelte, war trotz der angespannten Personalsituation umgehend ein Streifenwagen in die Lawon-Straße entsandt worden. Den Streifenbeamten gelang es nicht, den Tatort ausfindig zu machen, weshalb die Zentrale telefonisch Kontakt zu der Anruferin aufgenommen hatte, die daraufhin im Morgenmantel auf die Straße gekommen war und die Polizisten hingeführt hatte. Keine zehn Minuten später war ein Sprengkommando am Tatort eingetroffen, hatte eine Sperrung der Straße für Autos und Fußgänger angeordnet und mit den Vorbereitungen für die Entschärfung der Ladung begonnen. Bei einer ersten Überprüfung war in dem Koffer ein Wecker der Marke Supratech entdeckt worden, der über Drähte zum einen an einer 7UP-Flasche hing, in der sich eine undefinierbare Flüssigkeit befand, und zum anderen an etwas, das wie ein Zünder aussah. Den Aufzeichnungen des Sprengkommandos zufolge war der Koffer um 7.50 Uhr in die Luft gejagt worden.
Unmittelbar bevor er die Tür des Vernehmungszimmers geöffnet hatte, hatte Avraham Marianka eine SMS geschickt: Bin auf dem Weg in ein überraschendes Verhör. Rufe dich an, wenn ich fertig bin.
Und sie hatte postwendend geantwortet: Sind die Ferien vorbei? Viel Erfolg!
Alles war bereit. Das Aufnahmegerät lief. Er fragte den Verdächtigen nach seinem Namen, und der Mann antwortete: »Amos Usen. Sind Sie Polizist? Wissen Sie, dass ich hier schon seit fünf Stunden warte?«
Er machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. »Geburtsdatum?«
»Meines? 10. Juli 1980.«
»Adresse?«
»Ha-Zionut 26.«
»In Cholon?«
»In Las Vegas.«
»Beruf?«
»Dirigent der Philharmoniker.« Amos Usen grinste. »Kein Beruf. Schreiben Sie auf, dass ich im Moment nicht arbeite.«
Dem Bericht der Streifenbeamtin zufolge war Usen mitnichten Musiker. Er war Koch im Café Riviera an der Strandpromenade von Bat Yam gewesen, hatte danach einen kleinen Motorradpannenservice und zuletzt einen rund um die Uhr geöffneten Kiosk im Stadtzentrum von Cholon betrieben. Neben den Einnahmen aus diesen Beschäftigungen verdiente er sich offenbar noch etwas mit kleinkriminellen Aktivitäten hinzu – vor allem Hehlerei und dem Verkauf von Haschisch. Er war in Bat Yam geboren und ohne Vater aufgewachsen. Seine Mutter war Kosmetikerin, und er hatte zwei ältere Schwestern. Die Familie war dem Sozialamt hinlänglich bekannt. Er selbst war ohne Abschluss von der Mittelschule abgegangen. Straffällig war er zum ersten Mal mit fünfzehn geworden. War zusammen mit einem Freund in einem gestohlenen Wagen festgenommen worden. Avraham sah ihn an, senkte den Blick dann wieder auf die vor ihm liegenden Papiere und sagte: »Sie werden verdächtigt, in den frühen Morgenstunden vor einem Kindergarten in der Lawon-Straße –«
Aber Usen unterbrach ihn: »Wovon reden Sie eigentlich? Ein Mensch geht morgens vor die Tür, um einen Spaziergang zu machen, und wird verhaftet. Was habe ich mit irgend so ’nem Kindergarten zu schaffen?«
»Das wird sich noch zeigen.«
»Aber wieso? Was für Beweise haben Sie überhaupt?«
Nach flüchtiger Durchsicht der Akte und einer kurzen Instruktion durch die Streifenpolizistin erschien es Avraham wirklich so, als hätten sie keine Beweise. Usen war dank der Geistesgegenwart der Kollegin festgenommen worden, die, noch ehe die Bombenattrappe unschädlich gemacht werden konnte, eine detaillierte Zeugenaussage von der Anruferin aufgenommen hatte. Sie war vierundsechzig und Rentnerin. War frühmorgens aufgestanden, um mit dem Hausputz vor dem Neujahrsfest zu beginnen. Hatte die Jalousien im Wohnzimmer geöffnet und die Teppiche zum Lüften über das Fensterbrett gehängt. Ausklopfen wollte sie die Teppiche erst nach acht. Ihr Gatte habe noch geschlafen. Als sie die Teppiche ausbreitete, habe sie einen Mann gesehen, der in den Hof der Lawon-Straße Nummer 6gekommen sei. Genau genommen habe sie ihn nicht kommen gesehen, sondern wie er sich hinter den Büschen dort bückte, als suchte er etwas. Zunächst habe sie gedacht, es würde sich um einen der Mieter handeln, dem etwas von oben in den Hof gefallen war. Doch dann habe sie gesehen, wie er den Koffer hinter den Büschen versteckte, neben dem Weg, der zu dem Kindergarten führt. Warum sei ihr das sonderbar vorgekommen? Weil nur wenige Meter entfernt die Müllcontainer stünden, und wäre er ein Bewohner des Hauses gewesen, hätte er den Koffer dort hineingeworfen. Und warum den Koffer mit solcher Vorsicht hinter den Büschen verstecken und ihn nicht einfach auf dem Bürgersteig abstellen? Das Gebäude, in dem die Zeugin wohnte, lag am Ende der Straße, aber die Sicht von ihrem Fenster aus war ausreichend. In ihrem Blickfeld lagen zwar mehrere Baumwipfel und ein Strommast, aber diese verdeckten die Stelle nicht. Sie schätzte, dass sie den Verdächtigen länger als eine Minute beobachtet hatte, und erzählte, er habe sich nicht gleich davongemacht, sondern sei noch einige Augenblicke im Hof geblieben und habe sich umgeschaut. Trotz der Entfernung habe die Zeugin befürchtet, er könne sie sehen, weshalb sie sich ins Wohnzimmer zurückgezogen habe. Als sie den Kopf dann abermals aus dem Fenster gesteckt hatte, sei der Verdächtige bereits in die entgegengesetzte Richtung gegangen, zur Aharonowitsch-Straße. Gemächlich schlendernd allerdings, nicht im Laufschritt. Wobei es ihr so vorgekommen sei, als würde er hinken. Ihre Beschreibung war wie erwartet ziemlich allgemein gehalten. Der Verdächtige war eher kleingewachsen und von schmächtigem Körperbau und trug, soweit sie sich erinnern konnte, eine Trainingshose und ein Kapuzenshirt, braun oder in irgendeiner anderen dunklen Farbe. Seine Gesichtszüge hatte sie nicht sehen können.
Wenige Minuten nachdem sie die Zeugenaussage aufgenommen hatte, hatte die Streifenbeamtin den Verdächtigen in der Menge ausgemacht, die sich am Ende der für den Durchgang gesperrten Straße versammelt hatte, und zwar aufgrund der Zeugenbeschreibung seiner Statur und Kleidung. Er verfolgte, wie der Sprengsatz unschädlich gemacht wurde, und habe nervös gewirkt. Die Streifenbeamtin bat ihn, sich auszuweisen, woraufhin er versucht habe wegzurennen. Tatsächlich schaffte er es, etwa fünfzig Meter weit zu kommen, ehe einer der Polizisten vor Ort ihn stellte. Usen trug keine Ausweispapiere bei sich und bestritt, einen Fluchtversuch unternommen zu haben. Auch jegliche Verbindung zu dem Koffer stritt er ab und behauptete, er sei bloß dort gewesen, weil er Brot und Milch kaufen gegangen war. Anfangs weigerte er sich, seine Personalausweisnummer mitzuteilen, konnte aber überzeugt werden, der Aufforderung schließlich doch Folge zu leisten. Eine Abfrage des Strafregisters ergab, dass er bereits einige Vorstrafen hatte, zumeist Rauschgiftdelikte.
