Die Mystikerin - Hildegard von Bingen - Gabriele Göbel - E-Book
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Die Mystikerin - Hildegard von Bingen E-Book

Gabriele Göbel

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Beschreibung

Die ungewöhnlichste Frau des Mittelalters. Am Allerheiligentag des Jahres 1106 soll ein kleines, kränkliches Mädchen, das zehnte Kind einer Adelsfamilie, ihr Leben Gott weihen. Schon wenig später hat die junge Frau einen legendären Ruf als Heilerin und Seherin. Von überall pilgern die Menschen zu ihr und sie weist niemanden ab. Doch Hildegard von Bingen war mehr als nur eine heilkundige, gottesfürchtige Frau. Sie trat mit vielen der Großen ihrer Zeit in Kontakt, sie unternahm Reisen, mischte sich ein und musste sich stets gegen den - männlichen - Klerus zur Wehr setzen, der ihr Tun argwöhnisch verfolgte ... Ein eindrucksvoller, kluger Roman über eine Frau, die nichts von ihrer Faszination verloren hat.

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Seitenzahl: 616

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Über Gabriele M. Göbel

Gabriele M. Göbel hat zahlreiche Romane geschrieben und lebt mit ihrer Familie in Bad Godesberg bei Bonn. Im Aufbau Taschenbuch Verlag sind von ihr folgende historische Romane erschienen: »Im Labyrinth der unerhörten Liebe« und »Die Mystikerin – Hildegard von Bingen«.

Informationen zum Buch

Die ungewöhnlichste Frau des Mittelalters.

Am Allerheiligentag des Jahres 1106 soll ein kleines, kränkliches Mädchen, das zehnte Kind einer Adelsfamilie, ihr Leben Gott weihen. Schon wenig später hat die junge Frau einen legendären Ruf als Heilerin und Seherin. Von überall pilgern die Menschen zu ihr und sie weist niemanden ab. Doch Hildegard von Bingen war mehr als nur eine heilkundige, gottesfürchtige Frau. Sie trat mit vielen der Großen ihrer Zeit in Kontakt, sie unternahm Reisen, mischte sich ein und musste sich stets gegen den – männlichen – Klerus zur Wehr setzen, der ihr Tun argwöhnisch verfolgte.

Ein eindrucksvoller, kluger Roman über eine Frau, die nichts von ihrer Faszination verloren hat.

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Gabriele Göbel

Die Mystikerin Hildegard von Bingen

Roman

Inhaltsübersicht

Über Gabriele Göbel

Informationen zum Buch

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Erster Teil Disibodenberg (1106–1150)

 1. Von der Stille, dem Wort und der Antwort

 2. Die Klause, das Fenster, der Saphirblaue

 3. Ein verschlossener Garten ist meine Freundin

 4. Wo das Fragen im Menschen nicht ist

 5. Sprich mir vom Licht

 6. Gefährtin der Engel

 7. Die Harfe, die ein anderer schlägt

 8. Goldtopas und Grünspechtsalbe

 9. Petrus Abaelardus und das Zungenreden

10. Von der Kraft des Karfunkels, dem Luchsstein und dem Schlangenfeuer

Visionsschrift I: Der Weg

11. Das Licht scheint in der Finsternis

12. Vom Adler, der in die Sonne blickt

13. Gemalte Theologie

14. Ein Fremdling im Land der Lebenden

Zweiter Teil Rupertsberg (1150–1165)

15. Spiel der Kräfte

16. Opfer und Ekstase

17. Ein Ritter in weibischer Zeit

18. Sturmwolken

19. Von der Weiblichkeit Gottes

Visionsschrift II: Die Wahrheit

20. Laß deine Quellen nach draußen strömen

21. Befreite Seelen

22. Von des Kaisers Bart, dem Gegenpapst und dem Antichristen

Dritter Teil Eibingen (1165–1179)

23. Lingua ignota und Exorzismus

Visionsschrift III: Das Leben

24. Der Geist wird des menschlichen Wissens überdrüssig

25. Gefangene des Lichts

26. Er ordnete in mir die Liebe

27. Wenn ihr aus zweien eins macht

Dingellady oder Athletin Gottes

Impressum

Meinem Lehrer in Liebe und Dankbarkeit gewidmet

1. Teil Disibodenberg (1106–1150)

Die Schöpfung schaut auf ihren Schöpfer wie die Geliebte auf den Geliebten.

1 Von der Stille, dem Wort und der Antwort

In einer weißen Winternacht aus Mondlicht und Schnee hatten die Schwestern ihre Meisterin in den Tod gesungen, Strophe um Strophe, wie aus einem Munde, Stunde um Stunde, bis sich am frühen Morgen eine Schar schwarzer Vögel vor dem Fenster der Sterbezelle versammelte, um die befreite Seele in ein anderes Leben zu begleiten.

Die Schwestern, schweigegewohnt, warfen einander vielsagende Blicke zu.

Nie zuvor hatten sie mitten im Winter, zwei Tage vor der Geburt des Herrn, die Amseln singen gehört, so vielstimmig und mit solcher Intensität, in Tonfolgen, die dem Ohr des Menschen fremd waren. Ineinander verschlungene Melodiebögen ohne Anfang und Ende. Die Hände der Schwestern lösten sich aus den Ärmeln der Kutten, eiskalte Fingerspitzen berührten einander.

Wundersüchtig sind sie, immer noch und immer wieder, mußte Hildegard denken, obwohl ihr die Trauer den Geist trübte. Süchtig nach Wundern, als wäre das bloße Dasein nicht wunders genug.

Noch vor wenigen Tagen hatten zwei von ihnen die Magistra Jutta über Wasser gehen sehen, trockenen Fußes von einem Ufer des Flusses zum anderen; sie hätte auch Brunnenwasser in Wein verwandeln können, sagten sie, und mehr als einmal mit heilenden Händen Schmerzen genommen.

Wunder, wie sie in der Bibel standen. Und wer sie sah, glaubte sie noch lange nicht, ob auf Wasser wandeln oder Amselchoräle zur Weihnachtszeit.

Auch zu dieser Stunde nützte Augenreiben nichts. Das Winterweiß auf den Wegen und Beeten draußen im Garten blieb dunkelgefleckt von Vogelleibern. Mit einemmal verstummten sie, als hätte ein Peitschenhieb die Luft zerschnitten. Doch es war nur der Klang der Totenglocke. Welcher der Brüder im Kloster drüben schlug sie so, daß sie schrie, wo sie doch gedämpft hätte klingen sollen? Die Hände der Schwestern verschwanden wieder in den Kutten, suchten Halt an den eigenen Ellenbögen.

Hildegard schaute den Vögeln nach, wie sie die Ränder des zerfetzten Himmels mit ihren Flügeln glätteten. Seelenführer, Gesandte der Engel. Nur langsam löste die Vogelwolke sich auf, verklang auch das Totengeläut. Feierliche Stille, tiefer als sonst, senkte sich über den Disibodenberg.

Im Anfang, bevor Gott das Wort gesprochen hatte, dachte Hildegard, war alles Schweigen. Dann ertönte das Wort, und sein Klang erweckte Mensch und Welt …

Die Totenwache für Jutta von Sponheim, die ihr Mutter gewesen war und Magistra, Freundin und Vertraute, hielt Hildegard allein. Die vier anderen schickte sie zu Bett.

»Ihr seid jetzt seit gestern früh auf den Beinen«, sagte sie, »das hat euer Mark verdünnt und geschwächt.«

Sie legte die linke Hand auf Clementias Schulter und die rechte der kleinen Jacoba in den Nacken, bevor sie weitersprach: »Die Kräfte der Seele haben eurem Mark einen sehr angenehmen milden Hauch genommen, der die Gefäße des Halses und Nackens, ja des ganzen Kopfes durchzieht …«, sanft massierten ihre Fingerspitzen Jacobas Hinterkopf, »… und bis hinauf zu den Schläfen steigt.«

»Wirklich?« Jacoba, die noch nicht lange bei ihnen war, blickte Hildegard aus rotumränderten Augen fragend an.

»Ja. Im Schlaf aber sammelt deine Seele Kräfte, und sie läßt dein Nervenmark wieder wachsen und stark werden.«

»So wie der Mond beim Zunehmen wächst und beim Abnehmen schwindet«, half Clementia der Kleinen zu verstehen.

»Denn wie der Mond das Licht der Nacht ist, so ist die Seele das Licht des schlafenden Körpers«, ergänzte Hildegard und lächelte, weil sie es liebte, die Dinge in dieser Weise miteinander zu verknüpfen.

Jacoba, viel zu verstört, sich im Angesicht des Todes irgend etwas anderes als ewigen Schlaf vorzustellen, machte immer noch ein törichtes Gesicht.

Morgen werde ich es ihr erklären, sagte sich Hildegard. Oder übermorgen. Jetzt ist wohl nicht der rechte Augenblick. Doch trotz der eigenen Müdigkeit hätte sie der Schülerin gern ausführlicher beschrieben, wie die Seele das Nervenmark des schlafenden Menschen wachsen läßt, wie sie nicht nur seine Knochen stärkt und für die Blutbildung sorgt, sondern auch Weisheit und Wissen mehrt, während der Mensch besinnungslos daliegt, als hätte er keine Gewalt über seinen Körper. Was im Schlaf mit des Menschen Leib und Seele geschah, hatte Hildegard immer schon interessiert.

Sie drückte Jacoba einen Kuß auf die noch kindlich gewölbte Stirn und schob sie mit den Worten: »Die Terz kannst du heut’ lassen«, zur Pforte hinaus in den Klostergarten, den die Schwestern überqueren mußten, um in ihre Zellen zu gelangen. Mit hochgezogenen Schultern und angehaltenem Atem huschte das Mädchen durch die schneidende Morgenluft.

