DIE MUMIENKÄFER - Sax Rohmer - E-Book

DIE MUMIENKÄFER E-Book

Sax Rohmer

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Beschreibung

Vier Menschen sterben kurz nacheinander eines gewaltsamen Todes. Zwei von ihnen tragen deutliche Würgemale am Hals. Doch kein menschliches Wesen hat sie getötet: Eine dunkle Macht hat von ihnen Besitz ergriffen...

Aber die Invasion des Grauens hat erst begonnen. Schon sind andere Menschen vom Dämon des Bösen gezeichnet. Unheimliche Schattenwesen haben ihnen vorhergesagt, dass ihnen ein grässlicher Tod bevorsteht, vor dem es kein Entrinnen gibt...

Der Roman Die Mumienkäfer von Dr.-Fu-Manchu-Erfinder Sax Rohmer (* 15. Februar 1883 in Birmingham, Großbritannien; † 1. Juni 1959 in White Plains, New York, USA) erschien erstmals im Jahr 1918; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1974 in der Reihe Vampir-Horror-Roman des Pabel-Verlags.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Horror-Klassikers in seiner Reihe APEX Horror.

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SAX ROHMER

Die Mumienkäfer

Roman

Apex Horror, Band 48

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE MUMIENKÄFER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Neunundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Vier Menschen sterben kurz nacheinander eines gewaltsamen Todes. Zwei von ihnen tragen deutliche Würgemale am Hals. Doch kein menschliches Wesen hat sie getötet: Eine dunkle Macht hat von ihnen Besitz ergriffen...

Aber die Invasion des Grauens hat erst begonnen. Schon sind andere Menschen vom Dämon des Bösen gezeichnet. Unheimliche Schattenwesen haben ihnen vorhergesagt, dass ihnen ein grässlicher Tod bevorsteht, vor dem es kein Entrinnen gibt...

Der Roman Die Mumienkäfer von Dr.-Fu-Manchu-Erfinder Sax Rohmer (* 15. Februar 1883 in Birmingham, Großbritannien; † 1. Juni 1959 in White Plains, New York, USA)  erschien erstmals im Jahr 1918; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1974 in der Reihe Vampir-Horror-Roman des Pabel-Verlags.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Horror-Klassikers in seiner Reihe APEX Horror.

DIE MUMIENKÄFER

Erstes Kapitel

Robert Cairn blickte über den rechteckigen Hof. Der Mond ging gerade auf und verzauberte das efeuüberwucherte Collegegebäude. Aber Cairn hatte im Moment kein Auge für die malerische Schönheit der Architektur und für die blau vorbeifließende Themse dahinter. Sein Blick konzentrierte sich auf ein Fenster im gegenüberliegenden Flügel, hinter dessen Scheiben ein seltsam flackerndes Licht züngelte.

»Sime«, wandte er sich an seinen Freund, »wozu braucht Ferràra zu dieser Jahreszeit ein offenes Feuer in seinem Zimmer?«

Sime blickte irritiert von seiner Arbeit auf und musterte den anderen kopfschüttelnd. Cairn war ein hochgewachsener, hagerer Schotte mit festem, eckigem Kinn, hellem, leicht lockigem Haar und grauen Augen, die starke Vitalität verrieten.

»Starrt der Mensch zum Fenster hinaus, statt mir wie versprochen mit dem verdammten Nervensystem zu helfen!«, brummte er.

Cairn zündete sich eine Zigarette an. Er schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Warst du eigentlich schon mal in Ferràras Bude?«, fragte er.

»Nein. Und sie interessiert mich auch nicht. Mich interessieren im Moment nur die Nervenknoten. Aber du gibst ja doch keinen Frieden, ehe wir das Thema Ferràra nicht erschöpfend behandelt haben. Also, was ist mit ihm?«

»Er ist recht sonderlich.«

»Als ob wir das nicht alle wüssten. Aber die Frauen fliegen auf ihn. Als Modearzt dürfte er einmal ein Vermögen verdienen.«

»Das hat er gar nicht nötig. Er erbt ohnehin eines, wenn Sir Michael einmal das Zeitliche segnet.«

»Ist da nicht auch noch eine recht attraktive Kusine?«, erkundigte Sime sich verschmitzt.

»Mhm«, murmelte Cairn. »Du weißt ja, mein alter Herr und Sir Michael sind langjährige Freunde, deshalb kenne ich Ferràra schon von früher. Zugegeben, nur flüchtig, aber irgendwie ist er mir...«, er zögerte.

