Vermisst - Dror Mishani - E-Book

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Dror Mishani

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Beschreibung

Cholon bei Tel Aviv: Der 16-jährige Ofer ist verschwunden. Inspektor Avi Avraham glaubt zunächst nicht an ein Verbrechen, aber von dem Jungen fehlt jede Spur. Ein aufdringlicher Lehrer, der Ofer Nachhilfestunden gegeben hat, scheint mehr zu wissen, als er zugibt ... Avi Avrahams erster Fall entpuppt sich als Familientragödie, in der es nicht nur ein Opfer zu beklagen gibt.

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Dror Mishani

Vermisst

Ein Fall für Avi Avraham

Roman

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Diogenes

Für Martha

»Wie sie sich gefunden hatten? Durch Zufall, wie man sich so findet.«

Denis Diderot, Jacques der Fatalist und sein Herr

1

Vor ihm saß eine Mutter. Schon wieder.

In diesem Bereitschaftsdienst hatte er schon zwei Mütter gehabt. Die erste war zu jung und zu schön gewesen. Sie trug ein weißes Stretchshirt, und ihre Schlüsselbeinknochen waren hinreißend. Sie erstattete Anzeige, weil ihr Sohn in der Nähe des Schulgeländes verprügelt worden sei, und er lauschte ihr geduldig und versicherte, der Anzeige werde ernsthaft nachgegangen. Die zweite Mutter hatte verlangt, die Polizei möge einige Beamte abstellen, um ihre Tochter zu beschatten und herauszufinden, warum sie am Telefon flüsterte und nachts die Tür zu ihrem Zimmer abschloss.

In letzter Zeit waren bei all seinen Diensten Leute wegen ähnlich abstruser Anzeigen gekommen. Vor einer Woche hatte eine Frau gemeldet, ihre Schwiegertochter habe sie mit einem Fluch belegt. Er war überzeugt davon, dass seine Kollegen auf der Straße Leute angehalten und sie gebeten haben mussten, abwegige Anzeigen zu erstatten, um sich einen Scherz mit ihm zu erlauben. Bei den Bereitschaftsdiensten der anderen Ermittler kam so etwas nie vor.

 

Es war zehn nach sechs, und hätte es in Avraham Avrahams Büro ein Fenster gegeben, hätte er gesehen, dass es draußen bereits dunkel wurde. Er wusste, was er sich auf dem Nachhauseweg zum Abendessen kaufen und was er sich im Fernsehen anschauen würde, während er aß. Aber vorher musste er erst diese dritte Mutter beruhigen. Er starrte auf den Bildschirm. Wartete auf den passenden Augenblick. Und fragte dann: »Wissen Sie, warum es keine Kriminalromane auf Hebräisch gibt?«

»Bitte?«

»Warum gibt es hierzulande keine Kriminalromane? Warum werden in Israel keine Bücher geschrieben wie beispielsweise die von Agatha Christie?«

»Ich kenne mich mit Büchern nicht besonders aus.«

»Dann werde ich es Ihnen sagen. Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraf‌täter, die auf der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften. Einen großen Unbekannten gibt es bei uns einfach nicht. Die Erklärung ist immer die am nächsten liegende. Damit will ich Ihnen sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Ihrem Sohn etwas zugestoßen ist, äußerst gering ist. Und ich sage das nicht, um Sie zu beruhigen, die Statistik sieht nun einmal so aus, und wir haben keinerlei beunruhigende Anzeichen, die darauf hindeuten, dass es in seinem Fall anders sein könnte. In einer Stunde oder vielleicht auch erst in drei wird er wieder zu Hause sein, im äußersten Fall morgen früh, das versichere ich Ihnen. Das Problem ist, würde ich Ihren Sohn jetzt als vermisst aufnehmen, müsste ich umgehend Beamte auf die Straße schicken, damit sie nach ihm suchen. So sind die Vorschriften. Und ich sage Ihnen aus Erfahrung: Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er in einem Zustand aufgefunden würde, in dem Sie ihn nicht der Polizei präsentieren möchten. Was mache ich, wenn er mit einem Joint überrascht wird? Dafür gibt es Vorschriften, ich muss ein Strafverfahren wegen Drogenmissbrauchs gegen ihn einleiten. Daher denke ich, es hat keinen Sinn, jetzt mit Suchmaßnahmen zu beginnen, es sei denn, Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen, dass ihm etwas passiert ist, und Sie können mir wenigstens einen Anhaltspunkt geben, warum Sie das glauben. Ist dem so, nehmen wir jetzt gleich eine Vermisstenanzeige auf und beginnen mit der Suche. Wenn nicht, sollten wir bis morgen früh abwarten.« Er musterte sie, um abzuschätzen, welchen Eindruck seine Rede auf sie gemacht hatte. Sie wirkte verloren. Schien es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Oder auf etwas zu beharren.

»Ich weiß nicht, ob ihm etwas passiert ist«, meinte sie schließlich. »Das sieht ihm einfach nicht ähnlich, so zu verschwinden.«

 

Eine Viertelstunde war verstrichen, und noch immer saßen sie einander in seinem kleinen Zimmerchen gegenüber. Seit fünf hatte er keine Zigarettenpause mehr gemacht. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag seine Schachtel Time und darauf ein kleines, schwarzes BIC-Feuerzeug. Außerdem hatte er in beiden Hosentaschen und in der Brusttasche seines Hemdes Feuerzeuge.

»Lassen Sie uns noch einmal die wesentlichen Fakten durchgehen und zusammenfassen, was Sie tun, wenn Sie nach Hause kommen und er noch nicht zurück ist. In Ordnung? Sie haben erklärt, er sei zur Schule gegangen wie gewöhnlich. Um wie viel Uhr, sagten Sie? Um zehn vor acht?«

»Ich hab nicht auf die Uhr geschaut, das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Aber so wie jeden Morgen, vielleicht um Viertel vor acht.«

Er schob die Tastatur beiseite und schrieb mit einem einfachen Einwegkugelschreiber, den er in seiner Schublade fand, kurze Sätze auf einen glatten Bogen Papier. Den Stift hielt er dicht oberhalb der Spitze umklammert, mit allen Fingern. Zeige- und Ringfingerspitze waren schon blau verschmiert.

»Also, der genaue Zeitpunkt ist nicht so wichtig. Hatte er einen gewöhnlichen Rucksack dabei? Ist Ihnen aufgefallen, dass er etwas Ungewöhnliches mitgenommen haben könnte, war der Rucksack besonders groß, oder fehlen vielleicht Kleidungsstücke aus seinem Schrank?«

»Ich hab nicht in seinem Schrank nachgeschaut.«

»Und wann haben Sie festgestellt, dass er sein Mobiltelefon nicht bei sich hat?«

»Irgendwann tagsüber, als ich sein Zimmer geputzt habe.«

»Putzen Sie jeden Tag sein Zimmer?«

»Bitte? Nein, nicht jeden Tag. Nur manchmal, wenn es schmutzig ist.«

Auf ihn wirkte sie allerdings wie eine, die jeden Tag putzte. Obwohl sie schmächtig war, kleine Hände hatte. Mit gekrümmtem Rücken saß sie auf der Stuhlkante, auf den Knien eine abgewetzte schwarze Ledertasche. Mit der einen Hand hielt sie die Tasche fest, und mit der anderen hatte sie ein kleines Mobiltelefon umklammert, ein betagtes blaues Samsung-Modell. Dabei war diese vom Leben gebeugte Mutter, die einen sechzehnjährigen Sohn hatte, genau genommen in seinem Alter, vielleicht zwei Jahre älter als er. Aber nicht älter als vierzig. All dies notierte er jedoch nicht, weil es so absolut ohne jede Bedeutung war.

»Das Telefon war abgeschaltet, nicht wahr? Das sagten Sie?«

»Ja, es war aus. Es lag auf seinem Schreibtisch.«

»Und haben Sie es eingeschaltet?«

»Ich hab’s nicht angemacht. Denken Sie, ich hätte es anmachen sollen?«

Das war die erste Frage, die sie an ihn richtete. Ihre Finger schlossen sich fester um die Tasche, und ihm schien, als hörte er ein Erwachen in ihrer Stimme. Als hätte er ihr gesagt, sobald sie das Telefon einschaltete, würde es klingeln und ihr Sohn wäre am Apparat und würde versichern, auf dem Weg nach Hause zu sein.