Am liebsten wäre Hildegard hinterhergeeilt, um es ganz in ihre eigene wollene Kukulle einzuhüllen, die ihr vom Fasten und Wachen der vergangenen Tage weit wie ein Zelt geworden war. Ein luftiges Zelt, das sie selbst kaum schützte vor Kälte und Wind.

Jacoba hatte ungeachtet ihrer Tränen in der letzten Nacht tapfer gesungen, ganz allein: »Ave generosa et intacta puella …«

Von allen Liedern, die Hildegard bis zum heutigen Tag gedichtet hatte, war dieses der toten Magistra Jutta das liebste gewesen.

Intacta puella … Die kleine Jacoba sollte in der kommenden Nacht weder frieren noch sich fürchten. Heute abend gleich nach der Komplet werde ich ihr mein Bärenfell bringen, beschloß Hildegard. Der Abt von Echternach hatte es ihr vor Jahren geschenkt, und keine Decke wärmte des Nachts in der ungeheizten Klause besser als dieses dichte schwarzbraune Zottelfell. Überdies half es, die Ängstlichkeit zu vertreiben, wenn man es sich auf die Brust legte.

Mechthild und Anna zwängten sich nun ebenfalls an Hildegard vorbei ins Freie.

»Mach doch bitte die Tür zu!« rief Clementia, die über die Magistra gebeugt stand und sich an deren Gebände zu schaffen machte. Noch ein wenig enger sollte es das Kinn der Toten umspannen. Stramme Bandagen wurden gebraucht, wie bei einem Wickelkind. Man schnüre es nur recht fest, auf daß es einen geraden Leib bekomme. Der Leib als Kerker der Seele, das Gewand als Kerker des Leibes. Von der Geburt bis über den Tod hinaus nichts als Fesseln.

»Als wir so alt waren wie Jacoba, haben wir zur Winterszeit Engel in den Schnee gedrückt, weißt du noch?« fragte Hildegard und zog nun selbst die niedrige Holztür zu. »Wir haben uns auf den Rücken gelegt und mit Armen und Beinen gerudert, bis ein Engel mit Flügeln im Schnee zu sehen war.«

»In Jacobas Alter warst du schon lange nicht mehr bei uns zu Hause in Bermersheim«, widersprach Clementia, die nicht nur im Kloster die Schwester Hildegards war, und wunderte sich über den Groll in ihrer Stimme. Sollten nach so langer Zeit irgendwo tief im Inneren ihres Herzens immer noch Spuren der alten Eifersucht auf die jüngste Schwester verborgen sein, die sich so sehr von den anderen Kindern unterschied, daß die Eltern sie schon als Achtjährige der schönen Klausnerin anvertrauten?

Das stets kränkelnde, viel zu zarte zehnte Kind wollten sie Gott weihen, nicht aber das robuste siebte. Ausgerechnet Clementia sollte heiraten, mochte aber nicht, schon gar nicht diesen kreuzzugbegeisterten Ritter Ruodlieb, der sich insgeheim nach dem Schwertdienst am Heiligen Grab sehnte so wie Clementia sich nach dem Minnedienst an Christus. Sie hatte sich schon als Christi Braut gefühlt, bevor Hildegard überhaupt wissen konnte, was das bedeutete.

Was hatte Clementia sich nicht alles einfallen lassen, um die Heiratspläne ihrer Eltern zu vereiteln! Verweigerung, Krankheit, Flucht … Und kein gütiger Gott, der zu ihren Gunsten seine Stimme erhob. Schließlich hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt – und ihn einstweilen verworfen –, es der befreundeten Oda von Nellenburg gleichzutun, die sich ihr hübsches Gesicht mit Tonscherben zerschnitten hatte, um einer unerwünschten Vermählung zu entgehen. Von Narben schrecklich entstellt, verschwand Oda für immer hinter Klostermauern.

»Verringert meine Mitgift, übertragt meinen Erbanspruch irgendeiner Abtei«, hatte Clementia gefleht, jedoch nur Kopfschütteln geerntet.

Die Bermersheimer gehörten dem fränkischen Hochadel an. Vater Hildebert war Edelfreier und Landesgutverwalter beim Hochstift von Speyer und begütert genug, so daß finanzielle Erwägungen ihm fernlagen. Vielmehr erfüllte es ihn mit Stolz, auch für seine fünfte noch lebende Tochter einen Heiratskandidaten gefunden zu haben, zumal der Männermangel seit dem Ende des ersten Kreuzzugs größer war denn je.

Dann kam der denkwürdige Tag, an dem die sechzehnjährige Hildegard ihre ewigen Gelübde als Benediktinerin ablegen sollte: Heinrich V., deutscher Kaiser, hatte den für das Kloster zuständigen Mainzer Erzbischof gerade wegen dessen Papsttreue in den Kerker von Burg Trifels werfen lassen, und so geschah es, daß die ganze Familie von Bermersheim Zeuge war, wie die jüngste Tochter den einzigen Brautschleier, den auch ihre Schwester begehrte, aus den Händen des heiligmäßigen Bischofs Otto von Bamberg empfing.

Clementias Schluchzen füllte die Pausen zwischen Gebeten und Gesängen.

»Suscipe me Domine … Nimm mich hin, o Herr, auch mich, nicht nur sie.« In der Nacht saß die verschmähte Braut Christi auf der Aussteuertruhe. Ihre Hand umschloß eine scharfkantige Tonscherbe, und niemand konnte sie bewegen, die Scherbe loszulassen. Das endlich stimmte ihre Eltern um.

Seit fünfundzwanzig Jahren lebte Clementia nun schon mit ihrer jüngeren Schwester auf dem Disibodenberg im Hügelland über Nahe und Glan, einen Tagesritt von Bermersheim und Mainz entfernt.

»Du hast recht«, sagte Hildegard unvermittelt. »Es kommt mir immer so vor, als wären wir nie getrennt gewesen. – Jetzt geh aber schlafen.«

»Damit dein Mark wieder weiß und kräftig wird«, ergänzte Clementia. »Ja, gewiß doch!« Und holte ein Päckchen aus der Tiefe ihrer Ordenstracht.

»Was ist das?«

»Weihrauchplätzchen. Nach deinen Rezepten gebacken. Iß! Es klärt die Augen und reinigt das Gehirn, behauptet die Klügste von uns allen.«

Daß schon der Geruch dieser Plätzchen einen Ausscheidungsprozeß von Stinksäften hervorrief, erwähnte sie lieber nicht. Es würde zu dieser Stunde und an diesem Ort allzu pietätlos klingen.

Doch Hildegard schien wieder einmal Gedanken zu lesen.

»Ach, Clemma!« Sie lächelte nachsichtig. »Es genügt, am Weihrauchgebäck zu riechen! Schon sein Duft wirkt stärkend. Aber ich danke dir! – Zur Sext kannst du mich hier ablösen – oder nein, schicke mir lieber Elsa, die wird inzwischen ausgeruht sein!«

Nachdem Clementia ein letztes Totengebet gesprochen und die Klause verlassen hatte, kostete Hildegard doch eines der Plätzchen. Und während sie auf und ab ging, vier Schritte vor und vier zurück, damit ihr die Glieder nicht vom Frost des Wintermorgens ebenso steif würden wie die der Magistra von der Kälte des Todes, hielt sie endlich wieder Zwiesprache mit dem Licht, das ihr das Herz wärmte und den Geist erleuchtete und sie niemals verließ. Denn der Mensch war das Gespräch mit Gott. Wann aber hatte diese Kommunikation begonnen? Sag es mir noch einmal, Herr, wie das zu verstehen ist, mit der Stille, dem Wort und der Antwort, jenem kosmischen Dreiklang …

Am Anfang war alles Schweigen. Dann ertönte das Wort und führte die Geschöpfe ans Licht. Und sein Schall erweckte alles zum Leben. Als das Wort erklang, erschien es in jedem Geschöpf, und jedes einzelne antwortete auf diesen Laut, denn dieser Laut war das Leben.

Daraus ergibt sich, so folgerte Hildegard, daß am Anfang nicht eigentlich das Wort war, sondern sein Klang, entstanden durch den Hauch des Atems. Das Es werde! wollte gesprochen sein; der Klang erst bewirkte, daß es sein Ziel erreichte.

Die Schöpfung vollzog sich im Klang.

So gesehen, ist ja unser Gesang, erkannte Hildegard voller Staunen, die höchste Form der Musik, denn er ist die Wiedergabe des göttlichen Klangwortes. Wenn wir singen, lassen wir, einem Echo gleich, die Töne der himmlischen Sphäre erklingen.

Nebenan in der Klausenkapelle hatten sich unterdessen die übrigen neun Schwestern versammelt, die sich nicht von durchwachten Nächten erholen mußten. Ihre geschulten Stimmen begleiteten die Psalmen der Mönche in der angrenzenden Klosterkirche und riefen einen solch betörenden Wohlklang hervor, daß Hildegard sich in ihrer eben gewonnenen Erkenntnis auf das schönste bestätigt fühlte. Und obwohl der Schmerz, den sie dabei empfand, nicht einmal bitter schmeckte, sondern eher süß, trieb er ihr Tränen in die Augen. Gebot ihr, zu Füßen der Meisterin niederzuknien, mit kalten Lippen noch kältere Zehen zu berühren. Nie zuvor hatte sie eines Menschen Füße geküßt, in dieser Demutsgeste, einer Form der Verehrung, wie sie wohl nur einer Heiligen oder Gott selbst zukam.

Genau dreißig Jahre war Hildegard tagnächtlich an Juttas Seite gewesen und hatte sie bis auf den Grund ihrer Seele schauen lassen; nicht einmal ihrer leiblichen Mutter hätte sie so viel Nähe erlaubt. Und doch waren sie einander zuletzt fremd geworden, die gütige Magistra und ihre Lieblingsschülerin.

