Die neue Völkerwanderung - Prinz Asfa-Wossen Asserate - E-Book

Die neue Völkerwanderung E-Book

Prinz Asfa-Wossen Asserate

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Beschreibung

Die aktuelle Flüchtlingskrise ist vor allem den Ereignissen im Nahen Osten geschuldet. Dabei gerät eine langfristig viel bedrohlichere Entwicklung aus dem Blick: die Völkerwanderung Zehntausender Afrikaner nach Europa. Prinz Asfa-Wossen Asserate, einer der besten Kenner des afrikanischen Kontinents, beschreibt die Ursachen dieser Massenflucht und appelliert an die europäischen Staaten, ihre Afrikapolitik grundlegend zu ändern. Andernfalls werden es bald nicht Tausende, sondern Millionen von Flüchtlingen sein, werde diese größte Herausforderung Europas im 21. Jahrhundert in einer Katastrophe enden – für Afrika und Europa. Als langjähriger Afrika-Berater deutscher Unternehmen kennt Prinz Asserate die Missstände genau. Durch westliche Handelsbarrieren und Agrarprotektionen verliert Afrika jährlich das Doppelte dessen, was es an Entwicklungshilfe erhält. Zudem werden Gewaltherrscher hofiert. Gerade diejenigen, die der Kontinent für seine Entwicklung dringend braucht, kehren ihrer Heimat den Rücken und verschlimmern so die Situation vor Ort. Europa, so Asserate, muss Afrika als Partner behandeln und gezielt diejenigen Staaten unterstützen, die demokratische Strukturen aufbauen und in ihre Jugend investieren. Nur so kann es gelingen, den fluchtbereiten Afrikanern eine menschenwürdige Zukunft auf ihrem Kontinent zu ermöglichen.

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Das Buch

Die aktuelle Flüchtlingskrise ist vor allem den Ereignissen im Nahen Osten geschuldet. Dabei gerät eine langfristig viel bedrohlichere Entwicklung aus dem Blick: die Völkerwanderung Zehntausender Afrikaner nach Europa. Das Szenario: auf der einen Seite eine Bevölkerung, die sich in den nächsten Jahrzehnten verdoppelt, auf der anderen Seite die dramatische Zunahme von »failed states«, von Korruption, Misswirtschaft und Unterdrückung.

Als langjähriger Afrika-Berater deutscher Unternehmen kennt Prinz Asserate die Missstände genau. Durch westliche Handelsbarrieren und Agrarprotektionen verliert Afrika jährlich das Doppelte dessen, was es an Entwicklungshilfe erhält. Zudem werden Gewaltherrscher hofiert. Gerade diejenigen, die der Kontinent für seine Entwicklung dringend braucht, kehren ihrer Heimat den Rücken und verschlimmern so die Situation vor Ort. Europa, so Asserate, muss Afrika als Partner behandeln und gezielt diejenigen Staaten unterstützen, die demokratische Strukturen aufbauen und in ihre Jugend investieren. Nur so kann es gelingen, den fluchtbereiten Afrikanern eine menschenwürdige Zukunft auf ihrem Kontinent zu ermöglichen.

Der Autor

Asfa-Wossen Asserate, geboren 1948 in Addis Abeba, lebt seit Ende der 1960er Jahre als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten und als Buchautor in Deutschland. Er ist Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Mehrere seiner Bücher waren Bestseller, darunter »Manieren« (2003) und »Afrika: Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten« (2010). 2014 erschien bei Propyläen seine vielbeachtete Biographie Haile Selassies unter dem Titel »Der letzte Kaiser von Afrika«.

Asfa-Wossen Asserate

Die neue Völkerwanderung

Wer Europa bewahren will,muss Afrika retten

Propyläen

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ISBN: 978-3-8437-1456-3

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Lektorat: Rainer WielandCovergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldCoverfotos: © Weise, Anna/SZ Photo/laif; ullstein bild – Reuters/Mohamed Nureldin Abdallah

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

»Die Stille der Landschaft zieht in fremde Weite – sammelt heimatlos gewordene Sehnsucht«

Burga Gripekoven

Den Millionen afrikanischen Flüchtlingen, die, verstreut auf allen Kontinenten, das saure Brot des Exils kauen, in der Hoffnung auf das Ende ihres Martyriums solidarisch gewidmet

Asfa-Wossen Asserate

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Motto & Widmung

Karte

Prolog

Kapitel 1

Homo migrans

Wer ist ein Flüchtling?

Woher und wohin fliehen die Menschen?

