Die neue Wildnis - Diane Cook - E-Book

Die neue Wildnis E-Book

Diane Cook

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Beschreibung

Amerika in der nahen Zukunft: Zusammengepfercht in riesigen Megacities leiden die Menschen unter den Folgen der Überbevölkerung und des Klimawandels wie Smog, Dürreperioden und extreme Hitze. Aus Sorge um das Leben ihrer fünfjährigen Tochter Agnes nimmt die junge Mutter Bea an einem nie dagewesenen Regierungsexperiment teil: Gemeinsam mit zwanzig anderen Pionieren möchte sie in einem der staatlich geschützten Nationalparks, zu denen Menschen eigentlich keinen Zugang haben, im Einklang mit der Natur leben. Doch der Alltag in dieser neuen Wildnis wartet mit ganz eigenen Herausforderungen auf, und schon bald stoßen die Pioniere an ihre Grenzen ...

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Seitenzahl: 597

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Das Buch

Beas fünfjährige Tochter Agnes ist schwer krank. In der riesigen Stadt, in der die beiden leben, gibt es weder genug Platz noch frische Luft noch grüne Pflanzen, dafür Smog und Müll im Überfluss. Das zehrt an den Kräften des kleinen Mädchens, und wenn sich nichts ändert, wird Agnes vor den Augen ihrer Mutter sterben.

Am anderen Ende des Landes liegt die »neue Wildnis«, ein riesiges Naturschutzgebiet, zu dem außer den zuständigen Rangern niemand Zutritt hat. Hier ist die Luft sauber, die Vegetation üppig und die Artenvielfalt groß. Zusammen mit einigen wenigen Auserwählten erhalten Bea und Agnes die Erlaubnis, dort zu leben – unter der Bedingung, dass sie nie länger als ein paar Tage an einem Ort bleiben und keine Spuren hinterlassen. Denn die Pioniere dieser neuen Wildnis sollen im Einklang mit der Natur leben, statt sie sich zu unterwerfen.

Bea und Agnes lernen, giftige von essbaren Pflanzen zu unterscheiden, ihre eigenen Werkzeuge herzustellen und zu jagen. Und sie müssen schmerzhaft erfahren, dass in der neuen Wildnis das Recht des Stärkeren gilt und das Leben mit und in der Natur auch den Tod bedeutet. Eine Erfahrung, die die Gemeinschaft und ihre Ideale zu zerstören droht …

Die Autorin

Diane Cook lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Sie war Produzentin der Radiosendung This American Life und wurde 2016 mit einem Stipendium des National Endowment for the Arts ausgezeichnet. Ihr Debütroman Die neue Wildnis war ein großer Erfolg und wurde 2020 für den Booker Prize nominiert.

DIANE COOK

Roman

Aus dem Amerikanischenübersetzt von Astrid Finke

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

THE NEW WILDERNESS

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Deutsche Erstausgabe 05/2022

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2020 by Diane Cook

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung eines Motivsvon Shutterstock.com / Vectortwins

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-27799-4V002

www.diezukunft.de

Für meine Mutter Lindaund meine Tochter Cazadora,und für Jorge

»Ich bin froh, dass ich nie jung sein werde ohne wildes Land, in dem man jung sein darf. Was nützen vierzig Freiheiten ohne einen weißen Fleck auf der Landkarte?«

– ALDO LEOPOLD

»Get me out of here, get me out of here

I hate it here, get me out of here.«

– ALEX CHILTON

ERSTER TEIL

Die Ballade von Beatrice

Das Baby glitt in der Farbe eines Blutergusses heraus. Bea sengte die Nabelschnur durch und wickelte sie von dem zarten Hals des Mädchens ab, und obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, hob sie ihre Tochter hoch, tippte auf ihre weiche Brust und blies ein paar flache Atemzüge in ihren verschleimten Mund.