»Zu den Beweisen kommen wir, wenn wir so weit sind«, sagte Avraham. »Zunächst erzählen Sie mir, was Sie heute Morgen in der Lawon-Straße gemacht haben.«
Usen erwiderte: »Was jeder Mensch mal tut. Ich bin raus, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.«
»Der Beamtin haben Sie gesagt, Sie seien unterwegs gewesen, um Milch und Brot zu kaufen. Woraus ich schließe, dass Sie Ihre Version geändert haben.«
»Was soll ich gesagt haben? Ich hab gar keine Version geändert. Ich bin raus, um frische Luft zu schnappen und auch, um Milch zu kaufen.«
»Sie sind bis zur Lawon-Straße gegangen, um dort einzukaufen? Das ist ziemlich weit von Ihrer Wohnung entfernt.«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Warum muss ich Ihnen darauf antworten? Ich kann doch wohl einkaufen, wo ich will, oder?«
»Sie sind nicht verpflichtet zu antworten. Ich schreibe, Sie haben kein Interesse daran, zu erklären, was Sie in der Lawon-Straße gemacht haben.«
Anders als bei der letzten Ermittlung saß jetzt ein Verdächtiger vor ihm, der sich mit Vernehmungsräumen der Polizei bestens auskannte. Wenn er eine Frage gestellt bekam, deren Beantwortung ihn in Schwierigkeiten zu bringen drohte, reagierte er nicht sofort, sondern ließ sich Zeit, bis er die richtige Antwort gefunden hatte. So wie jetzt: »Ich bin da hingegangen, weil ich bei dem Laden in meiner Nachbarschaft schon anschreiben lassen musste. Reicht Ihnen das als Erklärung?«
»Und warum sind Sie stehen geblieben, um dem Sprengkommando zuzusehen?«
»Wissen Sie, wie viele Leute da standen? Da ist was entschärft worden, ich bin stehen geblieben, um zu sehen, was das war.«
»Und Sie sind geflüchtet, als die Beamtin Sie gebeten hat, sich auszuweisen.«
»Ich bin nicht getürmt, das habe ich Ihnen schon erklärt. Ich hatte genau da beschlossen weiterzugehen und habe nicht gehört, dass sie mich ruft. Und dann sind plötzlich zwei Polizisten auf mich drauf und haben gesagt, ich sei abgehauen.«
»Und das sind Sie nicht?«
»Sollte ich? Glauben Sie mir, wenn ich getürmt wäre, hätte mich kein Bulle geschnappt.«
Etwas an Usens Antwort verwirrte Avraham. Er schlug den Festnahmebericht auf und begriff plötzlich, was es war. Er hob den Blick und betrachtete das Zimmer, als würde er dessen Größe bemessen. Zwei Neonröhren leuchteten an der Decke. Auf dem Foto aus der Polizeidatenbank war Usens Gesicht glattrasiert, aber seit der Aufnahme hatte er sich einen kleinen Charlie-Chaplin-Schnurrbart stehen lassen, der, im Unterschied zu seinen Fingernägeln, sehr gepflegt wirkte. »Und wo sind Milch und Brot?«, fragte Avraham.
»Was?«
»Wo sind die Milch und das Brot, die Sie eingekauft haben?«
»Ich konnte nichts kaufen. Die Straße war ja abgesperrt.«
Avraham lächelte. »Ich verstehe. Dann haben Sie bestimmt schrecklichen Hunger. Aber was genau haben Sie eigentlich mit dem Kindergarten zu tun?«
Usen seufzte. »Ich habe überhaupt nichts mit irgendwelchen Kindergärten zu tun. Gott sei gepriesen, Kinder habe ich keine.«
»Und warum haben Sie dann den Bombenkoffer dort deponiert?«
»Ihr seid ja vollkommen durchgeknallt. Ich sage Ihnen doch, ich habe überhaupt keinen Bombenkoffer irgendwo deponiert. Ihr müsst alle einen Sonnenstich gekriegt haben.«
Die Aufregung war verschwunden. Und auch die Furcht, die Avraham beim Betreten des Raumes noch verspürt hatte. Er war am richtigen Ort. War zu sich selbst zurückgekehrt, zu seiner Aufgabe, zu dem, was er am besten konnte. Sollte Usen gewusst haben, dass sich in dem Koffer eine Sprengstoffattrappe befunden hatte, dann war er nicht in die Falle gegangen. Avraham bot ihm an, sich einen Becher Wasser aus dem Spender neben der Tür am anderen Ende des Raumes zu holen, doch Usen meinte: »Ich habe keinen Durst.«
»Sie müssen etwas trinken. Wir werden hier noch ein paar Stündchen zusammen verbringen, daher ist es wichtig, dass Sie etwas trinken. Sonst dehydrieren Sie mir noch. Gehen Sie ruhig.«
Er wartete.
Usen erhob sich von seinem Stuhl und ging zu dem Wasserspender. Er musste an Avraham vorbei, und nachdem er sich kaltes Wasser in einen durchsichtigen Becher gefüllt hatte, kam er auch auf dem Rückweg wieder an ihm vorbei. Seine Schritte waren leicht und geschmeidig. Der Zeugenaussage der Nachbarin zufolge hatte der Verdächtige, der den Koffer vor dem Kindergarten deponiert hatte, den Tatort langsam gehend verlassen, wobei es für sie den Anschein gehabt hatte, dass er hinkte. Die Beamtin hingegen, die die Festnahme durchgeführt hatte, hatte zu Protokoll gegeben, dass Usen davongerannt sei, als sie ihn bat, sich auszuweisen. Und auch jetzt hinkte er nicht.
Avraham blieben nur noch ein paar Stunden, bis er entscheiden musste, ob er Usen vor einen Richter bringen sollte, um Untersuchungshaft zu erwirken. Doch ihm war bereits jetzt klar, dass es nicht so weit kommen würde. Es war jetzt halb drei. Usen würde nichts sagen, und gegen Abend, allerspätestens jedoch am nächsten Morgen würde man ihn nach Hause entlassen. Und noch immer wusste Avraham nicht, ob er dann einen Menschen gehen lassen würde, der früh am Morgen das Haus verlassen hatte, um frische Luft zu schnappen und eine Tüte Milch und ein Brot zu kaufen, und aufgrund des falschen Bauchgefühls einer Streifenpolizistin verhaftet worden war, oder ob er einen Menschen laufenließ, der am Morgen auf dem Zugangsweg zu einem Kindergarten einen alten Koffer abgestellt hatte, in dem sich eine Bombenattrappe befunden hatte. Er erklärte: »Laut einer Zeugenaussage trug derjenige, der den Koffer abgestellt hat, ein Kapuzenshirt, und Sie haben so ein Kapuzenshirt an. Ist das nicht sonderbar, dass ein Mensch bei dieser Hitze ein Kapuzenshirt trägt, was meinen Sie?«
Jetzt verlor Usen die Beherrschung und brüllte: »Sagen Sie, wer sind Sie überhaupt? Was kümmert es Sie, was ich anhabe? Am Morgen war es kühl. Und überhaupt, laufen Sie etwa wie ein Polizist herum?«
Er war tatsächlich nicht wie ein Polizist gekleidet. Statt der Uniform trug Avraham eine weite weiße Hose, die oberhalb der Knöchel endete, und ein neues apricotfarbenes Hemd. Aber das auch nur, weil er offiziell noch immer beurlaubt war.
