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Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hat. Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Eine dritte Frau sucht etwas ganz anderes. Sie alle finden denselben Mann. Es gibt vieles, was sie nicht über ihn wissen, denn er sagt ihnen nicht die Wahrheit. Aber auch er weiß nicht alles über sie.
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Seitenzahl: 390
Dror Mishani
Drei
Roman
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Diogenes
Für Sara Mishani, die Mutter meines Vaters
Und für Sara Mishani, meine Tochter
Denn des Menschen Sohn wird überantwortet werden in die Hände der Menschen.
Lukas 9,44
Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.
Lukas 9,56
Sie hatten sich über ein Dating-Portal für Geschiedene kennengelernt. Sein Profil war einigermaßen nichtssagend, und gerade deshalb hatte sie ihn angeschrieben. Zweiundvierzig, einmal geschieden, wohnhaft in Givatayim. Ohne ein »Voller-Heißhunger-auf-das-Leben« oder »Noch-auf-der-Suche-will-mich-mit-dir-entdecken«. Zwei Kinder, ein Meter siebenundsiebzig, Akademiker, selbstständig, wirtschaftlich gut gestellt, aschkenasischer Herkunft. Politische Einstellung fehlte. Auch ein Teil der anderen Rubriken war leer geblieben. Drei Bilder, eines davon älter, zwei neueren Datums, und auf allen hatte sein Gesicht etwas Beruhigendes, nicht allzu Besonderes. Und er war nicht dick.
Eran hatte nun eine Gesprächstherapie angefangen, und sein Psychologe meinte, es wäre für ihn gut zu sehen, dass auch sie nicht nur trauerte, sondern ihr Leben weiterlebte. Sie versuchte, sie beide wieder auf Alltagsroutine zu eichen: Abendessen um sieben, Duschen und eine Fernsehsendung aus der Online-Mediathek, und dann packten beide ihre Taschen für den nächsten Tag. Um halb neun oder Viertel vor neun war er im Bett, und sie las ihm, obwohl er schon alleine lesen konnte, eine Geschichte vor, weil das jetzt nicht der Zeitpunkt war, damit aufzuhören. Danach saß sie vor dem Computer in ihrer Arbeitsecke im Wohnzimmer, ging Profile und Mitteilungen durch, auch wenn sie keinem Mann antworten würde, der von sich aus Kontakt zu ihr aufnahm. Sie ergriff lieber selbst die Initiative. Es war schon Ende März, aber abends trug sie noch immer einen Pullover und manchmal, wenn sie allein ins Bett ging, regnete es leicht.
Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt: »Würde mich freuen, dich kennenzulernen.« Und er hatte nach zwei Tagen geantwortet: »Dann los. Wie?«
Erst hatten sie gechattet.
»In was für einer Schule unterrichtest du? Grundschule? Gymnasium?«
»Gymnasium.«
»Hat das auch einen Namen?«
»Im Moment wär’s mir noch lieber ohne Details. In Cholon.«
Sie war vorsichtig, er mitteilsam. Die Angaben, die im Profil ausgespart waren, vervollständigten sich von Chat zu Chat. Er fuhr viel Fahrrad. »Nach Jahren, in denen ich meinen Körper vernachlässigt habe, habe ich angefangen, ins Fitnessstudio zu gehen. Eine Wohltat.« Sie dachte bei sich, dass man das auf den Bildern nicht sah. Er war Anwalt, »keiner der großen Haie, mit eigener, kleiner Kanzlei«, und begleitete hauptsächlich Israelis, die in osteuropäischen Ländern familiäre Wurzeln hatten, bei dem ganzen Prozedere von der Klärung eines Anspruchs bis zum Erhalt eines polnischen, rumänischen oder bulgarischen Passes. In diesem Feld war er gelandet, nachdem er einige Jahre lang für die Rechtsabteilung einer Zeitarbeitsfirma, die Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Israel holte, gearbeitet und dabei Kontakte zu den jeweiligen Behörden geknüpft hatte. »Brauchst du vielleicht einen polnischen Pass?«, fragte er, und sie schrieb zurück: »Keine Verwendung, bei mir sind die Eltern aus Libyen. Hast du auch Kontakte zu Gaddafi?«
Freundinnen aus der Schule warnten sie vor Dating-Portalen. Meinten, man dürfe nicht alles glauben, was Leute dort von sich erzählten. Aber er erzählte ja gar nichts Spektakuläres über sich, im Gegenteil, es war, als bemühte er sich, unspektakulär zu klingen. Nach ein paar Tagen fragte er: »Treffen wir uns irgendwann?« Und sie schrieb zurück: »Irgendwann.«
Ein Donnerstagabend um halb zehn. Anfang April.
Er hatte ihr die Wahl des Treffpunkts überlassen, und sie entschied sich fürs Café Landwer am Platz vor dem Habima-Nationaltheater in Tel Aviv. Drei Tage vorher hatte sie einen Termin mit Erans Psychologen und sprach dabei hauptsächlich von sich selbst. Der Psychologe deutete an, sie solle vielleicht auch mal zu einem Gespräch kommen, und sie lachte. Entschuldigte sich, dass sie ihm zu viel erzählt hatte, und erklärte, dafür fehle ihr das Geld. Auch Erans Therapie könne sie nur dank ihrer Mutter finanzieren.
Der Psychologe riet ihr, das erste Date nicht zu verheimlichen, aber auch keine große Sache daraus zu machen. Sie solle lieber nicht ihre Mutter bitten, auf Eran aufzupassen, ihn auch nicht bei ihr übernachten lassen, weil sie sich dann von beiden unter Druck gesetzt fühlen und Eran mehr erzählen würde, als er wissen musste. Am besten, sie fragte die Oberstufenschülerin, die auch schon früher bei ihnen gebabysittet hatte, wenn sie zu zweit ins Kino gegangen waren. Sollte Eran fragen, mit wem sie ausging, könne sie sagen, »mit einem Freund«. Und wenn er frage, wer dieser Freund sei, könne sie sagen, es sei ein neuer Freund, den er noch nicht kenne. Und dass er Gil heiße.
In Tel Aviv war die Hölle los. Der Stau begann schon bei der Abfahrt von der Ayalon-Autobahn zum Derech HaSchalom und setzte sich auf der Ibn-Gvirol-Straße fort, und die neu erbaute Tiefgarage unter dem Kulturpalast war bis auf den letzten Platz besetzt. Am Morgen hatte er ihr im Chat seine Telefonnummer geschickt, und jetzt simste sie ihm, sie würde sich verspäten. Sie fuhr zurück zum Parkhaus in der Kaplan und ging von dort zu Fuß, im dichten Ausgehgetümmel, zwischen jungen tätowierten Männern mit Bart, schönen jungen Frauen, jungen Paaren mit Baby. Vielleicht hätte sie besser einen anderen Ort vorschlagen sollen. In dem Outfit, das sie trug – weiße, knöchellange Leinenhose, dazu passende weiße Bluse und dünnes, ebenfalls weißes Jackett – fühlte sie sich alt, schlimmer noch, wie eine alte Frau, die versucht, jugendlich auszusehen, aber schon mit dem ersten Satz, den er sagte, kam sie sich weniger fehl am Platz vor.
