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Enric Sala will die Welt verändern – und in diesem fesselnden Buch zeigt er uns, wie. Wenn wir erst einmal begriffen haben, wie die Natur funktioniert, werden wir verstehen, warum Naturschutz wirtschaftlich klug und für unser Überleben unerlässlich ist. Seine Enthüllungen sind überraschend, manchmal kontraintuitiv: Mehr Haie signalisieren einen gesünderen Ozean; die Vielfalt der Nutzpflanzen, nicht die intensive Monokulturhaltung, ist der Schlüssel zur Ernährung des Planeten. Dieses kraftvolle Buch wird die Art und Weise verändern, wie Sie über unsere Welt – und unsere Zukunft – denken!
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Seitenzahl: 305
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Ein Appell für die Artenvielfalt
ENRIC SALA
ÜBERSETZUNG AUS DEM AMERIKANISCHEN VON KARL-HEINZ EBNET
Einführung von Edward O. WilsonVorwort von HRH The Prince of Wales
Vorwort von HRH Prince of Wales
Einführung von Edward O. Wilson
1. DIE NEUSCHAFFUNG DER NATUR
2. WAS IST EIN ÖKOSYSTEM?
3. DAS KLEINSTE ÖKOSYSTEM
4. SUKZESSION
5. GRENZEN
6. SIND ALLE ARTEN GLEICH?
7. DIE BIOSPHÄRE
8. WORIN UNTERSCHEIDEN WIR UNS?
9. DIVERSITÄT IST GUT
10. NATURSCHUTZGEBIETE
11. RENATURIERUNG
12. DAS MORALISCHE GEBOT
13. DIE ÖKONOMIE DER NATUR
14. WARUM WIR DIE WILDNIS BRAUCHEN
Epilog: DIE NATUR DES CORONAVIRUS
Danksagung
Literaturverzeichnis
Register
Jenen gewidmet, die sichfür den Erhalt der Vielfalt undder Fülle des Lebensauf der Erde einsetzen
CLARENCE HOUSE
During the last forty years, I have had an opportunity to visit some of the most stunning places on Earth and seen the devastation caused by our over-exploitation of the natural world. We are in the midst of an existential crisis, not only affecting the survival of our very society, but also about our place in the world. Global warming, climate change and the destruction of biodiversity worldwide, caused by human activities, are the most dangerous threats that humanity has ever faced. At the same time, as we have replaced the wild with the domesticated, we have distanced ourselves from Nature. Long ago, we unilaterally decided to place ourselves above Nature, instead of acknowledging that we exist within Nature.
There is indeed a deep mutual interdependence within our natural world which is active at all levels, sustaining individual species so that the great diversity of life can flourish within the natural limits of the whole. We do not truly know how many species there are - we can only guess - and we still know less about what species do. But what we know is the greatest wonder we ever encountered. Plants and bacteria give us the oxygen we breathe, insects pollinate our crops and forests filter the water we drink, among many other critical services. Millions of species work together to produce a harmony that we cannot explain, but which works to sustain our world - and to keep ourselves alive and prosperous.
In the modem era, the sense of awe and wonder in the face of the works of Nature has been abandoned in favour of monetary value. Therefore, being able to show the economic value of Nature, of healthy ecosystems, is paramount. Economists have shown that the value provided in services by the natural world for free is larger than the global gross domestic product. Yet, at this moment, we have a hugely important opportunity to reimagine the world through the lens of a new global market and a new way to measure prosperity, with clear benefits to people and planet at the heart of value creation. This is why, in September 2019, in collaboration with the World Economic Forum, I created the Sustainable Markets Council with the goal of fostering the development of a new type of market: green, inclusive, equitable and profitable. I would like to emphasize that profitability in our new world ought to mean obtaining net benefits while restoring the natural world that is the foundation of our wealth.
But valuing the natural world through an economic lens is not enough. I also believe that we need to abandon our purely mechanistic and utilitarian approach to life and adopt a humbler attitude - in other words, to restore a sense of the sacred. Human prosperity and empathy and respect for all living creatures are not mutually exclusive; they can go hand in hand. In fact, that may be the key to our survival.
The good news is that we know what the solutions to the environmental crisis are. If we were to choose three main solutions, we need to phase out fossil fuels, change the way we produce food and protect more of Nature. For example, on the Duchy of Cornwall’s Home Farm in Gloucestershire, I have been able to shift from chemically-dependent farming to organic, agro-ecological production methods, where fertility is sustained by plants, animals and careful management that includes rotation of the land. Instead of an exploitative relationship with Nature, the farm works in partnership with Nature. Scaling such efforts globally could restore the fertility of the soil, produce healthier food, and in turn absorb huge amounts of our carbon pollution.
I am delighted to be able to contribute this foreword for Dr. Enric Sala’s The Nature of Nature because his book touches on all these points. Enric’s book tells stories of discovery of key ecological principles that go beyond facts and data. There is fascination and love in the discovery of how Nature works. A deep appreciation of natural history is a kind of poetry, which should instil a sense of wonder. And that leads to love of the world of which we are an intrinsic part, with a profound respect for the existence of other creatures. The only way forward is to reconnect with Nature and restore vital eco-systems so that our life support system – and the engine of the human economy – can continue supporting us and the rest of life on the planet.
IN SEINEM FESSELNDEN NEUEN Werk Die Natur der Natur nimmt uns Enric Sala mit auf eine geführte Tour durch die marinen Lebensräume der Erde. Diesmal geht es nicht nur um ihr ästhetisches Potenzial, sondern um ihre Bedeutung für alles Leben auf der Erde. Nicht weniger als die Unversehrtheit der Kontinente ist die Unversehrtheit der Meere letztlich verantwortlich für jeden Bissen, den wir zu uns nehmen, für jeden Atemzug, den wir tun. Wir können Länder und Meere nicht erschaffen, aber wir können sie zerstören.
