Die Mondgeliebte - Herbert Friedmann - E-Book

Die Mondgeliebte E-Book

Herbert Friedmann

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Beschreibung

Der Schriftsteller Strömberg hat seine besten Jahre lange hinter sich. Für eine Wortagentur im Internet schreibt er Hotelbewertungen und Staubsaugertestberichte. Damit hält er sich mühsam über Wasser. Eines Tages erwischt er den Auftrag, eine erotisch-romantische Geschichte zu schreiben. Die Auftraggeberin ist mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Sie bleiben in Kontakt. Adaja Lalaluna lebt in der Schweiz. Strömbergs Mondgeliebte, die große Liebe seines Lebens ...

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Herbert Friedmann

Die Mondgeliebte

Herbert Friedmann

DIE MONDGELIEBTE

Roman

©2016 Herbert FriedmannUmschlaggestaltung unter Verwendung des Gemäldes Die Lesende vonJean Jacques Henner. Das Original befindet sich im Musée d’Orsay, Paris

Lektorat: Ulrieke RuwischVerlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBNPaperback 978-3-7345-7566-2 Hardcover 978-3-7345-7567-9 E-Book 978-3-7345-7568-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für die unbiegsame Rose

Wie schön ist es zu träumen, dass alles, was wir geliebt haben, immer und ewig um uns sein wird!

Gérard de Nerval, Aurelia

Wenn man jemanden wirklich liebt, muss man seine geheimnisvolle Seite akzeptieren … Gerade darum liebt man ihn ja.

Patrick Modiano, Im Café der verlorenen Jugend

1

Ein Engel kam, umarmte ihn und flog wieder davon.

2

Zwei Menschen begegnen sich und erkennen die spiegelgleiche Seele. Das Vertrauen hat ein Zuhause gefunden. Aus der Vielzahl menschlicher Emotionen kristallisiert sich das größte und einzigartigste Gefühl heraus.

Ich liebe dich … Drei Worte, die oft leichthin gesagt werden. Manchmal aus einem momentanen Überschwang heraus, durchaus wahr in der Sekunde, in der sie ausgesprochen werden. Ich liebe dich … Das umfasst nahezu alles, was einem anderen Menschen versprochen werden kann. Das Leben mit einem anderen teilen. Bei absolutem Vertrauen und vollster Loyalität. Ich liebe dich … So wie du bist. Das bedeutet, auch Schwächen zu tolerieren und den anderen nicht nach den eigenen Vorstellungen zu formen. Liebe kann nur in Freiheit gedeihen und bestehen.

Ich liebe dich … Respektvoll miteinander umgehen, den Partner nicht als Besitz betrachten. Auch bei Spiegelgleichheit der Seelen bleibt jeder eine eigenständige Persönlichkeit, die er ist …

Strömberg überlegte, ob er Das Glück verdoppelt sich, wenn es geteilt wird einfügen sollte, verwarf die Postkartenweisheit, fand es dagegen anmutig, einen Satz wieDie Liebe höret nimmer auf an den Schluss des Hochzeitsversprechens zu setzen, das ihn beim zweiten Lesen sowohl rührte als auch betrübte. Es gab derzeit keine Frau in seinem Leben, der er etwas hätte versprechen können.

Er füllte ein Wasserglas mit billigem Merlot, führte die Überprüfung der Rechtschreibung durch, korrigierte die angezeigten Tippfehler, überflog den Text, fügte fehlende Kommata hinzu und verschickte die Auftragsarbeit via Internet an die Wortagentur.

Seit zwei Jahren arbeitete er als Wortstricher, 1,4 Cent pro Wort, weit unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, seit seine Bücher nur gelesen wurden, wenn er sie verschenkte.

In der Küche rauchte er eine Zigarette am offenen Fenster und schaute in den Berliner Himmel, der in dieser Aprilnacht wolkenverhangen war.

Keine Sterne über dem Wedding, der gewaltig im Kommen war, Bioläden neben den traditionellen Dönerbuden, auf den Straßen trabten zu jeder Tageszeit junge Jogger, die verkabelt waren, als kämen sie gerade vom Kardiologen. Steigende Mieten, kaum noch Leerstände. Vor zehn Jahren hatte Strömberg keine Kaution zahlen müssen und drei Monate die Nebenkosten erlassen bekommen.