»Ich weiß nicht. Auf jeden Fall empfehle ich Ihnen, es einzuschalten, sobald Sie wieder zu Hause sind.«

»Als ich das Telefon gefunden hab, hab ich sofort ein schlechtes Gefühl gehabt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er irgendwann mal sein Telefon vergessen hätte.«

»Ja, das erwähnten Sie bereits. Seinen Schulkameraden haben Sie erst am Nachmittag angerufen, richtig?«

»Bis vier hab ich gewartet, weil er sich manchmal ein bisschen verspätet, und mittwochs haben sie einen langen Tag, da kommt er immer so um drei, halb vier. Um vier hab ich angerufen.«

»Und glauben Sie seinem Schulfreund?«

Sie antwortete mit einem »Ja«, das entschieden begann und dann zögerlich geriet.

»Meinen Sie etwa, er hat gelogen? Er hat doch gehört, dass ich mir Sorgen mache.«

»Ich weiß nicht, ob er gelogen hat, Verehrteste, ich kenne den Jungen nicht. Ich weiß nur, dass bei Freunden manchmal einer den anderen deckt, und wenn Ihr Sohn beschlossen hat, heute die Schule zu schwänzen und nach Tel Aviv zu fahren, um sich zum Beispiel eine Tätowierung machen zu lassen, dann könnte er seinen besten Freund eingeweiht und ihn gebeten haben, niemandem etwas davon zu erzählen.«

Hätte ich das so gemacht?, fragte er sich und wusste nicht, ob Schüler noch immer den Ausdruck »schwänzen« verwendeten. Vielleicht weil die Mutter wie erstarrt dasaß und so verschreckt vor einem Beamten in Uniform wirkte, vielleicht aber auch, weil es schon spät war, erzählte er ihr nicht, dass er auf dieselbe Schule gegangen war. Er hatte die Morgen noch gut in Erinnerung, an denen er zur Bushaltestelle am Anfang der Shenkar-Straße gegangen war und auf die Linie 1 oder 3 gewartet hatte, um nach Tel Aviv zu fahren, statt in die Schule zu gehen. Niemandem hatte er damals davon erzählt, auch nicht seinen wenigen Freunden. Für den Fall, dass er einer der Lehrerinnen über den Weg laufen würde, hatte er sich eine glaubwürdige Geschichte zurechtgelegt.

»Warum sollte er irgendwohin fahren und nichts sagen? So was hat er noch nie gemacht.«

»Vielleicht ist dem so, vielleicht auch nicht, nachfragen lohnt sich. Sollte er nicht zu Hause sein, wenn Sie zurückkommen, schlage ich vor, dass Sie noch einmal mit dem Freund und vielleicht auch mit anderen Freunden von ihm sprechen und herausfinden, ob es Orte gibt, wo er manchmal hinfährt. Vielleicht hat er eine Freundin, von der Sie nichts wissen, oder vielleicht einen anderen Grund. Und versuchen Sie, sich zu erinnern: Kann es sein, dass er erwähnt hat, Pläne für Mittwoch zu haben? Vielleicht hat er Ihnen etwas erzählt, und Sie haben es vergessen?«

»Was für Pläne denn? Er hat mir gar nichts gesagt.«

»Und was ist mit seinen Geschwistern? Vielleicht hat er denen etwas erzählt, das uns beruhigen könnte? Oder anderen Verwandten, einem Cousin etwa oder seinem Großvater?«

Ihm schien, als weckte die Frage erneut etwas in ihr, den Anflug eines Gedankens, aber nur für einen kurzen Moment. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Sie war auf dem Polizeirevier erschienen, weil sie gehofft hatte, jemand würde an ihrer Stelle die Verantwortung für ihren Sohn übernehmen und mit der Suche beginnen, und jetzt brachte sie die Unterredung durcheinander. Eigentlich hätte sie gar nicht hier sitzen sollen. Wäre ihr Mann im Land, würde er in Avraham Avrahams Verschlag sitzen und nicht sie. Er würde telefonieren, drohen und versuchen, Kontakte spielen zu lassen. Sie aber wurde einfach wieder nach Hause geschickt, versehen mit Anweisungen, wie sie selbst weiter nach ihrem Sohn suchen sollte, und der Beamte, der hier vor ihr saß, sprach über den Jungen, als wäre von einem anderen die Rede. Die Tatsache, dass er angefangen hatte, den Plural zu verwenden, damit sie nicht das Gefühl hatte, allein mit ihrer Sorge zu sein, half auch nicht. Er überlegte, dass sie sicher wollte, dass dieses Gespräch bald beendet wäre, gleichzeitig aber keinen Drang verspürte, wieder nach Hause zu gehen. Er hingegen wollte nichts lieber als das. Dennoch schrieb er, ohne dass sie es lesen konnte, »Ofer Sharabi« oben auf das Blatt und unterstrich den Namen mit zwei krakeligen Linien.

»Mit seinen Geschwistern spricht er kaum«, erklärte sie. »Sein Bruder ist erst fünf, und mit seiner Schwester ist er nicht so eng.«

»Schaden kann es trotzdem nicht. Davon abgesehen, haben Sie Computer zu Hause?«

»Einen. In seinem Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilt.«

»Gut, dann wäre da noch etwas, das Sie tun können. Lesen Sie seine E-Mails, sehen Sie auf seiner Facebook-Seite nach, falls er eine hat. Vielleicht hat er an irgendjemanden etwas geschrieben, das uns helfen kann, uns keine Sorgen mehr zu machen. Wissen Sie, wie man das macht?«

Er sah ihr an, dass sie nicht vorhatte, irgendetwas in der Art zu tun. Warum hatte er überhaupt davon angefangen? Sie würde nach Hause gehen und warten. Jedes Telefonklingeln und jeder Laut aus dem Treppenhaus würden sie aufschrecken. Und selbst wenn ihr Sohn heute Nacht nicht wiederauf‌tauchte, würde sie nichts unternehmen. Sie würde warten bis zum Morgen und dann wieder auf dem Revier erscheinen, gekleidet in dieselben Sachen, die sie die Nacht über nicht ausgezogen hätte. Würde wieder vor ihm sitzen. Vielleicht würde sie erneut ihren Mann anrufen, aber der würde ihr nicht helfen können.

Sie schwieg und reagierte nicht auf seinen Vorschlag. Entweder weil sie beleidigt war, oder weil sie sich schämte zuzugeben, dass sie tatsächlich nichts von dem verstand, was er empfohlen hatte.

»Sehen Sie, Verehrteste, ich versuche wirklich zu helfen. Gegen Ihren Sohn liegt nichts vor, und Sie sagen, er sei in nichts verwickelt. Normale Kinder verschwinden nicht. Sie können beschließen, nicht zur Schule zu gehen, für ein paar Stunden von zu Hause wegzulaufen. Oder sie schämen sich, gehen, weil ihnen irgendetwas passiert ist, von dem sie das Gefühl haben, es sei schrecklich und unverzeihlich, obwohl es sich in der Regel um eine Bagatelle handelt. Und deswegen gehen sie nicht nach Hause. Aber sie verschwinden nicht. Ich versuche, Ihnen ein mögliches Drehbuch zu zeichnen: Ihr Sohn hat beschlossen, heute nicht zur Schule zu gehen, weil er eine wichtige Prüfung hatte und nicht richtig vorbereitet war. Wissen Sie, ob er eine Prüfung hatte? Vielleicht sollten Sie seinen Klassenkameraden danach fragen. Also, er war nicht vorbereitet, und weil er normalerweise gute Noten bekommt und seine Eltern nicht enttäuschen wollte, ist er nicht in die Schule gegangen und stattdessen durch die Straßen gelaufen oder in irgendein Einkaufszentrum gefahren. Dort hat ihn dann eine Lehrerin oder irgendjemand anders gesehen, der Sie kennt, woraufhin er in Panik geraten ist, da jetzt sicher die ganze Welt weiß, dass er die Schule geschwänzt hat, und deshalb traut er sich nicht nach Hause. Solche Sachen passieren. Wenn Sie mir also nicht irgendetwas über ihn verschweigen, haben Sie keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

Ihre Stimme bebte: »Was hab ich denn zu verschweigen? Ich möchte, dass Sie ihn finden. Er kann doch ohne sein Telefon nicht anrufen …«

Das Gespräch führte zu nichts. Er musste dem ein Ende machen. Avraham Avraham seufzte und sagte dann: »Ihr Mann ist erst in einigen Tagen zurück?«

»In zwei Wochen. Er ist auf einer Schiffsreise nach Triest. In vier Tagen kann er erst von Bord, wenn sie das erste Mal vor Anker gehen.«

»Er wird nirgendwo von Bord gehen müssen. Wo sind Ofers Geschwister jetzt gerade?«

»Bei der Nachbarin.«

Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal während ihrer Unterredung den Namen des Jungen laut ausgesprochen hatte. Ofer. Ein so gefälliger Name, dass er seinen eigenen Vornamen sofort gegen den des Jungen eintauschte, wie er es immer tat, wenn er schöne Namen hörte. In seinem Kopf echote bereits der Name, den er nie haben würde: Ofer Avraham. Inspektor Ofer Avraham, Oberinspektor Ofer Avraham. Der Generalkommandeur der Polizeikräfte, Ofer Avraham, hat heute aus persönlichen Gründen seinen Rücktritt bekanntgegeben.