»Harter, steiniger Ort«: Flüchtlingslager in Afrika

Der »Bogen der Instabilität«

»Gute« und »schlechte« Flüchtlinge

Fluchtwege

»Mare Monstrum«

Anmerkungen zum Kapitel 1

Kapitel 2

Europas »Schwarzer Kontinent«

Afrikanische Reiche

Das Trauma der Sklaverei

Europas »Wettlauf um Afrika«

»Hottentotten« und Herero: Deutsch-Südwestafrika

Direkte und indirekte Herrschaft

»Herz der Finsternis«: Belgisch-Kongo

Der Widerstand regt sich

Kollaboration und kulturelle Anpassung

Der Kolonialismus im Niedergang

»Wir sind entschlossen, frei zu sein«

Die Unabhängigkeit wird verspielt

Die Stunde der Offiziere

Der Wind des Wandels

Anmerkungen zum Kapitel 2

Kapitel 3

Die Löwen auf dem Sprung

Kontinent der 1,2 Milliarden Gelegenheiten

»Schwärmt aus!« – Investoren in Afrika

Afrika geht online

Die neue Mittelschicht

Verschiedene Entwicklungsstadien

Das afrikanische Paradox: Beispiel Äthiopien

220 Millionen Afrikaner hungern

Landgrabbing

Afrikas Bewährungsprobe: Die Bevölkerungsexplosion

Klimawandel und Destabilisierung

Afrikas größte Hypothek: Korrupte Regierungen und Eliten

Nigeria: Der Fluch der Ressourcen

Der Katanga-Boom

Kiki, der Ölmagnat

Ein System aus Raffgier und Bestechung

Afrikas sogenannte Demokratien

Eine weitere Amtszeit oder ein weiterer Putsch

Das Ende der Geduld

Freund oder Feind

Die Bedeutung der Institutionen

Das Versagen der Afrikanischen Union

»Richtet euch doch selbst!«

Abstimmung mit den Füßen

Eritrea: »Alle denken an Flucht«

Brain-Drain in Simbabwe

Der Traum von Europa

Anmerkungen zum Kapitel 3

Kapitel 4

Deutsche Willkommenskultur

Europa treibt auseinander

Das System der Abschottung

»Luftdichte« Grenzen

»Partner« Gaddafi

Neue schmutzige Deals

Reisefreiheit? – Aber nicht für Afrikaner

Unfairer Handel

Fischzüge vor Afrikas Küsten

Entwicklungshilfe – für wen?

Ein Marshallplan für Afrika? Ja, aber …

Wie man Afrika wirksam helfen kann

Anmerkungen zum Kapitel 4

Epilog

Zur weiteren Lektüre

Danksagung

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Prolog

Auch ich – ein Flüchtling

Auch ich war ein Flüchtling, auch ich habe meine persönliche Fluchtgeschichte. Während im Sommer und Herbst des Jahres 1974 in meinem Heimatland die Revolution ihren Lauf nahm, die das Kaiserreich Äthiopien zum Einsturz brachte, hielt ich mich als Student in Frankfurt am Main auf. Ich war damals 25 Jahre alt. Von meiner kleinen Studentenwohnung aus verfolgte ich im Radio die Ereignisse in meiner Heimat, die auch vor meiner Familie nicht haltmachten. Zuerst wurde mein Vater Asserate Kassa, ein führender Politiker der äthiopischen Regierung, von der Militärjunta, die sich als die neuen Machthaber Äthiopiens sahen, inhaftiert. Wenig später traf es auch meine Mutter und meine Geschwister, sie wurden von den Militärs in Sippenhaft genommen. Am 24. November 1974 meldete das Radio, dass in Addis Abeba mehr als sechzig führende Politiker der kaiserlichen Regierung ermordet worden seien – darunter war auch mein Vater. Gegen ihn war niemals Anklage erhoben oder ein Prozess eröffnet worden, man hatte ihn wie die anderen in jener Nacht aus dem Gefängnis abgeführt und standrechtlich erschossen. Die Tat ging als »äthiopischer Blutsamstag« in die Geschichte ein.

Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, was dies für mich bedeutete. Mein Vater war tot. Meine Mutter und Geschwister saßen ohne Anklage im Gefängnis – aber sie lebten. Ich war der Einzige meiner Familie, der sich in Freiheit und Sicherheit befand. Einige Monate später lief mein äthiopischer Pass ab. Ich vereinbarte einen Termin mit der Äthiopischen Botschaft in Bonn. Der Botschafter, den ich persönlich kannte, zeigte sich verwundert darüber, dass ich noch im Besitz meines Passes war. Er benötigte einige Stunden, um mit Addis Abeba Rücksprache zu nehmen. Dann erklärte er mir, dass mir aufgrund meiner »revolutionsfeindlichen Umtriebe« kein neuer äthiopischer Pass ausgestellt werden könne. Damit war ich staatenlos geworden.

Einen Tag darauf stellte ich in Frankfurt am Main einen Antrag auf Asyl – es war das erste Mal überhaupt, dass ein Äthiopier in Deutschland dies tat. Üblicherweise musste man dafür im mittelfränkischen Zirndorf beim dortigen »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge« persönlich vorstellig werden – in meinem Fall wurde nach Aktenlage entschieden. Es dauerte nicht mehr als eine Woche, bis ich meinen Anerkennungsbescheid erhielt – zusammen mit einem »Fremdenpass«, der mir für die folgenden sieben Jahre Aufenthaltsrecht und eine Arbeitserlaubnis gewährte.