Um sie herum dehnte sich der eigenartige Gesang von Grillen aus. Beas Haut prickelte vor Hitze. Schweiß trocknete auf ihrem Rücken und Gesicht. Die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht und würde, schneller, als richtig erschien, wieder sinken. Von der Stelle aus, an der Bea kniete, sah sie ihr Tal, seine geheimen Gräser und Sträucher. In der Ferne standen einsame Kuppen und etwas näher Erdhügel, die aussahen wie den Weg nach irgendwo weisende Steinmännchen. Am Horizont zeichnete sich klar und weiß die Caldera ab.

Bea grub mit einem Stock in dem harten Boden, dann mit einem Stein, schließlich schaufelte und glättete sie mit den Händen. Sie schob die Plazenta hinein. Danach das Mädchen. Das Loch war nicht tief, und der Bauch ihres Babys ragte heraus. An dem kleinen, von der Geburt nassen Körper hafteten grober Sand und winzige goldene Knospen, die durch die Sonnenhitze von ihren Stängeln gebröselt waren. Bea streute dem Säugling noch mehr Erde auf die Stirn, holte mehrere welke grüne Blätter aus ihrem Hirschlederbeutel und legte sie darauf. Von den Beifuß-Sträuchern um sich herum brach sie spröde Äste ab, deckte damit den aufgeblähten Bauch ab, die absurd schmalen Schultern. Das Baby war ein unförmiges Hügelchen aus Pflanzengrün, rostrotem Blut, einem trüb violetten Aderngeflecht unter feuchter Seidenpapierhaut.

Jetzt kamen die Tiere, die es gewittert hatten, allmählich näher. Am Himmel sank ein Zyklon von Bussarden herab, wie um die Fortschritte zu prüfen, und stieg dann mit einer Thermik wieder auf. Bea hörte den weichen Schritt von Kojoten. Sie schlängelten sich durch den blühenden Beifuß. Eine Mutter mit drei mageren Jungtieren tauchte im schartig geworfenen Schatten auf. Ein Jaulen sickerte aus ihrem teilnahmslosen Gähnen heraus. Sie konnten warten.

Wind regte sich, und Bea atmete die staubige Hitze ein. Sie vermisste den muffigen Geruch des Krankenhauszimmers, in dem sie Agnes vor mittlerweile wohl acht Jahren auf die Welt gebracht hatte. Das kratzige OP-Hemd, das sich über ihre Brust spannte und verwickelte, wenn sie versuchte, sich auf die eine oder andere Seite zu drehen. Die kühle Luft um ihre Hüften, zwischen ihren Beinen, wohin Arzt und Schwestern starrten, wo sie herumtasteten und Agnes aus ihr herauszogen. Damals hatte Bea das Gefühl gehasst. So exponiert, benutzt, tierhaft. Hier aber war alles Staub und heiße Luft. Hier hatte sie den kleinen Körper – war sie im fünften Monat gewesen? Im sechsten? Siebten? – mit einer Hand herausgeleiten müssen, während sie mit der anderen eine herabstoßende Elster abwehrte. Sie hatte allein sein wollen. Doch was hätte sie nicht für eine tastende Hand in einem Gummihandschuh gegeben, für umgewälzte Luft, brummende Apparate, ein frisches Laken statt dem Wüstenstaub. Etwas sterilen Trost.

Was hätte sie nicht für ihre Mutter gegeben.

»Haut ab«, zischte sie die Kojoten an und warf mit der Erde und den Steinchen nach ihnen, die sie gerade ausgegraben hatte. Aber sie legten nur die Ohren an, das Muttertier setzte sich, und die Jungen schnappten nach ihrer Schnauze, ärgerten sie. Wahrscheinlich hatte sie sich vom Rest des Rudels weggestohlen, um ihrem Nachwuchs einen Extrabissen zu verschaffen, oder um mit ihnen Aasfressen zu üben, Überleben zu üben. Das machten Mütter so.