»Ich schlage vor, Sie kehren jetzt zu Ihren Kindern zurück, und ich verspreche Ihnen, dass wir uns morgen nicht wiedersehen werden. Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, dass man Sie morgen früh anruft und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt.«

Er legte den Stift auf den Bogen Papier und drückte den Rücken gegen die Lehne seines Schreibtischstuhls. Sie stand nicht auf. Solange er ihr nicht ausdrücklich sagen würde, dass ihr Gespräch beendet sei, würde sie nicht gehen. Vielleicht wäre es ja trotz allem möglich, ihr noch ein paar Fragen zu stellen, sie wollte um keinen Preis allein zu Hause sitzen.

Erst jetzt bemerkte Avraham Avraham, dass er unbewusst während des Gespräches unten auf das Blatt Papier eine blaue Gestalt gekritzelt hatte – ein Strichmännchen, das die Arme in die Höhe streckte –, und um den Kreis, der den Kopf darstellte, war etwas geschlungen, das wie ein Seil aussah, aus dem blaue Blutstropfen quollen. Oder sollten es Tränen sein? Obgleich er keinen Grund hatte, bedeckte er die Zeichnung mit der Hand, die Finger übersät von blauen Kugelschreiberflecken.

 

Der Himmel über der Polizeistation und dem Technologischen Institut war fast vollständig schwarz, als er, kurz nach sieben, das Gebäude verließ. In der Fichmann bog er nach rechts ab und in der Golda-Meir dann nach links, mischte sich unter die Marschierenden auf der langen Walkingstrecke, die das Viertel Neve Remez mit Kiryat Sharet verband, und versuchte, sich nicht zu einem sportiven Tempo hinreißen zu lassen. Langsamer, langsam. Es war ein angenehmer Abend, Anfang Mai. In den kommenden Monaten würde es nicht mehr viele solcher Abende geben.

Weil er langsam ging, bildete sich hinter ihm eine Schlange von Walkern, die meisten zwanzig oder dreißig Jahre älter als er, in Shorts und kurzärmligen Laufshirts. Sie drosselten ihr Tempo, zögerten einen Moment, ehe sie auf den Sandstreifen ausscherten, mit schnellen Schlurfschritten den Polizeibeamten in Uniform überholten und auf die asphaltierte Strecke zurückkehrten. Eine Frau, die seine Mutter hätte sein können, streif‌te ihn am Arm, drehte sich um und keuchte: »Entschuldigung.«

Mit einem Mal schlug der Verkehrslärm der nahen Schnellstraße an seine Ohren, als hätte jemand ihm Stöpsel herausgezogen. Avraham Avraham wurde bewusst, dass er einige Minuten lang offenbar nichts gehört, nur sich selbst gelauscht hatte, einem inneren Dialog. Diese Frau ließ ihm keine Ruhe. Er musste an den Mordfall Annabelle Amram denken. In dem Urteilsspruch in ihrer Sache, der sämtlichen Polizeibeamten im Land als E-Mail-Anhang zugestellt worden war, war das Gericht zu der Feststellung gekommen, die Polizeiorgane hätten bei der Suche nach ihr geschlampt und seien mitverantwortlich für ihren Tod. Aber die Umstände waren vollkommen andere gewesen. Der Sohn dieser Frau, die ihm vorhin gegenübergesessen hatte, war nicht nachts verschwunden, und es gab auch keinerlei anderen Anhaltspunkt, der ihn dazu verpflichtet hätte, umgehend eine umfangreiche und kostspielige Suchaktion zu veranlassen. Ja, Avraham Avraham hatte sich sogar, in Gegenwart der Mutter, die Mühe gemacht und in den Krankenhäusern der Umgebung nachgefragt, ob bei ihnen ein Junge eingeliefert worden sei, der auf den Namen Ofer Sharabi hörte oder auf den seine Beschreibung passte. Und vor Verlassen des Reviers hatte er darum gebeten, dass jede irgendwie relevante Meldung an ihn weitergeleitet würde und man ihn, wenn es sein musste, auch mitten in der Nacht anriefe. Er hatte die Mutter instruiert, was sie selbst noch weiter unternehmen konnte, und hatte dem wachhabenden Beamten eine Beschreibung des schwarzen Rucksacks mit den weißen Streifen, eine Adidas-Kopie, dagelassen – vielleicht würde er in irgendeiner Meldung über verdächtige Gegenstände in ihrem Distrikt auf‌tauchen. Jede weitere Ermittlungsaktion wäre in dieser Phase bloße Etatverschwendung, was man ihm hinterher auch noch vorwerfen würde. Doch wenn dem Jungen heute Nacht etwas passierte, etwas, das zu verhindern gewesen wäre, bekäme er richtige Probleme.

Er bedauerte bereits, was er der Mutter über Kriminalromane und die Verbrechensstatistik in Israel gesagt hatte. Annabelle Amram war bei einem gescheiterten Raubüberfall von einem Autodieb, der sie nicht gekannt hatte, ermordet worden. Avraham Avraham befahl sich, nun nicht mehr im Nachhinein jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen.

 

Früher hatte es hier nur Sand gegeben. Jetzt helle, gläserne Gebäude. In den Dünen zwischen Neve Remez und Kiryat Sharet, zwei grauen Wohnvierteln, in denen er beinahe sein ganzes Leben verbracht hatte, waren Wohntürme, eine städtische Bibliothek, ein Designmuseum und ein Einkaufszentrum entstanden, die in der Dunkelheit aussahen wie Raumstationen auf dem Mond. Auf halbem Weg nach Kiryat Sharet leuchteten zur Linken die Schriftzüge von Zara, dem Of‌f‌ice Depot und von Joe’s Café, und er erwog, die Straße zu überqueren und in das Einkaufszentrum zu gehen. Er könnte sich einen Latte macchiato und ein Käsesandwich kaufen und sich draußen an einen der freien Tische setzen, um den beruhigenden Lichterstrom der Scheinwerfer zu verfolgen und nachzudenken. Wie beinahe jeden Abend tat er es nicht.

Er wollte an andere Ermittlungen denken. Da war die Sache mit den drei Einbrüchen innerhalb einer Woche in zwei Nebenstraßen in Kiryat Ben-Gurion, bei der ihm noch jeglicher Ansatzpunkt fehlte. Alle Einbrüche waren tagsüber verübt worden, als die Bewohner nicht zu Hause gewesen waren, allesamt saubere Einbrüche, ohne aufgebrochene Schlösser oder durchgesägte Fenstergitter. Die Einbrecher hatten genau gewusst, wann die Leute ihre Wohnungen verließen und wann sie zurückkehrten, und sie verstanden sich darauf, verschlossene Türen zu öffnen, ohne Lärm zu verursachen. Das waren keine spontanen Einbrüche von irgendwelchen Junkies. Entwendet worden waren Schmuck, Scheckhefte und Bargeld. In einer der Wohnungen war ein Tresor aufgebrochen worden.