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, heißt es in Artikel 16 des Grundgesetzes. Ich war ein politischer Flüchtling, wie er im Buche steht. Aber ein typischer Flüchtling war ich – von heute aus betrachtet – nicht. Ich musste mich keinem Schleuser andienen, der für seine Dienste ein Vermögen verlangt. Ich musste nicht tagelang durch die Wüste ziehen mit einem Bündel auf dem Rücken, in dem sich all meine Habseligkeiten befinden; getrieben von der Angst, von Militärs oder Polizei entdeckt zu werden. Ich musste nicht, abgestempelt als »Illegaler«, monatelang mit Tausenden anderer in einem Lager ausharren, darauf hoffend, dass es irgendwann, irgendwie weitergeht. Ich musste nicht in einem seeuntüchtigen Schlauchboot, zusammen mit Hunderten anderen, die lebensgefährliche Fahrt übers Meer antreten. Ich musste mich nicht in den stockfinsteren Laderaum eines Transporters einsperren lassen, darum bangend, ob sich die Tür jemals wieder für mich öffnen würde. Ich musste mich nicht wochen- und monatelang jeden Morgen um fünf aufs Neue vor einer Behörde in der Schlange anstellen, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Ich musste nicht, zur Untätigkeit verdammt, bange Monate oder Jahre in einer zur Massenunterkunft umgewidmeten Halle verbringen in der Ungewissheit, ob ich im Land bleiben darf. Ich musste mich auch nicht mühsam in eine Gesellschaft einfinden, deren Sprache und Kultur mir vollkommen fremd waren; denn ich hatte bereits in meiner Kindheit in Äthiopien Deutsch gelernt und mich in meinen Jahren als Student mit den deutschen Sitten und Gebräuchen einigermaßen vertraut gemacht.

Damals war ich einer von ganz wenigen. In Frankfurt gab es neben mir nur einen einzigen weiteren staatenlos gewordenen Flüchtling aus Äthiopien; und in ganz Deutschland mochten es vielleicht ein Dutzend gewesen sein. Heute bin ich einer von vielen. Allein im Rhein-Main-Gebiet gibt es heute 10000 äthiopische Flüchtlinge und auf der ganzen Welt 2,5 Millionen. Meine Geschichte ging gut aus: Nach sieben Jahren als Asylant in Deutschland erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft, und ich habe mich, so gut es geht, in die Gesellschaft integriert. Ich habe Glück gehabt, wie ich es mir jeden Morgen in großer Dankbarkeit als Mantra aufsage.

Wenn wir heute tagtäglich von den Strömen von Menschen lesen, die weltweit auf der Flucht sind, wenn wir die Bilder der Karawanen der mit Menschen überfüllten Pick-ups sehen, die durch die Sahara ziehen, sollten wir eines nicht vergessen. Ein jeder dieser Menschen ist ein Individuum mit seinem eigenen Schicksal. Mit seinen Ängsten und seiner Hoffnung auf eine bessere, eine sichere Zukunft. Und mit dem Wunsch, irgendwann einmal, angekommen in einem neuen Leben, auf die Geschichte seiner Flucht zurückblicken zu können und zu sagen: Ich habe Glück gehabt.

Asfa-Wossen Asserate,

Frankfurt am Main, im September 2016

Kapitel 1

Auf der Flucht

Die Welt ist aus den Fugen. 65,3 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Blutige Konflikte und die Angst vor Verfolgung haben sie aus ihrer Heimat vertrieben. Damit ist, wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in seinem neuesten, im Sommer 2016 vorgestellten Bericht ausführt, jeder 113. Bewohner der Erde betroffen. Und jeden Tag verlassen 34000 Menschen, die um Leib und Leben fürchten, aufs Neue ihre Heimat – 24 in jeder Minute.1 Der Vergleich mit den Jahren zuvor zeigt, wie dramatisch die Lage geworden ist. Im Jahr 2010 waren es noch 10900 Flüchtlinge pro Tag, 2012 bereits 21400. Und nichts deutet darauf hin, dass die Zahlen zurückgehen werden, im Gegenteil. Allein 12,4 Millionen Menschen sind im Jahr 2015 neu dazugekommen. Und es trifft vor allem Kinder und Jugendliche: Über die Hälfte der Flüchtlinge ist unter 18 Jahre alt.

Weltweit gibt es derzeit 65 Millionen Flüchtlinge – das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Frankreichs. Würde man die Geflohenen in einem Land zusammenfassen, wäre es im Klassement der größten Staaten auf Platz 21. Aber nicht alle Flüchtlinge haben ihr Heimatland verlassen: Fast zwei Drittel, 40,8 Millionen, hielten sich Ende 2015 innerhalb der Grenzen ihres Staates auf; 21,3 Millionen fanden in fremden Ländern Zuflucht. Weitere 3,2 Millionen Menschen warteten im Ausland auf eine Entscheidung über ihren Antrag auf Asyl.

Die schrecklichen Bilder von den Bürgerkriegen in Syrien, Afghanistan und dem Irak bestimmten in den letzten Jahren und Monaten die internationalen Schlagzeilen. Aber die Flüchtlingskrise ist längst nicht mehr auf den Nahen Osten beschränkt. Gerade in Afrika machen sich immer mehr Menschen auf die Flucht. Auf der Rangliste der Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge kommen, befand sich 2015 hinter Syrien und Afghanistan mit Somalia ein afrikanisches Land auf dem dritten Platz. In ganz Afrika sind dem UNHCR zufolge inzwischen über 4,4 Millionen Menschen auf der Flucht – zwanzig Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor.