»Was machen wir hier überhaupt? Ich fühle mich steinalt.«
Es war weitaus befremdlicher, als sie gedacht hatte, auf einmal wieder mit dem Daten anzufangen, sich mit einem wildfremden Mann zu treffen.
Als sie im Café ankam, erhob er sich und gab ihr die Hand, wie bei einem Geschäftstermin. Bestellte sich einen Cappuccino, also trank auch sie keinen Wein, sondern einen warmen Apple Cider mit Zimtstange. Er war nicht gertenschlank, aber man konnte sehen, dass er im Fitnessstudio trainierte. Und er war legerer gekleidet als sie: Jeans und blaues Poloshirt zu weißen Joggingschuhen. Auch übernahm er gleich die Rolle des Erfahreneren, denn er hatte nicht eben wenige solche Begegnungen schon erlebt.
»In der Regel spricht man erst mal über die Scheidung«, sagte er. »Tauscht Berichte vom Schlachtfeld aus. Ein bisschen wie beim Reservedienst. Ziemlich deprimierend, aber ich bin bereit, den Anfang zu machen.«
Sie sagte: »Nein, bloß das nicht«, war aber neugierig. Selbst darüber sprechen konnte sie noch nicht, alles war noch ganz frisch und blutig, ja zuweilen geradezu unwirklich. Auch während des Dates mit ihm hatte sie momentweise das Gefühl, all das passiere in Wirklichkeit gar nicht und eigentlich säße Ronen vor ihr. Er sagte, er habe zwei Töchter, beide auf dem Gymnasium, Noa und Hadas. Die Scheidung sei nicht von ihm ausgegangen, sondern von seiner Exfrau, und anfangs habe er sich dagegen gesträubt, offenbar weniger aus Liebe, denn aus Angst.
Im Gegensatz zu dem, was sich zwischen ihr und Ronen abgespielt hatte, war Gils Trennungsprozess einigermaßen lang gewesen. Seine Frau hatte die Idee einer Scheidung aufgebracht, doch er hatte sie zunächst überzeugen können, noch einen Versuch zu unternehmen, die Beziehung zu kitten. Darauf folgte die kurze Phase einer Paartherapie, und am Ende hatte er die Waffen gestreckt. Soweit er wisse, hatte sie ihn nicht betrogen und habe auch heute noch keinen Freund. Sie habe einfach aufgehört, ihn zu lieben, habe das Interesse an ihm verloren, wollte etwas anderes ausprobieren, das Leben nicht an sich vorbeiziehen lassen, solche Dinge, die er damals nicht verstanden habe, oder doch verstanden, aber nicht habe verstehen wollen, und die er heute sehr viel besser verstehe. Unter dem Strich sei es für ihrer aller Leben gut gewesen. Auch für die Mädchen. Die Scheidung selbst war dann unkompliziert, vielleicht weil sie beide Anwälte waren und keine Geldsorgen hatten. Seine Exfrau sei in der Wohnung in Givatayim geblieben, und die Wohnung in Haifa, die als Anlageobjekt gedacht war, habe er verkauft und mit dem Geld eine Vierzimmerwohnung ganz in der Nähe gekauft. All dies erzählte er nicht zum ersten Mal, das war klar, und sein versöhnlicher Tonfall ließ sie spüren, wie verletzt sie selbst noch war. Zumal sie dachte, ihre Geschichte mit Ronen sei eine vollkommen andere, aber vielleicht stimmte das gar nicht? Die Motive, die er so lakonisch wiedergab, »etwas anderes ausprobieren«, »das Leben nicht an sich vorbeiziehen lassen«, explodierten wie Granaten in ihr.
Gil bekam nichts davon mit, oder zumindest hoffte sie das. Als er fragte, »Und wie war es bei dir?«, sagte sie: »Anders. Ich habe … wir haben einen neunjährigen Sohn, und er hat sich schwer damit getan. Aber ich würde jetzt lieber nicht darüber reden.«
Danach war sie nicht mehr ganz bei der Sache. Gil sprach über die Arbeit, erzählte von kurzen Reisen nach Warschau und Bukarest, versuchte, sich für ihr Leben zu interessieren, hakte aber nicht nach, wenn sie abblockte. Die Zeit verging langsam. Um Viertel nach zehn, als die Vorstellungen endeten, füllte sich der Platz vor dem Habima-Theater erst und leerte sich dann wieder. Um zwanzig vor elf bestellte er sich eine Cola Zero und fragte, ob sie etwas essen wolle, aber sie bestellte auch keinen weiteren Apple Cider, hoffte, das Treffen wäre bald beendet. Kurz nach elf fragte er: »Sollen wir?« Und sie sagte: »Ja, gern, es ist schon schrecklich spät.«
»Von mir aus können wir weiter chatten, wenn du Lust hast. Du hast ja meine Nummer.« So verabschiedete er sich von ihr.
Auf dem Weg zum Wagen wollte sie die Babysitterin anrufen, um zu fragen, ob Eran schon eingeschlafen sei, aber sie konnte nicht, weil sie spürte, sie würde in Tränen ausbrechen.
Eine Woche danach schrieb sie ihm im Chat. »Bist du noch da?«
»Meinst du hier? Wie’s aussieht auf ewig.«
Sie entschuldigte sich für den gemeinsamen Abend, erklärte, sie sei offenbar noch nicht bereit für so etwas. Sicher habe er einen tristen Abend mit ihr verbracht. Er schrieb: »Überhaupt nicht. Und ich verstehe das total, weil ich das selbst erlebt habe, überhaupt keine hard feelings. Vielleicht irgendwann mal wieder.«
In der Schule hatte die Phase der Vorprüfungen begonnen, und abends musste sie Klausuren korrigieren. Sie hatte Eran Mark Twains Der Prinz und der Bettelknabe vorgelesen und jetzt den Letzten Mohikaner angefangen, weil keines der beiden Bücher mit irgendetwas zu tun hatte, nicht von einem Jungen handelte, der unter der Scheidung seiner Eltern litt, sondern Märchen aus fernen Zeiten und Orten erzählte. Nachmittags gab sie neuerdings Schülern anderer Schulen Nachhilfe, damit sie ihre Mutter nicht um noch mehr Geld bitten musste, als diese schon für Erans Sitzungen bezahlte. Einhundert Schekel die Stunde, zwischen vier und sechs Stunden jede Woche, das summierte sich schnell zu zweitausend Schekel im Monat, bar auf die Hand. Im Sommer würden die Nachhilfestunden zwar wegfallen, aber dann hätte sie eine andere zusätzliche Einnahmequelle, weil sie sich für das Korrigieren von Abiturklausuren hatte registrieren lassen.