Das Ganze war einigermaßen frustrierend. Seine einzige Ermittlungsstrategie konnte nur daraus bestehen, auf weitere Einbrüche zu warten und zu hoffen, dass die Täter etwas für die Spurensicherung hinterließen, was sie bei ihren bisherigen Auf‌tritten nicht getan hatten, oder dass ein Teil der Beute beim Zugriff auf irgendein Lagerhaus wiederauftauchen würde. Dann hätte man jemanden, den man in die Mangel nehmen konnte. Hinzu kam noch dieses Gefühl, das er sich bei den Teambesprechungen nicht hatte eingestehen wollen: Nur einer der drei Einbrüche war echt oder, anders ausgedrückt, nur einer war für die Einbrecher von Bedeutung gewesen. Und was sie dort gesucht und vielleicht auch gefunden hatten, hatte nichts mit Geld oder Wertsachen zu tun. Die beiden anderen Einbrüche sollten die Polizei lediglich an der Nase herumführen.

Bei einer anderen Ermittlung hatte er, wider Erwarten, zunächst Erfolg zu verzeichnen gehabt, aber in den letzten beiden Tagen hatten sich die Dinge verkompliziert und waren ins Stocken geraten. Ein zwanzigjähriger Bursche namens Igor Kintjew war unter dem Verdacht festgenommen worden, für eine Serie von Belästigungen und Angriffen auf Frauen verantwortlich zu sein, die sich – mit Unterbrechungen – über zwei Monate hinweg auf der Strandpromenade in Bat Jam ereignet hatte. Er war nach einer simplen Observierung durch Streifenbeamte in Zivil verhaftet worden. Aufgefallen war er, als er ziellos auf der Promenade herumlief und immer wieder Frauen folgte, die in der Regel mit über vierzig deutlich älter waren als er selbst, um dann kehrtzumachen und in die entgegengesetzte Richtung zu hasten oder aber die Straße zu überqueren, bis er eine andere Frau ausgemacht hatte und ihr hinterherging. Bei der Gegenüberstellung hatten ihn vier der sieben Opfer identifiziert. In den ersten Vernehmungen hatte er noch alles abgestritten, doch vorgestern begann er zu reden und gestand Dutzende von Delikten, die gar nicht Teil der Ermittlung waren, so etwa ein Fall von Brandstiftung in einem Altenheim in Chadera vor zwei Jahren oder eine versuchte Brandstiftung in einem Restaurant in Givat Olga 2005, die überhaupt nicht zur Anzeige gebracht worden war. Er war ein komischer Kauz, sein Hebräisch sonderbar und bruchstückhaft. Seine Mutter war in Kasan geblieben, sein Vater in Israel gestorben. Eine feste Adresse hatte er nicht. Einige Monate hatte er in einem Kellerraum in Chadera zur Miete gewohnt, und vor einem halben Jahr war er bei Verwandten in Bat Jam eingezogen, eines Jobs wegen.

Avraham Avraham glaubte ihm nicht ein Wort. Bei einem der Überfälle hatte er den Arm der Marketingchefin einer Kosmetikfirma, einer Frau von fünfzig Jahren, gepackt und ihre Hand gewaltsam in seine Hose geschoben, an einem Freitagabend mitten auf der Strandpromenade. Ausweispapiere trug er nicht bei sich, als man ihn festnahm, und auch keinen einzigen Schekel, aber in seinem Rucksack fanden sich ein neuwertiger Präzisionskompass und ein Exemplar von S.J. Agnons Roman Eine einfache Geschichte, eine Schülerausgabe mit abgegriffenem, zerfleddertem blauem Taschenbucheinband. Auf der ersten Seite stand eine handschriftliche Widmung vom 10. August 1993: »Für Yoela, eine einfach verpasste Liebesgeschichte«. Der Name des Urhebers war mit Tipp-Ex überpinselt.

 

Avraham Avraham wusste nicht, warum er dachte, was er dachte. Aus irgendeinem Grund stellte er sich den Computerbildschirm im Zimmer von Ofer Sharabi und dessen Bruder vor. Ein alter, klobiger cremefarbener Kasten, so hatte er ihn vor Augen. Vor allem aber beschäftigte ihn der Altersunterschied zwischen den Kindern. Ein sechzehnjähriger Sohn, eine vierzehnjährige Tochter und ein Nachzügler von fünf Jahren. Warum lagen neun Jahre zwischen der Tochter und dem jüngsten Sohn? Warum hörte ein Paar, das angefangen hatte, Kinder in die Welt zu setzen, plötzlich damit auf und pausierte derart lange? Vielleicht wegen der wirtschaftlichen Situation der Familie, aufgrund gesundheitlicher Probleme oder einer Ehekrise? Womöglich war die Mutter auch zwischenzeitlich schwanger gewesen und hatte eine Fehlgeburt erlitten? Aber warum, zum Teufel, brauchte alles immer eine Erklärung? Nun dachte er über acht Uhr morgens nach. Drei Kinder brechen zur Schule und zum Kindergarten auf, und die Mutter bleibt allein zurück. In der Wohnung macht sich Stille breit. Die Zimmer sind leer, nur die weißen Gardinen im Wohnzimmer bewegen sich sacht im Wind. Was genau tut sie als Erstes? Vielleicht streift sie zunächst durch die verwaisten Räume. Geht in das Zimmer der Jungen mit dem Jugendbett, das sich vielleicht zu einem Sofa einklappen lässt, dem Schreibtisch, auf dem der alte Computerbildschirm steht, und dem Kinderbett mit Holzgitter an der Wand vis-à-vis. Dann in das Zimmer der Tochter, es ist ein kleiner, vielleicht weiß gestrichener Raum mit einem langen Spiegel an der Wand gegenüber der Tür, in dem sie sich selbst begegnet. In seiner Vorstellung trägt die Mutter einen Wäschekorb, während sie über den gefliesten Boden geht.

In der Alufei-Tzahal, der Haupteinfallstraße nach Kiryat Sharet, standen fünf Jugendliche, Jungen und Mädchen, an der Bushaltestelle der Nummer 97, die an der nördlichen Eisenbahnstation in Tel Aviv endete. Ein dickes Mädchen in wenig schmeichelhaften Leggins und einem grauen GAP-Sweatshirt zeigte einem der Jungen ausgelassen lachend etwas auf ihrem iPod. Sie drängte ihn, sich die Kopfhörer in die Ohren zu stecken, doch er sträubte sich und tat angewidert. Avraham Avraham bedachte das Grüppchen mit einem langen und ungewollt zu strengen Blick, sodass sie verstummten, als er an ihnen vorbeiging, und ihm zulächelten. Das Mädchen mit dem iPod machte vielleicht irgendeine belustigte Geste.

War Ofer hier bei ihnen gewesen? Er musste da gewesen sein, und wenn nicht hier, dann an einer anderen Bushaltestelle. Gegen Ende ihres Gesprächs, unmittelbar bevor sie widerstrebend ging, hatte ihm die Mutter gesagt, Ofer sei bereits zweimal von zu Hause weggelaufen. Beim ersten Mal, er war noch keine zwölf, sei er zu Fuß – »in Flipf‌lops« – bis nach Ramat Gan gelaufen, zum Haus seiner Großeltern. Das sei an einem der Feiertage passiert, nach einem Streit mit seinem Vater. Und vor ungefähr einem Jahr habe er Streit mit ihr gehabt und am Nachmittag das Haus verlassen, mit der Drohung, er käme nie wieder. Nach neun Uhr abends sei er dann schließlich zurückgekommen. Habe die Wohnungstür aufgesperrt und sei gleich in sein Zimmer marschiert, ohne zu erzählen, was er den ganzen Abend über gemacht hatte. Sie hätten auch hinterher nicht darüber gesprochen. Avraham Avraham hatte sie gefragt, warum sie sich damals nicht an die Polizei gewandt hatte, aber sie hatte nicht geantwortet. Offenbar war sie damals nicht allein, sondern der Vater war zu Hause gewesen. In Avraham Avrahams Vorstellung entstand ein Bild: Ofer Sharabi, von dem er noch immer nicht genau wusste, wie er aussah, legt in einer dunklen, menschenleeren öffentlichen Grünanlage seinen schwarzen Rucksack auf eine Parkbank und streckt sich rücklings darauf aus. Dann deckt er sich notdürftig mit einem grauen Sweatshirt zu, so einem, wie es das Mädchen an der Bushaltestelle angehabt hatte. Er macht sich bereit zum Schlafen. In dem Park ist außer Ofer keine Menschenseele, und das ist gut. Ihm droht keine Gefahr.