Zum Glück sind wir Menschen nicht in der Lage, die Natur in ihrer Ganzheit zu erfassen, selbst wenn wir mithilfe der Naturwissenschaften begonnen haben, sie zu verstehen. Was genau ist sie nun, diese Mutter Natur, dass wir ihr einen fast göttlichen Status zuerkennen? Als Ökologe habe ich den Großteil meines Lebens dem wissenschaftlichen Studium der Natur gewidmet, sie begrifflich zu definieren aber will mir ebenso wenig gelingen wie den meisten anderen, die ich darum bitte. Natur ruft ebenso sehr ein Gefühl wie ein konkretes Bild hervor. Ich will es daher mit einer Definition versuchen, die mehr Poesie als Wissenschaft ist.
Die Natur, zuweilen »Mutter Natur« genannt, ist die metaphorische Göttin von allem, was sich im Universum der menschlichen Herrschaft entzieht, vom stillen Sonnenuntergang bis zum Donnertosen eines Gewitters; von der schillernden Vielfalt der Ökosysteme bis zur schwarzen Leere des unendlichen Raums.
Salas Herangehensweise an die Meeresbiologie, sieht man von der Schönheit seiner Fotos ab, zeichnet sich durch die Klarheit seines wissenschaftlichen Blicks aus. Was andere für die terrestrische Ökologie geleistet haben, leistet er für marine Lebensräume. Wie sehr beide zusammenlaufen, zeigt sich an der Entwicklung von Ökosystemen wie Wälder und Graslandschaften auf der einen und Korallenriffen und anderen Meereshabitaten auf der anderen Seite. Ökosysteme mit ihren weitverzweigten origamihaften Beziehungen gehören zu den komplexesten Konstruktionen der Natur. Die Muster und Gesetzmäßigkeiten ihrer gemeinsamen Ursprünge zu verstehen ist eine der wichtigsten Herausforderungen der Naturwissenschaften in diesem Jahrhundert. Die Natur der Natur kann uns bei dieser Aufgabe helfen.
– Edward O. Wilson
AM 26. SEPTEMBER 1991 WURDEN acht Personen (vier Männer, vier Frauen) in Oracle, Arizona, in einem abgeschotteten Gebäudekomplex von der Größe zweier Fußballfelder eingeschlossen. Das Projekt nannte sich Biosphäre 2, sein Ziel war es herauszufinden, ob wir eine sich selbst erhaltende menschliche Kolonie errichten können. Die eigentliche Biosphäre – man könnte sie Biosphäre 1 nennen – ist das sich selbst erhaltende Netz des Lebens, das die dünne lebendige Haut unseres Planeten bildet und unser Leben erst ermöglicht. Wäre Biosphäre 2 geglückt, würde es den Weg frei machen für die Kolonisierung anderer Planeten.
Der Plan sah vor, ein vereinfachtes Modell unserer Biosphäre zu erschaffen, das insgesamt acht Menschen am Leben erhalten kann. Innerhalb einer futuristischen Glas-Stahl-Konstruktion richteten die Entwickler einen Regenwald, eine Nebelwüste, eine Trockensavanne, Marschland, einen Mangrovensumpf und ein Korallenriff ein – dazu einen landwirtschaftlichen Bereich, wo die Bewohner ihre Lebensmittel anbauen konnten. Diese Habitate waren von der Außenwelt hermetisch isoliert und nach bestem ökologischem Wissen entworfen. Aber es lief dann sehr schnell vieles schief.
Nach 16 Monaten war die Sauerstoffkonzentration in Biosphäre 2 von gesunden 21 Prozent, wie sie in unserer Atmosphäre vorherrschen, auf niedrige 14 Prozent gefallen – so niedrig, dass einige »Biosphärianer« Symptome der Höhenkrankheit zeigten. Die eingebrachte Erde war reich an organischem Material gewesen und sollte genügend Nährstoffe für den Aufbau einer Vegetation liefern. Es stellte sich allerdings heraus, dass die Mikroben in der Erde das organische Material abbauten, dabei Sauerstoff aufnahmen und Kohlendioxid (CO2) abgaben. Die Pflanzen, die wuchsen, waren gleichzeitig nicht groß genug, um den Sauerstoffverlust auszugleichen und das überschüssige CO2 zu absorbieren. Dazu reagierte das CO2 mit dem verbauten Beton und bildete Calciumcarbonat, was den Lebewesen in der Station weiteren Kohlenstoff und Sauerstoff entzog. Langfristig musste daher Sauerstoff in das System gepumpt werden, um die Bewohner am Leben zu erhalten.
Zu den größten Problemen im Gebäude gehörte der CO2-Anstieg – ein prophetischer Vorgriff auf die steigende CO2-Konzentration, die heutzutage eine der größten Bedrohungen für die menschliche Zivilisation auf der Erde ist. Aber nicht nur die Atmosphäre sorgte in Biosphäre 2 für Probleme, auch die Tierwelt. Einzelne Arten starben schneller aus als erwartet, nur wenige der eingeführten Tiere überlebten das Experiment. Die Wissenschaftler hatten Bienen, Motten, Schmetterlinge und Kolibris zum Bestäuben ausgewählt. Sie hatten aber auch, neben anderen Wirbeltieren, Schlangen, Skinke, Echsen, Schildkröten und Fledermäuse eingesetzt. Die Bienen und Kolibris starben jedoch aus, sodass sich die Pflanzen nicht mehr vermehren konnten. Andere Arten nahmen hingegen überhand, darunter Gelbe Spinnerameisen, Kakerlaken und Prunkwinden, die alle anderen Pflanzen überwucherten. Daher mussten sich die Biosphärianer über die Hälfte ihrer Zeit um ihre Nutzpflanzen kümmern. Nur sechs von den ursprünglich 25 kleinen Wirbeltierarten waren am Ende des Experiments noch am Leben. Die erste Biosphäre-2-Mission endete nach zwei Jahren. Ein zweiter Versuch, 1994 begonnen, hielt lediglich sechs Monate durch, was aber vor allem an zwischenmenschlichen Konflikten lag. Einige Teilnehmer bestanden auf der Öffnung der Luftschleuse, was heftige Diskussionen zwischen dem Hauptfinanzier des Projekts und dem Management vor Ort nach sich zog. Der Streit endete schließlich damit, dass Bundespolizisten das Management per einstweiliger Verfügung zum Abzug zwangen.