Er war erst wenige Tage zuvor, Anfang September, nach Israel zurückgekehrt. Nun blieben ihm noch ein paar Urlaubstage bis zum Neujahrsfest, die er darauf verwenden wollte, die Wohnung für Mariankas Einzug vorzubereiten. Früh am Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, fuhr er an den Strand von Tel Aviv, stieg mit den Füßen ins Wasser und rauchte, auf die sanfte Dünung schauend, eine erste Zigarette. Das Wasser war warm. Als er in Brüssel gewesen war, hatte das Meer eine unverständliche Sehnsucht in ihm geweckt. Zwar herrschte eine unerträglich drückende Spätsommerhitze, aber in seinem Inneren war eine Leichtigkeit, die er bisher nicht gekannt hatte. Er trug leichte luftige Hemden in Farbtönen, die er früher nie gewählt hätte. Marianka hatte gesagt, er sähe fantastisch darin aus. Sie hatten geplant, nach ihrer Ankunft die Wohnung gemeinsam einzurichten, Elektrogeräte zu kaufen, die noch fehlten, die Wände neu zu streichen und für ein paar frische Farbtöne zu sorgen, vielleicht sogar Bad und Küche gründlich zu renovieren. Ein paar Veränderungen aber hatte er gebeten, schon vorher vornehmen zu dürfen. Vor allem wollte er alte Sachen wegwerfen. Angebrannte Töpfe und angeschlagene Teller aus der Küche, verblichenes Bettzeug und vom vielen Waschen dünn gewordene Handtücher. Kleidungsstücke, die er nicht mehr tragen würde, stopfte er in Müllbeutel und räumte mehrere Fächer im Kleiderschrank im Schlafzimmer aus.
Als er am Morgen aufs Revier gekommen war, war David Esra von seinem Platz hinter dem Tresen des wachhabenden Beamten aufgesprungen und hatte ihn umarmt.
»Das war’s? Bist du endlich wieder da?«, fragte er.
Avraham entgegnete: »Noch nicht ganz. Ich bin nur für ein Treffen mit dem neuen Kommandanten gekommen. Hast du ihn schon kennengelernt? Wie ist er?«
Aus irgendeinem Grund, den Avraham nicht verstand, zwinkerte David Esra und sagte dann: »Entscheide selbst.«
Er war von einem Büro zum nächsten gegangen, hatte an halb geöffnete Türen geklopft und die erwarteten Fragen zu seinem Urlaub und zu Marianka beantwortet. Die meisten Leute freuten sich, ihn zu sehen, und sie begrüßten ihn freundlich. Als er das Licht in seinem Büro anschaltete, war er erneut überrascht, wie klein der Raum war. Aber die drangvolle Enge darin war angenehm und beschützend, und die Tatsache, dass der Raum fensterlos war, gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Die Wände waren nackt und zum Greifen nah. Seit drei Jahren hatte er an eine der Wände ein Bild hängen wollen und nicht gewusst, welches. Aber jetzt besaß er die Reproduktion eines farbenfrohen Gemäldes mit zahlreichen kleinen Details, das ihn beeindruckt hatte, als er sich an einem der verregneten Sommertage mit Marianka in ein Museum für moderne Kunst geflüchtet hatte.
Der Computer war ausgeschaltet. Er drückte auf den Startknopf.
Überall lag Staub, eine graue Schicht auf der Arbeitsplatte des Tisches, auf den Regalen und der schwarzen Schreibtischlampe. Woher kam all der Staub in einem Zimmer ohne Fenster? Im Papierkorb lagen ein zerrissener brauner Umschlag und einige zusammengeknüllte Blätter, die weggeworfen zu haben er sich nicht erinnerte.
Um punkt zwölf stand Avraham im Vorzimmer des Büros im dritten Stock und wurde gebeten zu warten, bis Vizekommandant Benny Saban sein Telefonat beendet hätte. In der Zwischenzeit schickte er Marianka eine SMS: Gleich Gespräch mit dem neuen Kommandanten. Werde dir berichten, wie es war. Küsse. Auch die Sekretärin telefonierte, doch nicht in dienstlichen Belangen.
Saban kam um Viertel nach zwölf aus seinem Zimmer und forderte Avraham auf einzutreten. Er drückte ihm die Hand und sagte: »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht bei all dem Chaos, das sie mir hier hinterlassen haben.« Er bedeutete Avraham, Platz zu nehmen, und bot ihm einen Kaffee an. »Das halbe Revier ist krank, als steckten wir im tiefsten Winter, und die andere Hälfte ist im Urlaub. Ich arbeite mit null Personal, und heute Morgen hatte ich schon einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Filiale der Igud-Bank, eine Bombenattrappe neben einem Kindergarten und jemanden, der versucht hat, sich auf dem Dach des Sozialamtes anzuzünden. Ich habe Leute hier sitzen, die seit fünf Uhr darauf warten, Anzeige erstatten zu können, und Festgenommene, bei denen ich beim besten Willen nicht weiß, was ich mit ihnen machen soll. Ich habe keine Vernehmungsbeamten, und wenn ich ihnen bis heute Abend nicht jemanden hinsetze, gehen die Verdächtigen nach Hause.«
Avraham erklärte, er habe bereits Kaffee getrunken.
Saban machte ihn neugierig. Er hatte ein rundliches, weiches Kindergesicht, und seine glatten braunen Haare fielen ihm wie ein Kleinjungenpony in die Stirn. Sein Schreibtisch war aufgeräumt und leer von Akten und Papieren, bis auf einen schmalen Stoß Blätter, auf denen in großer Type kurze Sätze ausgedruckt standen, bereit, verlesen zu werden. Er hatte offenbar noch keine Gelegenheit gefunden, das Büro mit persönlichen Gegenständen zu versehen, sodass sich dort bisher nichts verändert hatte. An den Wänden hingen Urkunden und Auszeichnungen, die das Revier erhalten hatte.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Avraham, und Saban lachte.
»Können Sie mir bis zum Abend fünf Personalstellen beschaffen?«
Die Sekretärin kam, ohne anzuklopfen, herein und stellte einen Glasteller vor ihn hin, darauf ein großer Becher mit heißem Wasser und zwei Bagels. Abermals fragte er Avraham, ob er nicht einen Kaffee wolle. »Vielleicht sollte Merav sie vernehmen«, meinte er, nachdem die Sekretärin gegangen war.