Freundinnen aus der Schule, vor allem die weniger nahen, erkundigten sich, ob sie schon bereit sei, sich verkuppeln zu lassen. Es gebe nicht wenige Männer in Reichweite, die ein zweites Kapitel aufschlagen wollten. Sie wehrte alle Angebote ab. Auf der Homepage des Portals tauchten jede Woche nicht mehr als zwei, drei neue Profile auf, sodass sie immer wieder auf dieselben Gesichter und dieselben Sätze stieß, die Einsamkeit hinter schönen Worten zu verstecken suchten. »Lasse mich auf nicht weniger ein als auf die wahre Liebe«, »Suche eine Partnerin für die Reise des Lebens«, »Ein unkonventioneller Mann, authentisch bis in die Haarspitzen, ohne Lügen und Masken«. Alle waren sie affektiert, waren nicht schlank genug oder viel zu jung, Männer von achtundzwanzig oder dreißig Jahren, bei denen sie nicht verstand, was die dort zu suchen hatten, genauso wenig wie sie verstand, warum sie selbst alle paar Tage die Seite aufrief, ohne eigentliche Absicht. Auch als sie ihm schrieb und vorschlug, sich erneut zu treffen, war das nicht geplant, war eine Spontanentscheidung, obgleich ihr der Gedanke zuvor schon einige Male durch den Kopf gegangen war.
Er antwortete nach ein paar Stunden: »Gern, aber nur, wenn es nicht aus Mitleid ist.«
Orna schickte ihm einen Smiley und fügte nach ein paar Minuten hinzu: »Aber aus Selbstmitleid wäre okay?«
Das Pessachfest ging vorüber. Ein trauriger Sederabend, der erste nach der Scheidung. Nur sie, Eran und ihre Mutter bei der Familie ihres Bruders in Karkur. Niemand erwähnte Ronen. Am nächsten Tag, am Pessachmorgen, erwachte sie einige Minuten vor sechs. Am Himmel hingen schwere Regenwolken, und es war unerwartet kalt. Erans und ihre Wintersachen lagen schon verstaut in den obersten Schrankfächern. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie die Ferien überstehen sollten.
Auch die Babysitterin steckte in den Vorprüfungen und war deshalb nur am Dienstag verfügbar, aber das war Orna gerade recht. Ein ruhiger Abend mit weniger Ausgehvolk auf den Straßen. Gil schrieb ihr: »Am Dienstag habe ich eine andere Verabredung, aber wenn das der einzige Tag ist, an dem du nächste Woche kannst, cancel ich das.« Doch seine Aufrichtigkeit weckte in ihr, anstatt sie zu erfreuen, ein Gefühl des Ekels, und sie überlegte abzusagen. Ich bin auf einer Fleischbeschau, dachte sie. Ich bin Teil einer Fleischbeschau.
Aber vielleicht war das unausweichlich.
»Diesmal nicht in Tel Aviv, wäre das möglich?«, fragte sie, und er antwortete: »Klar, wo du magst. Givatayim? Die Marina in Herzlija?«
»Ist Givatayim nicht zu sehr in deiner Nähe?« Sie dachte an seine großen Töchter, die an dem Café vorbeikommen könnten. An seine Exfrau.
»Ziemlich nahe. Aber mir ist wirklich egal, wo. Bei uns in der Katznelson-Straße haben ein paar nette Läden aufgemacht, aber ich kann auch überall sonst hinkommen.«
Vor dem zweiten Mal war sie nicht mehr so aufgeregt, und das war sonderbar. Als träfe sie sich mit irgendeiner Kollegin aus der Schule oder als sei er tatsächlich bloß »ein Freund«, wie sie Eran gesagt hatte.
Sie trug etwas Alltagstaugliches und hatte sich so gut wie nicht geschminkt, vielleicht auch, um ihm zu signalisieren, dass sie nichts auf die Spielregeln des Fleischmarkts gab, von dem er ein Teil war. Er war wieder sportlich gekleidet, dieselbe Jeans und dieselben weißen Joggingschuhe, diesmal jedoch mit einem weißen Polohemd kombiniert. Auch schien er ihr seit ihrer ersten Begegnung ein bisschen abgenommen zu haben, obwohl die meisten Männer über Pessach ja zulegten. Diesmal gaben sie sich, als sie das Café betrat – wieder mit Verspätung, weil die Parkplatzsuche in Givatayim schwierig gewesen war –, ein Küsschen auf die Wange, und auch dieser Kuss war eher freundschaftlich, wie zwischen zwei Menschen, die sich schon öfter als nur zweimal begegnet sind. Gil verströmte ein Parfum, das sie nicht kannte und sofort mochte. Ein etwas zu süßlicher, schokoladiger Geruch, den man unwillkürlich wieder riechen wollte.
Sie gab sich Mühe, weniger melancholisch zu sein, gesprächiger, vor allem, nachdem ihr durch den Kopf schoss, dass es ihm vielleicht leidtun könnte, ihretwegen auf die andere Verabredung verzichtet zu haben. Dennoch hielt sie an der Rolle der Interviewerin fest, die nicht viel von sich selbst preisgibt – und er ließ sich erneut bereitwillig ausfragen.
»Also hast du viele solche Verabredungen«, fragte sie, und er antwortete: »Weniger als früher, aber doch, ab und zu. Ich habe nicht viel anderes zu tun abends.«
»Und daraus wird nie etwas?«
Im Normalfall nicht.
Meistens meldeten sich die Frauen nach dem ersten Treffen nicht wieder, aber es sei auch schon vorgekommen, dass sie drangeblieben seien und er derjenige war, der abblockte. Nur ganz selten gäbe es ein zweites Treffen, und erst drei Mal bis jetzt habe sich mehr entwickelt. Drei Mal in über zwei Jahren. Das deprimierte sie für einen Moment, als böten seine Worte einen flüchtigen Ausblick auf die Zukunft, die sie erwartete. Aber sie riss sich zusammen. Weniger melancholisch sein, gesprächiger. Sie spürte, dass sie diesmal tatsächlich befreiter war, vielleicht, weil sie einen warmen Cider mit Alkohol bestellt hatte. Das Café, in dem er, wie er sagte, morgens auf dem Weg ins Büro oft saß, war voller junger Leute, aber diesmal störte Orna das weniger, ja half ihr vielleicht sogar. Wie auch die Tatsache, dass Gil sich ein Glas Rotwein bestellte.
»Mit ›mehr‹ meinst du Sex?«, fragte sie, überrascht von der eigenen Verwegenheit, und er lächelte.
»Auch Sex. Es entwickelt sich etwas über zwei, drei Treffen hinaus, eine Art Anfang von etwas, das sich wie was Ernstes anfühlt.«
»Und warum hat es nicht funktioniert?«
»Offenbar haben sie sich nicht wirklich verliebt und ich auch nicht, irgendwie hat es nicht Klick gemacht. Hat sich einfach in Wohlgefallen aufgelöst.«
Er vermied es zunächst, über seine Scheidung zu sprechen, offenbar hatte er das Gefühl, das habe ihr erstes Treffen getrübt, aber sie war sich diesmal sicherer, die Erinnerungen ertragen zu können, die tatsächlich wieder hochkamen, als er doch zu erzählen begann und sie ihn sogar ausfragte, um sich zu vergewissern, dass sie es aushielt, dass etwas in ihr, wie Erans Psychologe gesagt hatte, tatsächlich stärker geworden war, auch wenn sie selbst dies noch nicht so empfand.