Was können wir aus Biosphäre 2 lernen? Einigen Biosphärianern zufolge kann das Experiment als Erfolg bezeichnet werden, weil die Bewohner zur Autarkie und zur Lösung unerwarteter Probleme gezwungen wurden. Da mag Wahres dran sein. Wäre mehr Zeit geblieben, hätte in dem abgeschotteten Habitat vielleicht wirklich ein sich selbst erhaltendes System entstehen können – vermutlich anders, als die Konstrukteure von Biosphäre 2 es vorgesehen hatten, aber ein funktionierendes Ökosystem. Immerhin versank Biosphäre 2 nicht in metertiefem Schleim.
Außerdem zeigt sich darin sehr schön der Lauf der Naturwissenschaften. Wir experimentieren, scheitern, lernen daraus und probieren auf Grundlage der neu erworbenen Kenntnisse Neues. Meist lernen wir aus Fehlschlägen mehr als aus Erfolgen. Biosphäre 2 war ein kühnes, innovatives Experiment, das schonungslos vor Augen führte, wie schwierig es ist, ein relativ einfaches Ökosystem und eine lebenserhaltende Atmosphäre aufrechtzuerhalten. Es gelang ihm nicht, die Lebensgrundlagen auf der Erde zu replizieren. Das Experiment zeugte damit von unserer Unwissenheit, wie das Leben auf der Erde funktioniert – und von unserer Unfähigkeit, es neu zu erschaffen.
Was es allerdings zeigte, war im Wesentlichen, dass unser Planet nichts anderes ist als ein Wunder. Dabei spielt es keine Rolle, ob man glaubt, dass die Erde von einem allwissenden Gott erschaffen oder von physikalischen Kräften aus kosmischem Staub geformt wurde, der einen im Entstehen begriffenen Stern umkreiste, oder nichts anderes ist als eine Computersimulation (ja, es gibt theoretische Physiker, die genau das behaupten). Wir reisen auf einem Raumschiff mit 107.800 Stundenkilometern um einen Stern, der seinerseits mit 69.200 Stundenkilometern im Außenbereich unserer Galaxis unterwegs ist. Allein in unserer Galaxis gibt es 400 Milliarden Planeten, die mindestens 100 Milliarden Sterne umkreisen. Was die Erde wirklich einzigartig macht, ist das Leben. Das Leben auf der Erde und ihre überwältigende, ineinandergreifende Komplexität sind das größte Wunder, das die Menschheit kennt.
Würden wir unser gesamtes Wissen über die Lebewesen auf der Erde katalogisieren, würden 99 Prozent der Seiten in diesem Werk leer bleiben. Bislang haben Wissenschaftler weniger als zwei Millionen Arten mehrzelliger Organismen – die Pflanzen und Tiere, die wir sehen können – beschrieben. Wir kennen sehr gut die Vögel. Auch die Säugetiere, Fische, Korallen und Blütenpflanzen, jedes Jahr fügen wir an die 6000 Arten unserem Katalog hinzu. Wissenschaftler aber schätzen die Gesamtzahl der Arten auf etwa neun Millionen. Nicht enthalten sind darin einzellige Organismen, Mikroben wie Bakterien und Archaeen, die sich überall finden, in unseren Eingeweiden, in den Wolken über uns und im Erdreich, in vier Kilometern Tiefe unter uns. Damit wäre der Zensus bei einer Billion angelangt – von dem wir nur einen Bruchteil kennen.
Mit absoluter Sicherheit wissen wir nur, dass alles, was wir zum Überleben brauchen – jeder Bissen, den wir in den Mund stecken, der Sauerstoff, den wir atmen, das Wasser, das wir trinken –, das Produkt des Zusammenwirkens anderer Arten ist. Sie geben uns so viel, und wie zahlen wir es ihnen zurück? Wir beachten sie nicht, löschen sie aus, zerstören sie.
Wir rotten Tiere und Pflanzen tausendmal schneller aus, als das durch die natürliche Aussterberate geschieht. 2019 warnte ein UN-Bericht, dass in den nächsten Jahrzehnten durch den Menschen eine Million Pflanzen- und Tierarten für immer vernichtet werden könnte. Die von uns geschaffene Ödnis, die verloren gegangene Biodiversität, füllen wir durch unsere Nahrungsquellen. 96 Prozent der Gesamtmasse aller Säugetiere auf der Erde bestehen aus dem Menschen und seinem domestizierten Nutzvieh. Lediglich vier Prozent machen andere Tiere aus, von den Elefanten bis zu Bisons und Pandabären. Seit 1970 sind 60 Prozent der landlebenden wilden Tierwelt verloren gegangen, im letzten Jahrhundert 90 Prozent der großen Fische in den Weltmeeren (Haie, Thunfische, Kabeljau). 70 Prozent der Vögel auf der Erde sind domestiziertes Geflügel – meistens Hühner –, nur 30 Prozent leben in freier Wildbahn.
Nicht nur ersetzen wir Tausende wildlebende Arten durch einige wenige landwirtschaftlich genutzte Spezies, wir verändern auch das Land in einem Ausmaß, wie es nur von den Kräften der Plattentektonik übertroffen wird. Mehr als die Hälfte der bewohnbaren Landoberfläche besteht aus Acker- oder Weideland – verschwunden sind Wälder und Grasländer, die zur Anreicherung der Böden beitragen –, und fast 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche werden für die Viehzucht verwendet.