2 Die Klause, das Fenster, der Saphirblaue

Wenn Hildegard die Lider schloß, konnte sie die Bilder vor ihrem inneren Auge durch die Zeit in die Vergangenheit bewegen, zurück bis zu dem folgenschweren ersten Tag, der mit einer Prozession den Disibodenberg hinauf begann.

Es war schon Herbst, doch selten schienen dem Kind die Wälder so bunt gewesen zu sein wie an jenem Allerheiligentag des Jahres 1106, durchglüht von den Farben des Sommers. Zwei kleine Mädchen und die zweiundzwanzigjährige Grafentochter Jutta zogen miteinander den Klosterberg hinauf, in weißen Kleidern alle drei und mit Blütenkränzen im Haar, gefolgt von einem Troß Verwandter und Freunde, zu Fuß oder zu Pferd, denen sich auch eine Anzahl Schaulustiger angeschlossen hatte. Ein gesellschaftliches Ereignis wie dieses mochte sich niemand entgehen lassen.

Hildegard, das ohnehin kränkliche Kind, das zerbrechliche Zehnte, konnte sich an jenem Tag vor Erregung kaum auf den Beinen halten. Immer wieder rutschte sie aus auf dem feuchten Laub, weil sie rechts und links im dichten Gebüsch die Augen eines Luchses oder Bären erspäht hatte; sie drohte zu fallen und die gleichaltrige Jutta-Marie mitzureißen, die ihr die Hand fest umklammert hielt und, leise vor sich hinweinend, den Verlust einer pflaumenblauen Feenpuppe beklagte. Kein Haustier, kein Spielzeug durfte sie in die Einsiedelei begleiten.

Abschiednehmen von der Welt hieß, sich um einer größeren Liebe willen von allem zu trennen, was einem lieb geworden, hatte man die Kinder gelehrt. Und Hildegard war es nur recht.

»Nicht weinen. Wir machen dir eine noch schönere Puppe«, flüsterte sie der kleinen Jutta ins Ohr, und als das nicht half: »Disiboden ist doch ein so lustiger Name! Disi-Disi-Disiboden … Wir werden uns ein Lied dazu ausdenken.«

Kein Wort verlor sie darüber, was ihr zu Hause die Magd Hrotrud erzählt hatte: Dieser Berg nämlich sei ein magischer Ort, den die Germanen einst ihrem Gott Wotan geweiht hatten, lange bevor irische Mönche die Gegend besiedelten. Ein heidnischer Kultplatz also …

Hildegard schwieg, wußte sie doch bereits, daß man vieles für sich behalten mußte, wollte man seine Mitmenschen nicht beunruhigen. Sie hatte keine Feenpuppe zu betrauern; am meisten würde sie wohl die Gesellschaft der älteren Geschwister vermissen, ihre gemeinsamen Streifzüge durch die Natur auf dem Landgut der Bermersheimer. Doch allzu schlimm würde das auch nicht sein. Hildegard kannte schon damals ihr inneres Licht, das ihr Trost zusprach, das niemand ihr nehmen konnte und das sie selbst im Schlaf spürte. Was aber mochte mit ihrer neuen Spielgefährtin geschehen sein, daß sie so sehr um eine Puppe weinte? Sah sie denn nicht auch dieses Licht, oder hatte sie es gar verloren?

Sie konnte Jutta-Marie nicht mehr fragen, denn nun betraten sie die Klosterkirche, und die Mönche begannen zu singen: Hier ist meine Ruhe in Ewigkeit, hier die Wohnstätte, die ich mir erwählt …

Gesänge wie zur Grablegung, in einer ebenso düsteren Kirche. Mit einemmal fühlte auch Hildegard sich beklommen. Keine Blumen, kein Weihrauchduft, nicht eine Kerze mehr als nötig. Dies schien wohl doch kein Tag zum Jubeln zu sein, eher ein Trauerfest.

Auch was der Vater nun mit lauter Stimme sprach, klang wie ein Bußgebet. Hatte sie etwa gesündigt, ohne es zu wissen, in Gedanken oder Taten? Warum sonst wurden ihre Arme in ein Stück Stoff gehüllt, nachdem man ihr ein Päckchen und ein Pergament in die Hand gedrückt hatte? Hilfesuchend sah das Kind sich nach seiner Mutter um, doch deren Augen hingen an den Lippen des Vaters; und auch Hildegard hörte genau zu. Jedes Wort seiner Gebetsformel blieb ihr für immer im Gedächtnis, und jedesmal, wenn sie später daran dachte, würde sie sich schuldig fühlen, ohne den Grund dafür zu wissen.

»Ich halte es für recht und billig, daß wir dem Schöpfer auch von unserer Frucht geben«, gelobte Hildebert von Bermersheim. »Deshalb will ich diese unsere Tochter namens Hildegard, welche die Opfergabe und die Bitturkunde in der Hand hält und deren Hand in das Altartuch gewickelt ist, im Namen der Heiligen, deren Reliquien hier sind, und im Beisein des Abtes und vor Zeugen hiermit übergeben, daß sie der Regel gemäß hier bleibe. Von diesem Tag an darf sie ihren Nacken nicht mehr dem Joch der Regel entziehen …«

Für Jutta, die erwachsene Christusbraut, schienen es genau die Worte zu sein, die sie hören wollte; ihr schönes Gesicht strahlte vor Glückseligkeit. Barfuß, wie dreißig Jahre später zur Stunde ihrer Heimkehr, hatte sie damals vor dem Altar gestanden und die Fragen des Pontifex beantwortet: Ja, es war ihr freier Wille, bis zu ihrem Tod als Klausnerin zu leben und den Kampf gegen das Satanische auf sich zu nehmen. Mehrmals mußte sie ihren Entschluß bekräftigen, vor dem Tod zu sterben, sich mit Christus begraben zu lassen, um dereinst mit ihm zur Unsterblichkeit aufzusteigen. Dann legte man ihr ein großes Kreuz auf die Schulter, das sie als ihren einzigen Besitz zur Klause trug. Gern hätte Hildegard ihr dabei geholfen, doch sie durfte es nicht. Sie durfte Jutta nur im Hochzeitszug folgen, so wie alle anderen Gäste.

Auf der Schwelle legte Jutta sich zu Boden, und die Kinder erschraken; denn sie glaubten, die soeben Vermählte wäre unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen, so wie der Herr Jesus am Karfreitag, doch offenbar hatte Jutta sich nur zu Boden geworfen, damit die Mönche ihre Gebete über sie sprechen konnten.

Die beiden kleinen Mädchen, allein durch das Wort ihrer Väter gebunden, noch nicht aber durch eigene Gelübde, waren nur »Vorschloßnerinnen«, Schülerinnen der Magistra, doch die Mönche segneten auch sie, und auch ihnen wurde die Tür nach draußen mit Holzbalken und Ziegelsteinen versperrt. Gar nicht dick genug konnte die Mauer werden, welche sie von den Dingen der Welt trennte, auf daß nichts zwischen der Klausnerin und ihrem himmlischen Bräutigam stand. Das Hämmern und Sägen wollte schier kein Ende nehmen, und während Hildegards kleiner Körper unter den Schlägen erbebte, sah sie voller Entsetzen die vertrauten Gestalten der Eltern und Geschwister hinter der wachsenden Wand verschwinden. Zum Schluß grüßte nur noch der wehende Schleier vom Hut der Mutter.

Schluchzend legte Jutta-Marie die Hände vor die Augen, als das letzte Stückchen blauer Himmel von den Schlußsteinen ausgesperrt wurde. Hildegard mußte den Atem anhalten, damit die Gefühle sie nicht überwältigten. Eingemauerte waren sie, mit acht Jahren lebendig begraben.

»Pflege das Leben bis zum äußersten«, murmelte Hildegard nun, als sie an jenen längst vergangenen Tag dachte, und ließ den Blick über die grob verputzten Zellenwände mit den unregelmäßigen Strukturen schweifen. Als Kinder hatten sie Phantasielandschaften darauf angesiedelt, Dörfer und Städte in fernen Ländern. Wie groß ihnen damals alles erschienen war! So auch der heidnisch-heilige Berg ihrer Kindheit: In Wirklichkeit war er nur eine weit ins Tal vorgeschobene Anhöhe, wenngleich besonders schön, von Nahe und Glan umspült.

Vor fünfhundert Jahren hatte der irische Wandermönch Disibod dort seinen Stab nahe einer Quelle in die Erde gesteckt und staunend beobachtet, wie das dürre Holz Blüten trieb. Ob Legende oder primum miraculum an diesem Ort des Wunderbaren – Disibod nahm es als Zeichen, sich hier eine Einsiedelei zu bauen, seine letzte Unterkunft. Er lebte noch einige Jahre darin, predigte und wirkte Wunder.

Zur Jahrtausendwende kamen dann Benediktinermönche aus Mainz herauf, um über dem Grab Disibods ein Kloster zu errichten, dem hundertdreißig Jahre später die Frauenklause der Jutta von Sponheim angegliedert wurde.

Seither hatte es kaum mehr eine Pause in der Bautätigkeit gegeben, und schon bald sollte eine weitläufige Klosteranlage, eine wahre Gottesstadt, den Disibodenberg krönen.

Viel Wasser war seit jenen Anfängen die Nahe und Glan heruntergeflossen, und so manches hatte man von Grund auf verändert, nicht aber die erste Klause: Zwölf Fuß in der Länge maß sie und zwölf in der Breite, damals wie heute.

Hildegards Blick blieb noch den vergangenen Tagen zugewandt.