Von Sabans Ernennung zum Distriktkommandanten hatte Avraham durch ein Telefonat mit Eliyahu Maalul erfahren, als er in Brüssel war. Er hatte ihn noch nie getroffen und wusste nichts über ihn, nur dass sein neuer Chef die letzten drei Jahre den Tal-Distrikt befehligt hatte und davor stellvertretender Leiter der Planungsabteilung gewesen war. Er war weder Ermittler noch Praktiker und hatte sich vor allem über Verwaltungsaufgaben hochgearbeitet. Seine Hände waren klein und glatt und die kurzen Ärmel seines Hemdes akkurat gebügelt. Immer wieder lehnte er sich in seinem Bürosessel zurück, um sich dann in einer plötzlichen Bewegung wieder nach vorn zu beugen und die Hände auf die Tischplatte zu legen. Jetzt nahm er einen Stift zur Hand und unterteilte die Seiten, die vor ihm lagen, mit energischen Strichen in Spalten. In seinen Augen war ein unkontrolliertes Zucken. Für einen Moment ließ er seinen Blick auf Avraham ruhen und begann dann zu blinzeln, als blendete ihn etwas. Er senkte den Blick wieder auf den Tisch und verdeckte seine Augen mit einer linkischen Bewegung der kleinen Hand. »Wie dem auch sei, zu unserer Angelegenheit«, sagte er. »Ich weiß, dass Ihr Urlaub noch nicht vorüber ist, aber mir war wichtig, Sie möglichst bald zu treffen und von Ihnen zu hören, dass Sie zurückkommen und alles in Ordnung ist. Es gab Gerüchte, Sie kämen nicht wieder.«
Avraham erwiderte, er habe nie vorgehabt, den Dienst zu quittieren, und Saban meinte: »Gut, das ist gut zu hören. Das freut mich. Ich habe viel Positives über Sie erfahren, und wir brauchen gute Leute. Ich habe über Ihren letzten Fall gelesen und auch den Bericht, den Ilana Liss verfasst hat, und ich denke nicht, dass es mit der Art und Weise, wie Sie die Ermittlungen geführt haben, irgendein Problem gab. Von meiner Seite haben Sie volle Rückendeckung. Alles auf Anfang. Die Schuldigen sind gefasst, und wir machen weiter.«
Saban zwinkerte erneut. Versuchte zu lächeln.
Avraham wusste nichts von einem Bericht, den Ilana Liss über den letzten Fall geschrieben hatte. Auf wessen Bitte hin? Und wer hatte ihn gelesen? Und warum hatte sie ihm nichts davon erzählt? Sie hatten ein paarmal während seines Urlaubs miteinander telefoniert, und Ilana hatte den Bericht mit keinem Wort erwähnt.
»Danke«, sagte er zu Saban. »Ich weiß nicht, was Sie wo gelesen haben, aber die Ermittlung, von der Sie da sprechen, habe ich hinter mir gelassen.«
»Ausgezeichnet, hervorragend. Gut zu hören. Ach ja, wenn Sie nun schon hier sind, ich würde mich freuen, falls Sie noch bleiben könnten, bis wir auf meine Amtseinführung heute Nachmittag ein Gläschen erheben. Was meinen Sie? Ich werde über die Ziele der Polizeiarbeit in unserem Distrikt sprechen.«
Avraham versprach, er werde nach Möglichkeit bleiben, und Saban meinte: »Wissen Sie was? Nehmen Sie die Seiten mit, Sie können Sie ja auch zu Hause lesen. Ich mache noch einen Ausdruck. Das ist meine Vision von unserer gemeinsamen Arbeit in den kommenden Jahren.«
Sabans akkurat geschnittene und gekämmte Frisur ließ Avraham vermuten, dass er am Morgen auf dem Weg zum Revier noch extra beim Friseur gewesen war. Waren auch all seine sonstigen Anzeichen von Nervosität in der Rede begründet, die er am Nachmittag halten würde? Avraham dankte ihm, faltete das Redemanuskript zusammen und schob es in die Brusttasche seines Hemdes.
»Also, wann treffen wir uns offiziell?«, fragte Saban dann. »Wann genau sind Sie wieder im Dienst?«
Avraham entgegnete: »Nach dem Neujahrsfest. Aber ich kann auch jetzt einen der Festgenommenen verhören, wenn Sie niemanden sonst haben. Ich habe kein Problem damit, noch ein paar Stündchen zu bleiben.«
Saban zögerte, was Avraham verletzte. Dann sagte er: »Aber Sie haben noch Urlaub, oder? Und ich hatte gedacht, es wäre gut, wenn Sie trotz allem erst einmal langsam wieder ankämen. Sich vielleicht einem Ermittlerteam anschließen, das schon mit der Arbeit an einem Fall begonnen hat. Schade um Ihren Urlaub.«
Doch jetzt wollte Avraham unbedingt im Vernehmungsraum sein, in genau diesem Moment, gerade wegen Sabans Zögern. »Ich kann bleiben. Sagen Sie mir, wer am dringendsten ist.«
Und Saban erwiderte: »Ich muss nachfragen. Vielleicht der Verdächtige in der Sache mit der Bombenattrappe. Er wartet schon seit fast fünf Stunden, und außer Vorstrafen haben wir nichts gegen ihn.«
»Geben Sie mir ein paar Minuten, um mich mit der Sachlage vertraut zu machen, und dann gehe ich zu ihm hinein. Wissen Sie etwas über den Fall?«
Saban war sich noch immer nicht sicher, ob er richtig handelte. Zögernd antwortete wer: »Nicht viel. Wahrscheinlich geht es um eine Abrechnung im kriminellen Milieu oder einen Streit unter Nachbarn. Die Frage ist, warum eine Sprengsatzattrappe und warum vor einem Kindergarten? So eine Attrappe ist doch wohl ein Warnsignal, oder? Aber wen wollten sie warnen, und was hat diese Warnung zu bedeuten? Vor allem jedoch, wie verhindern wir die nächste Straftat, ehe sie verübt wird? Und am allerwichtigsten: Hat die Sache irgendetwas mit dem Kindergarten zu tun? Dieser Verdächtige – oder irgendjemand sonst – hat am helllichten Tage dort eine Sprengsatzattrappe deponiert, genau zu der Zeit, zu der die Eltern ihre Kinder abliefern, und das macht mir Sorgen. Noch größere Sorgen macht mir allerdings der Gedanke, beim nächsten Mal könnte es eine echte Bombe sein.«
Er hätte Marianka anrufen und ihr von dem Treffen mit Saban erzählen sollen, doch unmittelbar danach sagte er sich, er würde sich direkt nach der Vernehmung bei ihr melden, aber in den darauffolgenden Stunden führte er einen Wettlauf gegen die Zeit und vergaß es. Und auch wenn er es nicht vergessen hätte – es fand sich einfach keine Gelegenheit. Die erste Stunde des Verhörs mit Usen brachte ihn nicht weiter, im Gegenteil. Zum einen war da der Widerspruch zwischen der Zeugenaussage der Nachbarin, die einen Hinkenden gesehen haben wollte, und Usens geschmeidigem Gang, und zum anderen stritt er immer vehementer ab, mit der Tat etwas zu tun zu haben. Auf dem Koffer hatten keine Fingerabdrücke festgestellt werden können, und auch die Spurensicherung hatte am Tatort nichts gefunden, was sich mit dem Verdächtigen in Verbindung bringen ließ. Ebenso wenig in der Wohnung, in der Usen mit seiner Mutter wohnte. Die Kollegin von der Streife hatte die Nachbarin für eine Gegenüberstellung aufs Revier gebracht, mit dem Resultat, dass die Frau sich ihrer Aussage weniger sicher war als vorher.