Fast 200 Bewerber für eine Zweiraumwohnung in Moabit, hatte der Hausverwalter ihm kürzlich erzählt. Strömberg verdrängte den Gedanken, vielleicht bald selbst zu den Wohnungssuchenden zu gehören. Vor ein paar Monaten hatte er die Wohnungsbesitzerin auf der Straße getroffen, freundlich wie immer deutete sie an, in etwa einem Jahr Strömbergs 60 Quadratmeter für sich zu benötigen. Er könne sich ja schon einmal auf dem Wohnungsmarkt umschauen.

Strömberg schnickte die Kippe auf die Straße, wechselte ins Wohnzimmer, das zugleich seine Wortmanufaktur war, klickte sich auf die Webseite des Wörterdealers und hoffte, kurz nach Mitternacht eine Order zu erwischen, die ihm am nächsten Tag leicht von der Hand ginge.

Er mochte es, wenn zum Beispiel gewünscht wurde, einen bereits im Internet vorhandenen Text umzuschreiben, damit er nicht als Duplikat auffiel. Für einen seiner anonymen Kunden kürzte er gelegentlich aktuelle Gerichtsurteile und übersetzte das Juristendeutsch in eine verständliche Sprache.

Lieber unbekannter Autor,

auf der Suche nach einem Wortkünstler bin ich auf dieser Seite gelandet und hoffe, einen einfühlsamen Schreiberling zu finden, der in der Lage ist, eine erotisch-romantische Geschichte zu verfassen. Der Inhalt soll in erster Linie Frauen um die 50 ansprechen. Bitte schreiben sie zunächst lediglich 300 Wörter. Wenn mir der Einstieg gefällt, vergebe ich die nachfolgenden Aufträge als DirectOrder. Es besteht kein Zeitdruck. Sie haben für den Anfang sieben Tage Zeit. Ich freue mich sehr auf Ihre Ideen. Wenn Sie Fragen haben, können Sie mich gerne über die Nachrichtenfunktion der Textagentur kontaktieren.

Viel Erfolg und liebe Grüße, A.

Das klang nach leicht verdientem Geld, schneller geschrieben als erfundene Testberichte über Staubsauger, Mixer oder Wellness-Hotels. Strömberg klickte auf den Button: Ich möchte diesen Text schreiben.

Zugleich fiel ihm ein, dass er ein Buch mit erotischen Gedichten besaß: Zauber gegen die Kälte von GiocondaBelli. Aber wo hatte er es hingestellt? Wenn das halbe Leben Ordnung war, hatte er sich bereits als Kind für die andere Hälfte entschieden. Er suchte mit den Augen die Bücherregale im Wohnzimmer ab. Wie immer entdeckte er, was er nicht suchte. Jean Pauls gesammelte Werke zum Beispiel und von Egon Erwin Kisch eine Erstausgabe aus dem Jahr 1923, Klassischer Journalismus.

Wenn Strömberg sich anstrengte, hätte er bis zum Sonnenaufgang den Anfang einer erotischromantischen Geschichte geschrieben, auch ohne Gioconda Bellis Inspiration. Er stopfte sich eine Zigarette, setzte sich an den Laptop und bastelte in Gedanken an einem Handlungsablauf.

Als ein vager Geistesblitz durch sein Gehirn zuckte, war er zu müde, um seine Vorstellungen zu formulieren. Freund Merlot drückte ihm beide Augen zu.

3

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist …

Im Anfang war es bei Gott.

Strömberg erinnerte sich nicht, ob er geträumt, ob er überhaupt geschlafen hatte oder ob Freund Merlot der Urheber jener wundersamen Begebenheit war.

Es musste am Ende der Nacht gewesen sein. Ein halber Mond stand am Himmel. Er saß auf dem Balkon und füllte mit fünf merlotroten Buchstaben die fehlende Hälfte des Erdmondes auf.

Zunächst malte er mit dem rechten Zeigefinger Kringel in die Luft, ein unbeholfener, einarmiger Dirigent, der ein imaginäres himmlisches Orchester zum Spielen animieren wollte. Dann besann er sich auf sein Metier.