Nach dem Cider bestellte sie ein Glas Merlot, und erst da bestellte auch er ein weiteres Glas, obwohl er seines lange vor ihr geleert hatte, als habe er auf eine Bestätigung gewartet, dass sie nicht gleich Reißaus nehmen würde. Oder es war ihm unsensibel und anmaßend vorgekommen, ein zweites Glas zu bestellen. Auf dem Nachhauseweg, im Wagen, dachte sie darüber nach, was ihr an diesem Treffen gefallen hatte. Vielleicht hatte es weniger mit ihm zu tun als mit der Wiederholung, dass das Kennenlernen nun schon hinter ihnen lag. Sie registrierte bereits die Art, wie er die Stimme senkte, wenn er ihr eine Frage stellte, von der er befürchtete, sie könnte zu persönlich sein, oder wie er mit der Hand durch seine hellen Haare fuhr und lächelte, bevor er auf eine Frage antwortete, die ihm peinlich war, sie las die Enttäuschung in seinen Augen, wenn er meinte, sie habe eine Aussage von ihm falsch aufgenommen und verschließe sich, oder seine Freude, wenn er über seine Töchter sprach, über Noa und Hadas.
Die Scheidungsvereinbarung zwischen Gil und seiner Ex sah ein gemeinsames Sorgerecht vor, die Töchter sollten gleich viel Zeit bei Vater und Mutter verbringen. Aber von Anfang an habe er das Gefühl gehabt, dass das nicht leicht für die Mädchen werde, dass sie unter der Woche lieber in der Wohnung wären, in der sie aufgewachsen waren, weshalb er nicht auf seinen Zeiten bestand. Obwohl er nicht eben wenig Geld in ihre neuen Zimmer investiert hatte. Irgendwann jedenfalls habe er seinen Töchtern einen Schlüssel für seine Wohnung gegeben und gesagt, sie sollten kommen, wann immer sie wollten, ohne vorher zu fragen und ohne sich anzumelden. In den ersten drei Monaten seien sie selten gekommen und hätten ihm vorher immer eine SMS geschickt, aber allmählich ändere sich das. Er komme abends aus dem Büro und finde eine von ihnen dann bei sich in der Küche oder im Wohnzimmer vor, wo sie Hausaufgaben machten oder fernsahen. Vor allem Noa, die Ältere. Seine Wohnung sei keine zehn Minuten zu Fuß von der alten Wohnung entfernt. Und seine Exfrau störe das nicht, ja man könne sagen, seine Wohnung sei für die Mädchen so etwas wie ein Zufluchtsort geworden, vielleicht auch nur ein Ort, an dem sie schon einmal ausprobierten, wie eines Tages das Leben in einer eigenen Wohnung sein würde. Sie kämen jetzt vier- oder fünfmal die Woche zu ihm, lernten in Ruhe für Prüfungen, machten sich Abendessen, räumten allein die Wohnung auf. Und vor zwei Wochen sei noch eine wichtige Neuerung zu verzeichnen gewesen: Noa habe einen neuen Freund, den sie zu einer ersten Übernachtung nicht etwa in die Wohnung seiner Exfrau, sondern in ihr neues Zimmer in seiner Wohnung eingeladen habe. In einem Monat werde sie siebzehn, und seine Exfrau und er überlegten noch hin und her, ob sie ihr gemeinsam ein erstes Auto kaufen sollten. Er würde wohl den Löwenanteil davon bezahlen, weil seine finanzielle Situation doch sehr viel besser sei als die ihre.
Das war der einzige Moment während des zweiten Treffens, in dem Orna an Ronen und Eran dachte. Wie anders alles bei ihnen war. Und für einen Augenblick befürchtete sie, ihre Verzweiflung und Trauer nicht mehr ausblenden zu können, dass man sie ihr wie verschmiertes Make-up im Gesicht ansah. Sie rief sich in Erinnerung, was Erans Psychologe ihr gesagt hatte. Setzen Sie ihn nicht unter Druck, Orna, geben Sie dem Jungen Zeit. Auch er ist dabei, die Krise zu überwinden, genau wie Sie, selbst wenn Sie das noch nicht sehen.
Die Zeit verging diesmal schnell.
Erst um halb eins verabschiedeten sie sich, weil sie nach Hause musste. Und aus irgendeinem Grund küssten sie sich am Ende des Abends nicht auf die Wange, obgleich sie im Augenblick des Abschieds gern noch einmal sein schokoladiges Parfum gerochen hätte.
Noch in jener Nacht, um kurz vor eins, schickte er ihr eine Textnachricht: »Es hat Spaß gemacht, Orna. Danke.«
Und sie antwortete: »Ich danke dir.«
Was sie überraschte, war, wie geduldig er blieb.
Anfangs dachte sie, das komme daher, dass er noch andere Frauen traf, doch er sagte, nach dem zweiten Date habe er entschieden, mit keiner mehr auszugehen, um ihnen beiden eine echte Chance zu geben. Sein Profil im Portal hatte er weder deaktiviert noch gelöscht, aber dazu sagte sie nichts, damit er nicht dachte, sie spioniere ihm nach, oder erfuhr, dass auch sie noch, eigentlich grundlos, die Webseite besuchte und neue Profile durchsah, als drohe sie sonst etwas zu verpassen.
Mai. Frühling.
Im April haben sie sich noch einmal getroffen und im Mai insgesamt drei weitere Male.
In der Schule herrscht Stress, sie hat viel zu tun wegen der nahenden Abschlussprüfungen. Zu Hause redet Eran pausenlos über seinen Geburtstag im nächsten Monat. Zwei Stunden vor einer der Verabredungen mit Gil teilt die Babysitterin mit, sie könne nicht kommen, sie hat angeblich Fieber, und Orna ist schon drauf und dran, Gil anzurufen und abzusagen, überlegt es sich dann aber anders – sie will unbedingt ausgehen, hetzt seit Tagen nur zwischen Zuhause und Schule, Schule und Zuhause hin und her – und ruft ihre Mutter an, damit sie kommt und auf Eran aufpasst. Sie rechnet damit, dass ihre Mutter Fragen stellt, und so ist es auch. Orna sagt, sie gehe mit Sophie aus, einer alten Freundin, die ihre Mutter gut kennt, trägt aber einen kurzen, schicken Rock, der ihre Mutter wohl ahnen lässt, dass sie lügt. Noch spricht sie mit niemandem außer Erans Psychologen über Gil, weil es nichts zu erzählen gibt. Sie ist nicht verliebt, und zwischen ihnen läuft nichts. Aber vielleicht auch, weil sie glaubt, dass sich irgendwann doch etwas tun wird, denn wenn etwas köchelt, muss der Deckel auf dem Topf bleiben, wie sie einmal eine Schriftstellerin in einer Talkshow hat erklären hören, warum sie niemandem das Buch zeigt, an dem sie gerade arbeitet.