»Wir sind konfrontiert mit der größten Flüchtlingskrise unseres Zeitalters«, erklärte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon. »Aber es ist nicht nur eine Krise, was die Größe der Zahl betrifft; es ist auch eine Krise der Solidarität.«2 In Europa hielt man die Flüchtlingskrise lange Zeit für eine Krise der anderen, die täglichen Fernsehbilder schienen weit weg – bis zum Jahr 2015, als die Flüchtlinge plötzlich vor Europas Türen standen. Mehr als eine Million Menschen haben auf Schiffen über das Mittelmeer oder zu Fuß über die sogenannte Balkanroute den Weg hierher gefunden. In Europa, dem reichsten Kontinent der Welt, hoffen sie, für sich und ihre Familien eine sichere Zukunft zu finden.

Aber nicht nur aufgrund von persönlicher Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen oder akuter Gewalt verlassen die Menschen ihre Heimat. Auch Hunger und Armut treibt die Menschen dazu, sich anderswo ein besseres Leben zu suchen. Über 244 Millionen Migranten wurden im Jahr 2015 weltweit gezählt – das sind 41 Prozent mehr als noch im Jahr 2000.3 Längst ist von einer neuen, globalen Völkerwanderung die Rede.

Homo migrans

Wenn wir das Wort Völkerwanderung hören, denken wir vor allem an die Spätantike. Als »Epoche der Völkerwanderung« ist die Zeit vom späten 4. bis zum 6. Jahrhundert beschrieben worden. Sie begann mit der Unterwerfung des Ostgotenreichs am Dnjepr durch die Hunnen (375) und fand mit dem Langobardeneinfall in Italien (568) ihr Ende. In ihrem Verlauf setzten sich die Völker der Kelten, Germanen und Slawen nach Westen in Bewegung und stießen in den Mittelmeerraum vor. Mit ihr erlebte das Weströmische Reich seinen Untergang. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt: Völkerwanderungen und Migration hat es immer gegeben. Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte von Wanderungsbewegungen.

Unser aller Wiege steht bekanntlich im Herzen Afrikas. Im Afar-Gebiet im Norden Äthiopiens stießen amerikanische Paläontologen 1974 auf die Überreste des bis dahin ältesten aufrecht gehenden Hominiden. Das Alter des Fossils wurde auf 3,2 Millionen Jahre datiert. Die Forscher tauften es – es handelte sich vermutlich um ein weibliches Exemplar – auf den Namen Lucy; in Äthiopien gab man ihr den Namen Dinknesh – amharisch für »du Wunderbare«. Im Jahr 1992 wurde bei Ausgrabungen nicht weit davon entfernt ein Verwandter Dinkneshs gefunden, mutmaßlich 4,4 Millionen Jahre alt; und 2001 entdeckte das Team des äthiopischen Paläontologen Yohannes Haile-Selassie ebenfalls im Afar-Gebiet das Skelett eines noch wesentlich älteren Vormenschen mit aufrechtem Gang – fast sechs Millionen Jahre alt.

Die Nachkommen Dinkneshs und ihrer Verwandten entwickelten sich vor rund 200000 Jahren zu unserer Spezies, der wir den Namen homo sapiens gegeben haben. Die frühen Menschen waren Nomaden. Vor etwa einer Million Jahren begannen sie, ihre Heimat in Äthiopien, Nordkenia und Somalia zu verlassen und machten sich auf Wanderschaft. Im Laufe der Jahrtausende verbreiteten sie sich über den afrikanischen Kontinent – und schließlich über den ganzen Globus. Vor rund 100000 Jahren verließen die ersten Menschen Afrika; und gerade einmal 40000 Jahre ist es her, dass die Ersten von ihnen Europa erreichten. Sie passten sich den diversen klimatischen Bedingungen der verschiedenen Weltgegenden an und bildeten ihre regionalen Eigenheiten aus. Auch wenn sich viele Europäer heute nicht mehr daran erinnern – sie haben alle einen afrikanischen »Migrationshintergrund«.

Im fortwährenden Austausch und Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen entwickelte sich die Menschheit. So ließe sich unsere Spezies mit ebenso viel Berechtigung auch als homo migrans (umherziehender Mensch) bezeichnen. Überall auf der Welt zeigen sich die Spuren dieser historischen Wanderungsbewegungen. Vom westlichen Afrika aus breiteten sich vor rund 1500 Jahren afrikanische Stämme und Völker nach Süden und Osten aus, vermischten sich mit den dort lebenden Bevölkerungen und besiedelten den subsaharischen Kontinent. Die Tutsi beispielsweise, die wir im heutigen Ruanda vorfinden, sind Abkömmlinge eines Nomadenvolks aus meinem Heimatland Äthiopien. Auf der Suche nach nahrhaftem Weideland für ihre Tiere zogen sie am Rande des weißen Nils entlang, bis sie sich schließlich im »Land der Tausend Hügel« niederließen.