Die zweigeteilte Pforte zum Klausengarten, dem Paradiesgärtchen ihrer Kindheit, das sie gleich im Frühjahr anlegten, hatte es im ersten Winter noch nicht gegeben, wohl aber eine Klappe zur Klosteranlage hin, durch die ihnen täglich alles Lebensnotwendige gereicht wurde, und – kaum weniger geschätzt – das vergitterte Sprechfenster zur Außenwelt.

Bereits wenige Wochen nach dem Einzug der adeligen Jungfrauen hatten sich die ersten Kranken dort eingefunden, und von nun an sollte der Strom der Ratsuchenden nie mehr abreißen. Für die Kinder war es zunächst nur ein undeutliches und fernes Gemurmel gewesen, dem sie lauschten wie im Frühjahr dem Rauschen der Flüsse drunten im Tal oder dem Wind des Nachts in den Bäumen.

Erst im Laufe der Zeit wurde das Geraune zu Worten, und die Kinder begannen zu verstehen, was die Menschen draußen im Lande bewegte. Vor allem die empfindsame Hildegard, die durch Krankheiten oft tagelang an ihr Lager gleich unter dem Klausenfenster gefesselt war, nahm mit allen Sinnen in sich auf, was sie dort erfuhr.

Da versammelten sich die Bauern der Umgegend und klagten über Hungersnöte durch Unwetter und Ernteschäden. Da tauschten die Kräuterweiber und Hebammen geheimnisvolle Wurzeln und uralte, seltsame Volksweisheiten aus, die unerschöpflich zu sein schienen. Von Körpervorgängen und Verwandlungen hörte man sie munkeln, von Mondphasen und Jahresrhythmen. Aber auch die mißhandelten Ehefrauen sprachen vor, die geschändeten Mägde und die ausgepeitschten Hörigen mit ihren eiternden Wunden und rachsüchtigen Herzen.

Jutta wußte für jeden einen liebevollen Rat, ein Heilmittel, ein tröstendes Wort, und auch die Kinder wurden angehalten, die Notleidenden in ihre Gebete mit einzuschließen, wobei sie allenfalls ahnen konnten, worum es ging. Am meisten freuten sie sich über die Besucher von zu Hause mit all ihren Familiengeschichten und den Nachrichten aus der weiten Welt.

Zu der Zeit, als Hildegard gerade den Schleier nahm, war es vor allem das Schicksal Adalberts, des kaiserlichen Kanzlers und Erzbischofs von Mainz, welches die Gemüter bewegte. Heinrich V. hatte ihn in den Kerker werfen und beinah zu Tode hungern und foltern lassen, weil Adalbert dem Kaiser seine Unterstützung im Kampf gegen Papst Paschalis II. versagte.

Die Mainzer liebten diesen Erzbischof ganz besonders und rasten vor Zorn über die Schmach, die man ihm antat. Des Kaisers glanzvolle Hochzeitsfeier mit einer englischen Königstochter im Jahre 1114 ließen sie sich noch zähneknirschend gefallen, wenngleich sie es schon reichlich unverfroren fanden, daß ausgerechnet ihre Stadt Schauplatz des Spektakels sein sollte. Doch als der Kaiser ein Jahr darauf immer noch keine Anstalten gemacht hatte, Adalbert wenigstens Hafterleichterungen zu gewähren, die ihm als Kirchenfürsten zustanden, und statt dessen unter völliger Mißachtung der allgemeinen Stimmung einen Reichstag zu Mainz vorbereitete, entlud sich der Volkszorn.

Mitten in der Nacht, erzählte Hildegards Lieblingsbruder, der Kirchenmusiker Hugo, der selbst in der Nähe des Mainzer Domes wohnte, mitten in der Nacht hätten Bürger und auch Ritter den Palast angegriffen und damit gedroht, ihn mitsamt dem Kaiser zu verbrennen, wenn dieser ihnen nicht endlich ihren Erzbischof herausgäbe. So hartnäckig waren sie, daß Heinrich letztendlich einlenken mußte. Er verlangte jedoch, daß der Erzbischof sich in aller Form mit ihm versöhnte, gewissermaßen einen Friedensvertrag zu des Kaisers Bedingungen mit ihm schlösse, und daß sich Männer aus angesehenen Familien für ihn verbürgten. Ohne zu zögern, bot sich eine Gruppe mutiger Mainzer freiwillig als Geiseln an, und bereits am nächsten Tag wurde der Erzbischof freigelassen. Unter dem Jubel der Menschen hielt er wieder Einzug in seine Stadt.

»Ihr hättet ihn sehen sollen«, erzählte Hugo. »Von Folterwunden entstellt war Adalbert, von Hunger und Entbehrungen schwer gezeichnet und abgemagert zum Skelett.«

Doch auch die Geiseln mußten ihren Einsatz teuer bezahlen. Die wenigen, die zurückkehrten, waren grausam gefoltert und verstümmelt worden, alle anderen hatte man ermordet.

Die Fehde zwischen dem Kaiser und seinem Kanzler sollte sich noch jahrelang hinziehen. 1119 wurde Heinrich V. in Reims vom Papst gebannt, und demonstrativ erschien der Erzbischof mit einem Gefolge von hundert Rittern, um Zeuge dieser Demütigung zu sein. Als Adalbert sich zwei Jahre später in Sachsen aufhielt, rächte sich wiederum der Kaiser mit einem Angriff auf Mainz. Seine Soldaten verwüsteten Stadt und Umland, wüteten, schändeten und mordeten, bis Adalbert ein Heer aufstellte und dem Treiben ein Ende machte.

Dann kehrte endlich Ruhe ein, zumal der fränkische Heinrich V. vier Jahre später kinderlos starb und Lothar von Sachsen sein Nachfolger wurde.

Es floß viel Blut in jener Zeit. Gewalt erzeugte Gegengewalt, und die erhitzten Gemüter scheuten sich nicht, auch frommen Einsiedlerinnen die Greueltaten der Menschheit kundzutun. Manche Giftmischerin gab durch das Sprechfenster ihre tödlichen Mixturen preis, und nicht selten erschien ein brüllender, blutüberströmter Vagabund, dem man die Augen ausgestochen oder die diebische Hand abgehackt hatte. So nahm es nicht wunder, daß außerhalb der Klöster auch Schadenszauber und Magie zu den Instrumenten der Volksheilkunde zählten. Und als der Vatikan den Ordensleuten fünfundzwanzig Jahre später die Anwendung sämtlicher überlieferter Praktiken und fragwürdiger Heilverfahren untersagte, da sie mit dem Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit nicht zu vereinbaren seien, waren sie den ehemaligen Klausnerinnen längst kein Geheimnis mehr.

Durch das Sprechfenster erhielten die Kinder eine Lebensschulung, wie sie sich ihnen daheim auf ihren Herrensitzen niemals geboten hätte. Und je länger sie daran teilhatten, desto mehr wuchs ihre Gewißheit, daß dort draußen, nur eine Armeslänge von ihnen entfernt und doch an einem ganz anderen Ort, eine Welt existierte, die vollkommen aus den Fugen geraten sein mußte.

Hildegard schluckte; ihr war, als hätte sie grobkörnigen Sand in Augen und Kehle. Sie erhob sich, um einen Schluck Wasser zu trinken, spritzte sich auch eine Handvoll ins Gesicht. Sie hatten viel Wasser verbraucht in der letzten Nacht, die irdene Schale war beinah leer. Auch die heruntergebrannten Kerzen, deren unruhiges Flackerlicht bizarre Schatten auf die Wangen der Toten zeichnete, mußten ersetzt werden. Jutta hatte die Fünfzig bereits überschritten, doch ihr Gesicht war immer noch glatt und schön und nicht von den Spuren des Alters gezeichnet, und die Haut schimmerte wie Elfenbein.

Tu candidum lilium … Ach nein, nun gab es keine Lieder mehr für Jutta. Die Bilder der Vergangenheit, die Hildegard selbst heraufbeschworen hatte, schnürten ihr die Kehle zu. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen und spülten nun wenigstens den Sand heraus.

»Tränen, die der Traurigkeit entsprungen sind, steigen wie mit einem bitteren Rauch zu den Augen auf«, murmelte sie, »dörren das Blut aus und schädigen das Gewebe, wobei sie dem Menschen wie eine verdorbene Mahlzeit zusetzen können.«

Hildegard hätte nicht einmal zu sagen gewußt, ob es der Verlust der mütterlichen Freundin war, der sie zum Weinen brachte, oder der übermächtige Wunsch, ihr dahin zu folgen, wo sie jetzt weilte, diese um Christus minnende Seele, die endlich heimgefunden hatte.

Viel zu fest gebunden hatte Schwester Clementia die Haube um Juttas Gesicht. Die Fesseln der Kleidung, das Gefängnis des Leibes, die Mauern der Klause – all dies hatte die befreite Seele hinter sich lassen dürfen. Hildegard lockerte das Gebände um Stirn und Kinn der Magistra. Zu gern hätte sie die lästige Haube jetzt ganz entfernt, um Juttas schulterlanges Haar, das nur von wenigen Silberfäden durchwirkt war, wie einen Fächer um ihren Kopf zu legen und später die ersten blühenden Christrosen darüberzustreuen. Weder den himmlischen Bräutigam noch die Benediktusregel würde sie damit verletzen, allenfalls das strenge Empfinden der Brüder drüben im Kloster, denen verständlicherweise der Sinn für die Schönheit jungfräulicher Weiblichkeit fehlte. Überdies mußten sie sich jetzt, nach dem Tod der Magistra, besonders gut mit den Mönchen stellen.