 

Avraham Avraham kam an dem Haus vorbei, in dem er aufgewachsen war. Alufei-Tzahal 26, das Haus, in dem nach wie vor seine Eltern lebten. Unwillkürlich hob er den Kopf, um einen Blick auf das Fenster im dritten Stock zu werfen. Die Fensterläden waren geschlossen. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen? Im zweiten Stock stand das Fenster offen, und ein Mann saß ohne Hemd mit dem Rücken zur Straße auf dem Fensterbrett, das Gesicht dem hell erleuchteten Wohnzimmer zugewandt, aus dem Fernsehgeräusche drangen. Die Abendnachrichten fingen gleich an. Der Nachbar sprach mit jemandem in der Wohnung, vielleicht mit seiner Frau, die in der Küche stand. Er war einer der Nachbarn, die einige Jahre zuvor seinen Vater im Treppenhaus gefunden hatten, nach dem Schlaganfall.

Er ging weiter die Straße entlang und betrat den Supermarkt der Georgier. Für einen Moment überlegte er, seinen Plan zu ändern und sich etwas zu kochen, das seine Gedanken verscheuchen und ihn aufmuntern würde. Vielleicht sollte er eine einfache Flasche Côte du Rhône kaufen und eine Packung Fertigravioli, die er in kochendem Wasser erhitzen, dann mit etwas Olivenöl beträufeln und mit geriebenem Käse bestreuen würde. Aber etwas ließ ihn abermals zögern. Er ging zum Kühlregal, holte eine Singleportion scharfe Sesampaste heraus und befühlte dann die wenigen Brötchen, die im Brotschrank noch verblieben waren, bis er ein halbwegs weiches gefunden hatte. Vor der Kasse legte er noch eine kleine Packung Cherrytomaten in den Korb. Hätte er nicht den Bogen Papier, auf dem er die Adresse notiert hatte, im Büro vergessen, wäre er jetzt nach Hause gegangen, hätte seinen Wagen genommen und wäre zu dem Haus gefahren, in dem die Mutter wartete. Dort hätte er sich auf die Lauer gelegt, bis er Ofer Sharabi ins Treppenhaus hätte schlüpfen sehen und ihre Schreie oder ihr Weinen gehört hätte. Dann hätte er besser schlafen können. Aber er hatte das Blatt vergessen, obwohl er es zu einem kleinen Quadrat gefaltet und in seine Hemdtasche hatte stecken wollen. Vielleicht hatte er ja die Zeichnung nicht mitnehmen wollen, die ihn, eigentlich grundlos, verstört hatte. Ihm kam eine Idee: Er konnte Ilana anrufen und sich mit ihr beraten. Sollte Ilana ihm nahelegen, aufs Revier zurückzukehren und umgehend eine Vermisstenfahndung einzuleiten, dann würde er dies tun, egal, wie spät es war. Aber wenn er sie anrief, bewies er erneut einen Mangel an Selbstbewusstsein, und das wollte er nicht. Er bezahlte mit Kreditkarte, um das wenige Bargeld, das er noch im Portemonnaie hatte, nicht auszugeben.

Er ging die Alufei-Tzahal zurück, kam abermals am Haus seiner Eltern vorüber und entschied, dass es keinen Sinn hatte, jetzt bei ihnen reinzuschauen. Sein Vater hockte sicher im Dunkeln vor dem Fernseher und stierte auf die Nachrichten, der denkbar ungünstigste Zeitpunkt also, ihn zu stören. Seine Mutter saß, wenn sie nicht auf einem Spaziergang war, am Esstisch in der Küche und telefonierte. Er hatte keine Lust zu hören, wie sie am Telefon zu irgendeiner ihrer Freundinnen sagen würde: Oh, Avi ist gerade gekommen, ich muss ihm schnell etwas zu essen warm machen. Er zog es vor, allein zu essen und sich auf dem Film-Kanal eine alte Folge von Law and Order aus der dritten Staffel anzuschauen, die er schon unzählige Male gesehen hatte. Doch jedes Mal entdeckte er etwas Neues. Einen weiteren Ermittlungsfehler, eine zusätzliche Möglichkeit, den Beschuldigten zu entlasten.

Er trottete weiter die Straße entlang, bog dann nach links ab und ging noch ungefähr drei Minuten an schweigenden im Dunkel liegenden Gebäuden entlang, bis er sein Haus in der Yom Hakipurim erreicht hatte.

Heute Nacht würde er sich sein Mobiltelefon neben das Bett legen, für den Fall, dass jemand vom Revier anrief.

2

In dem Augenblick, als er die Streifenwagen vor dem Haus parken sah, wusste er, warum sie gekommen waren. Ein Bauchgefühl, ein scharfes, ätzendes Bewusstwerden in der Tiefe seines Körpers. Und er wusste, dass er bereit war, obgleich er noch nicht verstand, wofür.

Es war sonderbar, als wäre das Leben in den letzten Jahren zielgerichtet auf diesen Augenblick zugesteuert, ohne dass er davon etwas mitbekommen hatte. Als ereignete sich in ihm eine Explosion, eine Art unverhoffte Geburt: In dem Augenblick, in dem er die Streifenwagen sah, trat ein anderer Mensch aus ihm hervor, der viele Jahre in ihm gewesen war und gewartet hatte. Mit ihrem Sohn Ilay war es genau andersherum gewesen. Neun Monate hatten sie sich vorbereitet, aber mit seiner Geburt war er wie eine Bombe in ihr Leben geplatzt, wie aus dem Nichts. Die Eltern, die aus ihnen hätten werden sollen, kamen nicht zum Vorschein. Im Gegenteil, beide waren sie selbst wieder zu Kindern geworden, ohnmächtig und hilf‌los.

 

Er hatte die Streifenwagen schon von der Kreuzung aus gesehen, als er an der Ampel wartete. Zwei waren vor dem Eingang zum Gebäude abgestellt, und bei beiden stand die Beifahrertür offen. Eine Polizistin in Uniform lehnte an einem der Streifenwagen und sprach in ihr Mobiltelefon. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte ein weißer VW Passat mit Polizeinummernschild.

Er stellte den Motorroller neben dem Eingang ab und trat ins Treppenhaus. Die Haustür stand offen, und von oben waren Stimmen zu hören. Er ging an der Tür zu ihrer Wohnung vorbei und stieg weiter bis in den dritten Stock. Auch die Wohnungstür von Familie Sharabi war geöffnet, und eine Polizistin stand davor. Alle Türen werden aufgerissen, wenn ein Unglück passiert ist, dachte er. Vielleicht war es das, was er gespürt hatte, etwas war aufgesprungen. Die Polizistin bemerkte ihn und fragte, wer er sei. Er erwiderte: »Ich bin Seev, ein Nachbar aus dem zweiten Stock«, und fragte, ob etwas passiert sei. Sie verneinte und baute sich im Türrahmen auf, um ihm zu signalisieren, dass er keinen Zutritt hatte, obgleich er gar nicht hatte eintreten wollen.

Michal saß auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ilay schlief in ihrem Arm. Sie war noch immer im Pyjama und sah sich im Fernsehen Dr. Elephant an. Die Sonnenblenden vor den Fenstern waren geschlossen, und die Wohnung lag im Halbdunkel. Er fragte, ob sie wisse, was bei den Nachbarn los sei, aber sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass Streifenwagen vor dem Haus standen und offenbar etwas passiert war. Er war früh nach Hause gekommen, sie wirkte überrascht, da er an Donnerstagen sonst immer erst gegen zwei Uhr kam. Flüsternd fragte sie, ob er etwas essen wolle. Danach legte sie Ilay vorsichtig in seinem Zimmer ins Bettchen, öffnete auf dem Balkon die Sonnenblenden einen Spaltbreit und sah nach draußen, dann huschte sie zur Tür und linste ins Treppenhaus. Von oben kamen zwei Polizisten in großen Sprüngen die Treppen herabgestürmt, und Michal beeilte sich, die Tür wieder zu schließen. »Vielleicht ist bei ihnen eingebrochen worden?«, meinte sie.

Seev erwiderte, um einen Einbruch aufzunehmen, hätten sie doch wohl nicht so viele Beamte losgeschickt.