Mit der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch spanische und portugiesische Seeleute am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert erhielt der Austausch von Gütern, Pflanzen, Tieren und Menschen eine neue Dimension – der Beginn der Epoche der Neuzeit ist auch der Beginn des Zeitalters der Globalisierung. Europäische Zuwanderer machten sich daran, die »Neue Welt« zu besiedeln. Bald wurde nicht nur mit Waren, sondern auch mit Menschen gehandelt. Zwischen 1519 und 1867 wurden 9,5 Millionen Afrikaner, vor allem aus Westafrika und dem westlichen Zentralafrika vom Senegal bis Angola, nach Nord-, Mittel- und Südamerika deportiert. Sie wurden als Sklaven verkauft im Tausch gegen Textilien, Waffen, Salz, Pferde, Alkohol oder Tabak.

Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts machten sich in Europa immer mehr Menschen auf den Weg, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Viele von ihnen kamen aus Deutschland. Als »Schwabenzüge« gingen die Wanderungen in den Osten des Habsburgerreichs im 18. Jahrhundert in die Geschichte ein. Über 150000 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum – aus der Pfalz, Schwaben und Franken, aus dem Elsass und Lothringen, aus Bayern und Böhmen – packten damals ihre Siebensachen, um in die infolge der Türkenkriege fast menschenleeren Gebiete von Ungarn und Slawonien, in die Batschka und das Banat zu ziehen. Sie entwässerten die Sümpfe und verwandelten sie in Ackerland. Nicht wenige der deutschen Siedler – Schätzungen sprechen von bis zu einem Drittel – fanden in den unwirtlichen Gegenden ihren Tod, hingerafft vom Sumpffieber, von der Pest und der Cholera.

In der Zeit der Industrialisierung, zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg, wanderten mehr als fünfzig Millionen Europäer nach Amerika aus, davon allein fünf Millionen aus Deutschland. Wirtschaftliche Krisen und Hunger führten dazu, dass sie zu Hause keine Hoffnung mehr sahen; das Land der unbegrenzten Möglichkeiten versprach ihnen eine bessere Zukunft. Hamburg und Bremerhaven waren damals die wichtigsten Auswandererhäfen. Um die vielen, die ihre deutsche Heimat verlassen wollten, zu sammeln, wurde in Bremerhaven Mitte des 19. Jahrhunderts eigens ein Auswandererhaus errichtet. Es bot in verschiedenen großen Sälen bis zu 2000 Menschen für ein geringes Entgelt Unterkunft und Verpflegung. Wer es schließlich auf eines der Auswandererschiffe geschafft hatte, machte sich auf eine Reise mit ungewissem Ausgang. Die Überfahrt auf dem Atlantik mit dem Segelschiff konnte, abhängig von Wind und Wetter, bis zu zehn Wochen dauern. Die hygienischen Zustände an Bord waren erbärmlich. Der Großteil der Menschen hauste, auf engstem Raum zusammengepfercht, in den Zwischendecks, in die kaum ein Lichtstrahl eindrang. Und wenn die Auswanderer im Hafen von New York ankamen, voller Ungewissheit und Erwartung, wurden sie kaum freundlicher empfangen als die Flüchtlinge aus Afrika und Nahost heute in Europa. Der Schriftsteller Robert Louis Stevenson, der selbst auf einem Auswandererschiff von Liverpool nach New York unterwegs war, erklärte: »Auswanderung entwickelte sich von einem Wort mit sehr fröhlicher Bedeutung zu einem Wort, das einen düsteren Klang in meinen Ohren erzeugte. Es gibt nichts, was man sich erfreulicher ausmalte und was erbärmlicher anzusehen war.«4 Ein Satz, den wohl auch viele der Flüchtlinge von heute auf ihrer Odyssee um die halbe Welt unterschreiben würden.

Eine der größten Migrationsbewegungen, die Deutschland erfasste, fand im 20. Jahrhundert nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands statt. Rund 14 Millionen deutsche Vertriebene aus den Ostgebieten fanden nach dem Zweiten Weltkrieg Aufnahme in Deutschland, das nach 1945 neue Grenzen erhalten hatte. Die vom Krieg entwurzelten Landsleute wurden – entgegen der allgemeinen Vorstellung – keineswegs überall freundlich aufgenommen. Sie hatten mit zahlreichen Vorbehalten und Vorurteilen zu kämpfen, stießen sie doch auf Menschen, denen selbst oft das Nötigste fehlte. Viele der Ankommenden erlebten Deutschland als »kalte Heimat«, wie der Historiker Andreas Kossert es formulierte.5

Wer ist ein Flüchtling?

Migration gab und gibt es in den vielfältigsten Formen.6 Sie kann freiwillig erfolgen – wie etwa die Bildungs- und Arbeitswanderung: Menschen emigrieren in ein anderes Land, um dort eine Arbeitsstelle anzutreten, um eine Hochschule zu besuchen oder sich beruflich weiterzuqualifizieren. Manch einen treibt die Liebe in ein anderes Land (die Migrationsforscher sprechen hier von Heirats- oder Liebeswanderung), andere fühlen sich von einer besonderen Stadt oder Kultur angezogen (die sogenannte Kulturwanderung) oder vom angenehmen Klima an einem bestimmten Ort (die sogenannte Lifestyle-Migration, die Rentner- und Seniorenwanderung). Aber oft erfolgt die Migration eben auch gezwungenermaßen, so im Falle von Sklaven- und Menschenhandel, bei Deportation oder Vertreibung; von »Zwangswanderung« spricht man aber auch, wenn Menschen aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen, aus Gründen der sexuellen Identität oder aufgrund einer Katastrophe (einer Naturkatastrophe oder einer von Menschen verursachten) gezwungen werden, ihr Land zu verlassen.