Ein wenig Schmuck, eine letzte Gabe, mußte dennoch sein. Hildegard tastete unter ihrem Gewand nach dem Stein, den sie von Kindheit an als Abschiedsgeschenk der Mutter an einem Kettchen um den Hals trug. Sie löste es und legte es Jutta um die Stirn. Der blaue Saphir in der Farbe des Himmels leuchtete wie ein drittes Auge; allein dieses blieb der Welt geöffnet, und das Licht der Wintermorgensonne, gefiltert durch das Gitter des Sprechfensters, sammelte sich darin.

Auch Jutta hatte Edelsteine geliebt, diese Himmelssterne, diese Tränen der Sonne. Oft hatten sie sich darüber unterhalten.

Sprich mir von den Steinen!

Der Saphir, Jutta, macht den Geist frei und tröstet das betrübte Herz, denn er wächst um die Mittagszeit, wenn die Sonne in ihrer Glut so stark brennt, daß die Luftbewegung eingeschränkt ist. Der Saphir, Jutta, ist eher feurig als luftig oder wäßrig. Er bezeichnet die vollkommene Liebe zur Weisheit und wird daher auch gern der Stein der Weisen genannt.

Wer so dumm ist, daß ihm jedes Verständnis fehlt, und doch gern klug wäre, der lecke auf nüchternen Magen an dem Saphir, weil dessen Wärme und Kraft in Verbindung mit dem warmen, feuchten Speichel die schädlichen Kräfte vertreibt, welche die geistigen Fähigkeiten des Menschen unterdrücken.

Und nicht nur das! Wenn jemand rote Augen hat und sie ihm weh tun oder wenn er nicht klar sieht, so nehme er den Saphir auf nüchternen Magen in den Mund und befeuchte ihn mit Speichel. Dann nehme er mit dem Finger ein wenig von dem Speichel und bestreiche damit die Augen, und zwar von außen nach innen, und sie werden wieder gesund und klar.

Woher ich das wissen will?

Hast du vergessen, Jutta? Mit meinem sechzehnten Jahr war ich keine Klausnerin mehr; ich durfte in den Wald und über die Felder zum Fluß hinunterlaufen, zur Glan mit ihren schönen sandigen Ufern. Dort habe ich beobachtet und studiert, wie sie beschaffen sind, die Steine. In der Natur und in der Vision; denn nicht allein die Steine wurden mir gezeigt.

Das strahlende Licht und darin die saphirblaue Menschengestalt, brennend im sanften Rot funkelnder Lohe …

Du erinnerst dich?

Das helle Licht überstrahlte ganz das rötliche Feuer und das rötliche Feuer ganz das helle Licht und das rötliche Feuer die saphirblaue Menschengestalt, so daß sie ein einziges Licht von derselben Stärke und Leuchtkraft bildeten. – Ja!

Hildegard und ihre Visionen … Die Magistra war der einzige Mensch, den sie – selten genug – ins Vertrauen gezogen hatte. Womöglich hätte sie selbst Jutta gegenüber striktes Schweigen bewahren sollen, es sei denn, das Licht hätte es anders gewünscht. Die Seligkeit des Schauens mußte ja nicht unbedingt in der Redseligkeit ihren Ausdruck finden. Was für eine Kunst es doch war, sein Bewußtsein in den Willen Gottes einzuschwingen!

»O weh, mein Anderssein!« seufzte Hildegard. Es war ihr Lust und Last zugleich.

Immer schon.

Vom Dunklen führe uns zum Licht, flehten die Lebenden und die Toten. Es wurde nun Zeit, das Abschiednehmen zu beenden.

Requiem aeternam et lux perpetuum.

Die Gesänge der Terz waren verklungen; der Arbeitstag im Kloster konnte beginnen, wenn auch in gedämpfter Lautstärke. Zumindest würde der leidige Baulärm eine Zeitlang schweigen. Welch tröstlicher Gedanke!

Bald würden zwei oder drei Brüder zum Frauenkonvent herüberkommen. Sie würden den Leichnam durch den Klausengarten tragen, um ihn im Kapitelsaal der Mönche aufzubahren, und schon in wenigen Stunden würden Scharen von Menschen daran vorbeiziehen. Die Edelleute der Umgebung, die benachbarten Äbte, die Priester und Schülerinnen – sie alle würden kommen, um der verehrten Meisterin ein letztes Mal zu huldigen.

Dabei ist die Verwandlung bereits vollzogen, dachte Hildegard, und der Leib Jutta von Sponheims nur mehr eine leere Hülle. Das Wesen der Metamorphose aber bleibt den Menschen ein Geheimnis, denn was es damit auf sich hat, daß die Seele nicht stirbt, vermag kein Mensch zu begreifen.

3 Ein verschlossener Garten ist meine Freundin

Auch der Mönch Volmar erlebte das Duftphänomen.

Ja, er roch es auch, das Wölkchen, welches der Gruft Jutta von Sponheims entwich. Ein blumiger Duft nach Lavendel, fand Volmar. Andere erinnerte es an Hyazinthen oder reife Äpfel. So verschieden empfanden die Sinne der Brüder. Wahrhaftig, der Mensch war Mitschöpfer seiner Welt, ganz so, wie Hildegard es ihre Zöglinge lehrte.

Schon bei der rituellen Fußwaschung am ersten Samstag nach der Beisetzung unter dem Kapitelsaal hatten die Mönche jenen aromatischen Wohlgeruch wahrgenommen, der sie entzückte und erschauern ließ und der seither immer wieder entstanden war. Man könne seinen sündigen menschlichen Körper nicht durch solch himmlischen Duft bewegen, sagten sie; mancher Fuß sträubte sich gar, über die Grabplatte hinwegzugehen. Zu Mariä Lichtmeß sollte die Heilige nun zum Marienaltar an die Südseite der Kirche umgebettet werden.

Doch noch ein anderer Gedanke beschäftigte Volmar.

Wenn er nur diese Pergamentrolle nicht verloren hätte! In der Schreibstube hatte er sie vergebens gesucht und auch in der Bibliothek, wo sie leicht zwischen die anderen Schriften hätte geraten sein können. Er mußte seine Aufzeichnungen unbedingt wiederfinden, bevor sie womöglich unter den Brüdern kursierten, denn wer sie las, würde wissen, daß Volmar, der Propst, heimlich an einer Vita arbeitete, in die er mehr Zeit und Gefühl investierte als in die Zusammenstellung der Klosterannalen, mit der er eigentlich beauftragt war.

Nun gut, er würde noch ein zweites Mal im Lesegang nachsehen; das war seine letzte Hoffnung. Schon eilte er die abgetretenen Stufen hinunter, verfing sich beinah in seiner Kutte. Was er dann sah, trieb ihm die Röte ins Gesicht.

Die Brüder Arnold und Lothar saßen auf der Sitzbank, die vor kurzem noch Volmar eingenommen hatte, und lasen einander abwechselnd aus seinem Manuskript vor. Lothar zitierte soeben das beschämende Spottlied, mit dem die Kreuzritter im Jahre 1099 die Eroberung Jerusalems gefeiert haben sollten, als sie bis zu den Knöcheln im Blut ihrer Gegner wateten, wie die Legende prahlte.

Stoßt sie in Feuersgluten!

Oh, jauchzet auf, ihr Guten,

dieweil die Bösen bluten –

Jerusalem, frohlocke!

Bruder Arnold hörte kaum hin, nickte nur zerstreut, denn er ließ sich gerade genüßlich die ersten Sätze aus Volmars Vita Hildegardis auf der Zunge zergehen.

»Ein Kind des Sommers ist sie, eine Sonnengeborene des Jahres 1098 im Aranmonat, dem Monat der Fülle, der Ernte und des warmen Windes, ein federleichtes Kind, in zartester Jugend bereits dem Herrn als Zehnt dargebracht …«

Er übersprang ein paar Zeilen und fügte dann mit seiner Diskantstimme hinzu:

»Ihr Name bedeutet Ort des Kampfes.«

»Dunkelblau ist die Farbe ihrer Augen, aschblond ihr Haar und edel gewölbt die hohe Stirn …«

Volmar stand immer noch wie erstarrt im Halbdunkel am Treppenabsatz. Wie sollte er sich verhalten? Er durfte nicht zulassen, daß die beiden seine heiligsten Texte entweihten. Unruhestifter waren sie, einer wie der andere!

Was würde sie an seiner Stelle tun? Volmar wußte es nicht; ihr Humor ging ihm ab. Allenfalls konnte er es mit Hildegards Stoßgebet versuchen, mit ihrer magischen Formel, die sie ständig in ihrem Herzen trug, wie sie sagte.

»Herr, wie es dir gefällt«, flüsterte Volmar mehrmals hintereinander.

Arnold zitierte derweil Textstellen aus dem Hohen Lied, die Volmar hier und da mit eingestreut hatte, da er die Poesie dieser Verse bewunderte.

»Ein verschlossener Garten ist meine Freundin, ein versiegelter Quell! – Hört! Hört!« mokierte sich der Bruder.

Herr wie es dir gefällt …

Augenblicke später rief die Glocke zur Non. Arnold rollte die Pergamente zusammen und wollte sie gerade im Ärmel seiner Kutte verschwinden lassen, als Volmar auf ihn zustürzte und sie ihm mit den Worten aus den Händen riß:

»Genug! Hätte ich Wert auf euer Lektorat gelegt, hätte ich’s euch wissen lassen!«

»Demnach bist du der Verfasser dieser aufschlußreichen Betrachtungen?« erkundigte Arnold sich ebenso erstaunt wie scheinheilig. »Ob Abt Kuno weiß, was sein Propst außer den Annales Sancti Disibodi sonst noch so verzapft?«

»Sei beruhigt. Morgen früh nach der Prim werde ich mich seinem Urteil und der Diskussion stellen.«

Liebevoll glättete Volmar sein Manuskript; nicht weniger liebevoll blies er über die Seiten hinweg, als könnte er mit seinem Atem die Spuren fremder Finger und dreister Blicke tilgen. Dann ging er rasch davon.