»Natürlich könnte er es sein, aber wie soll ich das mit Gewissheit sagen können? Haben Sie eine Ahnung, aus welcher Entfernung ich ihn gesehen habe?«
Avraham befragte sie zu dem Hinken, doch ausgerechnet in diesem Punkt hatte sie keine Zweifel. Die Person, die den Koffer abgestellt hatte, hatte sich langsam hinkend in Richtung der Aharonowitsch entfernt. Um halb vier brachte er Usen in die Untersuchungshaftzelle und schloss sich in seinem Zimmer ein, um nachzudenken, so wie er es immer zu Beginn einer Ermittlung tat.
Den Tatort hatte er noch nicht aufgesucht, aber das würde der nächste notwendige Schritt sein. Zum Beispiel erinnerte er sich nicht, ob es in der Lawon-Straße eine Ampel gab. Wenn ja, würden dort eventuell Autofahrer gestanden haben und sich somit weitere Zeugen finden, die den Verdächtigen gesehen hatten, wie er den Koffer abstellte oder sich hinterher aus dem Staub machte. Avraham erkundigte sich, ob irgendjemand die Betreiberin des Kindergartens oder die Nachbarn im Gebäude hinsichtlich einer möglichen Verbindung zu Usen befragt hatte, aber wie sich herausstellte, war dies nicht der Fall. Im Grunde genommen, begriff er, hatte die eigentliche Ermittlung noch gar nicht begonnen. Sie mussten herausfinden, wo sich Usen üblicherweise aufhielt. Außerdem galt es, Beweise für die Anfertigung der Bombenattrappe zu finden. Auch Usens Mutter, die im Krankenhaus lag, musste vernommen werden, aber all das war bis zum Abend nicht zu schaffen und schon gar nicht allein. Obendrein durfte man sich nicht nur auf den einen Verdächtigen konzentrieren. Alle Möglichkeiten mussten berücksichtigt werden – nicht nur wegen des Zweifels, den das fragliche Hinken hervorrief. Avraham musste an Ilana Liss und ihr warnendes Mantra denken: »Wir dürfen nicht mit einer vorgefertigten Schlussfolgerung an den Fall herangehen, denn dann gibt es Einzelheiten, die wir nicht sehen, und Details, die wir aus zu großer Nähe betrachten.« Gut möglich, dass die Person, die den Koffer vor dem Kindergarten deponiert hatte, jetzt nicht in der Untersuchungszelle auf dem Revier saß, sondern sich an einem ganz anderen Ort befand. Und vielleicht schon den nächsten Angriff plante, wie Saban gemutmaßt hatte.
Mit einem Mal wusste Avraham, dass es ihm nicht leidtat, den Fall übernommen zu haben.
Er suchte in den Schubladen und auf den Regalborden. Schließlich fand er auf dem Fußboden der Materialkammer ein Paket mit Druckerpapier, riss es noch auf dem Weg in sein Büro auf und zog ein weißes Blatt aus dem Papierstoß, das er mit schnell hingeworfenen Notizen füllte:
Der Kindergarten.
Genaue Entfernung von dem Kindergarten. Wann öffnet er?
Leiterin des Kindergartens – mit Amos Usen bekannt?
Elternliste. Vorstrafen.
Drohungen – vielleicht gegen die Eltern eines der Kinder?
Tatort.
Viertel vor sieben morgens (exakt?). Es müssen noch mehr Menschen auf der Straße unterwegs gewesen sein.
Weitere Nachbarn, die etwas gesehen haben?
Ampeln? Überwachungskameras?
Der Koffer – vielleicht trotz allem irgendeine Besonderheit, die sich nachverfolgen lässt?
Ist er aus einem Auto gestiegen?
Wenn es einen Wagen gegeben hat, hat jemand darin auf ihn gewartet?
Nachbarschaftsstreit.
Liste der Mieter.
Straftäter in der Gegend.
Wenn es um eine Warnung geht – was ist die Botschaft? Und an wen richtet sie sich? Welche Bedeutung hat sie?
Was wird die nächste Straftat sein?
Gibt es in der Straße einen Lebensmittelladen?
Um halb fünf ließ er Usen zurück in den Vernehmungsraum bringen, was aber zu dem Zeitpunkt kaum noch sinnvoll war. Er hatte keine Fragen mehr, und Usen strich sich über sein Bärtchen, lächelte ihn mit seinen kleinen Äuglein an und meinte: »Ich habe gegessen, getrunken und mich ausgeruht. Wir hatten eine interessante Unterhaltung. Wird’s nicht langsam Zeit, dass Sie zugeben, jemanden grundlos festgenommen zu haben? Dann sollten Sie ihn jetzt laufenlassen.«
»Wieso so eilig?«, fragte Avraham. »Möchten Sie hier nicht noch zu Abend essen?«
Aber um halb sechs begab er sich, mit ein wenig Verspätung, auf den Hof, um ein Gläschen auf Sabans Amtseinführung und das anstehende Neujahrsfest zu heben, und als er zurückkam, unterschrieb er das Entlassungsformular. »Ich verspreche Ihnen, wir sehen uns wieder«, sagte er zu Usen, als er sich vom ihm verabschiedete.
Usen erwiderte: »Sie vergeuden nur Ihre Zeit, aber liebend gern.«
Am Abend machte sich Avraham nach einer kurzen kalten Dusche zu Hause einen schwarzen Kaffee und setzte sich in Unterwäsche auf den Balkon. Die Ermittlungsakte lag aufgeschlagen vor ihm, und er las erneut den Bericht, den die Streifenbeamtin über die Vorkommnisse am Morgen verfasst hatte. Danach fiel ihm Sabans Rede ein, die zusammengefaltet in der Brusttasche seines Hemds steckte, das er ausgezogen und im Bad aufgehängt hatte. Die meisten Kollegen waren der Meinung, die Rede sei lächerlich gewesen, aber in Avrahams Augen hatte sie etwas Hoffnung Weckendes gehabt.
Er verspürte das Verlangen, Marianka von seinem Tag zu erzählen, doch ausgerechnet jetzt war ihr Mobiltelefon abgeschaltet. Er wusste nicht mehr, ob sie Dienst hatte, aber wenn, dann war dies einer ihrer letzten Arbeitstage bei der Brüsseler Polizei, bevor sie kündigen und zu ihm ziehen würde.
Die Entschlossenheit und Konzentriertheit, die Benny Saban an den Tag gelegt hatte, als er zum ersten Mal vor seinen neuen Untergebenen gesprochen hatte, hatte in krassem Widerspruch zu der Nervosität und Unsicherheit bei ihrer Unterredung in seinem Büro gestanden. Diese Diskrepanz hatte etwas Rätselhaftes, Unerklärliches.
Saban hatte im Hof auf einem improvisierten Podium gestanden und seine Rede vom Blatt abgelesen. Trotz der Hitze hatte er nicht geschwitzt.
Zu Beginn seiner Rede sprach er über den Sommer.
»Wir hatten einen langen, harten und gewalttätigen Sommer«, sagte er. »Im Juni hat sich der Zorn im Süden Tel Avivs entzündet. Illegale Einwanderer ohne Arbeit und Heim, sich mehrende Klagen der Anwohner über sexuelle Übergriffe und Gewaltausbrüche, organisierte Racheaktionen, Molotowcocktails, Brandstiftung in Häusern und Flüchtlingszentren. In den Stabssitzungen herrschte das Gefühl vor, das Feuer könnte jeden Augenblick auch auf unser Stadtgebiet übergreifen, aber es ist uns gelungen, es einzudämmen und einen Flächenbrand zu verhindern.«
Avraham war denkbar weit weg von all dem gewesen, in einem Urlaub, der kein Ende zu haben schien. Er hatte sich via Internet auf dem Laufenden gehalten und hin und wieder auch durch Telefonate mit Eliyahu Maalul und Ilana.