Für all diejenigen, die versuchen, existenzieller Not zu entkommen, und darum ihrer Heimat den Rücken kehren, hat sich der Begriff »Flüchtling« eingebürgert. Die Genfer Flüchtlingskonvention – verabschiedet 1951, wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, und novelliert 1967 – definiert einen Flüchtling als eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dort zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.«7

147 Staaten weltweit sind bis heute dieser Konvention beigetreten, die jeder Person, die die aufgezählten Kriterien erfüllt, einen völkerrechtlich bindenden Rechtsstatus gewährt. Dieser beinhaltet den Schutz vor Diskriminierung wegen Rasse, Religion oder Herkunftsland, die Religionsfreiheit, die Straffreiheit der illegalen Einreise und Schutz vor Ausweisung, den freien Zugang zu Gerichten und die Ausstellung eines Reiseausweises. Die Genfer Flüchtlingskonvention hat aber auch ihre blinden Flecke: Binnenflüchtlinge, die innerhalb eines Landes fliehen, werden von ihr gar nicht erfasst. Menschen, die vor Krieg oder kriegsähnlichen Zuständen über Grenzen fliehen, werden nicht per se unter Schutz gestellt, falls nicht mindestens einer der genannten individuellen Fluchtgründe vorliegt. Die vielen Menschen, die vor existentieller wirtschaftlicher Not fliehen, haben keinen Anspruch auf besonderen Schutz. Geschlechtsspezifische Verfolgung findet ebenso wenig Erwähnung wie Personen, die aufgrund von Umwelt- und Naturkatastrophen aus ihrer Heimat fliehen. Und außerdem gilt: Die Genfer Flüchtlingskonvention gewährt einen Schutzstatus, aber kein automatisches Recht auf Asyl. Dies zu regeln, bleibt jedem Land selbst überlassen, auch innerhalb der EU folgt hier jedes Mitglied eigenen, selbstgesetzten Regelungen.

Eines unterscheidet die Flucht- und Migrationsbewegungen von früher und heute: Einst emigrierten die Menschen in Gebiete, die meist menschenleer waren. Heute treffen die Migranten auf Gesellschaften, die auf ihre Ankunft nicht unbedingt eingestellt sind. Die Weltflüchtlingskrise, die wir derzeit erleben, und ihre Dynamik stellen eine besondere Herausforderung für die Weltgemeinschaft dar.

Woher und wohin fliehen die Menschen?

Aus welchen Regionen und Ländern fliehen die Menschen? An erster Stelle standen Ende 2015 zwei Länder des Nahen und Mittleren Ostens, die seit Jahren durch Terror, Krieg und Vertreibung im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen. Die mit Abstand meisten Flüchtlinge hat Syrien zu verzeichnen, das seit dem Jahr 2011 unter einem verheerenden Bürgerkrieg leidet: 4,9 Millionen Menschen waren es Ende 2015. Davon machte sich eine Million allein in den zurückliegenden zwölf Monaten auf den Weg nach Europa. Der Großteil lebt entlang der syrischen Grenzen in riesigen Flüchtlingscamps im Libanon, in Jordanien und der Türkei. An zweiter Stelle folgt Afghanistan, das seit der Invasion von Truppen der USA und ihrer Verbündeten im Oktober 2001 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Es verzeichnete Ende 2015 rund 2,7 Millionen Geflohene.

Die Kriegs- und Krisenländer Syrien und Afghanistan stehen seit Jahren im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit. Dies gilt für die Länder mit den nächsthöchsten Flüchtlingszahlen nicht in gleicher Weise. Es sind durchweg afrikanische Staaten: Somalia mit 1,12 Millionen Flüchtlingen, Südsudan (779000 Flüchtlinge), Sudan (629000) und die Demokratische Republik Kongo (542000). Auch hier handelt es sich um Länder, deren Zivilbevölkerung durch Kriege und gewaltsame Konflikte zu leiden hat – auch wenn sie längst nicht so starke Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Somalia gilt schon seit vielen Jahren als ein zerfallener Staat. Dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre folgte ein Machtvakuum. Verfeindete Warlords und regionale Clans lieferten sich erbitterte Kämpfe, und die fehlenden staatlichen Strukturen führten zum Aufstieg islamistischer Gruppierungen, allen voran die islamische Terrormiliz al-Shabaab, die heute weite Teile des Landes kontrolliert. Der Südsudan, christlich geprägt, erlangte im Jahre 2011 nach langen Kämpfen seine Unabhängigkeit vom muslimisch dominierten Norden. Aber die Hoffnungen, die sich mit der Staatsgründung verbanden, wichen bald einer traurigen Realität. Seit 2013 tobt im jüngsten Staat der Erde ein blutiger Bürgerkrieg um die Vormachtstellung im Land – mit Tausenden Toten und Millionen Vertriebenen innerhalb und außerhalb des Landes.