Er zeichnete ein musikalisch geschwungenes A von der Größe einer mittleren Melone. Es folgte ein schnörkelloses D. Der dritte Buchstabe war wiederum ein A, verspielt wie eine junge Katze. Danach malte er ein expressionistisches J und ein weiteres A, zierlich und weich und rundlich wie ein O. Allerdings war es ein wenig zu dünn geraten: ADAJA.

Den zuvor halben, nun nahezu vollständigen, wortgefüllten Mond färbten die überlaufende Farbe der Buchstaben merlotrot. Er sah gut aus. Der Wortmaler lächelte. Er hatte keine Ahnung, was seine Wortmalerei bedeutete. Adaja kam ihm leicht über die Lippen. Er probierte das Wort in verschiedenen Tonfarben. Die zart gehauchte Variante gefiel ihm sehr. … und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist …

Die Amnesie nach dem Erwachen, an jedem neuen Tag die drei fundamentalen Fragen: Wo bin ich? Wer bin ich? Wozu bin ich?

Nach einer Tasse Kaffee und zwei Zigaretten arrangierte Strömberg sich mit dem Dasein, ohne verlässliche, geschweige denn endgültige Antworten gefunden zu haben. Er verließ den Raum der Erinnerung an die nächtliche bizarre mentale Aktivität und widmete sich der Aufgabe, die ihm diese geheimnisvolle A. gestellt hatte. Eine Aufgabe, deren Lösung er sich zutraute, auch wenn er niemals zuvor eine erotische Geschichte geschrieben hatte. Jeder Text fing mit dem ersten Satz an. In den zahlreichen Ratgebern, die Strömberg im Laufe der Jahre gelesen hatte, wurden die angehenden Schriftsteller aufgefordert, unbedingt mit der stichwortartigen, chronologischen Aufzählung aller Ereignisse für deine Geschichte zubeginnen.

Nach einer Stunde, fünf Zigaretten und zwei Espressi war er so klug als wie zuvor. Ebbe im Wörtermeer.

Er erledigte den täglichen Einkauf bei Aldi, las anschließend auf dem Balkon den Sportteil der Berliner Morgenpost und fand zurück in die Spur. Seine Beharrlichkeit und die Aussicht auf eine DirectOrder, die das Vierfache des üblichen Honorars einbrachte, jagten ihn an den Laptop. Freidenkend und freischreibend, alles geben, was die Fantasie bereithielt, und vom Zufall überraschen lassen.

Gut gedacht, aber längst nicht geschrieben. Kein Sprudeln, nur ein Tröpfeln, zwei, drei Wörter und endlich der erste Satz, gewiss nicht für die Ewigkeit, immerhin ein Anfang.

Selena lag, eingemummelt in einer dunkelroten Wolldecke, auf der Couch und verfolgte eine Quizshow im Fernsehen …

Er hielt inne. Zu vage erschien ihm auf einmal die Vorgabe der Auftraggeberin. Was erwartete sie, etwa einen Abklatsch von Fifty Shades of Grey?

Er hätte nachfragen können, fürchtete jedoch, eine Antwort würde zusätzliche Verwirrung stiften, schrieb tapfer weiter und tauschte den Vornamen der Protagonistin und die Farbe der Decke aus.

Helena döste auf der Couch, eingemummelt in einer havanna-nachtblauen Wolldecke, die frisch gewaschen war und nach Alpenfrühling duftete.

Strömberg schnalzte mit der Zunge, havannanachtblau, eine Wortschöpfung, die gut für ein Gedicht verwendbar wäre. Munter tippte er weiter.

Helena verfolgte eine Quizshow im Fernsehen. Sie langweilte sich, war aber zu bequem, um nach der Fernbedienung auf dem Tisch zu greifen und um- oder abzuschalten. Sie würde bald zu Bett gehen, noch ein paar Seiten lesen.