Sein Sommer war glücklich gewesen.
»Danach kamen die Demonstrationen. Jeden Schabbat wurden abends Hunderte Polizeibeamte unseres Distrikts auf dem Platz vor der Cinemathek zusammengezogen und nach einer Einweisung auf das gesamte Stadtgebiet von Tel Aviv verteilt, um für Ordnung zu sorgen und Gewaltausbrüche bei den genehmigten oder auch nicht genehmigten Protestmärschen zu unterbinden. Bei einem dieser Märsche wurden, wie ihr euch sicher erinnert, die Absperrungen durchbrochen und die Fensterscheiben einer Bankfiliale im Stadtzentrum von Tel Aviv eingeworfen. Bei einer anderen Demonstration zündete einer der Aktivisten sich selbst an und erlag später seinen Verletzungen. Jeder Kollege, der Überstunden leisten konnte, hat dies getan.«
Im weiteren Verlauf seiner Rede widmete sich Saban der Verbrechensstatistik des Distrikts. »Die Zahlen zeigen, dass ihr ein hervorragendes Jahr hattet, Kollegen«, sagte er. »Ihr habt die euch gesetzten Ziele erfüllt und in einigen Bereichen sogar mehr als das. Ihr habt die Zahl der Einbrüche und Eigentumsdelikte um fünf Prozent senken können. Habt einen Rückgang von mehr als zehn Prozent bei Fahrzeugeinbrüchen und -diebstählen verzeichnen können. Dank eures Einsatzes wurden sieben Prozent weniger Gewaltverbrechen und acht Prozent weniger Verkehrsdelikte verübt.« Einer seiner Zuhörer klatschte, und Saban sagte: »Ja, ihr habt absolut Beifall verdient.« Andere schlossen sich dem Applaudierenden an.
Der Beifall verstummte, als Saban die Stimme senkte und fortfuhr: »Aber es hat auch Ziele gegeben, denen sich der Distrikt nicht gewachsen gezeigt hat. Es hat in diesem Jahr einen Anstieg bei der Jugendkriminalität gegeben. Eine Zunahme bei Betrugsdelikten und Sittlichkeitsverbrechen. Wenn ich die Statistik eures Distrikts betrachte – Verzeihung, ich muss mich erst noch daran gewöhnen: unseres Distrikts –, sehe ich einen Distrikt, dessen gesetzestreue Bürger ruhiger in ihren Häusern schlafen können, aber, sobald sie das Haus verlassen, sich einem erhöhten Risiko ausgesetzt sehen, mit Prostitution oder Rauschgiftdelikten konfrontiert zu werden.« Saban ließ seinen Blick über die Polizisten schweifen, die ihm ungeachtet der drückenden Hitze schweigend lauschten. Er hob die Stimme: »Meine Vision ist es, auch wenn sich das für einige von euch abwegig anhören mag, dass der gesetzestreue Bürger in unserem Distrikt gar nicht mit Gewalt, in welcher Form auch immer, konfrontiert wird. Ich möchte, dass der ehrliche Bürger aus Bat Yam oder Cholon oder Rischon LeZion morgens aus dem Haus tritt, in seinen Wagen steigt, die Kinder beim Kindergarten oder der Schule absetzt, unterwegs haltmacht, um sich einen Kaffee zu holen, zu tanken und dann weiter zu seiner Arbeitsstätte zu fahren, und auf seinem tagtäglichen Weg keinerlei Form von Gewalt oder Angst erlebt. Mein Ziel ist es, im Ayalon-Distrikt möglichst viele Zonen zu schaffen, die frei von potenzieller Gewalt sind. Zonen der persönlichen Sicherheit und Unbesorgtheit. Wer sich entschließt, ein kriminelles Leben in kriminellen Zonen zu führen, der wird das auch weiterhin tun. Doch auch dort werden wir eingreifen, falls erforderlich. Aber aus meiner Sicht ist unser Kunde der rechtschaffene, gesetzestreue Bürger, der sein Leben angstfrei führen möchte und ohne mit Gewalt konfrontiert zu werden. Unsere Aufgabe ist es, ihm zu Diensten zu sein.«
Am Ende seiner Rede gab es Beifall, aber auch so manches Grinsen und Feixen. Saban stieg von seinem Podium und legte Avraham, der am Tisch mit den Softdrinks stand, die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm zu: »Schön, dass Sie gekommen sind. Wie war ich?«
Danach traf Avraham endlich Eliyahu Maalul, der meinte: »Was ist los, Avi, hast du abgenommen? Du siehst aus wie ein neuer Mensch.«
Avraham bemühte sich, nicht einzuschlafen, bevor er mit Marianka gesprochen hätte, aber die Augen fielen ihm immer wieder zu. Er rief Marianka mehrere Male an, aber ihr Telefon war abgeschaltet, und irgendwann gab er es auf.
Im Traum wirbelte er Bruchstücke von Sätzen aus Sabans Rede durcheinander und ließ sie aus dem Mund von Amos Usen im Vernehmungsraum kommen. Usen sah ihn mit seinen schwarzen Äuglein an und sagte auf Englisch: »Mein Ziel ist es, in Las Vegas möglichst viele gewaltfreie Zonen zu schaffen.«
Um drei Uhr morgens wachte er in seinem Sessel auf dem Balkon auf, verstört und am ganzen Körper klebrig von Schweiß. Er zog das Unterhemd aus und ging ins Bad, um sich zu waschen. Dabei hatte er das Gefühl, wenn er jetzt aus dem Fenster schaute, könnte er die Person mit dem Koffer sehen, die durch die Dunkelheit hinkte, aber auf der Straße war nicht eine Menschenseele.
Erst am Abend, als er sie ins Bett brachte, begriff Chaim Sara, dass das, was am Morgen geschehen war, die Kinder mehr verstört hatte, als sie zeigten. Eser lag im oberen Bett auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Er starrte mit offenen Augen an die Decke und wartete darauf einzuschlafen. In den letzten Nächten war Chaim klargeworden, dass sein älterer Sohn tatsächlich so einschlief, und das bereitete ihm Unbehagen. Der Kleine war unruhiger als in den vorangegangenen Nächten und warf sich auf dem unteren Bett hin und her, kämpfte mit der Decke, mit dem Kopfkissen, stieß mit seinen kurzen Beinen gegen das Bettgitter. Chaim nahm an, dass die Hitze ihm zusetzte.
Er brachte die Jungen jetzt seit ein paar Tagen ins Bett, und bis zu diesem Abend hatten sie nicht nach Jenny gefragt. Hatten sich mit den wenigen Worten begnügt, die er ihnen in der ersten Nacht gesagt hatte. Und sie hatten auch nicht geweint.
Er saß auf einem niedrigen blauen Plastikstuhl neben ihrem Bett und wartete schweigend darauf, dass sie einschliefen. Im Zimmer war es nicht vollkommen dunkel. Die Sonnenblenden standen wegen der Hitze und der Luftfeuchtigkeit auf Durchzug, und das Spiel der Lichter, die in den Wohnungen des Nachbarhauses angingen und erloschen, setzte sich auf den Wänden und dem Fußboden fort. Im Zimmer gab es keine Klimaanlage.