»Na, spuck’s schon aus.«

»Na ja, es ist vielleicht idiotisch, aber wozu braucht er in einer so warmen Nacht ein Feuer?«

»Vermutlich, weil ihm kalt ist.« Sime grinste. »Die Ferràras sind zwar Schotten, aber dem Namen nach müssten sie eigentlich italienischer Abstammung sein, nicht wahr?«

»Spanisch«, berichtigte Cairn. »Aber das kann nichts mit Antonys Gewohnheiten zu tun haben.«

»Gewohnheiten? Was meinst du?«

Cairn warf einen Blick durchs Fenster. »Ich möchte wissen, was er treibt. Nur das offene Feuer, sonst kein Licht.«

»Vielleicht hat er Grippe.«

»Unsinn. Da sieht man, dass du noch nie in seinem Zimmer warst.«

»Er zieht eben weibliche Gesellschaft vor. Du weißt ja, dass es deshalb schon einige Beschwerden gegeben hat. Andere wären längst geflogen, aber er... Ich möchte wissen, wie er das macht!«

»Du bist also auch ein wenig skeptisch. Ich glaube, ich kann offen mit dir reden. Erinnerst du dich an das plötzliche Gewitter am Donnerstag?«

»Allerdings. Hielt mich ganz schön von der Arbeit ab.«

»Mich überraschte es in einem Kahn, draußen auf dem Altwasser.«

»Faulenzer!«

»Ich wollte mir in Ruhe überlegen, ob ich mein Studium an den Nagel hängen und den Posten annehmen soll, den mir Der Planet angeboten hat.«

»Feder statt Pille. Fleet statt Harley. Und hast du dich entschieden?«

»Nicht an dem Nachmittag. Etwas geschah, das meine Überlegungen in eine ganz andere Richtung lenkte. Es war angenehm ruhig, nur ein paar Enten plätscherten um den Kahn herum, und eine leichte Brise kräuselte das Wasser. Mit einem Mal schien sich eine tiefe, unnatürliche Stille herabzusenken, und es wurde von einer Sekunde zur anderen ungewöhnlich dunkel. Die Enten schwammen wie gehetzt ans Land. Ich war immer noch so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich gar nicht auf die Idee kam, ihnen zu folgen.

Und dann kamen die Schwäne um eine Biegung. Ihnen voran, majestätisch wie immer, Apollo - du kennst doch Apollo, den Leitschwan? Es wurde immer dunkler. Die lautlos gleitenden Schwäne wirkten wie Phantome, und die unnatürliche Stille schien fast greifbar. Sime, diese Stille, dieses absolute Schweigen war nur der Auftakt für etwas - etwas Gespenstisches!«

»Es war eben die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm«, lachte Sime.

»Mir ist nicht zum Spaßen zumute. Hör zu, Sime. Obwohl das Gewitter immer näher rückte und die Dunkelheit weiter zunahm, vermochte ich einfach meinen Blick nicht von den Schwänen zu reißen. Und dann - dann geschah es. Der Leitschwan - Apollo - schwamm allen voraus, ungefähr vier Meter von mir entfernt, mitten im freien Wasser. Absolut nichts befand sich in seiner unmittelbaren Nähe. Plötzlich stieß er einen entsetzlichen Schrei aus, der mir durch Mark und Bein ging, und er hob sich mit ausgestreckten Flügeln in die Luft, wie ein - ein gemartertes Phantom. Sime, ich werde das nie vergessen! Er flog nicht! Es war, als zerre ihn etwas hoch. Und dann hing er zwei Meter über dem Wasser. Der schrille, schreckliche Schrei wurde zum erstickten, kraftlosen Zischen und dann stürzte das herrliche Tier mit unnatürlich verrenktem Hals wie ein Stein herab.