In der Nacht, zwischen Wachen und Beten, rekapitulierte er, was er in den letzten beiden Tagen aus den Lektionen Hildegards an ihre Zöglinge behalten hatte. Als ihr Seelsorger und Ratgeber konnte Volmar im Frauenkonvent ein und aus gehen, wie es ihm beliebte, und er sehnte sich nach der Nähe dieser jungen Meisterin, wenn sie ihr Wissen weitergab, das sie außer ihrer eigenen Beobachtungsgabe offenbar göttlicher Eingebung verdankte.

Was hatte sie noch gleich über den Schlaf gesagt, den auch Volmar in dieser Nacht nicht finden würde, ja nicht einmal suchte, weil ihm so vielerlei durch den Kopf ging?

»Oft geschieht es, daß der Mensch wach liegt und nicht einschlafen kann, weil sein Geist mit zerstreuenden Gedanken, mit Problemen und Widersprüchen beschäftigt ist oder auch von zu großer Freude erfüllt wird. Im Zustand der Trauer, Furcht oder Angst aber, im Zorn oder ähnlichen Erregungszuständen, wird das Blut oftmals in Unruhe gebracht …«

Ferner hatte Hildegard über die Gefäße gesprochen, die sich in dem Fall zusammenzögen, so daß sie den vitalisierenden Luft- oder Lebenshauch gehemmt weiterleiteten. Auch bei übergroßer Freude reagierten die Gefäße auf diese Weise, und der Mensch liege so lange wach, bis er wieder einen ausgewogenen Gemütszustand erreicht habe …

Es wäre gut, sagte sich Volmar, jetzt gleich aufzuschreiben, was du behalten hast. Doch es war klüger, still liegen zu bleiben. Im Dormitorium der Mönche brannte zwar die ganze Nacht ein Licht, damit niemand sich unbeobachtet fühlte und sich womöglich geheimen Lastern hingab, auch war Volmar es gewöhnt, selbst im Halbdunkel zu lesen oder zu schreiben, doch mochte er nicht schon wieder mit seiner Schreiberei Aufsehen erregen. Vor seinem Tod, der hoffentlich noch lange auf sich warten ließ, brauchte niemand Einblick in die Vita Hildegardis zu nehmen, mit der er nur deshalb so zeitig begonnen hatte, weil sich ihm immer deutlicher zeigte, daß seine einstige Schülerin zu etwas ganz Außerordentlichem berufen sein mußte.

Obwohl Volmar jünger war als Hildegard, war er ihr Lehrer geworden, nachdem sie jahrelang von der Magistra Jutta unterrichtet worden war. Doch während sie bei der Magistra lediglich in der Heiligen Schrift, der Benediktusregel, dem Jungfrauenspiegel und dem Psalmengesang unterwiesen worden war, las Volmar mit ihr die Texte der Kirchenväter auf lateinisch und darüber hinaus alles, was die umfangreiche Klosterbibliothek von Disiboden zu bieten hatte, einschließlich einiger Werke über arabische Medizin, die heimgekehrte Ritter und heilkundige Mönche dem Kloster von ihren Kreuzzügen mitgebracht hatten.

Auf einen wissenschaftlichen Unterricht, wie er den Mönchen in den großen Abteien geboten wurde, mußte Hildegard als Frau jedoch verzichten. Das Studium der Sieben Künste – von der Arithmetik und Astronomie über die Dialektik, Geometrie und Grammatik bis zur Musik und Rhetorik – blieb der Männerwelt vorbehalten.

Hildegard bedauerte dies gelegentlich, doch ihr Magister sah keinen Grund dafür. Denn diese junge Frau wußte vom Menschen und seiner kosmischen Eingebundenheit mehr, als man auf dieser Erde lernen konnte. Die Jahre in der Klause hatten ihrem Geist Flügel wachsen lassen, und längst waren die Rollen vertauscht: Nun war Volmar Schüler, Hildegard seine Magistra. Ihr Denken und Sprechen in Bildern, ihre Gabe, die verschiedenen Phänomene der Wirklichkeit miteinander in Beziehung zu setzen und dahinter ein bewußtes Ordnungssystem erkennbar zu machen, begeisterte ihn immer wieder aufs neue.

Alles ist mit allem verbunden, lautete Hildegards Lehre.

Erst vorgestern hatte Volmar beinah andächtig gelauscht, als Hildegard den ersten Monat im Jahreszyklus mit der frühen Kindheit in Verbindung brachte:

»Im ersten Monat erhebt die Sonne sich wieder. Doch zeigt er sich kalt und feucht und voller Widerspruch, denn er schwitzt das in weißen Schnee verwandelte Wasser wieder aus. Seine Eigenschaften gleichen denen des Gehirns. Auch dieses ist kalt und feucht; es reinigt sich, indem es die schädlichen Säfte durch Augen, Ohren und Nase auswirft. Ebenso rein wirkt die Seele in der Kindheit des Menschen, jener Zeitspanne, die weder Arglist kennt noch Fleischeslust spürt. Voller Freude ist die Seele, denn sie wird noch nicht gedrängt, wider die eigene Natur zu handeln. In der Kinderzeit mit ihren einfältigen und unschuldigen Wünschen zeigt die Seele sich in ihrer ganzen Kraft. Doch bald schon wird sie der reinen Freude kindlicher Unschuld beraubt, und einem aus seiner Heimat vertriebenen Fremdling gleich, wird sie in große Traurigkeit gestürzt …«

Obwohl Volmar sich nicht mehr an jedes einzelne Wort erinnerte, tastete er nun doch nach der Wachstafel, die er nachts griffbereit unter seiner Schlafstatt aufbewahrte. Die schüttere Strohfüllung knisterte und raschelte bei jeder Bewegung, und auch sonst war es keineswegs still im Schlafsaal der Mönche. Zu seiner Rechten lag Bruder Trutwin in lautem Schlaf, während zur Linken Bruder Helenger immer wieder vor Schmerzen stöhnte, weil er sich Anfang der Woche so heftig gegeißelt hatte, daß sein geschundener Rücken ihm seither die ohnehin kurze Nachtruhe vergällte.

Gerade hatte Volmar sich aufgesetzt und die Tafel auseinandergeklappt, als Arnold schlaftrunken an den Betten vorüber in Richtung Latrine taumelte. Rasch ließ Volmar sich wieder auf sein Lager sinken. Er wünschte sich von Herzen, daß auch auf dem Disibodenberg jeder Mönch seine eigene Zelle hätte wie in anderen, größeren Klöstern. So aber mußte er vor Arnold auf der Hut sein.

Vielleicht, überlegte Volmar, sollte er für seine Vita eine Geheimsprache entwickeln, ähnlich der, die Hildegard schon seit dem Heilverbot des Vatikans vor sechs Jahren benutzte, um ihre medizinischen Rezepte an befreundete Klöster weiterzugeben.

»Wir können die Kranken, die bei uns an die Pforte klopfen, nicht einfach abweisen und ihrem Schicksal überlassen«, rechtfertigte sie ihren Ungehorsam und suchte nach einer lingua ignota für bekannte Begriffe. Früchte wie Cririscha und Briunz gab es in ihrem Vokabular, Tiere wie Asgriz und Balbunz; den Lindenbaum hatte sie Tilia getauft und die Eiche Quercu. Ihre Himmelssprache, wie sie es nannte, war ein amüsantes Spiel, aber noch fehlte ihm jede Systematik.

Volmar dagegen hatte in jahrelanger Forschung herausgefunden, daß die Bibel ein arithmetisches Wunderwerk war. Jedes Wort, jeder Abschnitt der hebräischen und griechischen Urtexte besaß einen genau berechneten Zahlenwert. Von besonderer Bedeutung schien dabei die Zahl Sieben zu sein, da sie sehr viel häufiger als andere auftrat. Gleich im ersten Vers der hebräischen Bibel, der aus sieben Worten bestand, hatten die drei wichtigsten Begriffe, nämlich Gott, Himmel und Erde, zusammen den Zahlenwert siebenhundertsiebenundsiebzig. Und so ging es immer weiter. Volmar war fasziniert von seiner Entdeckung und spielte mit dem Gedanken, einen vergleichbaren Zahlenschlüssel für seine eigene Geheimschrift auszuarbeiten.

Zuvor aber wollte er mit Hildegard darüber sprechen. Sie, die ihm Freundin und Schwester der Weisheit war, sollte eingeweiht sein.

Und während er allmählich nun doch schläfrig wurde, dachte Volmar, was er in wachem Zustand niemals zu denken gewagt hätte: daß er Hildegard über die Schwester und Freundin der Weisheit hinaus so liebte, wie man die Braut eines anderen liebte, ohne sie ihm jedoch zu neiden. Denn dieser andere – Volmar atmete jetzt schon tief und im Einklang mit seinen schlafenden Brüdern –, dieser andere existierte jenseits der begrenzenden Vorstellungen des Menschen.

Tags darauf begab sich der Propst mit recht gemischten Gefühlen in den Kapitelsaal, den jeder Mönch – sofern ihm nicht eine Bußübung auferlegt war – nach der Frühmesse und der Morgenmahlzeit aufsuchte, um ein Kapitel aus der Ordensregel zu hören, weltliche Arbeiten zu besprechen und nicht zuletzt, um öffentlich Selbstkritik zu üben. Wobei es immer wieder geschah, daß die Mitbrüder dem Einsichtigen zuvorkamen und ihn mit jenen Fehlern konfrontierten, zu denen er sich gerade bekennen wollte.

So widerfuhr es auch Volmar.