Ein körperlicher Kontakt zwischen ihnen findet noch immer nicht statt, abgesehen von der flüchtigen Berührung von Lippen und Wangen zur Begrüßung und zum Abschied. Und wenn er doch noch mit anderen Frauen ausgeht? Die meiste Zeit hat sie das Gefühl, sie schotte sich gegen bestimmte Gedanken und Gefühle ab und funktioniere einfach, und die Treffen mit Gil seien Teil dieses Versuchs zu funktionieren, den Anschein eines heilen Lebens zu wahren. Sie steht morgens auf, um sich und Eran für die Arbeit und die Schule fertig zu machen, flüstert ihm ein »Guten Morgen, Erani« ins Ohr und lächelt, wenn sie über sein schwarzes Haar streicht und ihn die Augen aufschlagen sieht. Sie unterrichtet den üblichen Stoff, bereitet ihre Schüler auf die Abschlussprüfungen in Hebräisch vor, macht mit Eran am Nachmittag Hausaufgaben und gibt hier und da Nachhilfeunterricht, um ein bisschen was dazuzuverdienen, schafft es in der Regel, zwischendurch etwas zu kochen, und abends geht sie hin und wieder mit einem Mann aus, den sie kennengelernt hat. Es ist alles in Ordnung. Nichts ist zu Bruch gegangen. Sie und Gil haben in etwa denselben Geschmack, was Essen, was Filme angeht, er sagt nie etwas, das sie Beschämung oder Verlegenheit empfinden lässt, er sieht gut aus, und es gefällt ihr, mit ihm auf der Straße gesehen zu werden, sein Hebräisch ist besser als das der meisten Leute, zuweilen sogar gehobener und korrekter als das ihre. Und er ist großzügig und geduldig. Kurzum, das Leben geht weiter. Sie geht nicht vor die Hunde.
Aber in anderen Momenten macht die Niedergeschlagenheit – oder die Hoffnung – jeden Ansatz dieses Gefühls zunichte, ihr Leben verlaufe normal, und Grauen befällt sie, wenn sie daran denkt, dass sie mit einem Mann ausgeht, der nicht Ronen ist, und dass das die Sachen sind, mit denen sie sich tröstet – dass sie beide Sushi mögen und dass er nicht dick ist. Als sei sie in wenigen Wochen zu einer anderen Frau geworden, einer sehr viel älteren, als sie in Wirklichkeit ist.
Erans Psychologe versichert ihr, dass sich unter der Oberfläche, die sie als einen totalen Zerfall ihres Lebens wahrnimmt, eine neue Ordnung ausbilde, ein neues Leben, aber es gelingt ihr nie länger als ein paar Minuten zu spüren, dass das auch stimmt.
An dem Abend, an dem ihre Mutter auf Eran aufpasst, schauen sie sich zum ersten Mal zusammen einen Film an. Interstellar, im Multiplexkino Yes Planet im Ayalon-Einkaufscenter. Orna ist zutiefst bewegt von der Verbindung zwischen dem Vater und seiner Tochter und kann am Ende des Films gar nicht aufhören zu weinen, wegen Eran und Ronen. Danach gehen sie in ein japanisches Restaurant im Börsenviertel, und sie erzählt Gil zum ersten Mal von Eran und Ronen.
Er sei ein besonderes Kind, introvertiert und sehr verletzlich. Anfang Juni werde er neun. Für sein Alter sei er ein bisschen klein und schmächtig, und das Bezauberndste in der letzten Zeit sei, dass er seinen Sinn für Humor entdeckt habe und bewusst versuche, andere zum Lachen zu bringen, vor allem sie. Und überglücklich sei, wenn es ihm gelinge. Seine große Leidenschaft seien Flugzeuge, ferngesteuerte Modellflugzeuge, Drohnen, alles, was durch die Luft fliege, und seit neustem auch Autos, er habe angefangen, Modelle von Autos zu sammeln, die er toll finde. Seine Verbindung zu Ronen sei sehr stark gewesen, von Anfang an, obwohl Ronen häufig wochenlang nicht zu Hause gewesen sei. Er habe als Reiseleiter im Ausland gearbeitet, sei genau genommen immer noch Tourguide, lebe jetzt aber in Nepal; und er habe Eran kein einziges Mal mehr gesehen, seit er im Dezember hier war, um die Scheidungspapiere zu unterschreiben.
Einen Augenblick befürchtete Orna, Gil wolle seine Hand auf die ihre legen, die auf dem Tisch lag, sie hoffte, er würde es nicht tun, nicht in diesem Moment. Er stellte so gut wie keine Fragen, weil er verstand, wie heikel das alles für sie war, und sie erzählte ihm, was sie konnte.
Dass Ronen eine Deutsche namens Ruth geheiratet hatte, drei Jahre älter als er, mit vier Kindern, und dass sie in Katmandu lebten und dort ein Hostel betrieben. Und dass Ruth schwanger war.
Dass Ronen versprochen hatte, Eran oft besuchen zu kommen, es bisher aber nicht ein einziges Mal getan hatte.
Dass sie seit Ende Februar nicht einmal mehr auf Skype miteinander gesprochen hatten.
»Und fragt Eran nicht nach ihm? Spricht er mit dir darüber?«
»Mit mir nicht. Als wenn er nie einen Papa gehabt hätte. Aber er redet mit seinem Psychologen über ihn, und ich hoffe, das genügt.«
Unterhalt zahle Ronen ihr, exakt den Betrag, zu dem er verpflichtet sei, erzählte sie, als Gil danach fragte. Genauer gesagt, seine Familie zahle. Seine Eltern überwiesen ihr jeden Monat Geld und besuchten Eran auch ein-, zweimal im Monat, wenn sie im Großraum Tel Aviv zu tun hatten. Sie hatte ihnen das untersagen wollen, weil diese Besuche Eran ihrer Meinung nach nur wehtaten, aber sein Psychologe hatte ihn gefragt, ob er die Treffen mit Oma und Opa genieße, und er hatte bejaht.
War Gil wegen allem, was sie ihm in diesem Gespräch erzählte, so geduldig mit ihr? Aber auch zuvor schon verhielt er sich, als hätte er alle Zeit der Welt. Drängte nicht auf ein Wiedersehen und überließ es ihr, die Treffen vorzuschlagen. Immer bot er an, für sie mit zu bezahlen, insistierte aber nicht. Sie bestand stets darauf, die Rechnung zu teilen, wenn sie etwas gegessen hatten, und ließ ihn nur dann bezahlen, wenn sie bloß etwas getrunken hatten und die Rechnung überschaubar war. Er hatte Geld, das wusste sie aus seinen Erzählungen beim ersten Treffen, aber er protzte nicht damit. Nach einem gemeinsamen Abend sah sie ihn in seinen Wagen steigen, einen neuen, roten Kia Sportage. Und tatsächlich gelang es ihm manchmal, sie zu überraschen, ihr das Gefühl zu vermitteln, es gäbe Dinge, die sie nicht von ihm wusste, und dass unter seiner konventionellen Erscheinung ein deutlich interessanterer Mensch steckte, den sie noch nicht kannte. Bei einem ihrer ersten Telefongespräche, es war kurz vor dem Wochenende, fragte sie ihn am Anfang: »Wie war deine Woche?«, und er sagte: »Ich war drei Tage in Warschau, bin gestern zurückgekommen.« Er hatte ihr zuvor nichts von einer solchen Reise gesagt.