Als die anderen Schwäne davonglitten, paddelte ich zu Apollo und untersuchte ihn. Er war tot, Sime, und sein Hals an drei Stellen gebrochen. Ich schwöre dir, es war nichts und niemand in seiner Nähe gewesen. Ich legte ihn ins Wasser zurück. In dem Moment begann es wie mit Gießkannen zu schütten, und ein schrecklicher Sturm tobte. Ich glaubte schon, ich würde das Ufer nie mehr erreichen.«

»Wie ich sehe, hast du es aber doch geschafft.«

»Dich scheint meine Erzählung nicht sonderlich zu beeindrucken. Na, wie dem auch sei, ich erreichte das Studentenheim mit keinem trockenen Faden mehr am Leib und sah den Schein des flackernden Feuers hinter Ferràras Fenster. Ich besuche ihn bei Gott nicht oft, aber der Gedanke an die wärmenden Flammen und eine Tasse heiße Schokolade schien mir in meinem damaligen Zustand allzu verlockend. Der Sturm hatte sich bereits gelegt, als ich den Treppenaufgang zu seinem Zimmer erreichte. Plötzlich trat eine völlig in Schwarz gekleidete Gestalt aus dem Schatten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich erschrak. Es war ein bildhübsches junges Mädchen mit ungewöhnlich bleichem Gesicht und fast fiebrig glänzenden Augen. Sie blickte mich enttäuscht an, murmelte eine Entschuldigung und zog sich wieder in ihr Versteck zurück.«

»Er kann es also nicht lassen«, knurrte Sime.

»Ich rannte die Stufen hinauf und klopfte heftig an Ferràras Tür. Er öffnete nicht sofort, sondern wollte erst wissen, wer draußen sei. Ich sagte es ihm, woraufhin er mich einließ und hastig die Tür hinter mir schloss. Eine Wolke beißenden, aromatischen Rauchs empfing mich. Es roch, oder soll ich sagen stank, wie in einem chinesischen Tempel; das sagte ich ihm auch. Er erklärte mir, dass er mit Kyphi, dem alten ägyptischen Zeug experimentiere, das für Räucherstäbchen verwendet wird.

Es war dunkel in seiner Bude und heiß, so dass ich kaum Luft bekam. Ferràras Zimmer waren ja immer recht ungewöhnlich ausstaffiert, aber seit er aus den Ferien zurück ist - einfach scheußlich, sage ich dir!«

»Vermutlich hat er eine Menge Andenken aus Ägypten mitgebracht?«

»Andenken? Höllisches Zeug jedenfalls. Eigentlich müsste ich ja mehr über ihn wissen als jeder andere. Schließlich sind Sir Michael Ferràra und mein alter Herr Freunde seit über dreißig Jahren. Aber irgendwie ist mein Vater ungewöhnlich zurückhaltend, wenn es um Antony geht. Hast du eigentlich gehört, was in Ägypten mit ihm los war?«

»Nur, dass er sich in irgendwelche Schwierigkeiten hineinritt. Für sein Alter hat er sich schon einen recht eigenartigen Ruf zugelegt.«

»Welche Art von Schwierigkeiten?«

»Keine Ahnung. Das scheint niemand zu wissen. Aber Ashby erzählte, dass Ferràra gebeten wurde, das Land zu verlassen.«

»Na ja, jedenfalls zündete er eine Lampe an. Sie war aus Silber, ein herrliches Stück, und ich fand mich in einer Art Alptraummuseum. Er hatte eine Mumie dort, halb ausgewickelt, und Bilder, Fotografien. Ich bin bestimmt einiges gewöhnt, aber es gibt Dinge, mit denen ein normaler Mensch lieber nichts zu tun hat. Auf dem Tisch standen einige recht merkwürdige Gegenstände, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie müssen unheimlich alt gewesen sein. Aber ehe ich sie genauer betrachten konnte, sperrte er sie in einen Wandschrank. Dann holte er mir ein Badetuch und frische Wäsche, und als er am Feuer vorbeiging, warf er schnell etwas hinein.«

»Was denn?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich möchte im Moment lieber auch nicht sagen, was ich denke. Jedenfalls half er mir aus meinen nassen Sachen und richtete mir heißen Tee mit Rum. Du weißt ja, wenn er will, hat er einen besonderen Charme. Aber irgendwie war die ganze Atmosphäre - nun, es lässt sich schwer ausdrücken - unheilvoll, vielleicht. Ferràra wirkte noch bleicher als sonst und merkwürdig erschöpft. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.«

»Sicher von der Hitze im Zimmer.«

»Nein, das war es bestimmt nicht. Während er das Wasser für den Tee kochte, hatte ich Gelegenheit, einige der Bilder näher zu betrachten, ich meine die harmloseren, Porträts von hübschen Mädchen und so, die er selbst aufgenommen hat. Vom fotografischen Standpunkt aus gesehen waren sie übrigens sehr gut. Eines war wie auf einem Altar aufgebaut, unmittelbar unter der Silberlampe. Es gab mir einen ganz schönen Schock, als ich es bemerkte, und ich musste gleich wieder an das Ding denken, das er ins Feuer geworfen hatte. Es war eine Aufnahme - von Apollo, dem Schwanenkönig des Altwassers!