Sie zappte sich aus der schalen Quizwelt zu den Radiokanälen und erwischte die letzten Töne von Geschwinde, geschwinde, ihr wirbelndenWinde … Der Bach-Kantate folgte ein populärer Hit der klassischen Musik von Maurice Ravel. Helena seufzte und träumte einen erotischen Bolero auf Zwei:

AA BB AA BB AA BB AA BB A und wer B hört wie Bolero wie Du(r) und ich in wechselnder Klangfarbe beginnt das Wir mit einem leisen Trommelschlag Tatatam gekleidet in herzlicher Harmonie von Querflöte und Klarinette betont spricht das Fagott die ersten Streichelworte die Klarinette antwortet in ähnlicher Sanftheit über lange Zeit der Ostinato Rhythmus im Warten Dreivierteltakt und ständiges Crescendo AA BB AA BB AA BB AA BB und B wie Bolero auf Zwei wie Himmel und Erde wie behutsames Erfühlen nach jeder Variation eine neue Ebene der Sehnsucht nach Erfüllung und dem Erfühltwerden von diatonischen Akkorden begleitet. Wir in stiller Umarmung und plötzlich klingen die Instrumente in anderen Tonarten fliegen schwere los in die verdoppelte Höhe wir schweben mit der Celesta noch zwei drei Oktaven höher im liebes taumeligen Glissandi der Posaunen jäh ein Aufschrei tönt in einem dissonanten Akkord der sich geschmeidig in ein Wir in C-Dur auflöst.

Wow! Helena atmete tief ein und aus. Es war eine Weile her, dass sie sich selbst berührt hatte, noch länger das Schweben im harmonischen Wir. Sie streichelte die Brustwarzen, verharrte eine Weile in der Sehnsucht nach einem zweisamen Höhenflug, die nach dem Orgasmus mächtiger geworden war, schaltete den Fernseher aus und schlief bald ein.

Strömberg warf einen Blick auf den Wortzähler am unteren linken Rand des Monitors: Er hatte sein Soll sogar übererfüllt.

4

Strömberg hatte kurz und gut geschlafen und scherte sich an diesem Aprilmorgen einen Dreck darum, wo, wer und wozu er war. Er rauchte hastig, verzichtete auf Kaffee und schaltete den Laptop ein, der elend lange brauchte, bis er hochgefahren war. Keine Nachricht von A. Vielleicht formulierte sie gerade eine höfliche Absage.

Kaffee, ein Muffin, Nikotin, Dusche, Nikotin und zurück an den Laptop. Weder die ersehnte und erhoffte Lobpreisung noch eine Absage.

Das Läuten des Telefons versetzte ihn in Aufregung. Obwohl es unmöglich war, dass sich seine Auftraggeberin meldete, glaubte er es für einen Augenblick und glaubte es einen weiteren wahnsinnigen Moment, als eine aufgeweckte Frauenstimme fragte, ob sie mit Herrn Strömberg spreche.

Er bejahte und erfuhr, dass heute sein persönlicher Glückstag und er für einen supergünstigen Handyvertrag auserwählt sei. Was er davon hielte?

Er antwortete, er freue sich außerordentlich, zu den Auserwählten zu gehören, doch er habe seinerseits ein sensationelles Angebot für sie, drei seiner Bücher zum Preis für zwei, portofrei, zwei Lyrikbände und ein vergriffener Roman, auf Wunsch mit Signatur und/oder persönlicher Widmung, lieferbar solange der Vorrat reiche.

Die Dame lachte und legte auf. Strömberg freute sich, dass er sie zum Lachen gebracht hatte und vergaß darüber, die romantisch-erotische Geschichte. Er brühte sich einen Kaffee und setzte sich auf den Balkon.

Traumbewölkt starrte er auf die Backsteinfassade der ehemaligen Osramfabrik und kramte aus seinem Langzeitgedächtnis eine wundersame Begebenheit unbekannter Herkunft hervor. Sie handelte von einer unbiegsamen Rose, die im Rosengarten beim Einsiedlerhaus lebte. Das war einer von drei Rosengärten in der Schweizer Rosenstadt Rosenwil am Zürchersee. Das Haus gehörte zu einem Kapuzinerkloster auf der Halbinsel Hurden, die weit in den See ragte.

Die unbiegsame Rose war nicht nur schön, sondern auch bemerkenswert bescheiden. Dennoch schätzte sie es, wenn die Besucher des Rosengartens sich an ihr erfreuten.