»Warschau? Urlaub oder Arbeit?«
»Arbeit. Kennst du jemanden, der nach Warschau fährt, um dort Urlaub zu machen?«
Und nachdem sie in dem japanischen Restaurant über Eran und Ronen geredet hatten, versuchte sie, das Thema zu wechseln, um sich selbst aus dem Tief zu ziehen, fragte ihn mit forcierter Munterkeit: »Also, was machst du an den Abenden, an denen wir uns nicht treffen, wenn man fragen darf?«
Gil sagte, in der Regel lese er. Komme gegen halb sieben, sieben aus dem Büro, oder um acht, wenn er noch ins Fitnessstudio gehe, und wenn die Mädchen bei ihm in der Wohnung seien, verbringe er noch ein bisschen Zeit mit ihnen. Manchmal äßen sie zusammen zu Abend, guckten Nachrichten oder ein, zwei Folgen einer Fernsehserie. Im Augenblick liebten sie eine schreckliche Serie namens The Walking Dead. Er könne mit diesen Zombies echt nichts anfangen, schaue es sich aber seinen Töchtern zuliebe an. Wenn sie nicht bei ihm seien oder schon gegangen seien, lese er fast nur. Vor der Scheidung sei er wahrlich kein Vielleser gewesen, aber seither – auch wenn das nichts miteinander zu tun habe – habe er sich eines zur Regel gemacht: zu Hause, nach der Arbeit bleibe der Computer aus und das Handy abgeschaltet. Er las Sachbücher, Biographien, Bücher über Spionage, über den Mossad und den Zweiten Weltkrieg, aber auch populärwissenschaftliche Sachen wie Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari, das sie auch gelesen hatte. Fernsehen schaute er niemals alleine, nicht aus Prinzip, sondern weil er zu dem Schluss gelangt war, dass es Zeitvergeudung war und er mit einem Buch den Kopf sehr viel besser von der Arbeit freibekam, und sie schämte sich, denn sie hatte bis jetzt angenommen, von ihnen beiden sei er der oberflächlichere, obgleich sie, abgesehen von den Büchern, die sie Eran vorlas, seit über einem Jahr keines mehr aufgeschlagen hatte.
Sein süßlich schokoladiges Parfüm hatte er gegen ein anderes, herberes getauscht, was sie sehr bedauerte, aber sie waren noch nicht so weit, dass sie ihm das hätte sagen können. Einmal während des Treffens und dann noch einmal in der darauffolgenden Nacht stellte sie ihn sich einen Moment lang ohne Kleider vor, sah ihn nackt vor sich stehen, sein Torso heller und massiger als der von Ronen, unbehaart, und die Beine weniger schlank und sehnig, aber dafür vielleicht ein klein bisschen länger. In ihrer Vorstellung war auch sie, als sie ihn für einen flüchtigen Augenblick so sah, fast nackt, trug nur einen Slip, aber auch in der Phantasie berührten sie sich nicht, betrachteten einander nur aus unmittelbarer Nähe, in einem Zimmer, das weder ihr Schlafzimmer noch sonst irgendein Zimmer war, das sie kannte. Dennoch war die Möglichkeit einer Berührung gegeben, als sie so voreinander standen, das Gefühl, dass ein Kontakt ihrer Körper denkbar war.
Die überraschendste Entwicklung zwischen ihnen aber waren die Telefongespräche.
Es begann Mitte des Monats, einige Tage nach dem vierten Treffen, das in einem teuren Fischrestaurant im Hafen von Tel Aviv stattgefunden hatte. Wie bei den vorherigen Malen hatten sie danach nicht abgemacht, wie es weitergehen sollte, hatten kein nächstes Treffen vereinbart, und eines Abends, nachdem sie Eran vorgelesen, die Küche aufgeräumt und angeödet vor dem Computer gesessen hatte, schaltete sie den Fernseher an, schaute sich ein paar gruselige Minuten von Big Brother an und dachte an ihn in seiner Wohnung, wie er vielleicht las. Sie schaltete den Fernseher ab und schickte ihm eine Textnachricht, und als er nicht antwortete, fiel ihr ein, dass er ja abends nach Möglichkeit sein Telefon abschaltete, dennoch probierte sie es bei ihm, aber nicht von ihrem Mobiltelefon, sondern vom Festnetz aus.
Gil hob sofort ab, obwohl ihm die Nummer unbekannt sein musste. Wie sich herausstellte, hatte er sein Handy doch nicht abgeschaltet, weil Hadas, die jüngere Tochter, noch bei ihm war, aber Ornas Nachricht hatte er nicht gesehen.
»Soll ich später noch mal anrufen?«, fragte sie, und er sagte: »Nein, nein. Warte eine Sekunde. Ich gehe ins Nebenzimmer.«
Ihre Gespräche waren kurz. Und hatten keinen klaren Zweck. Sie sprachen alle drei, vier Tage miteinander, vor allem, wenn sie sich nicht trafen, und immer war sie es, die anrief. Gil sagte, er schalte sein Handy jetzt abends nicht mehr aus, sondern stelle es nur auf stumm, und jedes Mal, wenn sie anrief, war er gleich dran. Irgendwann fiel ihr auf, dass sie ihn immer vom Festnetztelefon aus anrief, als würde sie etwas rekonstruieren, an das sie sich aus ihrer Jugend erinnerte: Sie ist vierzehn und hat zum ersten Mal einen Freund, Sharon Lugassi aus der Nachbarklasse, aber kein eigenes Telefon in ihrem Zimmer, nur eine Anschlussdose. Um ungestört mit ihm sprechen zu können, holt sie den Telefonapparat aus dem Wohnzimmer, steckt ihn in ihrem Zimmer ein und schließt von innen die Tür ab. In der Regel geht seine Mutter ans Telefon, und sie stellt ihr die Frage, die heute ausgestorben ist: »Schalom, kann ich mit Sharon sprechen?«
Auch damals war ihr, wie bei den Gesprächen mit Gil, nicht klar, warum sie eigentlich telefonierten. Sie verbrachten den ganzen Tag zusammen in der Schule und hatten sich nicht viel zu sagen, trotzdem waren diese Gespräche existentiell wichtig für das, was zwischen ihnen geschah, selbst wenn sie dabei schwiegen.
Mit Gil aber gibt es kein Schweigen.
Orna fragt ihn: »Wie war die Arbeit? Hast du schon wieder einen Kurztrip nach Moskau hinter dir?« Und er antwortet, »Heute mal ausnahmsweise nicht. Heute war ich den ganzen Tag im Büro.«
»Kein Fitnessstudio? Ich hoffe für dich, du hast wenigstens das Mittagessen ausfallen lassen.«
»Ja, ins Studio hab ich’s nicht geschafft. Die Mädchen sind zum Abendessen gekommen. Vielleicht ja morgen früh. Ich hab’s wirklich nötig.«
»Also liest du gerade?«
»Noch nicht. Und was ist mit dir? Wie geht’s Eran?«
Der Name Eran, aus seinem Mund, beschert ihr eine Flut ambivalenter Gefühle, ja lässt sie vielleicht sogar zurückschrecken. Es belastet sie, dass sie Eran nichts Näheres über Gil erzählt und ihm weiterhin nur sagt, sie treffe sich mit einem Freund. Ihre Mutter hat sie schon gefragt, ob sie jemanden kennengelernt hat, und sie hat sich geweigert, darauf zu antworten.
Nach zehn Minuten oder einer Viertelstunde nutzt sie einen Augenblick der Stille und sagt: »Also, gute Nacht«, und er erwidert: »Dir auch.«
Dass ihre Gespräche sie an die Telefonate mit Sharon Lugassi erinnern, sagt sie ihm nicht, damit er keinen falschen Eindruck kriegt.