Plötzlich wälzte sich der Kleine auf die Seite, drehte ihm den Rücken zu und fragte: »Warum bringt Mama uns nicht ins Bett?«
Chaim hörte aus der Frage kein Anzeichen von Sehnsucht heraus und verband sie noch immer nicht mit dem, was geschehen war. Er antwortete: »In ein paar Tagen macht sie das wieder.« Und der Junge warf sich nicht mehr unruhig hin und her. Nach ein paar Minuten war er eingeschlafen. Chaim war sich sicher, auch Eser würde schlafen, aber als er von seinem Stuhl hochkam, schlug Eser die Augen auf. »Warum schläfst du noch nicht?«, fragte er ihn. Eser antwortete nicht. Den ganzen Nachmittag über hatte er auch kein Wort herausgebracht. Hatte stundenlang vor dem Fernseher gesessen mit wachsamem, misstrauischem Blick.
Chaim ließ sich wieder auf den blauen Plastikstuhl sinken und wartete weiter. Plötzlich hörte er von oben Esers Stimme: »Ich weiß, wer den Koffer vor Schaloms Kindergarten verloren hat.«
Da er sich nicht sicher war, ob er richtig verstanden hatte, fragte Chaim seinen Sohn: »Welchen Koffer?«
»Den Koffer, den irgendjemand verloren hat. Wegen dem Schaloms Kindergarten geschlossen war.«
Das war es, was Chaim ihnen am Morgen erzählt hatte.
Er musste etwas sagen, als sie bei der Lawon-Straße ankamen und feststellten, dass sie abgesperrt war. An der Straßenecke Lawon und Aharonowitsch hatte sich eine Menschenmenge gebildet, und Chaim sah die Eltern einiger Kinder aus dem Kindergarten, unter ihnen auch den jungen Vater mit Brille, der seinen kleinen Sohn auf dem Arm hatte. Ein Streifenwagen der Polizei stand quer auf der Fahrbahn, und zu beiden Seiten hinderten Polizisten Passanten daran, die Straße zu überqueren. Aber es dauerte einige Zeit, bis Chaim eine Erklärung erhielt. Er stand wie erstarrt und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Ja, er war so über den Anblick der Polizisten erschrocken, dass er seine Söhne ganz vergaß. Als Erstes kam ihm in den Sinn, dass er zurück in die Wohnung musste. Für einen Moment meinte er, den Schlüssel in der Tür stecken gelassen zu haben, aber als er seine Hose abtastete, konnte er den Bund in der Tasche fühlen. Er fasste die beiden Jungen fest an den Händen und sagte: »Kommt, wir drehen um.«
Aber eine junge Frau, die neben ihnen stand, meinte: »Warum, die machen gleich auf.« Und der Weg nach Hause war ihnen versperrt.
Auf der anderen Straßenseite sah er die Kindergärtnerin mit zwei Polizeibeamten sprechen. Und plötzliche Aufregung. Zwei Polizisten rannten los.
Sie warfen sich auf einen jungen Mann, und einer der beiden Polizisten zwang ihn bäuchlings auf den Gehweg, drückte ihm ein Knie in den Rücken und bog seinen Arm nach hinten. Jemand aus der Menge meinte danach: »Kann sein, dass er es war.«
Aber das beruhigte Chaim nicht. Er ergriff erneut die Hände der Jungen und sagte: »Wir gehen zuerst zu Esers Schule.« Um der Kindergärtnerin nicht zu begegnen, wechselten sie auf die andere Seite der Aharonowitsch und folgten der Straße, bogen dann nach rechts in die Straße der 2. Aliya ab und von dort in die Arlosorov. Chaim Sara ging schnell und zog die Kinder hinter sich her. Er dachte nicht daran, dass seine Eile sie ängstigen könnte. Schalom fragte immer wieder: »Gehe ich heute nicht in den Kindergarten?«
Erst als sie vor dem Schultor standen, erklärte er ihnen, dass jemand einen Koffer vor dem Kindergarten verloren habe und die Polizisten jetzt nach ihm suchten, um ihm den Koffer zurückzugeben. Bald würden sie ihn gefunden haben, und der Kindergarten könne öffnen. Die Angst war verflogen, und den Tag über dachte er nicht mehr an den Vorfall. Auch am Nachmittag sprachen sie nicht darüber, aber offenbar waren die Kinder verstörter, als er angenommen hatte. Vermutlich war Schalom deshalb auch nervöser als sonst.
Chaim stand wieder von dem Stuhl auf, und sein Gesicht war jetzt auf der Höhe von Esers Bett. Er fragte ihn: »Wer hat den Koffer verloren?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Eser. Auch dabei blieb er weiter reglos auf dem Rücken liegen und starrte an die Decke.
»Woher weißt du denn, wer ihn verloren hat?«, fragte Chaim, und Eser zögerte, ehe er leise entgegnete: »Mein früherer Papa hat es mir gesagt.«
Chaim zuckte zusammen. In den zurückliegenden Wochen hatte Eser immer wieder von seinem vorherigen Papa gesprochen, und jedes Mal, wenn er ihn erwähnte, war Chaim ein Schauder über den Rücken gelaufen.
»Und was hat er dir gesagt?«
»Dass das streng geheim ist.«
Chaim war unschlüssig, ob er das Gespräch noch weiterführen oder den Jungen in Ruhe lassen sollte. Schalom bewegte sich unruhig in seinem Bett, und er wollte nicht, dass er aufwachte. Er flüsterte: »Und woher weiß er das?« Aber Eser antwortete nicht. Seine Augen waren geschlossen.
Während er das Geschirr abwusch, das er nach dem Abendessen in die Spüle gestellt hatte, und die Küche für die Arbeit vorbereitete, dachte Chaim über das Gespräch im Kinderzimmer nach. Was ihn belastete, war, dass Eser den früheren Papa brauchte, weil er selbst, wie Jenny ihm mehrfach vorgehalten hatte, seinem Sohn nicht genügte. Weil er nicht genug sprach. Vielleicht, weil er zu alt war. Nicht stark genug war. Er wusste, dass er nicht ausreichend mit den Jungen redete, vor allem mit Eser nicht, und dass das eine der Sachen war, die er würde ändern müssen. Und er musste stärker sein. Durfte keine Angst oder Schwäche zeigen. Musste ihnen das Gefühl geben, dass er sie beschützte. Was er vergangene Woche, ohne Erfolg, in Schaloms Kindergarten zu tun versucht hatte.
Das Küchenfenster stand offen, und Geräusche von der Straße drangen herein. Autos fuhren unter dem Fenster vorüber, und das Heulen eines Krankenwagens war zu hören. Die Angst kam und ging, unkalkulierbar.
Das wird noch lange so sein, dachte er.
Die Sache mit dem Koffer vor dem Kindergarten war Pech, aber wenn ein Verdächtiger festgenommen worden war, wurden die Ermittlungen vielleicht eingestellt.
Er wusste, dass sie gut ohne Jenny zurechtkommen würden, auch wenn es nach wie vor Probleme gab, für die sich noch keine Lösung gefunden hatte. Vor allem ging es um die Nächte. Er klaubte die schmutzige Wäsche zusammen, die im Bad lag, und wischte den nassen Fußboden mit einem Lappen. Die Socken rochen noch nicht, sodass er sie zusammenfaltete und auf die kleinen Schuhe an der Tür legte. Die Hosen und T-Shirts stopfte er in die Maschine.
Bis um zehn spielten sie im Radio Musik, und nach den Nachrichten begann das Programm mit den Höreranrufen.