Manchmal dachte sie an die Wildrosen, die robusten und freiheitsliebenden Vorfahren der Gartenrosen. Sie wünschte sich so sehr ein vogelfreies Leben, selbstbestimmt und mit der Möglichkeit, die Welt jederzeit aus einer anderen Perspektive betrachten zu können. Heute hier und übermorgen vielleicht ganz woanders.

Die schöne, bescheidene und unbiegsame Rose verschwendete die Zeit nicht mit Träumen. Vom Frühjahr bis in den Spätherbst arbeitete sie hart. Das ging nur nachts, wenn die anderen Rosen schliefen und der Rosengarten menschenleer war. Jeden Monat gelang es ihr, die Wurzeln ein paar Millimeter aus dem Erdreich zu lösen. Sie ahnte nicht einmal, dass manche Rosen bis zu vier Meter tief in der Erde wurzelten. Wenn sie gewusst hätte, wie innig sie mit der Erde verbunden war, hätte der Umstand nichts an ihrem Freiheitsdrang geändert.

In manchen Nächten weinte sie winzige Tränen, die nach salzigem Rosenöl schmeckten. Nach sieben Jahren der Beharrlichkeit geschah es in einer Vollmondnacht. Die unbiegsame Rose schwebte gut einen halben Meter über dem Boden. Ein geglückter Augenblick, wie es ihn äußerst selten im Dasein einer Rose gab. Sie genoss das federleichte Schweben für eine Weile und kehrte zu ihrem Ursprung zurück.

Strömberg winkte einem Spatz, der sich auf der Balkonbrüstung niedergelassen hatte und aufmerksam dem stummen Märchen lauschte. Als von Strömberg nichts mehr kam, wechselte der Spatz wechselte die Straßenseite. Strömberg kehrte an sein Arbeitsgerät zurück. Seine Auftraggeberin hatte geschrieben, er habe ihre Erwartungen übertroffen und einen einfühlsamen und verheißungsvollen Einstieg vorgelegt. Sie werde in Kürze weitere Aufträge direkt an ihn versenden. Sofern sie mit seiner Bereitschaft rechnen dürfe.

5

Der 26. Tag im April wirkte von Strömbergs Balkon aus wie eingehüllt in Goldpapier. Selbst der übliche Müll auf der Straße war heute mit einem eigenartigen Glanz versehen. Vor dem Haus schrien die Kinder sich in mindestens 124 Weddinger Weltsprachen den Winter und den noch kälteren Vorfrühling aus dem Leib. Die Gefangenschaft in den viel zu kleinen Wohnungen hatte ein Ende.

Eine alte Frau fuhr in ihrem elektrischen Rollstuhl vor und verteilte an die Schreihälse, majestätisch wie die Queen, Wassereis in allen Farben des Weddings. Ein paar Häuser weiter flirtete der Briefzusteller von der gelben Post mit seiner Kollegin von den grünen Briefverteilern.

So liebte Strömberg seinen Wedding, aber es würden wieder Tage kommen, an denen er sich selbst als Gefangener fühlte. Dann waren Müll und Hundekacke einzig ein Ärgernis und die vermeintliche Vielfalt eine zufällige und regellose Zusammensetzung von Parallelwelten, zu denen er keinen Zugang fand.

Schreiben. 10.000 Wörter in vier Wochen. Das war Strömbergs neue Aufgabe. A. hatte ihr Versprechen eingelöst und geschrieben, dass er ihr vollstes Vertrauen habe. Beim Lesen seiner ersten Kostprobe habe sie gespürt, dass er ein Tieffühler

sei. Außerdem verstehe er sein sprachliches Handwerk. Eine Liebeserklärung, so empfand Strömberg die Schmeicheleien der unbekannten Frau. Seine Fantasie zeichnete ein Menschenbild, das seiner Meinung nach zu den lieben Worten passte: Eine Frau um die Fünfzig, warm und weich, sensibel und einfühlsam, zerbrechlich und stark, dunkle, leicht gelockte Haare, halblang, schmale Lippen, blassrot, ein entschlossener Gesichtsausdruck, in dem sich zugleich Skepsis und nachdenkliche Zurückhaltung spiegelten, ein scheuer Blick aus braunen Augen: Im Quell deiner Augen/hält das Meer sein Versprechen …

In der Nacht war Freund Merlot der kritiklose Begleiter, der jeden Satz abnickte. Am Tag, wenn Merlot bei den totgeborenen Träumen schlief, empfand Strömberg seine Worte banal, ausgelutscht und bedeutungslos.