Abt Kuno hatte seinen letzten Satz über den Fortgang der Bauarbeiten und die Erweiterung des Seitenchores kaum beendet, als Lothar und Arnold sich gleichzeitig zu Wort meldeten und die besorgte Frage stellten, ob nicht ein Bruder, der private Schriften neben den ihm vom Kloster aufgetragenen verfaßte, gegen das Gehorsamkeitsgebot verstoße.

Abt Kuno, der oft recht schnell mit seinem Urteil bei der Hand war, was nicht wenige Brüder störte, schwieg diesmal eine ganze Weile und reagierte dann anders als erwartet. Mehr als der Inhalt der erwähnten Schriften interessierte es ihn zu erfahren, wie denn die beiden Mönche zu ihrem Einblick in dieselben gekommen wären.

Eine Pergamentrolle habe unter der Sitzbank des beschuldigten Bruders gelegen und sei dort von ihnen entdeckt worden, lautete die Antwort.

Demnach hätten sie gewußt, wem die Manuskripte gehörten?

»Ja«, sagte Lothar.

»Nein, erst nachdem wir …«, erklärte Arnold.

»Also doch!« unterbrach ihn verärgert der Abt und bezeichnete es als einen Akt der Gewalt, diese Papiere gelesen zu haben; denn wer sich ungebeten und ohne Notwendigkeit in die Aufzeichnungen eines anderen vertiefe, begehe Diebstahl an dessen geistigem Eigentum.

Die anderen Mönche stimmten zu, worauf die beiden Ankläger zu ihrer Läuterung für zwei Wochen von den gemeinsamen Mahlzeiten ausgeschlossen wurden; außerdem sollten sie die ganze Zeit mit verhülltem Kopf umhergehen.

Beim Verlassen des Kapitelsaales wandte Arnold sich auf der Türschwelle noch einmal um und warf dem Propst einen Zornesblick zu. Volmar begegnete ihm mit Gleichmut, befürchtete jedoch, daß Arnold ihm die heutige Schmach nicht so bald vergessen und möglicherweise irgendwann heimzahlen würde.

Auch Abt Kuno, der noch auf seinem etwas erhöhten Platz in der Mitte des Saales thronte, hatte den Blick bemerkt.

»Er ist noch sehr jung«, sagte er entschuldigend, »da schießt man leicht über das Ziel hinaus. Alle unsere Oblaten haben in den ersten Jahren ihre Schwierigkeiten. Das liegt leider in der Natur der Sache. Von ihren Eltern schon in frühester Jugend einer Mönchsgemeinde zugeführt, hatten sie ja niemals eine andere Wahl.«

Dann winkte er Volmar, näherzutreten. Mit den für ihn typischen, ein wenig verschwommenen Redewendungen gab Kuno seinem Propst zu verstehen, daß er sich sehr wohl denken könne, wer der Verfasser der erwähnten Aufzeichnungen sei und womit sie sich befaßten. Doch könne er darin, wie gesagt, keinen Verstoß gegen die Regeln erkennen, solange Volmar in seiner Darstellung nicht übertreibe. In der Tat wirke es sich sogar befruchtend auf den Ruf eines Männerklosters aus, wenn sich ihm fromme oder gar heilige Frauen anschlössen, je zahlreicher, desto besser. Und wenn der seligen Jungfrau Jutta demnächst eine begabte Meisterin Hildegard folgen sollte, so spreche dies nur für die Weitsicht des Chronisten, daß er es beizeiten im Interesse der Nachwelt niederschrieb.

Volmar schüttelte den Kopf, wo er hätte nicken sollen; er wunderte sich nicht wenig über das plötzliche Einfühlungsvermögen des Abtes. Erst als er den wahren Grund für so viel Leutseligkeit erfuhr, begann er zu begreifen: Die Schwestern hatten Hildegard schon vor Tagen einstimmig zur Nachfolgerin der Magistra Jutta gewählt, doch Hildegard – zutiefst erschrocken – habe um Bedenkzeit gebeten.

Abt Kuno hatte sie persönlich aufgesucht und sie ermutigt, die ihr angebotene Aufgabe zu übernehmen; auch hatte er, um diesbezügliche Besorgnisse von vornherein zu zerstreuen, darauf hingewiesen, wie begütert der Nonnenkonvent durch großzügige Schenkungen geworden sei. Auch Hildegard selbst besäße ja dank der Familie von Bernversheim einen beträchtlichen Land- und Becheranteil. Hildegard hätte ihn zwar geduldig angehört, so der Abt, sich bisher aber noch zu keiner Entscheidung durchgerungen. Er wisse nicht, was in ihr vorgehe.

»Ich bin erst seit wenigen Monaten in diesem Kloster, Volmar. Du aber bist Hildegards Seelsorger und kennst sie so gut, daß du dich sogar schon schriftlich über sie äußern kannst. Sprich du mit ihr, damit sie nicht länger zögert und uns alle in Ungewißheit hält!«

Volmar atmete auf. Diesen Wunsch würde er gern erfüllen. Auch bot er dem Abt an, ihm seine vorläufigen Aufzeichnungen der Vita Hildegardis zur Prüfung zu überlassen, obgleich ihm nicht ganz wohl war bei dem Gedanken, daß Kuno dann auf so schwärmerische Sätze stoßen würde wie: Wo immer sie hingeht, wachsen Blumen unter ihren Füßen.

Doch Kuno winkte nur ab und sprach dem Propst noch einmal sein Vertrauen aus. Nachdem sie die Kerzen im Leuchter neben dem Sessel des Abtes gelöscht hatten, verließen die beiden einträchtig den Kapitelsaal, um rechtzeitig zur Terz ihre Plätze im Mönchschor einzunehmen.

4 Wo das Fragen im Menschen nicht ist

Seltsam, daß die meisten Menschen den Anblick des Blutes scheuten wie der Teufel im Sprichwort das Weihwasser. Während sich stets genügend Schwestern fanden, die Hildegard in der Salbenküche oder in ihrem neuen kleinen Laboratorium zur Hand gingen, ließ man sie im Aderlaßraum meistens allein.

Qui bene purgat, bene curat – wer gut reinigt, heilt gut – hatte Hildegard in schönen, leuchtend roten Lettern über die Tür gemalt, doch war es ihr kaum gelungen, die Prozedur damit anziehender zu machen.

Auch heute hatte nur die kleine Jacoba sie begleiten mögen, die ihr niemals von der Seite wich, es sei denn, sie wurde ausdrücklich darum gebeten.

Drei ältere Kranke erwarteten Hildegard bereits auf der Patientenbank im ungeheizten Aderlaßraum, zitternd vor Kälte und bangen Gedanken. Einen der drei mußte die Schwester Medica gleich wieder nach Hause schicken, weil ihr sein wiederholtes Niesen einen Schnupfen anzukündigen schien. Außerdem klebten ihm Reste von Zuckerrübenkraut im Bart; somit war er, ihren Anweisungen zum Trotz, nicht nüchtern zum Aderlaß erschienen – oder hatte sich seit gestern nicht gewaschen.

»Hast du Kopfweh?« fragte sie den Mann mit dem kupferroten Gesicht, der unten im Nahegau eine Mühle betrieb.

»Das will ich meinen«, antwortete der. »Mir ist, als würd’ mir der Schädel platzen.«

»Halb so schlimm«, sagte Hildegard tröstend. »Du bekommst nur einen kräftigen Schnupfen. Ich gebe dir ein Päckchen von einem Pulver aus angelsächsischem Geranium. Rieche mehrmals am Tag kräftig daran, und streue dir zwei bis drei Prisen davon mit etwas Salz aufs Brot.«

Sie nahm ein Säckchen aus dem Korb, den Jacoba im Arm hielt, und drückte es dem Kranken in die Hand.

»Du mußt ein andermal wiederkommen. Wenn du erkältet bist, kann ich dich nicht zur Ader lassen.«

»Ich hab’ doch nur ein bißchen geniest«, sagte der Mann kleinlaut. »Das kommt bestimmt vom Mehlstaub.«

Hildegard schüttelte lächelnd den Kopf. »Und gefrühstückt hast du auch. Komm einen Tag nach dem nächsten Vollmond wieder. Aber nüchtern, mit leerem Magen! Bis dahin mußt du deine juckenden Ekzeme leider noch ertragen.«

Als hätte er nur auf das Stichwort gewartet, begann der Müller sich heftig an Brust und Hals zu kratzen.

»Das ist aber noch lange hin. Wir hatten doch gerade erst Vollmond«, sagte er enttäuscht.

Hildegard legte ihre auffallend kleinen Hände auf die breiten des Mannes, um ihn davon abzuhalten, seine bereits blutig gekratzte Haut weiter zu malträtieren.

»Ich weiß, Juckreiz kann eine wahre Folter sein«, sagte sie voller Mitgefühl. »Übrigens sollte ein kräftiges Mannsbild wie du möglichst im dritten Monat des Jahres zur Ader gelassen werden, und zwar spätestens bis zum fünften oder sechsten Tag des abnehmenden Mondes. Später ist es weniger günstig, und bei zunehmendem Mond ist ein Aderlaß sogar schädlich, weil die faulige Flüssigkeit sich dann nur schwer vom Blut trennen läßt, mit dem sie vermischt ist, denn die schädlichen Säfte und das Blut fließen dann nur noch mäßig schnell durch die Adern.«

»Ich dachte«, sagte der Müller, »Blut ist Blut und fließt immer gleich.«

»Nein, guter Mann, so einfach ist das nicht. Alles unterliegt dem Einfluß des wechselhaften Mondes, den Jahreszeiten mit ihren Regen- und Trockenperioden und dem Flüssigkeitshaushalt des menschlichen Körpers. Es ist der Mond, der alles lenkt.«

Hildegard suchte nach einem passenden Bild und freute sich, als sie es plötzlich vor sich sah: »Es ist so ähnlich wie bei deinem Mühlbach. Bei Niedrigwasser oder mäßiger Strömung bleibt er brav in seinem Bett, bei einer Überschwemmung aber – vergleichbar mit dem stärkeren Strömen des Blutes bei abnehmendem Mond – bildet er Schaum und läßt uns stinkende Abfälle und allerlei Verfaultes im Wasser erblicken.«

»Ja, gewiß!« Das leuchtete dem Müller ein, und er bedankte sich höflich bei der verehrten Schwester Medica dafür, daß sie sich die Zeit genommen hatte, einem ungebildeten Mann wie ihm all diese Zusammenhänge zu erklären. Trotz seiner immer noch juckenden Haut, für die er nun einen Tiegel frisch bereiteter Schwanenfettsalbe bekam, trat er zufrieden den Heimweg an.