Wenn wir so weitermachen, werden die einzigen Großsäugetiere auf dem Planeten wir, unser domestizierter Viehbestand und unsere Haustiere sein. Die größten Pflanzengemeinschaften sind dann nicht mehr die prachtvollen tropischen Regen- und borealen Nadelwälder, sondern Monokulturen wie die industriellen Getreideanbaugebiete, aus denen der Mittlere Westen der USA besteht. Sieht so eine tragfähige Zukunft für die Menschheit aus? Können wir ohne die Wildnis überleben? Werden wir, falls alle Stricke reißen, in der Lage sein, Kolonien auf anderen Planeten zu errichten, die eine sich selbst erhaltende Menschengemeinschaft versorgen können?
Biosphäre 2 wurde vor 25 Jahren durchgeführt. Die Naturwissenschaften und die Technik haben seitdem phänomenale Fortschritte erzielt. Seit November 2000 sind Menschen Langzeitbewohner einer Raumkolonie: der Internationalen Raumstation (ISS). Die ISS, ein Wunder der Technik, umkreist die Erde auf einer Umlaufbahn in durchschnittlich 409 Kilometern Höhe. Sie ist die einzige menschliche Kolonie im All – durch die Schwerkraft aber weiter mit der Erde verbunden, wie ein Kind, das sich nicht traut, sich allzu weit von seiner Mutter zu entfernen. Nur durch internationale Kooperation mit Kontrollzentren in den USA, in Kanada, Frankreich, Deutschland, Russland und Japan ist es möglich, zwischen zwei und acht Astronauten in der Station am Leben zu erhalten. Zusätzlich zu den Anfangskosten von 100 Milliarden US-Dollar zahlt allein die NASA für ihren Anteil am Unterhalt der ISS drei Milliarden US-Dollar jährlich. Damit ist sichergestellt, dass die wenigen Besatzungsmitglieder über einen sicheren Sauerstoffvorrat verfügen, zu trinken und zu essen haben – und einen Schutzschild gegen die kosmische Strahlung und das tödliche Vakuum des Alls. Wenn wir aus Biosphäre 2 oder der ISS eines lernen können, dann: dass wir unsere eigentliche Biosphäre, die uns am Leben erhält, schätzen und würdigen sollten.
Hier auf der Erde müssen wir uns keine Sorgen wegen der kosmischen Strahlung machen. (Kennen Sie jemanden, der es tut?) Wir müssen uns keine Sorgen machen wegen des Sauerstoffs, den wir atmen, oder gar für ihn zahlen. Bis vor Kurzem mussten viele von uns nicht einmal für das Wasser zahlen, das sie trinken – es fällt vom Himmel oder sprudelt aus ewig fließenden Quellen. Daneben erwerben wir unsere Lebensmittel zu billig, da wir nichts für das Sonnenlicht zahlen, das die Pflanzen am Leben erhält, oder für die Bienen, die unsere Obstgärten bestäuben – und bis vor Kurzem auch nichts für die Umweltkosten, die durch die industrielle Nahrungsmittelproduktion entstehen.
Wenn es so schwierig ist, selbst kleine Ökosysteme am Laufen zu halten, damit sie eine Handvoll Menschen versorgen können, wie können dann neun Millionen Pflanzen- und Tierarten und eine Billion Mikrobenarten koexistieren und unser Überleben ermöglichen? Wie schafft es die Biosphäre 1, alles am Leben und im Gleichgewicht zu halten? In welcher Weise sind wir für unser eigenes Überleben von diesen anderen Arten abhängig?
Dieses Buch möchte Antworten auf diese Fragen geben.
IN DEN VERGANGENEN 30 JAHREN habe ich mich vorwiegend mit marinen Ökosystemen befasst. Die wissenschaftliche Beschäftigung damit begleitet mich seit dem Beginn meines Biologiestudiums 1986.
Erste Ausflüge in die Meeresbiologie unternahm ich als Student noch im Grundstudium, als ich Meeresalgen an den katalanischen Felsküsten Spaniens untersuchte. Als Erstes musste ich sie bestimmen – das heißt, ich musste die einzelnen Arten zu unterscheiden lernen, so wie Botaniker eine Eiche von einer Fichte unterscheiden können. Allein an der katalanischen Küste gibt es mehr als 500 verschiedene Algenarten, das war also keine leichte Aufgabe. Vor dem Internet waren die einzigen Quellen zur Bestimmung die in Fachzeitschriften veröffentlichten Monografien. Sie lagen in Universitätsbibliotheken aus oder waren, häufiger noch, nur in den Privatbibliotheken einer Handvoll Professoren verfügbar, die sich dem Algenstudium verschrieben hatten. Zu meinem Glück wurde in meinem zweiten Studienjahr an der Universität Girona, meiner Heimatstadt, einer von ihnen, Lluís Polo, mein Botanikprofessor.
In den Sommermonaten arbeitete ich abends im Strandrestaurant meines Onkels. Waren die letzten Gäste gegangen (was im mediterranen Sommer erst nach Mitternacht geschah), hatte ich die Speisekarten einzusammeln und die Kühlschränke in der Bar aufzufüllen. Während meine Kollegen nach Hause oder zum Feiern in eine der lokalen Diskotheken gingen, schleppte ich Soda-, Bier und Mineralwasserkästen aus dem Lagerraum hinter dem Restaurant in die Bar. Es wurde meistens nach ein Uhr, bis ich erschöpft das Restaurant zusperrte. Mein Schlaf allerdings war immer etwas unruhig. Denn ich wusste, ich musste früh wieder raus, um noch vor den Touristenhorden in eine der nahe gelegenen Buchten zu kommen.