Dann entdeckte ich auch eine Fotografie des Mädchens, dem ich auf dem Treppenaufgang begegnet war, und eine von Myra Duquesne.«

»Seiner Kusine?«

»Ja. Am liebsten hätte ich es von der Wand gerissen. Von diesem Augenblick an wollte ich nichts als fort aus diesem Zimmer, und es fiel mir schwer, Ferràra gegenüber die nötige Höflichkeit zu bewahren. Sime, wenn du gesehen hättest wie dieser Schwan starb...«

Sime warf einen Blick zum Fenster hinaus. »Ich fürchte, ich ahne jetzt, wessen du ihn verdächtigst«, murmelte er. »Der letzte Mann, der aus einem solchen Grund aus einer Universität flog, war ein Dr. Dee von St. Johns in Cambridge-im sechzehnten Jahrhundert..

»Ich weiß. Und ich weiß auch, dass es unglaublich klingt. Aber ich musste mich ganz einfach jemandem anvertrauen, Sime. Doch ich gehe jetzt lieber.«

Sime nickte ihm wortlos zu.

Im Hof blieb Cairn einen Augenblick überlegend stehen, dann machte er sich entschlossen auf den Weg zu Ferràra.

Nach längerem Klopfen wurde endlich die Tür geöffnet. Ferràra blickte ihn nicht übermäßig erfreut an. Er trug einen mit Schwanendaunen verzierten silbergrauen Morgenrock. Seine mandelförmigen schwarzen Augen unter den niedrigen geraden Brauen glänzten so stark, dass das glatte schwarze Haar im Vergleich fast stumpf schien. Die Lippen waren unnatürlich rot, und seine ganze Erscheinung wirkte abstoßend feminin.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte Cairn.

»Gibt es - etwas Wichtiges?«

»Nein. Wieso? Bist du beschäftigt?«

»Nun ja, so könnte man es auch nennen.« Ferràra lächelte leicht.

»Ah, du hast also Besuch und dachtest, ich sei der Pedell. Verzeih meine Störung. Gute Nacht!«

Ferràra antwortete nicht. Aber obwohl er sich nicht mehr umdrehte, wusste Cairn, dass der andere ihm über das Geländer gebeugt nachstarrte. Er spürte seinen Blick wie einen Strahl sengender Hitze.

  Zweites Kapitel

Eine Woche später verließ Cairn Oxford, um den angebotenen Posten anzunehmen. Bald darauf erhielt er einen Anruf von Sime, der ihn - vielleicht war es eine Fügung des Schicksals - über einen ungewöhnlichen Fall in einem der Krankenhäuser informierte, der, wie er meinte, für seine Zeitung von Interesse sein könnte.

In seiner neuen Eigenschaft als Reporter des Planeten fuhr er zum Krankenhaus und ließ sich von Dr. Walton, einem Freund Simes, zu der Leiche führen.

»Mein Gott!« entfuhr es Cairn, als Walton das Tuch zurückschlug. Es war ein hübsches Gesicht gewesen, als es noch voll Leben war, aber nun waren die Wangen eingefallen und zwei hässliche Flecken verunstalteten den Hals.

»Kennen Sie sie vielleicht?«, erkundigte der Arzt sich eifrig. »Wir haben nämlich nicht die leiseste Ahnung, wer sie sein könnte.«

»Nein«, murmelte Cairn mühsam und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Ich dachte im ersten Augenblick - aber es war nur eine geringe Ähnlichkeit.«

»Es scheint Sie jedenfalls ganz schön mitgenommen zu haben. Und Sie sind sicher, dass Sie sie nicht kennen?«

»Ganz sicher. Was, um Himmels willen, ist die Todesursache?«

»Asphyxie, aber das müssen Sie doch sehen.«

»Jemand hat sie erwürgt, und sie wurde zu spät hierhergebracht?«

»Durchaus nicht. Niemand erwürgte sie. Einer der Priester aus den Slums brachte sie vor vier Tagen zu uns. Totale Unterernährung. Aber sie erholte sich schnell, und wir wollten sie heute entlassen. Gestern Nacht, gegen eins, sprang sie jedoch plötzlich im Bett hoch, keuchte, als bekäme sie keine Luft, und fiel ins Bett zurück. Ehe die Nachtschwester ihr zu Hilfe eilen konnte, war sie tot.«