Bea verscheuchte eine Fliege von den Augen des Babys, die anfangs erschrocken gewirkt hatten, es nicht geschafft zu haben, jetzt aber vorwurfsvoll. In Wahrheit hatte Bea das Kind nicht gewollt. Nicht hier. Es war falsch, es auf diese Welt zu bringen. Das hatte sie die ganze Zeit so empfunden. Doch was, wenn das Mädchen Beas Angst gespürt hatte und daran gestorben war, nicht gewollt zu sein?

Beas Kehle schnürte sich zu. »Es ist besser so«, sagte sie. Die Augen des Mädchens verdunkelten sich von den Wolken, die über ihnen herzogen.

Während einer Nachtwanderung, damals, als sie noch eine Taschenlampe und auch Batterien gehabt hatte, um sie zum Leuchten zu bringen, hatte sie einmal zwei Augen im Lichtkegel schimmern sehen. Sie hatte in die Hände geklatscht, um die Augen zu erschrecken, doch die senkten sich nur. Das Tier war groß, kauerte aber oder saß, und Bea befürchtete, es wollte sie angreifen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie wartete auf das kalte Grauen, das sie zu dem Zeitpunkt schon mehrmals empfunden hatte. Ihren Sinn für Gefahr. Doch das Gefühl blieb aus. Sie ging näher. Wieder wurde der Blick gesenkt, flehentlich, wie bei einem gehorsamen Hund, nur gehörte er nicht zu einem Hund. Bea musste noch näher heran, ehe sie erkennen konnte, dass es ein Hirsch war, mit dem schrägen Rücken, den gespitzten Ohren, dem ergebenen Schwanzwedeln. Dann entdeckte sie ein weiteres Auge, klein, nicht auf sie gerichtet, sondern flackernd, wackelig. Der Hirsch hievte sich auf, und daraufhin taumelte auch das flackernde Auge hoch. Es war ein glänzendes Kälbchen auf zittrigen Zahnstocherbeinen. Bea hatte unwissentlich eine Geburt miterlebt. Lautlos in der Dunkelheit. Verstohlen wie ein Raubtier hatte sie sich an die Mutter angeschlichen. Und die Hirschkuh hatte in dem Moment nichts tun können, als ihren Kopf zu senken, als bäte sie darum, verschont zu werden.

Es gab nur weniges, was Bea sich in diesen Tagen zu bedauern gestattete, diesen unberechenbaren Tagen, ausgefüllt mit so schlichtem und brutalem Überlebenskampf. Doch sie wünschte, sie hätte in jener Nacht einen anderen Weg genommen, hätte nicht die Augen in ihrem Lichtstrahl gefunden, damit die Hirschkuh hätte gebären, das Junge beschnuppern und sauber lecken können, damit sie die Chance gehabt hätte, ihrem Kalb eine erste makellose Nacht zu schenken, bevor die Arbeit des Überlebens begann. Stattdessen war die Hirschkuh erschöpft weggetapst, das Kalb orientierungslos hinter ihr herstolpernd, und das hatte den Beginn ihres gemeinsamen Lebens dargestellt. Deshalb hatte Bea vor Tagen, als sie die Tritte und den Schluckauf und die Regungen nicht mehr gespürt und daher gewusst hatte, dass das Baby gestorben war, beschlossen, zur Geburt allein zu sein. Es war ihr einziger gemeinsamer Moment. Den wollte sie nicht teilen. Sie wollte nicht, dass jemand ihre eigene komplizierte Version von Trauer beobachtete.

Bea spähte zu der Kojotenmutter hinüber. »Du verstehst das, oder?«

Das Kojotenweibchen sprang ungeduldig auf und leckte sich die gelben Zähne.

Von einem weit entfernten niedrigen Grat, einem Ausläufer eines Gebirgsausläufers, ertönte ein freudloses Heulen; ein aufmerksamer Wolf hatte die Aasvögel entdeckt, signalisierte Beute.