Zweifel sind Verräter, sie rauben uns, was wir gewinnen können, wenn wir nur einen Versuch wagen. Shakespeares Worten setzte er René Descartes Erkenntnis entgegen, dass der Zweifel aller Weisheit Anfang sei. Wenn das zutraf, war Strömberg in der Tat ein weiser Mann.

Er änderte, strich, versetzte keine Berge, aber ein paar Satzzeichen und Wörter und malträtierte die Tastatur des Laptops taiwanischer Herkunft, bis er mit dem Ergebnis halbwegs zufrieden war.

Helena trank ihren schwarzen Morgenkaffee am Küchentisch. Sie hatte auf der Couch bis in den Sonntagmittag geschlafen. Auf einmal erklang der Bolero in ihren Ohren. Die Musik durchströmte den Körper. Helena überlief es heiß. Das blauweiß gestreifte, ärmellose Nachthemd aus leichter Baumwolle fühlte sich angenehm auf der Haut an.

Spielerisch strich sie mit der rechten Hand über die Oberschenkel und spreizte die Beine. Mit geschlossenen Augen lauschte sie der imaginären Musik und schob die Hand unter das Nachthemd, berührte die Scham und drang mit dem Zeigefinger in die Himmelspforte ein, die warm und feucht war. Der Finger streichelte die pralle Klitoris. Der Bolero des Verlangens hämmerte in ihrem Kopf und brachte sie diesmal viel schneller zu einem kurzen, aber intensiven Orgasmus.

Als Helena unter der Dusche stand, läutete das Telefon. Das konnte nur ihr Sohn Christian sein, der vor einem Vierteljahr seine erste eigene Wohnung bezogen hatte und sich seitdem jeden zweiten Sonntag zum Abendessen einlud.

Helena ignorierte das Klingeln und war erstaunt, als sie später auf dem Display sah, dass ihre Freundin Nicole angerufen hatte. Sie waren seit der Schulzeit beste Freundinnen oder so etwas in der Art, unternahmen aber selten etwas gemeinsam, obwohl sie lediglich zwanzig Autominuten trennten. Das lag auch daran, dass Nicole verheiratet war, glücklich, wie sie bei jedem Treffen betonte. Helena, die 48 Jahre alt und damit ein Jahr älter als die Freundin war, hatte nach sechs Jahren Eheleben genug von Zweisamkeit und Familienglück.

Nicole hatte eine Nachricht hinterlassen: Sie habe eine umwerfende Neuigkeit für Helena. Sie müsse unbedingt mit ihrer besten Freundin reden. Wenn möglich noch heute. Sie erwarte Helenas Rückruf.

Helena kicherte. Das klang ganz danach, als ob Nicole mal wieder eine Geschäftsidee hatte, die sie innerhalb von drei Monaten zur Millionärin machen würde.

Strömberg hatte sich müde geschrieben und war dennoch traumwach, drei Stunden nach Mitternacht war der Wedding bielefeldstill, sanft der Wind aus Südost, frisch die Luft, aber nicht kalt.

Strömberg wärmten ein Jeanshemd, das er über das T-Shirt gestreift hatte, und die geschriebenen Worte, die nicht nur seiner Fantasie, sondern auch einer unbestimmten Sehnsucht entsprangen.

Irgendwo auf diesem Erdball lebte eine Helena, wie er sie beschrieben hatte. Davon war er überzeugt. Wenn er ihr jemals begegnen sollte, warum sollte sie ausgerechnet auf ihn gewartet haben? Die Zweifel rumpelten in seinem Bauch und erzeugten eine dumpfe Verzagtheit, die nur Alkohol, die älteste Männerfreundschaft der Welt, auf ein erträgliches Maß runterfahren konnte. Oder steigern. Zwei Glas Merlot später war es für heute entschieden. Die Mutlosigkeit hatte gewonnen. Strömberg stand rauchend am offenen Küchenfenster und melancholisierte vor sich hin.