»Du machst mir Angst, was soll denn passiert sein?«

Er nahm sie in den Arm. »Bestimmt nichts Schlimmes.«

 

Nach dem Essen saß Seev auf dem Balkon, der, mit Sonnenblenden verschlossen, zu einem provisorischen Arbeitszimmer umfunktioniert worden war, und korrigierte Klausuren. Das machte es ihm möglich, das Geschehen draußen weiterzuverfolgen. Polizisten kamen und gingen. Einer von ihnen, untersetzt und mit Glatze, war offensichtlich der ranghöchste Beamte, da er den anderen Polizisten Anweisungen erteilte. Er wirkte nervös, sprach ununterbrochen in sein Mobiltelefon und wurde dabei immer wieder laut. Seev hörte ihn aufgebracht sagen: »Schafft ihn zurück, ich kann mich jetzt nicht mit ihm befassen, und es ist nicht meine Schuld, dass diese Idioten die Mitteilung nicht bekommen haben.« Danach brüllte er in sein Mobiltelefon: »Das kann nicht warten. Seit heute Morgen versuche ich sie zu erreichen. Holt sie verdammt noch mal aus dieser Besprechung.«

Kurz danach lief der Polizist zu der Grünanlage vor dem Gebäude hinüber, stolperte beinahe, als er gegen einen Stein trat, begann, etwas unter den Büschen zu suchen, und zog schließlich seine Hände wieder hervor, ohne etwas gefunden zu haben. Seine Bewegungen hatten etwas Ungelenkes. Plötzlich hob der Polizeibeamte den Kopf, offenbar um den Blick eines Kollegen aufzufangen, der auf dem Balkon im dritten Stock auf ihn wartete. Seev wusste nicht, was der Polizist gesucht hatte, und auch nicht, ob er seine Augen bemerkt hatte, die ihn aus dem zweiten Stock durch den schmalen Spalt in den Sonnenblenden beobachtet hatten, ehe er sich hastig in sein Arbeitszimmer zurückzog. Danach erschien Hannah Sharabi für einige Minuten auf dem Gehweg vor dem Haus, umgeben von drei Polizeibeamten. Gestikulierend erklärte sie ihnen etwas und wirkte dabei, als dirigierte sie die Beamten. Hätte Seev die Sonnenblenden ganz aufgeschoben, hätte er sie hören können. Nachbarn schauten aus den Fenstern nach unten, auch aus den umliegenden Häusern. Hannah Sharabis Mann und die Kinder sah er nicht.

Er versuchte sich auf die Klausuren zu konzentrieren. Der Grammatikteil war leicht zu korrigieren, doch die Kurzaufsätze verlangten einige Aufmerksamkeit. Das Thema lautete: »What will the world look like in 25 years.« Es sollte zur Einübung der Futurformen dienen und stand außerdem in Verbindung mit der Diskussion, die Seev nach der Lektüre einiger Seiten aus Aldous Huxleys Schöne neue Welt in seiner Klasse versucht hatte anzuregen.

Nach jeder Klausur suchte er auf den Nachrichtenseiten und auf Google News nach Meldungen über die Stadt Cholon oder den Namen Sharabi. Ilay schlief jetzt schon mehr als zwei Stunden, viel länger als sonst am Mittag, weshalb Michal Zeit gefunden hatte, zu duschen und sich anzuziehen. Als sie unter der Dusche war, schien es ihm für einen Moment, als wären Ilay und Michal außer Haus, was für ihn einen kurzen Augenblick tiefer innerer Ruhe bedeutete.

Sie kam auf den Balkon, küsste Seev auf die Wange und fragte: »Wie geht’s voran?«

Er sagte, er werde rechtzeitig fertig, und stand auf, um sich einen Tee mit Milch zu machen.

 

Kurz vor vier wachte Ilay auf und begann wie üblich zu weinen. Seev beeilte sich, die Korrektur der letzten Klausur zu beenden, und löste seine Frau ab. Sie ging auf den Balkon und nahm an dem Schreibtisch Platz, an dem er bis eben gesessen hatte, um ihren Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Er saß mit Ilay auf dem Teppich im Wohnzimmer und spielte mit ihm mit den Bauklötzen. Er errichtete einen niedrigen Turm aus bunten Holzklötzen, den Ilay zum Einsturz brachte, worauf er seinen Vater mit Befriedigung und Stolz ansah. Danach versuchte Seev, ihn für zwei bunte Pappbilderbücher zu interessieren, eines davon mit einem Spiegel, was ihm für einige Minuten gelang. Er war angespannt, aber die Anspannung war gut, war nahe an Ungeduld. Er kämpf‌te gegen die Versuchung an, Ilay in seinen Hüpfsitz vor den Fernseher zu setzen und herauszufinden, was sich unten vor dem Haus tat. Der Kleine spürte dies offenbar instinktiv. Er wimmerte und versuchte, zu seiner Mutter zu krabbeln. Seev sagte zu Michal: »Ich glaube, ich dreh mal eine Runde mit ihm, brauchst du etwas aus dem Laden?«

 

An einem Strommast vor dem Haus sah er den ersten Anschlag. Ofers Gesicht, ein wenig verschwommen, mittig ausgedruckt auf einem normalen DIN-A4-Blatt, das in einer Klarsichthülle an dem Betonpfeiler hing. Ein dunkles, sehr hageres Gesicht, schwarze, tief liegende Augen, eine kleine Nase und schmale Lippen, darüber schwarzer Flaum, der bereits nach einer Rasur verlangte. Er wirkte ernst auf dem Foto. Lächelte nicht, schaute aber direkt in die Kamera. Seev erinnerte sich an dieses Gesicht, es war sehr ernst. Ihm kam der Gedanke, dass Ofer auf dem Bild beinahe mexikanisch aussah und nichts von seiner Zartheit darauf zu erkennen war. Das Foto zeigte eher das Konterfei eines Verdächtigen als das Gesicht eines verschwundenen Jungen.

Über dem Bild prangte in dicken Großbuchstaben das Wort GESUCHT und darunter stand:

Ofer Sharabi,

vermisst seit Mittwochmorgen, dem 4. Mai.

Alter: 16 Jahre. Körperbau: sehr schlank.

Haar: schwarz und kurz. Größe: durchschnittlich.

Sollte ihn jemand gesehen haben, möge er bitte mit der Familie Kontakt aufnehmen oder die Polizei informieren.

Ganz unten auf der Seite waren mehrere Telefonnummern angegeben. Seev fragte sich, wer die Aushänge erstellt haben mochte, da er der Meinung war, dass sie nicht von der Polizei stammten. Sie hingen, so weit das Auge reichte, die ganze Straße des Gewerkschaftsbundes entlang an Strommasten und Straßenschildern, und er erwog, ob er heimlich einen abreißen und mit nach Hause nehmen sollte. Vielleicht würde er ihn noch brauchen. Konnte Ofers Mutter die Vermisstenanzeigen eigenhändig angefertigt haben?

Vor dem Seniorenheim brachte ein älterer Mann seine Brille so nah an eine der Kopien heran, dass seine Nase das Blatt in der Klarsichthülle fast berührte. Er trug ein verschossenes kariertes Hemd und hielt eine Handtasche aus hellem Leder umklammert.

Ilay war unruhig und versuchte sich aus den Haltegurten seines Buggys zu befreien. Er bog mit dem Jungen nach rechts in die Shenkar-Straße ab und ging bis zum Kiosk an der Ecke zur Choma u-Migdal, wo er für Ilay eine kleine Tüte Erdnussflips kauf‌te, sie aufriss und Ilay in den Schoß legte. Auf der anderen Straßenseite entdeckte er Sima, die Nachbarin aus dem ersten Stock, die mit den Zähnen einen Streifen transparentes Klebeband abriss und einen der Zettel mit dem Bild Ofers an der Bushaltestelle befestigte. Er machte sich auf den Weg zurück zu seinem Haus. Die Polizeistation war nicht weit davon entfernt.

 

Die Polizisten klopf‌ten gegen Abend an die Tür, früher, als er erwartet hatte. Das war die erste Überraschung. Seev und Michal hatten gerade begonnen, Ilay für die Badewanne auszuziehen. Vor der Tür standen zwei Polizeibeamte, der zu kurz geratene, unbeholfene Mann, den Seev am Nachmittag vom Fenster aus beobachtet hatte, und eine junge Frau, die er zuvor nicht gesehen hatte.

Der Polizist sagte: »Entschuldigen Sie die Störung, aber Sie wissen sicher, dass der Sohn der Familie Sharabi seit gestern vermisst wird. Im Rahmen unserer Suche befragen wir alle Nachbarn und würden auch Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn es nicht ungelegen kommt.«

Michal kam mit Ilay, der schon keine Windel mehr trug, aus dem Bad. Der Polizist schien sichtlich verlegen zu sein. Seev schaltete das Treppenhauslicht, das ausgegangen war, nicht wieder an und blieb im Dunkeln stehen.