Erans Geburtstag war Anfang Juni.
Sie ging ein Wagnis ein: anstatt einer gewöhnlichen Feier für die Kinder aus der Klasse am Freitagnachmittag, im Park bei ihnen um die Ecke oder zu Hause, was für alle Eltern zwei Stunden ohne Kind und ohne allzu großen Aufwand bedeutet hätte, entschied sie sich für Drachenfliegen am Strand von Rishon Lezion, somit mussten alle Kinder hingebracht und abgeholt werden. Ein Vater schlug vor, sie solle doch einen großen Minibus für die ganze Klasse mieten, aber sie wollte nicht die Verantwortung für den Transport übernehmen, zumal die Kosten für die Feier ohnehin schon weit über ihrem Budget lagen. Stattdessen eröffnete sie eine WhatsApp-Gruppe und versuchte, bei der Organisation von Fahrgemeinschaften behilflich zu sein, versprach außerdem den Eltern, die ihr Kind zum Strand brachten und nicht hin- und herfahren wollten, kaltes Bier und Wassermelone.
Die Party sollte um halb fünf beginnen, aber sie war schon um drei dort. Mit Eran, ihrer Mutter, der Oberstufenschülerin, die manchmal auf Eran aufpasste, und der Sozialpädagogin, die ihn während der Schulzeit begleitete und die ihren Freund mitgebracht hatte, um beim Aufbau zu helfen. Sie hatte auch, obwohl sie nicht gemusst hätte, Ronens Eltern eingeladen, aber die hatten im letzten Augenblick abgesagt, offenbar weil sie befürchteten, sich fehl am Platze zu fühlen, oder vielleicht auch ihrer Mutter nicht begegnen wollten. Aber sie hatten versprochen, für Eran im Moschaw eine eigene Geburtstagsparty mit der Familie zu organisieren.
Sie stellten Campingklapptische auf und verteilten darauf Knabbersachen und Getränke. Um halb vier kamen die großen Luftmatratzen und Sitzsäcke, die sie gemietet hatte, und um vier traf der Drachenmensch mit einer Crew aus drei älteren Schülern ein. Eran lief zwischen ihnen allen herum, ganz konzentriert auf seine Drohne – ihre Mutter hatte mit ihrem Geschenk nicht warten können, obwohl sein Geburtstag strenggenommen erst am nächsten Tag war –, und als der Akku der Drohne leer war, half er, die Sandwichs auf den Tischen zu arrangieren. Das Einzige, was sich nicht hatte planen lassen, war der Wind.
Um zwanzig vor fünf waren erst drei Kinder da, die keine Mitfahrgelegenheit gefunden hatten und von ihren Eltern einzeln hergebracht worden waren, und Ornas Mutter warf ihr einen besorgten Blick zu, aber um zehn vor trafen vier Autos mit einem großen Schwung Kinder ein, und die Feier begann. Achtundzwanzig von dreiunddreißig Kindern aus der Klasse waren da, wobei sich zwei im Voraus abgemeldet hatten. Am Nachmittag, während der Feier, hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, aber am Abend, als sie zu Hause die Geschenke auspackten, überwältigte sie ein starkes Gefühl von Dankbarkeit, den Eltern, den Kindern, dem Drachenmenschen, ja sogar ihrer Mutter gegenüber, Dankbarkeit für jeden, der mitgeholfen hatte, das Ganze zum schönsten Geburtstag zu machen, den Eran je gefeiert hatte. Das war ein Beweis nicht nur für ihr Organisationstalent, sondern vor allem für die Zuneigung, die Eltern und Kinder ihm entgegenbrachten, ein Beweis dafür, dass sie ihn als festen Bestandteil der Klasse sahen, obwohl er so introvertiert und einzelgängerisch war, und wohl auch für ihre Bereitschaft, ihm angesichts seiner persönlichen Krise zu helfen. Sie hatte zwar mit den meisten Eltern aus der Klasse nicht über ihre Scheidung gesprochen, aber klar war, dass alle wussten, was sie beide durchmachten.
Der Drachenverleiher teilte Kinder und Eltern, die mitmachen wollten, in vier Gruppen ein, die die Drachen aus den von ihm vorbereiteten Teilen zusammenbauten und schmückten. Ungefähr um Viertel vor sechs waren alle fertig damit, und da der Wind zu schwach war, wurden als Nächstes die Sandwichs und der Kuchen verteilt und dann die Kerzen ausgepustet. Obwohl sie sich für alles Listen gemacht hatte, hatte sie nicht an einen Stuhl gedacht, auf dem man Eran hochleben lassen konnte, aber ein Vater schlug vor, ihn auf einem der Sitzsäcke in die Höhe zu heben, was sogar noch besser war, weil Eran so auf dem Rücken lag, den Kopf nach hinten gelegt und den Blick in den Himmel gerichtet. Zehnmal warfen sie ihn hoch in die Luft. Als die Sonne unterzugehen begann, frischte auch der Wind auf, und die Drachen der Kinder flatterten am Himmel wie riesige Schmetterlinge und lockten nicht wenige Schaulustige an, Kinder wie Erwachsene, die sich am Strand um sie versammelten. Selbst ihre Mutter musste zugeben, dass es eine tolle Idee war und Orna recht gehabt hatte, auf einer Feier am Strand zu beharren, und als sie am Ende dem Drachenmenschen den Scheck aushändigte, tat sie es ohne zu feilschen und ohne, wie sonst immer, allen das Gefühl zu geben, man nähme sie aus. Alles in allem hatten sie fast fünftausend Schekel für die Feier ausgegeben.
Den Schabbat verbrachten sie ganz ruhig, zu Hause.
Eran wachte früh auf und kam zu ihr ans Bett, weckte sie, und sie sang ihm flüsternd »Zum Geburtstag viel Glück« ins Ohr. Dann gab sie ihm das wenig spektakuläre Geschenk, das sie nach einiger Überlegung und Beratschlagung mit dem Psychologen gekauft hatte: ein Notizbuch mit unlinierten und besonders dicken Seiten aus handgeschöpftem Papier, mit einem braunen, von einem Band zusammengehaltenen Ledereinband, in das er oben auf jede Seite das Datum schreiben konnte und darunter, was er an dem Tag gemacht und gesehen und gedacht hatte. Er rannte in sein Zimmer und kam nach wenigen Minuten zu ihr in die Küche zurück, um ihr zu zeigen, was er geschrieben hatte. Sie hatte ihm nicht erklärt, dass man auf der ersten Seite anfangen musste, und so hatte er eine Seite in der Heftmitte mit großen grünen Filzstiftbuchstaben gefüllt: »Ich habe neunte Geburtstag. Mama hat mir ein Heft geckauft. Papa wird vihleicht auf dem Computer anrufen.« Sie kochte ihm sein Lieblingsessen, Geflügelleber mit gebratenen Zwiebelringen und Kartoffelpüree, und sie aßen gemeinsam mit ihrer Mutter zu Mittag, die noch einen Schokoladenkuchen mitgebracht hatte, diesmal ohne Kerzen.