Sie musste gehen. Die Sonne verschwand. Und jetzt wussten die Wölfe Bescheid. Bea hatte beobachtet, wie ihr eigener Schatten lang und schmal wurde, ein Anblick, der sie immer traurig machte, als sähe sie ihren eigenen Hungertod vor sich. Sie stand auf, streckte die sandigen Knie durch, wischte sich die Wüste von der Haut und dem zerlumpten Kleid. Sie kam sich dumm vor, weil sie versucht hatte wiederzubeleben, was doch eindeutig tot war. Dabei hatte sie geglaubt, die Wildnis hätte ihr jegliche Sentimentalität geraubt. Sie würde niemandem von diesem Moment erzählen. Nicht Glen, von dem sie glaubte, dass er sich ein eigenes Kind stärker wünschte, als er je zugäbe. Auch nicht Agnes, obwohl sie vermutlich gern mehr über diese Schwester, aus der nichts geworden war, erfahren hätte, gern ihre Mutter in all ihren geheimen Einzelheiten verstehen würde. Nein, sie bliebe bei der einfachen Geschichte. Das Baby hatte nicht überlebt. So viele andere ebenfalls nicht. Also ging das Leben eben weiter.

Ohne einen weiteren Blick auf dieses Mädchen, das sie Madeline hatte nennen wollen, machte Bea kehrt. Der Kojotenmutter gab sie noch einen kräftigen Tritt in die deutlich sichtbaren Rippen. Das Tier jaulte, zog den Schwanz ein, knurrte, aber es hatte drängendere Sorgen, als sich mit einer Menschenbeleidigung herumzuschlagen.

Bea hörte das Rangeln und Winseln hinter sich. Und obwohl die wachsende Erregung der Kojoten dem Schrei eines Neugeborenen ähnelte, wusste Bea, dass es nur der Klang von Hunger war.

Ein unverkennbarer Schatten eines Wegs führte zum Lager. Es war schwer zu sagen, ob er von ihrer Gruppe herrührte oder von Tieren, die ihre eigenen Pfade schufen, oder ob er ein Überbleibsel all dessen darstellte, was diese Gegend gewesen war, bevor sie zum Wildnis-Staat wurde. Vielleicht hatte Bea ihn auch ganz allein getreten. Jene Stelle suchte sie auf, so oft sie konnte, wann immer sie durch das Tal zogen. Deshalb hatte sie sie für Madeline ausgewählt. Die Aussicht von dort hatte etwas Verhaltenes, ließ das Tal wie verborgen wirken. Da die Senke aus grünen Gräsern und struppigen Büschen etwas niedriger lag als das Gelände darum herum, bot sie einen geheimen Blick auf den Horizont und den pechschwarzen Gebirgshöcker davor. Alles, was man sehen konnte, bildete ein Mosaik aus verschwommenen, gedämpften Farben. Es war hübsch und still und ungestört, dachte Bea. Ein Ort, den man nicht verlassen wollte. Wieder spürte sie eine flüchtige Erleichterung, Madeline an diesen Platz gebracht zu haben, anstatt sich mit ihr einer unerforschlichen Landschaft zu stellen, als Mutter, die sich nicht in der Lage fühlte, würdevoll damit umzugehen.

Bea konnte die Stimmen der anderen im Lager hören. Sie hallten über das ebene, freie Land und fielen ihr vor die Füße. Aber sie wollte nicht zu ihnen und ihren Fragen oder, noch schlimmer vielleicht, ihrem Schweigen zurückkehren. Also wandte sie sich ab und kletterte die Felsen hinauf zu der niedrigen Höhle, in der ihre Familie sich gern aufhielt. Ihrem Geheimplatz. Über sich sah sie ihren Mann Glen und ihre Tochter Agnes auf der Erde knien, auf sie warten.

Glens Stirn war vor Konzentration gefurcht, während er ein Blatt an seinem Stängel drehte, es aus jedem Blickwinkel betrachtete, Agnes etwas an der grünen Mittelrippe zeigte, sie auf ein beachtenswertes Detail an seiner Form aufmerksam machte. Beide beugten sich mit entzückter Miene dichter über das Blatt, als erzählte es ihnen seine Geheimnisse.