Kurz nach acht Uhr ging ich an geschlossenen Restaurants, noch nicht geöffneten Geschäften für Strandutensilien und Parfüms und bereits geöffneten, aber noch verschlafenen Zeitungskiosken vorbei. Bei mir hatte ich eine Netztasche mit Tauchermaske, Schnorchel, Flossen, einem stumpfen Küchenmesser, einer alten Strumpfhose und einem Badetuch. Ich stieg über die in den Stein gehauenen Stufen und schlängelte mich durch orange- und pinkfarbene Felsen. Gekrönt wurde diese Landschaft von grünen Pinien, die sich zum Mittelmeer hin duckten, als wollten sie sich vor dem Meer verbeugen. Am Fuß der Stufen lagen, geschmiegt in Felsvorsprünge, kleine Sandbuchten. Die sanften Wellen des vormittäglichen Meeres küssten den Strand mit säuselnder Regelmäßigkeit, sodass ich, hätte ich mich nur für eine Minute im Sand ausgestreckt, unweigerlich eingeschlafen wäre. Aber ich sprang, bewaffnet mit dem Messer und der Strumpfhose, in das klare türkise Wasser und machte mich auf die Suche nach Algen, nach so vielen unterschiedlichen Arten wie möglich, immer Ausschau haltend nach denen, die ich noch nicht gesehen hatte. Das war mein kleines Paradies.
Zwei Tage in der Woche nahm ich den 8-Uhr-Bus ins 36 Kilometer entfernte Girona und besuchte Polo in seinem Labor. Er war es, der mich in die wunderbare Welt der Algen einführte. Als Erstes lernte ich sie in die drei augenscheinlichen Gruppen einzuordnen: Braun-, Rot- und Grünalgen. Allerdings sahen manche Algen zwar braun aus, gehörten aber zu den Rotalgen. Mir wurde klar, dass manche Dinge in der Natur nicht so offensichtlich waren, wie sie schienen. Die Artenvielfalt war erstaunlich: Es gibt Braunalgen, die wie 30 Zentimeter lange Weihnachtsbäume aussehen; Grünalgen, die kleinen Salatblättern gleichen und nur zwei Zellen dick sind; und winzige Rotalgen, nicht dicker als ein menschliches Haar, die, wie erst unter dem Mikroskop zu erkennen ist, sich verzweigen und vollkommen symmetrische, aus abwechselnd roten und transparenten Zellbändern bestehende Muster ausbilden.
In seinem Algenreichtum war das Mittelmeer so vielfältig wie jedes exotische Korallenriff, nur in einem sehr viel kleineren Maßstab. Ein anderer Experte, der später zu meinem Mentor und einer meiner engsten Freunde werden sollte, Enric (Kike) Ballesteros, entnahm aus 40 Metern Tiefe eine Wasserprobe und fand darin 149 unterschiedliche Algenarten, das alles auf einer Fläche, die nicht größer war als ein Kaffeetablett. Sehr schnell stellte ich fest, dass die Algen nicht überall zu finden waren. Jede Art hatte ihren bevorzugten Standort. Manche Algen wuchsen nur auf anderen Arten, manchmal fanden sich Algen, die auf Algen wuchsen, die wiederum auf Algen wuchsen. Und die Algen ganz unten wuchsen vielleicht auf einem Fels oder einem Krebs oder einer Muschel. Eine Gesetzmäßigkeit aber gab es: Unterschiedliche Arten – und die von ihnen gebildeten charakteristischen »Gemeinschaften« – fanden sich in unterschiedlichen Tiefen und waren damit unterschiedlichem Wellengang und unterschiedlicher Sonneneinstrahlung ausgesetzt (oben auf einem Unterwasserfelsen zum Beispiel oder an der Kante eines Felsüberhangs). Polo und Ballesteros lehrten mich, dass Algengemeinschaften prägnante Gürtel bilden, die sich in vorhersagbaren Tiefen befinden. Manche Algen – jene »Weihnachtsbäume« – leben nur an der Schnittstelle zwischen Fels und Meer, an rauen, der Brandung ausgesetzten Standorten, weil sie nur dort vor Goldstriemenschwärmen geschützt sind, einer Seebrassenart mit länglichem silbernem Körper und goldenen Streifen (deren Verzehr beim Menschen Halluzinationen auslösen kann). Andere Algen wachsen in Hülle und Fülle auf Unterwasserfelsen. Sie können auf den Schutz der Brandung oder felsiger Überhänge verzichten, da sie chemische Verbindungen produzieren, die sie für Fische ungenießbar machen.
Beim Sortieren der Algen im Labor entdeckte ich Tausende kleiner Lebewesen, die zwischen ihren Zweigen leben – Krebse, garnelenartige Amphipoden, Asseln, Würmer, Schnecken, Fadenschnecken und viele andere. Manche von ihnen ernähren sich von den Algen, andere ernähren sich von anderen Mitbewohnern, und alle verstecken sich unter dem Algendach vor größeren Fischen. Je mehr ich entdeckte, desto mehr Welten tauchten vor meinem Auge auf. Mein Wissensdurst war nie gestillt, und ich verschrieb mich der Meeresbiologie mit Leib und Seele.
ZEHN JAHRE SPÄTER. NACH meiner Promotion erhielt ich eine Stelle an der renommierten Scripps Institution of Oceanography in La Jolla, Kalifornien. Als Universitätsprofessor gehörte es zu meinen Aufgaben, die zukünftigen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Meeresökologie und des Umweltschutzes auszubilden, wissenschaftliche Forschung zu betreiben und Fachbeiträge zu publizieren. Aber die Orte, mit denen ich mich beschäftigte, Orte, die ich von Herzen liebte, fielen dem unerbittlichen Vorschlaghammer des Menschen zum Opfer. Überall starben Korallen und Seegräser, Fische wurden schneller aus dem Wasser geholt, als sie sich vermehren konnten. Einst üppige Unterwassergärten, in denen es vor großen Tieren nur so gewimmelt hatte, wurden zu toten, von Braunalgen überwucherten Riffen und trüben Quallendystopien.
Eines Tages wurde mir klar, dass ich mit meinen wissenschaftlichen Artikeln im Grunde nichts anderes verfasste als Todesanzeigen für das Meeresleben. Tatsächlich entwarfen ich und meine Kollegen diese Todesanzeigen jedes Mal aufs Neue, nur immer ausführlicher und detaillierter. Ich kam mir vor wie ein Arzt, der dem Patienten in aller Ausführlichkeit mitteilte, dass er sterben würde, ohne ihm ein Heilmittel zu verschreiben.