Unter den zehn Ländern, aus denen Ende 2015 die meisten Flüchtlinge stammten, befinden sich neben Myanmar und Kolumbien noch zwei weitere afrikanische Staaten: zum einen die Zentralafrikanische Republik, wo sich 2013 die muslimische Rebellenbewegung Séléka an die Macht putschte, mit rund 471000 Geflohenen; sowie Eritrea, wo ein besonders diktatorisches Regime über 411000 Menschen außer Landes getrieben hat.8

Viele Europäer – und insbesondere Deutsche – glauben, ihre Länder trugen die Hauptlast der weltweiten Flüchtlingsbewegung. Aber auch wenn im Jahr 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge den Weg nach Europa fanden: 86 Prozent der Flüchtlinge weltweit befinden sich in Staaten mit niedrigen bis mittleren Einkommen außerhalb von Europa. Viele dieser Länder grenzen an die Konfliktgebiete, aus denen die Menschen geflohen sind. Weltweit ist die Türkei mit rund 2,5 Millionen Flüchtlingen das größte Aufnahmeland, gefolgt von Pakistan (1,6 Millionen Flüchtlinge) und dem Libanon (1,1 Millionen Flüchtlinge). Allein unter den zehn Ländern mit den meisten aufgenommenen Flüchtlingen befanden sich nach Angaben des UNHCR Ende 2015 fünf afrikanische Staaten: An der Spitze steht Äthiopien mit 736000 Flüchtlingen, davon ein Großteil aus dem Südsudan und dem benachbarten Eritrea; es folgen Kenia (554000), Uganda (477000), die Demokratische Republik Kongo (383000) und der Tschad (370000).

Diese Zahlen zeigen: Die Hauptlast der großen Flüchtlingsbewegungen in Afrika und Nahost schultern immer noch die Nachbarstaaten. Im Falle Syriens sind dies neben der Türkei der Libanon, Jordanien und der Irak. Ähnliches gilt für Afrika: Von den fast 800000 Menschen, die aus dem Südsudan flohen, fanden die meisten in den benachbarten Staaten Schutz: Fast 300000 in Äthiopien, 200000 in Uganda, 195000 im Sudan und 95000 in Kenia. Die Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik wiederum wurden mehrheitlich von den Anrainerstaaten Kamerun, der Demokratischen Republik Kongo, dem Tschad und dem Kongo aufgenommen. Der größte Teil der Geflohenen findet also in Ländern und Regionen Zuflucht, die über viel schlechtere wirtschaftliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen verfügen als die westlichen Industriestaaten. Fast 14 Millionen Flüchtlinge lebten Ende 2015 in sogenannten Entwicklungsländern gegenüber 2,2 Millionen Flüchtlingen in den Industriestaaten.

Erst seit dem Jahr 2015, als die Massenflucht von Menschen nach Europa einsetzte, haben die Staaten der EU begonnen, sich ihrer Verantwortung inmitten der weltweiten Flüchtlingskrise mehr oder weniger zu stellen. Besonders anschaulich wird dies, wenn man die Zahl der Flüchtlinge im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung eines Landes betrachtet: 2015 lag hier der Libanon mit 183 Flüchtlingen pro 1000 Einwohner an der Spitze, gefolgt von Jordanien (87), dem pazifischen Inselstaat Nauru (50), der Türkei (32), dem Tschad (26) und Dschibuti (22).

»Harter, steiniger Ort«: Flüchtlingslager in Afrika

Nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, auch in Afrika sind die Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren massiv angestiegen. 4,4 Millionen Afrikaner befanden sich Ende 2015 auf der Flucht, zwanzig Prozent mehr als im Jahr 2014. Die meisten – rund 2,74 Millionen – stammen aus Ostafrika und dem Horn von Afrika; aus Zentralafrika flohen 1,2 Millionen, aus Südafrika rund 190000 Menschen.9