Als Glen Bea näher kommen sah, winkte er sie zu sich. Agnes schloss sich an, ein ausladendes und unbeholfenes Wedeln mit dem Arm, und grinste dabei mit ihrem neuerdings abgebrochenen Zahn, den sie sich an einem Stein angeschlagen hatte. Warum konnte es kein Milchzahn sein?, hatte Bea gedacht, als sie den Kopf ihrer Tochter zwischen die Hände nahm und den Schaden unter ihrer hellen, blutigen Lippe begutachtete. Agnes hielt ganz still, während eine Träne aus ihrem Auge kullerte und durch den Schmutz auf ihrem Gesicht rann. Nur daran erkannte Bea, dass der Unfall sie erschreckt hatte. Wie ein Tier erstarrte Agnes, wenn sie Angst hatte, und rannte bei Gefahr weg. Bea stellte sich vor, dass sich das ändern würde, wenn Agnes größer wurde. Möglicherweise fühlte sie sich dann weniger wie Beute und mehr wie ein Raubtier. Das Lächeln ihrer Tochter enthielt etwas, ein nicht zu benennendes Wissen. Es war das Lächeln eines Mädchens, das auf den richtigen Moment wartete.

»Das hier ist Erle«, sagte Glen gerade, als Bea bei ihnen ankam. Er nahm ihre Hand, küsste sie sanft, hielt sie fest, bis Bea sie ihm entwand. Sie sah ihn nach ihrem Bauch schielen und das Gesicht verziehen.

Er hatte heißes Wasser in der groben Holzschale bereitgestellt, das mittlerweile die Temperatur der Luft angenommen hatte. Bea hockte sich neben ihn, hob ihr Kleid hoch, spreizte die Knie. Behutsam wusch sie sich zwischen den Beinen, die gedehnten, ausgeleierten Falten, die beschmierten Oberschenkel. Sie fühlte sich wund, aber sie spürte, dass sie nicht gerissen war.

Agnes nahm die gleiche Haltung ein, machte die dünnen Froschbeine breit, bespritzte sich mit nicht vorhandenem Wasser, beobachtete Bea eingehend. Sie schien darauf bedacht, nicht an die Stelle zu sehen, wo das Baby gewesen war.

Agnes befand sich in einer Art Mimikry-Phase. Bea sah das bei Tieren. Sie hatte es bei anderen Kindern erlebt. Aber bei Agnes hatte es etwas Entwaffnendes. Bis vor Kurzem hatte sie Agnes verstanden. Ungefähr um die Zeit, als das Laub zum letzten Mal die Farbe gewechselt hatte, war Agnes ihr fremd geworden. Bea wusste nicht, ob dieser Riss einfach immer eintrat bei Eltern und ihren Kindern, oder bei Müttern und ihren Töchtern, oder ob es eine besondere Strapaze war, die Agnes und sie ertragen mussten. Hier draußen fiel es Bea schwer, Dinge als normal abzutun, weil jeder Aspekt ihres Lebens alles andere als normal war. Verhielt Agnes sich normal für ihr Alter, oder war es möglich, dass sie sich für einen Wolf hielt?

Agnes war gerade acht geworden, wusste es aber nicht. Sie zählten Geburtstage nicht mehr, weil sie Tage nicht mehr zählten. Bei ihrer Ankunft hier waren Bea allerdings gewisse Blumen aufgefallen. Damals war Agnes fünf geworden. Auf dem Kalender war April gewesen. Während der ersten Tage auf Wanderschaft hatte Bea eine Veilchenwiese bemerkt. Als sie das nächste Mal Veilchen entdeckte, schien es ihr wahrscheinlich, dass ein Jahr vergangen war: Sie hatten die Sommerhitze gespürt, das Laub sich verfärben sehen und in den verschneiten Bergen gefroren. Der Schnee war wieder weggeschmolzen gewesen. Mittlerweile hatte sie vier Mal Veilchen gesehen. Vier Geburtstage. Agnes’ achter Geburtstag musste irgendwann nach dem letzten Vollmond stattgefunden haben, denn da hatte Bea auf einem Fleckchen Wiese in der Nähe ihres letzten Lagers Veilchen gefunden. Bei ihrer Ankunft hier war Agnes so schwer krank, dass Bea nicht sicher gewesen war, ob sie noch einmal mit ihrer Tochter Veilchen sähe. Doch da standen die Blumen nun, und Agnes hüpfte darin herum.