Der Polizeibeamte meinte: »Vielleicht möchten Sie, dass wir später wiederkommen, wir können in der Zwischenzeit bei den übrigen Nachbarn vorbeischauen.«

Aber Seev bat sie herein und erklärte: »Im Gegenteil, es passt gerade ganz gut, der Kleine wird sich freuen, dass ihm die Badewanne noch ein bisschen erspart bleibt.«

Ilay betrachtete die beiden, als sie eintraten, mit konzentriertem und ernstem Blick wie immer, wenn Gäste erschienen. Auf der silbernen Plakette an der Hemdtasche der Polizistin stand ihr Name – Liat Manzur. Seev spürte erneut die innere Explosion vom Mittag, als er nach Hause gekommen war und die Streifenwagen gesehen hatte. Sein zweites Ich war alarmiert. Vielleicht war dies genau genommen der Anfang, dachte er. Er musste sich jedes Detail merken.

 

Die Polizisten überraschten ihn abermals. Seev hatte nicht erwartet, dass Michal und er getrennt voneinander befragt werden würden, und verstand nicht, warum der ranghöhere Beamte sich mit seiner Frau in die Küche setzte, während er mit der Polizistin Liat Manzur im Wohnzimmer blieb. Auf dem Tisch in der Küche stand noch der blaue Plastikteller mit den Überresten von Ilays Gemüsebrei, eingerahmt von feuchten Brotstreifen und Krümeln.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er die Polizeibeamtin. Sie verneinte und legte sich ein dunkles Plastikklemmbrett auf die Knie, darauf hing ein Bogen Papier, der mit schwarzem Kugelschreiber in drei Spalten unterteilt war. Über jeder Spalte waren einige Zeilen geschrieben. Seev saß auf dem Sofa, und die Polizistin hatte auf der Kante des Sessels Platz genommen, ihm gegenüber.

»Wir sind noch dabei, Informationen über den Vermissten zu sammeln«, erklärte sie. »Es würde uns helfen, wenn Sie uns sagen könnten, wann Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben, vielleicht haben Sie ihn ja zufällig gestern oder heute gesehen, und welchen Eindruck Sie von ihm hatten.«

Sie arbeiteten offenbar streng nach Vorschrift, und diese Vorschriften besagten, dass die Nachbarn zu befragen waren und ihnen identische Fragen gestellt werden mussten, auch wenn sich daraus keine Erkenntnisse gewinnen ließen. Die Polizeibeamtin hatte sich nicht umgesehen, hatte weder das Bild betrachtet, das über dem wackligen Sideboard an der Wand gegenüber dem Sofa hing, eine Reproduktion von van Goghs Schlafzimmer in Arles, noch hatte sie dem alten, hässlichen braunen Sofa Beachtung geschenkt, über dem ein weißer Überwurf mit schwarzen Streifen lag, der die Flecken verbergen und es gleichzeitig vor weiteren Flecken schützen sollte. Auch die Spielsachen, die auf dem Fußboden verstreut lagen und das Wohnzimmer wie einen Abstellraum aussehen ließen, hatte sie ignoriert. Dennoch registrierte Seev durch ihre Augen, wie provisorisch die Wohnung wirkte und wie hässlich das Licht der Lampen war, die sie am Abend beleuchteten.

»Ich habe Ofer weder gestern noch heute gesehen«, erwiderte er, »und mein Eindruck von ihm ist der eines angenehmen und introvertierten Jungen.«

Sie notierte etwas mit schwarzem Kugelschreiber. Was hatte sie denn zu schreiben?

»Ich mache mir Notizen, während Sie reden, in Ordnung? Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen, vielleicht erinnern Sie sich?«

»Nicht an das genaue Datum. Sicher irgendwann in dieser Woche, im Treppenhaus. Ich unterrichte an einer weiterführenden Schule, deshalb verlassen wir das Haus in etwa zur selben Zeit und begegnen uns manchmal.«

»Und wirkte er so wie immer, oder war etwas an seinem Verhalten ungewöhnlich? Ist Ihnen etwas aufgefallen?«

Seev war frustriert, dass er von dem Gespräch zwischen Michal und dem ranghöheren Ermittler nichts mitbekam und nur Ilay weinen hörte, der auf den Knien seiner Mutter saß und von Augenblick zu Augenblick gereizter wurde. Der Kleine war müde und konnte auch die Tatsache nicht ertragen, dass zwei Personen sich miteinander, aber nicht mit ihm unterhielten. »Vielleicht möchten Sie ja doch etwas trinken?«, fragte Seev in der Hoffnung, kurz in die Küche gehen zu können. Er war noch immer unschlüssig, in welcher Phase der Befragung er sie überraschen sollte. Oder sollte er sich die Überraschung doch besser für den leitenden Ermittler aufheben?, überlegte er.

»Nein, danke. Also, gibt es noch etwas, das Sie über den Vermissten oder seine Familie wissen und uns mitteilen möchten? Bekomme Sie von dort manchmal Streitigkeiten, Diskussionen oder lautstarke Wortwechsel mit?«

Jetzt konnte Seev nachvollziehen, warum der leitende Beamte sich mit Michal hatte unterhalten wollen. Offenbar nahm er an, sie sei die meiste Zeit daheim und würde daher mehr über das Geschehen im Haus wissen.

»Überhaupt nicht«, sagte Seev. »Manchmal ist es ein bisschen lauter, sie haben drei Kinder und wohnen direkt über uns. Aber mir scheint, in letzter Zeit sind wir es, die für den meisten Lärm im Haus sorgen.« Er lächelte und fragte sich, ob sie verstanden hatte, was er meinte. Ihr Kopf war über das Klemmbrett geneigt, das sie auf den Knien balancierte, ihr Blick fest auf den Bogen Papier geheftet, als wäre sie eine kurzsichtige Schülerin bei einer Prüfung. »Wir sind gerade mal vor gut einem Jahr hergezogen, bevor Ilay geboren wurde. Vorher haben wir in Tel Aviv gewohnt, und ich arbeite noch immer dort. Ich unterrichte am Städtischen Gymnasium 1, neben der Cinémathèque, wenn Sie wissen, wo das ist.«

»Und was war Ihr allgemeiner Eindruck von dem vermissten Jungen, war er wohlerzogen, oder hatten Sie in der Vergangenheit schon mal Ärger mit ihm?«

Es war furchtbar. Sie hörte nicht einmal den Antworten auf die Standardfragen, die sie stellte, richtig zu.

»Nie. Wie ich Ihnen gesagt habe, ich halte ihn für einen angenehmen und introvertierten Jungen.« Er zögerte einen Moment, warf noch einen Blick in die Küche und sagte dann: »Ich kenne ihn viel besser, als es normalerweise unter Nachbarn üblich ist.«

Sie hob den Kopf nicht, sondern schrieb weiter.

»Inwiefern?«

»Insofern, als dass ich ihm vier Monate lang Nachhilfeunterricht in Englisch erteilt habe.«

»Und wie war er?«

»Was soll das heißen: Wie war er? Meinen Sie, wie er als Schüler war?«

»Als Schüler, als Mensch. Was war Ihr Eindruck von ihm?«

Ihr inflationärer Gebrauch des Wortes ›Eindruck‹ weckte ein gequältes Lächeln bei ihm.

»Mein Eindruck war, dass er ein Junge ist, der wirklich lernen will, aber dass Englisch nicht unbedingt sein stärkstes Fach ist. Er ist ein sensibler, angenehmer, introvertierter Halbwüchsiger, wie ich Ihnen bereits sagte. Sie können sich vorstellen, dass ich viel mit Jugendlichen zu tun habe, und Ofer ist besonders. Ich glaube, es hat sich ein enger Kontakt zwischen uns entwickelt.«

»Und er hat Ihnen nicht von der Absicht erzählt wegzulaufen, hatte er vielleicht Selbstmordgedanken, Probleme in der Schule?«

»Nein, nicht einmal ansatzweise. Wir haben hauptsächlich über sein Englisch gesprochen, und er hat weder von Selbstmord geredet noch davon, wegzulaufen.«

»Also, Sie sagen, dass er keine Probleme hatte?«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, wir haben darüber nicht gesprochen. Und darf man fragen, warum Sie sagen: ›hatte‹? Das ist erschreckend.«

»Oh, Entschuldigung, das ist so die Sprachregelung.« Damit stand sie auf, sagte: »Warten Sie eine Sekunde, ich muss etwas fragen.« Dann ging sie in die Küche.