Als Eran zum Fernsehen in sein Zimmer gegangen war, fragte ihre Mutter: »Er hat nicht mal angerufen, um zu gratulieren?«
Sie antwortete nicht, räumte weiter das Geschirr vom Tisch und in die Spülmaschine und war fassungslos, als sie ihre Mutter aus der Essecke murmeln hörte: »Dieser elende Hund!«
In den Tagen zuvor hatte sie Erans Psychologen um Rat gefragt, wie sie das Thema ansprechen sollte, dass sein Papa an seinem Geburtstag nicht da sein würde, und der Psychologe war der Meinung gewesen, man müsse Ronen wenigstens zu einem Anruf zu bewegen versuchen. Also hatte sie ihren Stolz heruntergeschluckt und ihm sowohl eine E-Mail als auch eine Textnachricht über Skype geschickt, die erste seit zwei Monaten: »Ich hoffe, du erinnerst dich, dass Eran an diesem Schabbat Geburtstag hat. Es würde sehr helfen, wenn du anrufst und ihm gratulierst.« Ronen hatte nicht geantwortet, aber sie hoffte, dass er die Nachrichten zumindest gesehen hatte.
Ihre Mutter ging nach dem Mittagessen, und so waren sie nun allein zu zweit.
Sie schlug ihm vor, ins Kino zu gehen, aber Eran wollte lieber zu Hause bleiben, und sie begriff, dass er auf einen Anruf von Ronen wartete. Sie spielten Monopoly im Wohnzimmer, und danach zog er sich wieder in sein Zimmer zurück und schaute fern, und sie korrigierte Arbeiten. Die Skype-App war aufgerufen und die Verbindung aktiv, sie schaute ab und zu nach. Sie fühlte, wie ihr Hass immer stärker wurde, und versuchte, ihn zu unterdrücken, weil das Eran nicht half und ihm nur schaden würde. Sie durfte nicht zulassen, dass Ronen die zwei rundherum glücklichen Tage ungeschehen machte, die sie Eran ermöglicht hatte, und das unter den gegebenen Umständen, sie ganz allein und mit der Hilfe von Menschen, die sie beide liebten.
Am Abend, vor dem Geschichtenvorlesen, sagte sie ihm ungefähr das, was sie mit dem Psychologen für den Fall, dass Ronen sich nicht meldete, vereinbart hatte: »Kann sein, dass es Papa noch nicht geschafft hat anzurufen, aber ich bin sicher, er wird bald mit dir sprechen, und auch, dass er an dich denkt und daran, dass du jetzt schon neun Jahre alt bist. Du weißt ja, dass es eine Zeitverschiebung von mehreren Stunden zwischen uns und dem Land gibt, wo Papa jetzt ist, und vielleicht klappt es deshalb nicht. Auf jeden Fall weißt du ja, dass Papa dich ganz, ganz doll liebhat, nicht wahr?«
Am liebsten hätte sie Ronen angerufen und ihn beschimpft, wie ihre Mutter es getan hatte, aber das wäre kläglich und mitleiderregend gewesen. Ohnehin würde er nicht antworten. Stattdessen versuchte sie, Gil zu erreichen, aber sein Telefon war aus. Zuletzt hatten sie am Dienstagabend miteinander gesprochen. Sie hatte ihm von den Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier erzählt und am Ende des Gesprächs gesagt: »Wir werden uns sicher erst danach wieder sprechen.« Und am Freitag hatte er ihr gleich morgens eine SMS geschickt: »Viel Erfolg heute! Und herzlichen Glückwunsch euch beiden!«
Sie musste einfach mit jemandem reden, also rief sie Sophie an. Und es dauerte keine Minute, bis sie in Tränen aufgelöst war, Tränen, in denen die ganze Anspannung der letzten Woche zerfloss. Sophies Mann Itzik war zu Hause und Sophie konnte trotz der späten Stunde noch vorbeikommen. Sie wohnte fünf Minuten zu Fuß entfernt und stand, im Jogginganzug, schon um Viertel nach zehn vor ihrer Tür. Sie sprachen über Ronen, und Sophie sagte, was Orna hören wollte – im Flüsterton, damit Eran nicht aufwachte –, unglaublich, was für ein Arsch er sei, und dass niemand sich hätte vorstellen können, dass ein solcher Arsch aus ihm werden würde, und dass er ein Kind wie Eran gar nicht verdient hatte.
Das war tröstlich.
Und ohne es geplant zu haben, erzählte Orna ihr von Gil.
Sophie hatte gerade gemeint: »Gott wird dir eine Entschädigung für dieses Arschloch schicken, ich bin sicher, am Ende wird ein Guter kommen«, als sie ihre Freundin sprachlos machte, indem sie sagte: »Kann sein, dass da schon jemand ist, ich bin nicht sicher. Aber offenbar schon.«
Sophie fasste es nicht, dass sie ihr bisher nichts verraten hatte, und wollte sofort alles wissen. Orna erzählte auch, was nicht leicht zu erzählen war. Dass sie sich über ein Dating-Portal für Geschiedene kennengelernt und sich seither sieben- oder achtmal getroffen hatten. Dass sie von Zeit zu Zeit telefonierten. Sophie wollte auf der Stelle wissen, wie er aussah, und da sie kein Foto hatte, sagte Sophie: »Wo ist das Problem? Wir finden ihn auf Facebook.« Komisch, dass sie noch gar nicht auf den Gedanken gekommen war, ihn auf Facebook zu suchen, aber so merkwürdig vielleicht auch wieder nicht, weil sie selbst ja auch keinen Account dort hatte. Sie loggten sich über Sophies Account ein, suchten nach »Gil Chamtzani«, auf Hebräisch und auf Englisch, unter allen möglichen Schreibweisen, und fanden ihn nicht. Aber dann fiel Orna ein, dass sie sich seine Bilder ja auf dem Portal anschauen konnten. Sie ging auf sein Profil, und Sophie sagte: »Er sieht nicht schlecht aus, obwohl, eine Spur zu alt für dich, oder nicht?«
Sie scrollten noch ein paar andere Profile durch, aus reiner Neugierde. Sophie sagte: »Ganz nette Typen, vielleicht sollte ich mich auch mal scheiden lassen«, und fragte dann: »Also ist es was Ernstes?« Und Orna antwortete: »Ich habe keine Ahnung. Wie weiß man das überhaupt? Ich glaub, ich hab’s vergessen.«
Ihre Stimmung besserte sich merklich. Gil war kein Geheimnis mehr, und sie hatte das Gefühl, als brächte sie das ihm auf irgendeine Weise näher. Sie gestand, dass sie noch nicht miteinander geschlafen, ja sich nicht einmal geküsst hatten, und als Sophie sagte: »Ja wie sollst du es dann auch wissen? Ab in die Kiste, danach reden wir weiter«, musste sie lachen. Das Ganze war wie ein Gespräch unter Pennälerinnen, obwohl sie sich auf dem Gymnasium noch gar nicht gekannt und erst viele Jahre später, über die Kinder, angefreundet hatten. Eran und Tom, Sophies Ältester, waren zusammen in die Krippe und dann in denselben Kindergarten gegangen, erst mit der Einschulung hatten sich ihre Wege getrennt, weil bei Tom eine leichte Form von Autismus diagnostiziert worden war und er jetzt auf eine Sonderschule ging.
Am nächsten Tag passierte es.