Immer größer werden die Flüchtlingslager in den Krisenregionen der Welt, einige der größten von ihnen befinden sich im Osten Afrikas. Zum Beispiel Dadaab in Kenia, gut hundert Kilometer vor der somalischen Grenze. Es besteht schon seit fast 25 Jahren; 1992 wurde es von der UNO mitten in der Wüste eingerichtet, um Somaliern Schutz zu bieten, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land flohen. Auf Deutsch übersetzt heißt Dadaab »harter, steiniger Ort«. Im Lauf der Jahre wuchs es zu einer chaotischen Großstadt mit einer Fläche von 77 Quadratkilometern – ein endloses Meer von UNO-Zelten und provisorischen Hütten aus Dornenbüschen, durchzogen von staubigen unbefestigten Straßen. Zeitweise lebten hier 500000 Menschen, in der Mehrzahl Somalier. Aber auch viele Äthiopier, die 2011 vor der Hungerkrise in ihrem Land flüchteten, fanden hier Aufnahme, ebenso wie Geflohene aus dem Tschad und dem Sudan. Dem UNHCR zufolge betrug die Gesamtzahl der dort lebenden Flüchtlinge im April 2016 offiziell 344648 – rund 95 Prozent davon Somalier.10 Beobachter gehen davon aus, dass die wahre Einwohnerzahl noch viel höher ist. Zehntausende weitere Menschen campieren vor den Toren der Lager. Sie harren dort aus – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen, unzureichend versorgt, ohne Hoffnung und Perspektive. Der englische Journalist Ben Rawlence hat einige Bewohner von Dadaab mehrere Jahre begleitet und darüber ein bewegendes Buch geschrieben.11 Viele von ihnen sind im Lager geboren und aufgewachsen – sie kennen kein Leben außerhalb. Die kenianische Regierung verbietet den Flüchtlingen zu arbeiten und verweigert sämtliche Maßnahmen, die dem endlosen Provisorium Dauerhaftigkeit verleihen könnten wie etwa die Asphaltierung von Straßen. Die Ernährung der dort lebenden Menschen wird durch das World Food Program der UN und Nichtregierungsorganisationen sichergestellt, die auch für die Einrichtung von Schulen und Krankenhäusern sorgen. Doch ihre Lage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, mehrmals in Folge wurden die Nahrungsrationen der Vereinten Nationen für Dadaab gekürzt. Der UN fehlt es schlicht und einfach an Geld, nachdem die Syrien-Hilfe aufgestockt wurde und die Mitgliedsländer ihre Beiträge für Afrika kürzten. Die kenianische Regierung erklärt immer wieder aufs Neue, sie wolle das Lager schließen. Doch wie soll eine improvisierte Stadt mit einer halben Million Einwohnern einfach verschwinden? Die dort Lebenden können weder nach Äthiopien noch nach Somalia zurück. Wohin also mit all den Menschen?

Zwei weitere riesige Flüchtlingslager auf dem afrikanischen Kontinent finden sich in Äthiopien: In Gambela im Westen des Landes leben rund 220000 Flüchtlinge vor allem aus dem Nachbarland Südsudan; in Dollo Ado im Osten haben rund 210000 Menschen aus Somalia Schutz gefunden. Auch Tansania und Uganda leisten seit längerer Zeit Flüchtlingshilfe in beträchtlichem Ausmaß. In dem Lager Adjumani im Norden Ugandas sind hauptsächlich Flüchtlinge aus dem Südsudan untergekommen, über 110000 waren es im Herbst 2015. Im Osten Tansanias liegt, rund 150 Kilometer vom Tanganjikasee entfernt, das Camp Nyarugusu. Es wurde 1996 von der UNO eingerichtet. Mehr als hunderttausend Menschen flohen damals aus der Demokratischen Republik Kongo vor einem blutigen Bürgerkrieg, indem sie in Booten den Tanganjikasee überquerten. In jüngster Zeit kamen dort auch zahlreiche Menschen aus Burundi an, die vor den Unruhen in ihrer Heimat geflohen sind. Heute leben in Nyarugusu rund 152000 Menschen. Auch hier reihen sich die weißgrauen Zelte mit dem hellblauen Logo des UNHCR schier endlos aneinander zwischen rotfarbigen matschigen Wegen, gesäumt von selbstgefertigten qualmenden Lehmöfen, wo die Menschen sich ihr Essen zubereiten. »Bete dein ganzes Leben zu Gott, dass du niemals Flüchtling genannt wirst, auch nicht für einen Tag«, erklärt Euphrasie Munyerenkana, die aus Mkimbizi im Kongo geflohen ist und seit mehreren Jahren im Lager lebt. »Die Lage eines Flüchtlings ist so unwürdig, dass sie mit nichts vergleichbar ist. Ein Flüchtling ist ein Mensch in der Hand eines anderen. Man hat keine eigenen Hände und Füße mehr, man wird gefüttert und angezogen. Man hat noch seine Augen, aber man sieht nichts mehr. Man hat noch seinen Mund, aber man ist sprachlos. Man hat seine Ohren, aber man hört nichts mehr, man hat seine Nase, aber man riecht nichts mehr. Man ist dem Schicksal ausgeliefert. Gott hat uns das Leben geschenkt, nur er kennt unseren Aufenthaltsort. Wir leben in einer Situation, die menschenunwürdig ist.«12

Und während die Welt auf Syrien blickt, schenkt sie dem Exodus von Millionen Menschen aus Ostafrika kaum Aufmerksamkeit. Im Gegenteil: Als Ben Rawlence auf Einladung des Nationalen Sicherheitsrats nach Washington reiste, um den Mitgliedern des US-Gremiums seine Eindrücke von Dadaab zu schildern, interessierten sich die nur für einen Aspekt: Geht womöglich von dem Lager eine Gefahr für die amerikanische Sicherheit aus, drohen sich deren Bewohner zu radikalisieren und sich der radikal-islamischen al-Shabaab anzuschließen? Dabei waren doch die Menschen in Dadaab gerade vor den Extremisten geflohen. Die humanitäre Lage der Millionen Flüchtlinge in den Lagern Afrikas interessierte die USA nicht – ebenso wenig wie die anderen Industriestaaten der westlichen Welt. Hauptsache, die Flüchtlinge werden nicht zu islamistischen Terroristen, die den Westen bedrohen könnten.13

Der »Bogen der Instabilität«

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