»Aber woher kommen dann die Flecken an ihrem Hals?«

»Genau das beschäftigt uns im Augenblick. Die Schwester saß am entgegengesetzten Ende des Krankensaals und schaute ständig in ihre Richtung. Die Patienten schliefen alle, und absolut niemand kam in ihre Nähe. Selbst wenn sie die Kraft dazu aufgebracht hätte, hätte sie sich die Flecken in dem kurzen Augenblick nicht selbst zufügen können. Die Schwester war Sekunden nach Beginn des - Anfalls an ihrem Bett.«

Cairn hatte ein unbezwingbares Bedürfnis nach frischer Luft. Es schien ihm, als hinge eine finstere Wolke über der armen Unbekannten. Die Gedanken und entsetzlichen Vorstellungen überschlugen sich in seinem Kopf, denn es gab gar keinen Zweifel, dass das tote Mädchen jenes war, das ihm im Treppenaufgang vor Ferràras Zimmer begegnet war.

Am liebsten hätte er sofort alles mit seinem Vater besprochen, aber Dr. Cairn war bedauerlicherweise verreist. Doch es gab noch einen, mit dem er sich über die Sache unterhalten konnte - Sir Michael Ferràra, zu dem ihn ein inneres Gefühl nun geradezu drängte.

Das weiße Haus des bekannten Ägyptologen bot denselben friedlichen Anblick wie immer, und doch hatte Cairn ein ungutes Gefühl, als er auf die Klingel drückte. Der Butler bedauerte, dass Sir Michaels Gesundheitszustand ihm nicht erlaube, Besuche zu empfangen; er würde Mr. Cairn jedoch gern Miss Duquesne melden.

Die Sonne vergoldete ihr hellbraunes Haar, und eine feine Röte überzog ihr Gesicht, als sie Cairn begrüßte.

»Wie schön, dich wiederzusehen. Wir dachten schon, du hättest uns vergessen!«

»Wie könnte ich das?«, erwiderte er galant. »Ich bin erst seit ein paar Tagen in London zurück, und meine Arbeit nimmt mich leider mehr in Anspruch, als ich erwartete.«

»Wolltest du Onkel aus einem bestimmten Grund sehen?«

»Eigentlich ja. Besteht gar keine Möglichkeit...«

Myra schüttelte bedauernd den Kopf. Erst jetzt bemerkte Robert Cairn, wie blass sie war und wie müde sie aussah. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Um Gottes willen, Myra, steht es so schlimm um Sir Michael?«

»Wir wissen nichts Näheres, Robert. Sir Elwin Groves behandelt ihn, aber Onkel bestand darauf, dass wir deinem Vater telegrafieren.«

»Nach Paris? Dann scheint Sir Michael wohl das Ärgste zu befürchten.«

»Er ist so - seltsam, Robert. Er duldet niemanden in seinem Zimmer, kaum dass er Sir Elwin einlässt. Dann hat er in den vergangenen Nächten schon zweimal dringend verlangt, dass ich seinen Anwalt anrufe und zu kommen bitte. Und jedes Mal war er so - so barsch zu mir, als ob - als ob er etwas gegen mich hätte.«

»Das verstehe ich nicht, ich weiß doch, dass er dich nicht mehr lieben könnte, wenn du seine Tochter wärst. Und hast du diesen Anwalt angerufen?«

»Ja, natürlich. Aber beide Male, als er kam, weigerte sich Onkel mit ihm zu sprechen.«

»Ich nehme an, dass du Nachtwache bei ihm gehalten hast?«

»Ja, gleich im Nebenzimmer. Nachts fühlt er sich immer besonders schlecht. Vielleicht sind es nur meine Nerven, aber vergangene Nacht...« Sie zögerte, dann blickte sie Cairn forschend an. Offenbar beruhigt von seinem ehrlichen Mitgefühl, fuhr sie fort: »Ich war eingeschlafen und hatte wahrscheinlich geträumt, denn ich bildete mir ein, eine eintönig murmelnde Stimme direkt neben mir zu hören. Es war als bete sie, nein, eher als leiere sie eine Beschwörungsformel herunter, wenn du weißt, was ich meine.«

»Beschwörung?«

»Ja, es war richtig gespenstisch. Plötzlich streifte mich ein kalter Luftzug, es kam mir vor, als berühre mich eine schreckliche Kreatur mit eisigen Schwingen. Ich kann es nicht so recht beschreiben, aber diese Kälte schien sogar mein Blut stocken zu lassen. Mit größter Willensanstrengung erhob ich mich jedoch, um nach Onkel zu sehen. Ich hörte ihn unverständlich vor sich hin murmeln. Als ich an die Tür trat, hatte ich plötzlich entsetzliche Angst, sein Zimmer zu betreten, aber ich - ich zwang mich dazu. Ich sah - oh, Gott, Robert, kann ich es dir überhaupt sagen? Wirst du mich nicht für verrückt halten?« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und zitterte am ganzen Körper.