Das war der Auslöser, warum ich dem akademischen Lehrbetrieb den Rücken kehrte und beschloss, mich dafür einzusetzen, den Abbau der Meere rückgängig zu machen. So trug ich in den vergangenen zwölf Jahren als National Geographic Explorer-in-residence bei der Arbeit für das Pristine Seas Project dazu bei, einige der letzten ursprünglichen Meeresabschnitte zu bewahren. Unser Team erhielt Einblick in vollkommen intakte, funktionsfähige Ökosysteme. Ich unternahm weltweit Tauchgänge, von den Polarregionen über die gemäßigten Zonen bis zu den Tropen, ich konnte forschen und wissenschaftlich arbeiten. Ich bekam zerstörte und unberührte Zonen und die gesamte Bandbreite dazwischen zu sehen. Ich erlebte, dass sich überfischte Populationen wieder erholten, nachdem die Fischerei eingestellt wurde. Ich wurde Zeuge, wie die Natur manchmal wieder aufblühte und manchmal erlosch. Ich durfte miterleben, was nur wenigen Menschen gegeben war, und ich begriff, auf rationaler und spiritueller Ebene, warum wir alle Arten um uns herum brauchen.
Das alles fing damit an, dass ich die diversen Arten zu unterscheiden lernte, weil ich wissen wollte, wer meine neuen Freunde waren. Dazu kam die Beobachtung, wer neben wem und wo lebt. Dann, wer wen frisst. Und dann, später, die Erkenntnis, welche Auswirkungen das menschliche Handeln auf die Natur hat.
Die Natur der Natur beschreibt, wie Natur funktioniert, skizziert die Folgen, die eintreten, wenn sie durch menschliches Tun zerstört wird, und liefert praktische Lösungen – samt einer Beschreibung der gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen. Die nächsten zehn Kapitel sind ein Crashkurs in Ökologie – man könnte sie »Ökologie für Eilige« nennen: Was tun Arten? Wie leben sie zusammen? Wie funktioniert und »selbst-organisiert« sich die Natur im Vergleich zu der vom Menschen geschaffenen Umwelt? Das wiederum hat Auswirkungen darauf, wie unsere Gesellschaft und Wirtschaft effizienter gestaltet werden könnten. Ich biete darin einen Mix aus ganz persönlichen Erfahrungen und Geschichten von großen Wissenschaftlern, von denen ich mit einigen zusammenarbeiten durfte. Im 12. Kapitel beschäftige ich mich mit dem moralischen Aspekt, der es gebietet, das Leben auf der Erde zu erhalten. Denn Nützlichkeitserwägungen können nicht die einzige Perspektive sein, unter der wir die Welt sehen. Mit anderen Worten: Haben andere Lebewesen ein Recht auf Leben und warum? Im 13. Kapitel erkläre ich, warum es ökonomisch sinnvoll ist, die Natur zu schützen, statt sie auszubeuten.
Das 14. Kapitel fasst die Lektionen des Buches zusammen und schlägt praktische Lösungen zum Schutz der Biosphäre und der menschlichen Gesellschaft vor. Ursprünglich war es als letztes Kapitel gedacht. Vor Drucklegung aber kam es zur COVID-19-Pandemie. Die Herausgeber und ich beschlossen, alles zu stoppen, damit ich einen letzten Abschnitt darüber verfassen konnte. Das neuartige Coronavirus stellte sich als der mächtigste Weckruf für die Welt heraus und macht deutlich, welche enormen gesundheitlichen Gefahren sich für die Menschheit ergeben, wenn die Beziehung zur Natur gestört ist.
Indem ich den Verstand und das Herz anspreche und gleichzeitig einen Blick ins Portemonnaie werfe, hoffe ich, eine innere Wertschätzung für alles Leben auf der Erde zu wecken. Denn unser Ziel sollte es sein, ihr mit größerer Demut gegenüberzutreten und zu verstehen, warum wir eine Welt brauchen, in der auch die Wildnis ihren Platz hat.
KORSIKA, DIE GRANITINSEL IM westlichen Mittelmeer, gehört zu meinen liebsten Orten auf der Welt. Als ich 1993 im Zuge meiner Dissertation zum ersten Mal dorthin kam, war das, »als würde man im Mittelmeer 500 Jahre in die Vergangenheit zurückreisen«, wie mich mein Doktorvater Charles-François Boudouresque gewarnt hatte.
Ich hatte die Sommer meiner Kindheit in Küstenstädten mit Betonmauern und dicht bevölkerten Stränden verbracht. Selbst meine Lieblingsbuchten, wo ich schon früh das Meeresleben beobachtet hatte, waren von Häusern, Hotels und Apartmentanlagen umgeben. Korsika war anders. Es war kurz vor Sonnenaufgang, als sich die Fähre vom französischen Festland der Küste von Ajaccio im Südwesten der Insel näherte. Verschlafen, aber voller Ehrfurcht stand ich an Deck. Vor uns lag das stolze, wilde Korsika, auf dem von der menschlichen Besiedelung kaum etwas zu erkennen war. Als die Sonne über die Berge stieg, trug ein warmer Windhauch Inselgerüche heran, die meine Augen mit Tränen füllten. Noch heute erinnere ich mich daran: Wacholder, Lorbeer, Rosmarin, Myrte, Salbei, Minze, Thymian und Lavendel – die Essenz der Macchia auf Korsika. Das war der Beginn einer Liebesgeschichte, die bald zum Wesenskern meiner wissenschaftlichen Bestrebungen werden sollte.