»Alle weisen Frauen richten sich nach dem Mond, nicht wahr? Und so ist es auch gewiß kein Zufall, daß wir gerade an einem Mond-Tag hier heraufgekommen sind«, versuchte die ältere der beiden noch wartenden Aderlaßpatientinnen das Gespräch mit Hildegard fortzusetzen, denn was diese heilkundige Klosterfrau zu erzählen wußte, hörte man nicht alle Tage. Das sagte jeder, der einmal mit ihr zu tun gehabt hatte.

»Nichts ist ohne Bedeutung und somit Zufall. Schon gar nicht, daß sich stets an jedem ersten Tag der Woche besonders viele Kranke den Disibodenberg hinaufbemühen«, bestätigte Hildegard. »Mir ist der Montag mit seiner Betriebsamkeit nach der schönen langen Sonntagsruhe besonders lieb. Für unsereins ist die Arbeit ja gleich Gebet und damit Gottesdienst.«

»Hat der Mond dem Montag eigentlich seinen Namen gegeben?«

»Ja!« sagte Hildegard. »Und der Mond ist wirklich ein besonderer Geselle, wißt ihr. Aus der Luft zum Beispiel nimmt er die unbrauchbaren, giftigen Stoffe wie auch die Wärme und Reinheit, die das Grün hervorbringt. Beides sammelt der Mond in sich wie ein Mann, der Wein in einen Schlauch schüttet, ihn eine Weile aufbewahrt und dann austrinkt. Wenn der Mond zunimmt, sammelt er, wenn er abnimmt, trinkt er.«

Sie mußte über ihren Vergleich lachen, und die Frauen stießen einander vor Vergnügen in die Seiten.

»Dann gehört mein Mann trotz seiner Fettleibigkeit wohl eher zu den abnehmenden Monden«, sagte die eine kichernd.

»Zum Glück kann der Mensch die Zeichen der Natur lesen und sich mit ihnen besprechen«, schloß Hildegard, nun ernst geworden, während sie die Tücher und Schalen für den Aderlaß bereitstellte. »Das ist ein Geschenk des Schöpfers. Und so werden auch meine kleine Freundin und ich gleich in eurem Blut lesen und euch mitteilen, was es uns zu sagen hat.«

Die ältere der beiden Frauen litt an Schwindelanfällen, daher öffnete Hildegard ihr mit einem Spezialmesserchen die Kopfader oder Vena cephalica im Arm, um sie von den Giftstoffen in ihrem Blutkreislauf zu befreien, während sie die schlechten Säfte der zweiten, Asthmakranken, zur Vena hepatica herausfließen ließ, der Leberader.

»Mit der Kopfader«, erklärte Hildegard ihrer Gehilfin, »sind mehr Gefäße verbunden, die Flüssigkeit führen, als mit der Leberader. Deshalb entnehmen wir dort nicht mehr Blut, als ein kleines Hühnerei fassen würde, denn wenn wir zuviel nehmen, könnte es den Augen schaden.«

Sie beugte sich tiefer über den Arm der Frau und beobachtete genau, was geschah.

»Was du herausfließen siehst, hat verschiedene Farben, weil es aus Blut und Fäulnisstoffen besteht. Sobald die austretende Flüssigkeit die richtige Röte angenommen hat, stehen Blut und Saft im gleichen Verhältnis zueinander. Dann ist das Blut rein, und wir beenden den Aderlaß, um den Körper nicht zu schwächen. Auf das rechte Maß kommt es an – überall, so auch hier. Ein wohldosierter Aderlaß beseitigt die schädlichen Säfte und heilt den Körper, wie ein gemäßigter Regen die Erde bewässert und Früchte gedeihen läßt.«

Jacoba schrak nicht zurück vor dem, was sie sah, auch nicht vor dem Blut der Asthmakranken, das eine trübe und wächserne Farbe besaß, gottlob aber keine unheilvollen schwarzen Flecken aufwies. Doch sie fragte auch nichts.

Wenn sie doch nur halb so wißbegierig wie anhänglich wäre! dachte Hildegard. Denn wo das Fragen im Menschen nicht war, da war auch nicht die Antwort des Heiligen Geistes. Sie selbst hatte schon in viel jüngeren Jahren von jedem Stein und jedem Metall, jeder Pflanze und jedem Tier erfahren wollen, welche Heilkraft Gott ihm eingegeben hatte. Die kleine Jacoba aber war von anderer Art und schien sich niemals über irgend etwas zu verwundern.

Trotzdem erklärte Hildegard ihr in vorsichtigen Worten, damit die Patientinnen sich nicht beunruhigten, wie die Farbe und Beschaffenheit des Aderlaßblutes zu deuten waren. Man konnte nämlich darin lesen wie in einem Buch, konnte ihm wichtige Hinweise auf die Schwere und Dauer der Erkrankung entnehmen und darüber hinaus Ernährungsfehler und Störungen im Körperhaushalt erkennen.

Dann wandte sie sich an die beiden Frauen, die nach dem Aderlaß ein wenig geschwächt waren, und gab ihnen genaue Anweisungen für die nächsten Tage.

»Eure Augen werden jetzt besonders lichtempfindlich sein«, erklärte sie. »Also schaut nicht ins grelle Sonnenlicht oder ins Herdfeuer und auch nicht auf die gleißende Schneelandschaft da draußen. Bei der Ernährung müßt ihr ebenfalls achtgeben. Eßt zwei Tage lang nichts Gebratenes und nichts Rohes, statt dessen Dinkelsuppe oder Nudeln, so daß ihr richtig satt werdet. Meidet Käse, weil euer Blut gleich wieder verschleimen würde, und eßt auch keine Wurst oder fette, kräftig gewürzte Speisen. Trinkt keine Obstsäfte und keinen starken Wein, sondern nur reinen, lieblichen. Haltet euch für zwei bis drei Tage daran, solange sich euer verdünntes Blut noch im Zustand der Erregung befindet. Und kommt von nun an einmal im Jahr zum Aderlaß, dann kann euer Körper regelmäßig von den Giftstoffen befreit werden, die sich durch falsche Ernährung oder unmäßige Genüsse im Körper bilden.«

Die eine Patientin wollte der Medica dankbar die Fingerspitzen küssen, doch Hildegard ließ es nicht zu. Statt dessen nahm sie einen kleinen Leinensack aus Jacobas Körbchen und gab ihn der Frau.

»Darin sind Mandeln«, sagte sie. »Wer so bleich ist wie du, sollte häufig Mandeln essen, mindestens drei am Tag. Sie stärken das Hirn und geben dir die rechte Gesichtsfarbe.«

Alma, die Asthmakranke, atmete immer noch schwer und lechzte offenbar nach Zuwendung oder wollte wenigstens etwas Tröstliches hören. Ach ja, die Magie der Worte! Sie konnten verletzen oder heilen.

Die Medica klopfte Almas Brust ab und horchte. Dann legte sie ihr die Hände auf und gab Licht hinein, in den gesamten Brustraum und in das Sonnengeflecht, je zwei Hände voll Licht. Asthma und Migräne waren die beiden Krankheiten, welche am schwierigsten zu behandeln waren. Auch Hildegard kannte seit Jahren kaum einen Tag, an dem sie nicht unter heftigen halbseitigen Kopfschmerzen litt, und wußte sich selbst kaum dagegen zu helfen.

»Trink täglich ein Glas Ziegenmilch, Alma. Das wird dir guttun.«

»Nicht so gut wie Eure Hände, Mutter.«

Sie brauchte noch mehr Licht. Hildegard hielt jetzt Almas Oberkörper, umfing sie, bis der Atem ruhiger wurde.

»Seit wann bekommst du so schwer Luft?«

»Von Kindheit an. Und jetzt bin ich alt, werde bald dreißig. – Sagt mir, verehrte Schwester Medica, warum hab’ ich das? Diese Not, Luft zu bekommen, und diese Schmerzen beim Ausatmen?«

»Du fragst gut, Alma! – Sag du es ihr!« forderte Hildegard nach einem prüfenden Seitenblick ihre junge Helferin auf, die mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein schien. »Wann werden die Menschen krank – Jacoba?«

»Wenn die vier Körpersäfte nicht im Gleichgewicht sind, Blut, Schleim, schwarze und rote Galle. Und wenn die vier Elemente mit den Eigenschaften heiß, trocken, feucht und kalt gestört sind.«

»Ja! Sehr gut!« So behielt Jacoba wenigstens, was sie gelehrt wurde, selbst wenn sie nicht ausdrücklich danach verlangte.

»Aber warum ist das alles bei mir im Ungleichgewicht?« beharrte Alma.

»Die Frage solltest du dem Heiland stellen. Er trägt diesen Namen ja nicht umsonst. Frag Ihn, was Er dir mit deiner Krankheit sagen will. Frage Ihn immer wieder, und du wirst Antwort bekommen und vielleicht gesund werden.«

Behutsam entließ Hildegard die Kranke aus ihrer Umarmung.