Mit sanfter Gewalt zwang Cairn sie, ihn anzusehen.

»Bitte erzähl weiter«, bat er.

»Die Vorhänge waren zurückgezogen, obwohl ich genau weiß, dass ich selbst sie zugezogen hatte, und der Mond schien direkt aufs Bett. Über dem Kopf meines Onkels schwebten zwei Hände in der Luft - ich sah sie ganz genau!«

»Weiter, weiter!«, drängte Cairn aufgeregt.

»Ich schrie auf, da verschwanden die Hände im Schatten. Onkel erwachte und richtete sich im Bett auf. Er fragte leise, ob ich im Zimmer sei, und als ich es ihm bestätigte, befahl er mir wieder brüsk, den Anwalt für neun Uhr zu bestellen. Dann fiel er auf das Kissen zurück und war sofort wieder eingeschlafen. Der Anwalt kam, und diesmal ließ er ihn ein. Er war über eine Stunde bei ihm. Seitdem scheint Onkel wie benommen. Er raffte sich nur einmal ganz kurz auf, als er mich bat, sofort nach deinem Vater zu telegrafieren.«

»Dann wird er auch sicher heute noch von Paris zurückkommen. Aber sag mir, ist dir an diesen Händen irgendetwas Besonderes auf gefallen?«

»Sie wirkten im Mondlicht unwahrscheinlich weiß, und an einem Finger steckte ein Ring - ein grüner Ring. Oh!« Sie schüttelte sich. »Jetzt sehe ich ihn ganz genau vor mir!«

»Würdest du ihn denn wiedererkennen?«

»Jederzeit!«

  Drittes Kapitel

 

 

Robert Cairn saß in der Bibliothek seines Vaters und las zum x-ten Mal denselben Absatz in einem alten Buch:

 

Im Jahre 1571 wurde der berüchtigte Trois Echelles auf dem Place de Greve hingerichtet. Er gestand vor dem König, Charles IX... dass er Wunder vollbracht habe... Admiral de Coligny, ebenfalls anwesend, entsann sich... des Todes zweier Gentlemen... sie waren schwarz und aufgedunsen aufgefunden worden.

 

Er blätterte ein paar Seiten weiter.

 

Der berühmte Marechal d’Ancre, Concini Concini, wurde... von Vichy, Hauptmann der Leibwache am 24. April 1617 erschossen... Es konnte bewiesen werden, dass der Marechal und seine Gattin Wachsabbilder herstellten, die sie in Särgen auf bewahrten...

 

»Aber das ist alles so unglaublich, so unvorstellbar. Wenn ich den Tod des Schwans nicht selbst...«, murmelte Robert vor sich hin.

Er blickte auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. »Marston, wenn mein Vater kommt«, bat er den alten Butler, »dann richten Sie ihm bitte aus, dass ich bei Sir Michael Ferràra auf ihn warte.« Es war ihm klar, dass es eine etwas ungewöhnliche Zeit für einen Besuch war, aber eine furchtbare Angst quälte ihn, dass Myra Duquesne, die er heimlich liebte, sich in großer Gefahr befand. Er musste ihr beistehen. Sicher hielt sie jetzt Nachtwache vor der Tür ihres Vormunds und kämpfte tapfer gegen ihre Furcht vor den Phantomhänden an.

Das Haus war hell beleuchtet, und durch die offene Eingangstür fiel Licht auf die Einfahrt. In schrecklicher Vorahnung hastete Cairn die Stufen hoch und hätte fast den Butler umgerannt.

»Felton«, erkundigte er sich heiser. »Was ist passiert? Wer...«

»Sir Michael, Sir. Ich dachte - ich dachte Sie sind der Arzt...«

»Miss Myra...«

»Sie erlitt einen Ohnmachtsanfall, Sir. Mrs. Hume ist bei ihr in der Bibliothek.«

»Was ist mit Sir Michael? Ist er...?«