Ich schätze mich äußerst glücklich, dass ich in Begleitung einer Handvoll treuer Freunde und Kollegen oft das Naturschutzgebiet Scandola an der Nordwestküste aufsuchen konnte. Viele sind im Lauf der Jahre zu unseren wissenschaftlichen Forschungen gestoßen, ursprünglich aber waren wir ein eingeschworener Freundeskreis, Leute, die auch meine Mentoren und Kollegen waren: Kike Ballesteros, der mir vieles über Algen und Naturgeschichte beibrachte; Mikel Zabala, ein fabelhafter Naturforscher und Professor der Ökologie an der Universität Barcelona, der meine Dissertation mit begleitet hatte; und Joaquim Garrabou, der damals ebenfalls an einer Dissertation über die Veränderungen ökologischer Gemeinschaften abhängig von der Wassertiefe schrieb. Gemeinsam war uns allen: Wir waren begeisterte Taucher, wir waren fasziniert von der Natur, und keiner von uns konnte die Füße still halten. Da wir alle grüne Neoprenanzüge trugen, nannten wir uns – in Anlehnung an das berühmte US-Basketballteam, das 1992 bei den olympischen Spielen in Barcelona die Goldmedaille gewann – das »grüne Team«.
Meistens fanden unsere Feldforschungen im Oktober statt, wenn die wenigen Touristen fort waren und die Verwaltung des Naturschutzgebiets sich auf unsere Arbeit konzentrieren konnte. Oktober auf Korsika ist immer Glücksache. Man wusste nie, wie das Wetter sein würde. Manchmal hatten wir Sonne und ein ruhiges Meer, manchmal aber auch stürmische Winde und raue See, was verhinderte, dass wir unsere Tauchgründe aufsuchen konnten. Aber wir waren nie müßig. Wenn das Meer sich uns verweigerte, erkundeten wir die alten Eichenwälder und sammelten Pilze – meistens köstliche Steinpilze, Pfifferlinge und Kaiserlinge. Oder wir streiften durch die Pinienwälder entlang der verlassenen Strände oder gingen in den spektakulären Granitbergen wandern, die sich mit dem Monte Cintu bis auf eine Höhe von 2700 Metern über dem Meeresspiegel erheben.
ERSTELLT MAN EIN TRANSEKT unserer Tauchgänge und Wanderungen entlang einer Höhenlinie, könnte man daran gut die Verteilung der korsischen Pflanzen- und Tierwelt zeigen. 60 Meter unterhalb der Wasseroberfläche finden sich ganze Wälder mit weißen und roten Gorgonien sowie gelben Schwämmen, die wie Orgelpfeifenkakteen aussehen. In 50 Metern Tiefe werden sie von Braunalgen abgelöst. Mit ihrem knorrigen Stamm und ihren Zweigbüscheln, die scheinbar aus einem Olivenkern herauswachsen, gleichen sie Miniatur-Olivenbäumen. In etwa 30 Metern Tiefe folgt auf sie eine andere Braunalgenart. Diese besitzt einen daumendicken Stamm und wird von Palmwedeln gekrönt. Je näher wir der Oberfläche kommen, desto mehr dominieren andere Algenarten, die ihre eigenen Wälder bilden. Die Tierwelt folgt einem ähnlichen Muster. Gorgonien leben tiefer, Seeigel näher an der Oberfläche. Manche Fische wie die Goldstriemen bewegen sich in unterschiedlichen Tiefen, die meisten Arten aber lassen sich in einem eng umgrenzten, vorhersagbaren Bereich finden.
Nachdem wir das Wasser verlassen haben, klettern wir über rotes Vulkangestein, auf dem dunkelgrüne Sträucher und die aromatischen Kräuter wachsen, deren Duft mich zu Tränen gerührt hat – und der immer nostalgische Gefühle wecken wird, wenn ich nur daran denke. Oder wir wenden uns nach links, gehen über einen Sandstrand, vorbei an Pinien, Korkeichen und Steineichen und treffen auf einen nicht gestauten Fluss, in dem Süßwasserschildkröten leben und der von einem Auwald gesäumt wird. Wenn wir nun aufsteigen, begegnen uns See-Kiefern, zwischen denen Flaumeichen, Traubeneichen, Herzblättrige Erlen und Edelkastanien stehen, dazu gibt es eine große Vielfalt an Pilzen, die wir gesammelt und verspeist haben, wenn das Wetter Tauchgänge nicht erlaubte. Weiter oben in den Bergen werden diese Laubwälder an Südhängen von Schwarzkiefernwäldern abgelöst, an den Nordhängen von Weißtannen und Hängebirken. Über der Waldgrenze, bei etwa 2000 Metern, finden wir eine Strauchlandschaft mit Grünerlen, Wacholder, Bergahorn und Birken vor. Noch weiter oben wird es irgendwann zu kalt für große Pflanzen, dort sieht man nur noch Flechten, die stoisch den Granit besiedeln. Der Gipfel des Monte Cintu besteht aus nacktem Gestein – und ist im Winter mit viel Schnee bedeckt.
Ziehen wir Linien um die unterschiedlichen Arten der Pflanzen- und Tiergesellschaften, würden sie wie eine Reihe von etwa parallel verlaufenden Gürteln aussehen. Jede dieser einzigartigen Pflanzen- und Tiergruppierungen kann auch als ein unterschiedliches ökologisches System definiert werden – als ein Ökosystem.
EIN ÖKOSYSTEM IST NICHTS anderes als die Gemeinschaft lebender Organismen (Mikroben, Pflanzen und Tiere) und der Umwelt (das Habitat), die sie besetzen. Die Organismen und ihre Beziehungen untereinander bilden das, was Ökologen ein »Nahrungsnetz« nennen – grafisch lässt sich das als eine Collage aus sich überlappenden Nahrungsketten darstellen, in denen Räuber andere Räuber fressen, die sich von anderer Beute ernähren und die alle um Raum, Licht und sonstige Ressourcen konkurrieren. Aber diese Lebewesen besetzen nicht nur ihr Habitat, mag es Granit- oder Vulkangestein, ein Sandstrand oder eine Hochebene im Inland sein; tatsächlich schaffen sie sich ihr Habitat (Korallenriffe sind ein Beispiel dafür) und liefern damit Platz und Nahrung für viele andere Lebewesen. Wenn das Leben auf der Erde ein Wunder ist, dann ist es ein noch größeres Wunder, was das Leben hier bewirkt.