Jenny hatte um diese Zeit meist schon geschlafen oder im Wohnzimmer gesessen, hatte sich Filme im Fernsehen angeschaut und sein Vorhandensein ignoriert. Jetzt war er allein, drehte das Radio aber dennoch nicht lauter, um die Kinder nicht aufzuwecken. Er schnitt Zwiebeln und rote Paprika in feine Würfel und tat sie in eine Schüssel, dann gab er den Inhalt von zehn Konservenbüchsen Tunfisch dazu und verrührte alles mit ein paar Löffeln Mayonnaise und Senf. Danach presste er eine ganze Zitrone über der Schüssel aus und streute Pfeffer und Salz darüber.
Im Radio erzählte eine Frau aus Be’er Scheva, wie sie ihre Krebserkrankung besiegt hatte. Nachdem die Ärzte alle Hoffnung aufgegeben hätten, habe sie sich an einen Rabbiner aus Ofakim gewandt, damit er sie segne, und allein dieser Rabbiner habe ihr geholfen. Der Moderator im Studio sagte: »Dann benötigen Sie ja im Grunde genommen gar keine Hilfe mehr. Ich verstehe nicht, warum Sie angerufen haben.«
Die Frau antwortete darauf: »Ich habe angerufen, um anderen zu helfen und dem Volk Israel ein gutes neues Jahr zu wünschen.«
Der Moderator weigerte sich, sie die Telefonnummer des Rabbiners in der Sendung angeben zu lassen, und schaltete zum nächsten Anrufer, der seinen Sohn bei einem Verkehrsunfall verloren hatte. Chaim schnitt Tomaten in dünne Scheiben und Gurken in Streifen und legte sie auf zwei Teller. Inzwischen waren die Eier im Topf auf dem Herd hart geworden. Er schnitt fünf in die Schüssel mit dem Tunfisch und bereitete danach in einer zweiten Schüssel den Eiersalat zu. Der nächste Zuhörer war ein Mann, der sich weigerte, seinen Namen zu nennen. Seine Frau habe ihn ausgerechnet zu dem Zeitpunkt verlassen, als er an Zucker erkrankt sei, habe ihn mit einem Kollegen betrogen. Chaim konnte sich die schreckliche Geschichte nicht anhören und schaltete das Radio aus. Einige Minuten lang arbeitete er in vollkommener Stille.
Der vorherige Vater ließ ihm keine Ruhe.
Was genau meinte Eser, wenn er sagte, er habe mit ihm gesprochen?
Hätte er nicht diese Scheu vor Gesprächen gehabt, hätte er jetzt beim Sender anrufen und um Rat bitten können, aber das kam nicht infrage. Er wusste, dass Kinder nicht schweigend groß werden können, dennoch war es ihm gelungen, seinen Jungen nicht eben wenig mitzugeben, auch ohne viele Worte zu machen. Schalom hing seit der Geburt an ihm, und auch Eser hatte sich, bis vor ein paar Monaten, gern in seiner Nähe aufgehalten und diese gesucht. Erst in letzter Zeit hatte er sich von ihm entfernt und war verschlossen geworden, ihretwegen.
Er musste an seinen Vater denken, während er die Bewegung seiner geschickten Finger verfolgte. Wie er hatte sein Vater es immer vermieden, viel zu sprechen. Von Beruf war er Schneider gewesen, hatte es aber nicht immer vermocht, von seinem Geschäft zu leben, und deshalb auch mit Stoffen gehandelt oder in Nähereien gearbeitet. Chaim hatte seinen Vater beständig rauchend in Erinnerung. Immer mit einer Zigarette zwischen den Lippen. Und an die geschickte Bewegung seiner Finger, wenn sein Vater nähte, erinnerte er sich auch. Was noch? Dass er am Freitagabend stets in die Synagoge gegangen war, ebenso am Schabbatmorgen und zu den Feiertagen. Dass er groß und hager gewesen war und sehr stattlich in seinen Kleidern. Zu den Feiertagen hatte er immer Anzug getragen. Wenn die Kinder wach wurden, war er immer schon auf, angekleidet und rasiert. Und er hatte langsam gekaut. Das Abendessen immer erst nach seiner Frau und den Kindern beendet. In lauschigen Nächten hatte er vor dem Haus in Nes Ziona gesessen, hatte geraucht und Radio gehört. Er starb, als Chaim in der Schule war, im Monat Nisan war das. Aus irgendeinem Grund wurde niemand losgeschickt, um Chaim zu informieren und ihn abzuholen. Erst als er nach der Schule nach Hause kam, erfuhr er es. Er war acht damals, und wie sie ihm erzählt hatten, hatten sie ihn einige Nächte danach zum ersten Mal im Hof schlafwandelnd und mit sich selbst redend gefunden. Als Eser geboren wurde, war klar, dass er nach seinem Vater benannt werden würde.
Um elf hatte er seine Arbeit in der Küche beendet und rief seine Mutter von dem Apparat im Schlafzimmer aus an. Er fragte, wie es ihr gehe, und sie sagte, die Beine seien geschwollen. »Hast du viel gestanden heute?«, fragte er.
»Nein, ich habe gesessen.«
Er bat, sie solle sich mehr ausruhen. Nach Möglichkeit nicht stehen, wenn sie nicht müsse. Sie fragte ihn, was sein Bein mache, und er sagte, es sei schon viel besser. Dann fragte er: »Hat dich jemand besucht?«
Und sie antwortete: »Adina.«
»Was wollte sie?«
»Sehen, wie es mir geht.«
Einen Augenblick lang schwiegen sie, aber das machte sie beide nicht verlegen. Die Gespräche mit seiner Mutter kosteten ihn keine Anstrengung. Für gewöhnlich redete sie, und er hörte zu und antwortete hin und wieder. Sie wartete im Bett auf seinen Anruf, und erst danach würde sie den Fernseher und das Licht im Zimmer ausschalten und versuchen einzuschlafen. Auch ihre Nächte waren nicht selten schlaflos, und zuweilen machte sie kein Auge zu, bis der Morgen graute. Schließlich fragte sie: »Wie geht es den Kindern?«
»Sind eingeschlafen«, entgegnete er.
»Hast du ihnen schon gesagt, dass sie gefahren ist?«
»Nicht zu viel auf einmal. Ich warte noch ein bisschen.«
»Auf was wartest du denn? Sag es ihnen endlich, damit sie sich daran gewöhnen.«
Er antwortete nicht.
»Und wie läuft es mit dem Haushalt? Vielleicht sage ich Adina, sie soll vorbeikommen, um dir zu helfen?«
Er erklärte, das sei nicht nötig, und nach erneutem Schweigen fragte sie: »Hast du noch einmal mit Schaloms Kindergärtnerin gesprochen?«
Es gab Dinge, die erzählte er ihr nicht, damit sie sich keine Sorgen machte, aber von dem Zwischenfall mit der Kindergärtnerin hatte er ihr berichtet, und sie hatte ihn unterstützt und seinen Ausbruch verstanden.
Über die Bombenattrappe neben dem Kindergarten verlor er kein Wort, da er wusste, wenn er ihr davon erzählte, würde sie nicht schlafen können. Er sagte: »Habe ich nicht geschafft. Wir waren zu spät beim Kindergarten.«
»Hast du ihn gefragt, wie es war?«
»Heute war es besser«, log er.
Und sie sagte: »Siehst du? Nur weil du laut geworden bist. Alles geht nur mit Schreien.«