Ein absonderlicher Augenblick: Er wusste nicht, ob er in seiner eigenen Wohnung von seinem Platz aufstehen durf‌te. Einen Moment später kam sie mit Michal und dem zu kurz geratenen Polizisten wieder, aber alle drei wandten sich Richtung Tür. Seev erhob sich und schloss sich ihnen an. Das war die dritte Überraschung.

»Ich habe von Ihrer Frau erfahren, dass Sie Ofer Privatunterricht gegeben haben«, sagte der Polizist. »Es kann sein, dass ich später noch einmal wiederkomme und Ihnen ein paar Fragen stelle. Fürs Erste vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Das Treppenhaus war unbeleuchtet und still, als wäre die Suche bereits beendet. Sie standen zu beiden Seiten der Schwelle. Auf der einen Seite der Polizist und die Polizistin im Dunkeln, auf der anderen Seite ein Mann und eine Frau mit einem Baby.

Seev antwortete: »Gern geschehen, obwohl ich nicht weiß, inwieweit wir behilf‌lich waren. Ich würde mich freuen, mehr tun zu können. Wenn Sie zum Beispiel Unterstützung bei den Suchmaßnahmen benötigen. Ich weiß nicht, wie Ihre Pläne aussehen. Haben Sie vor, die Nacht hindurch zu suchen?«

Der Polizist schien überrascht, als hätte er noch keinen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, auch nachts zu suchen. Seev tastete nach dem Lichtschalter an der Wand neben der Tür, und als die Treppenhausbeleuchtung anging, sah er, dass der Name des Polizeibeamten Avraham Avraham war und dieser eine Zigarettenschachtel aus der Tasche geholt hatte.

»Danke«, erwiderte Avraham. »Es kann sein, dass wir eine großangelegte Suchaktion durchführen werden, aber wir wissen noch nicht genau, wo und wann. Sollten wir ein Gebiet systematisch durchkämmen, würden wir uns freuen, auf Ihre Hilfe und die der anderen Nachbarn zählen zu können.« Er sprach noch immer mehr zu Michal als zu Seev.

Seev entschloss sich zu fragen: »Haben Sie eine Vermutung, wo Ofer sein könnte?«

Avraham wirkte angespannt. »Leider noch nicht. Wir hoffen, ihn möglichst schnell zu finden.« Und mit einem Mal sah er Seev an und fragte: »Aber vielleicht haben Sie eine?«

Er war überrascht von der Direktheit, mit der Avraham die Frage stellte. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch, und Seev schaltete sie erneut ein. Zum ersten Mal seit dem Eintreffen der Polizisten hatte er das Gefühl, dass jemand mit ihm sprach. Aber er sagte nur: »Ich wünschte, ich hätte eine.«

Ihre Wohnungstür war die einzige im ganzen Haus, an der kein Namensschild hing, sondern lediglich kleine Werbeaufkleber für Schlüsseldienste, Klempner und Elektriker und ein dreieckiger Magnet von Pizza Centro. Die Polizistin hatte ihn noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt.

 

Während sie Ilay badeten, fragte Seev Michal wie nebenbei: »Nu, was haben sie dich gefragt?« Insgeheim ärgerte er sich, dass sie ihm dieselbe Frage noch nicht gestellt hatte, und vor allem, dass sie ihm nicht von sich aus erzählte, wie das Gespräch mit dem ranghöheren Polizisten verlaufen war. Seine Enttäuschung über Avrahams Entschluss, sich zunächst mit Michal zu unterhalten, war noch nicht verflogen, ja, sie saß nach dem kurzen, provozierenden Wortwechsel mit dem Polizisten an der Tür sogar noch tiefer.

»Sicher dieselben Fragen, die sie dir auch gestellt haben«, antwortete Michal. »Inwieweit ich Ofer kenne, ob mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, ob ich hier Freunde von ihm oder Leute gesehen habe, mit denen er sich herumtreibt und die mir komisch vorgekommen sind.«

»Und was hast du gesagt?«

»Gar nichts. Dass du ihm Anfang des Jahres ein paar Nachhilfestunden gegeben hast, bei ihnen in der Wohnung. Dass er nie bei uns gewesen ist und ich außer ›Hallo‹ und ›Guten Tag‹ im Treppenhaus nicht mit ihm gesprochen habe, vielleicht ihn einmal gefragt habe, wie es mit dem Englisch läuft oder so etwas in der Art. Und ich habe ihm gesagt, dass ich diese Woche tatsächlich eine Diskussion oder einen Streit von oben mitbekommen habe, ziemlich spät war das, und dass ich meine, es war vorgestern, Dienstagabend, an dem Abend, bevor er verschwunden ist, aber dass ich keine Ahnung habe, wer gestritten hat und worüber und ob es etwas mit Ofer zu tun hatte. Vielleicht hatten die Eltern eine Auseinandersetzung.«

Das war die vierte Überraschung. Seev war fassungslos. »Und das hast du tatsächlich gehört?«, fragte er.

Sie lachte und erwiderte: »Was denn, sollte ich ihm das einfach so erzählen? Hast du denn nichts gehört?«

»Ich erinnere mich nicht. Kann sein, dass ich schon geschlafen habe. Vielleicht war es ja ihr Fernseher?«

»Weißt du was?«, meinte sie. »Gut möglich.«

 

Sie aßen etwas Leichtes zu Abend und schauten Ein Star wird gesucht im Fernsehen, nachdem Michal Ilay in den Schlaf gewiegt hatte. In den Nachrichten brachten sie nichts über Ofer. Michal verschwand wieder auf den Balkon, um weiterzuarbeiten, und Seev saß im Wohnzimmer und schlug Ian McEwans Am Strand auf, ein elegisches, sehr schmales Buch über ein Leben, das durch ein Schweigen vergeudet wird. Er las den Roman seit einigen Tagen, in kleinen Portionen, und jedes Mal erfüllte er ihn mit Traurigkeit. Positiv vermerkte er für sich die Sparsamkeit und Detailgenauigkeit dieses britischen Autors, den er zuvor nicht gekannt hatte.

Ilay gab ein Wimmern von sich, und Seev ging ins Kinderzimmer und schob ihm den Schnuller wieder in den Mund. Das letzte Glas Tee des Tages hob er sich auf. Wartete auf Inspektor Avraham, hatte vor, ihm einen Kaffee anzubieten und mit ihm zu trinken. Dieser Tag hatte weniger gehalten, als er versprochen hatte. Und Seev spürte, dass er so viel zu sagen hatte. Aus dem Treppenhaus hörte er Stimmen an- und abschwellen, wusste aber nicht, ob diese mit der Suche nach Ofer zusammenhingen oder mit dem Leben selbst. Nachbarn kamen und gingen, eine Klingel schellte, eine Frau sagte: »Ich.« Türen wurden zugeschlagen, das Licht ging an und aus. Der Verkehr draußen wurde weniger. Nach elf breitete sich Stille im Haus aus. Avraham würde nicht mehr kommen. Seev stellte die beiden unbenutzten Kaffeetassen, die auf der Arbeitsplatte bereitgestanden hatten, zurück in den Küchenschrank, zog sich im Bad um, putzte sich die Zähne und schlüpf‌te ins Bett.

Michal kam kurz nach ihm ins Schlafzimmer, wie immer noch vollständig angezogen. Sie breitete den Pyjama auf dem Bett aus, legte ihre Kleidung ab und zog sich langsam den Pyjama über, wobei sie Seev betrachtete, wie er las. Er nahm die Augen nicht von dem Buch, als sie den BH abstreif‌te. Im Zimmer hing etwas Schamloses. Sie zog sich vor einem anderen Mann aus, den sie noch nicht kannte.

»Denkst du an Ofer?«, fragte sie.

»Ja.«

»Was denkst du?«

»Dass wir bei der Suche vielleicht mithelfen sollten. Wenn am Wochenende größere Suchaktionen stattfinden. Wir lassen Ilay bei deiner Mutter oder nehmen ihn in der Rückentrage mit.«

»Meinst du, Ofer ist von zu Hause weggelaufen?«