Ökosysteme wachsen und schrumpfen und altern, teilweise entwickeln sie sich sogar zurück zu einem jüngeren Zustand, der es inaktiven Arten ermöglicht, auch einmal einen Tag an der Sonne zu genießen. Ökosysteme sind niemals statisch. Sie regulieren sich selbst durch Rückkopplungsschleifen innerhalb der biologischen Gemeinschaft, aber auch zwischen lebenden Organismen und ihrem Habitat. Sie lassen es regnen und regulieren das Wetter. Sie füllen die Atmosphäre mit einem Gasgemisch, das uns atmen und überleben lässt. Sie filtern das saubere Wasser, das wir trinken. Sie schützen uns vor Überschwemmungen. Seit mehr als einem Jahrhundert schützen sie uns vor katastrophalem Klimawandel. Aber nur wenige haben das bemerkt.
Ökosysteme hatten Milliarden Jahre Zeit zum Experimentieren, sodass sie, durch Trial and Error und Selbstorganisation, zu den effizientesten Maschinen im Universum wurden. Sie wandeln sich fortlaufend und fluktuierten, vorhersehbaren Mustern folgend, innerhalb gewisser Grenzen – zumindest war das bis vor Kurzem so. Wir können nur äußerst begrenzt nachbilden, was Ökosysteme für uns leisten. Aber tote Ökosysteme ermöglichten es dem Menschen, sich zum Herrn des Lebens auf der Erde aufzuschwingen – und zu seinem Zerstörer. Diese Geschichten heben wir uns allerdings für später auf.
Nicht nur Wälder, Feuchtgebiete und Flüsse sind Ökosysteme, sondern auch unsere Städte. Das Habitat von New York City zum Beispiel ist zum größten Teil eine künstlich geschaffene Umgebung, die auf Asphalt, Beton, Glas und Stahl aufgebaut ist, dazwischen eingestreut ist ein wenig Vegetation. Bei der Tierwelt in der Stadt denken die meisten an Ratten, Eichhörnchen im Central Park oder an den komischen Wanderfalken, der auf dem Dach eines Bürogebäudes nistet und es mal wieder in die Schlagzeilen geschafft hat. Die Stadt New York ist aber auch Heimat Tausender Pflanzen- und Tierarten, die mit den fast neun Millionen Bewohnern zusammenleben. Zu ihnen gehören Kojoten, Eichhörnchen, Fledermäuse, Skunks, Beutelratten, Rotfüchse, Weißwedelhirsche, Schnappschildkröten, Carolina-Dosenschildkröten, Salamander und mehr als 200 Vogelarten. In den Gewässern um New York City und im Hudson leben 80 Fischarten. Selbst Buckelwale und Finnwale wurden schon gesichtet. Auch im klaustrophobischsten Betondschungel nistet sich das Leben ein.
Würden die Menschen New York überraschend verlassen, würde das künstlich errichtete Habitat einstürzen. Die Stadt ist im Untergrund wie ein Emmentaler, Dutzende Tunnel, 400 Kilometer U-Bahn, über 10.000 Kilometer Abwasserkanäle und Leitungen durchziehen den Boden. Ohne die 290 Pumpanlagen, die rund um die Uhr arbeiten und pro Minute mehr als 60.000 Liter Wasser vom Hudson, East River und der Upper Bay abpumpen, würden die Tunnel und die U-Bahn in relativ kurzer Zeit überflutet werden. Die Löcher im Emmentaler Käse würden sich noch vergrößern und schließlich zum Einsturz der Gebäude führen. Staub und Erdreich würden sich in den Löchern und Spalten an der Oberfläche sammeln, Pflanzen begännen den Schutt zu besiedeln. Die Tierwelt würde die Ruinenlandschaft übernehmen.
Das Leben – und die von ihm gebildeten Ökosysteme – besitzt die außerordentliche Fähigkeit zur Regeneration und Neubildung, selbst an den unwahrscheinlichsten Standorten. Jeder aus meiner Generation erinnert sich an die Explosion des Atomreaktors in Tschernobyl 1986. Trotz der heldenhaften Anstrengungen der sowjetischen Wissenschaftler, Soldaten und Bergleute, die Strahlung einzudämmen, musste die nahe gelegene Stadt Prypjat letztlich geräumt werden – für immer. Sogar Haustiere wurden getötet, damit sie die Strahlung nicht weitertrugen. Dann kam die Natur. Die Gebäude verfallen, werden von Sträuchern und Bäumen erobert, das Stadtgebiet ist das Revier der Wölfe. Das von Menschen errichtete Habitat kann ohne seine Erbauer nicht überleben. In einigen Tausend Jahren sieht Prypjat vielleicht aus wie die Maya-Stätten im Dschungel, die unter einer dichten Vegetationsschicht erst ausgegraben werden müssen.
ZOOMEN WIR VON DEN korsischen Wäldern hinaus, stoßen wir irgendwann an die Grenze zwischen Land und Meer. Zoomen wir weiter hinaus, erkennen wir, dass Korsika ein vom Mittelmeer umgebenes Insel-Ökosystem ist. Noch weiter, und das Mittelmeer selbst erscheint als eigenständiges Ökosystem mit klaren Grenzen im Norden (den Gebirgszügen der Alpen und Karpaten) und im Süden (der Sahara). Astronauten in der Internationalen Raumstation, die noch weiter hinausgezoomt haben, erkennen den ganzen Planeten als ein Ökosystem ohne sichtbare Grenzen bis auf jene zwischen Land und Wasser, Wüste und Vegetation, Städten und landwirtschaftlichen Flächen. Kein Wunder.
Der Begriff Ökosystem leitet sich vom altgriechischen Wort oikos ab, das »den Ort, an dem man wohnt«, bezeichnet, das »Haus«, aber auch die »Familie«. Der ganze Kreis. Aber wie funktioniert dieses lebende Wunder, wie unterhält es sich selbst? Wie können neun