Bea kroch zur Rückwand der flachen Höhle. Hinter einem Felsen zog sie aus einer Kuhle, die sie ausgeschabt hatte, als sie zum ersten Mal hier ihr Lager aufschlugen, ein Sofakissen und eine Zeitschrift für Design und Architektur heraus. Darin war eine von ihr gestaltete Inneneinrichtung abgedruckt. Es war eine landesweit erscheinende Zeitschrift und die Fotostrecke ein Wendepunkt in ihrer beruflichen Laufbahn gewesen, wobei sie nicht lange nach der Veröffentlichung in die Wildnis aufgebrochen war. Dies hier waren ihre geheimen Schätze, hereingeschmuggelt aus der Stadt, und statt sie von Ort zu Ort zu tragen, die Verachtung der anderen und eine Beschädigung durch die Elemente zu riskieren, versteckte Bea sie, ein krasser Verstoß gegen die im Handbuch dargelegten Vorschriften. Wenn die Gemeinschaft durch das Tal zog, was mehrmals pro Jahr geschah, grub Bea ihre Schätze aus, um sich ein bisschen mehr wie sie selbst zu fühlen.

Sie setzte sich neben Glen und drückte ihr Kissen an sich. Dann blätterte sie durch ihren Artikel, erinnerte sich an die Gegenstände, die sie damals ausgewählt hatte, und warum. Erinnerte sich an das Gefühl, ein Heim zu haben.

»Wenn die Ranger die Sachen finden, kriegen wir Ärger«, sagte Glen, wie üblich, wenn sie ihre Schätze herausholte, immer so um die Vorschriften besorgt.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Was sollen sie denn machen? Uns wegen einem Kissen rausschmeißen?«

»Vielleicht.« Glen zuckte die Achseln.

»Entspann dich. Die finden das Zeug niemals. Und ich brauche es. Ich muss mich erinnern, was ein Kissen ist.«

»Bin ich als Kissen nicht gut genug?« Das sagte er so lieb.

Bea betrachtete ihn. Er war nur Haut und Knochen. Sie beide. Selbst ihr Bauch, der sich mit dem Baby nur wenig abgezeichnet hatte, war sofort wieder eingesunken. Als sie zu Glen aufsah, verzog er den Mund zu einem schwachen, gebrochenen Lächeln. Sie nickte. Er nickte ebenfalls. Dann führte er ein langes, lautes, lustvolles Gähnen vor, mit Seitenblick auf Agnes. Agnes’ Gähnen folgte prompt, begleitet von einem ausgiebigen Strecken mit geballten Fäusten.

»Großer Tag morgen«, sagte er. »Es geht auf zum Mittelposten. Und wir dürfen unterwegs deinen Lieblingsfluss überqueren.«

»Können wir auch schwimmen?«

»Wir müssen ja rein, um ihn zu überqueren, also verlass dich drauf.«

»Wann?«

»Wahrscheinlich sind wir in ein paar Tagen da.«

»Wie viele sind ein paar?«

Glen zuckte die Achseln. »Fünf? Zehn? Mehrere?«

Agnes schnaubte. »Das ist keine Antwort!«

Glen kitzelte sie und lachte. »Wir sind da, wenn wir da sind.« Wenn Agnes ärgerlich war, sah sie genau wie ihre Mutter aus.

»Ist alles gepackt?«, fragte Bea.

»Mehr oder weniger. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.«

Bea quetschte das Kissen auf ihrem Schoß ganz fest. Es war feucht und roch herb, aber das störte sie nicht. Sie vergrub das Gesicht darin, stellte sich vor, sie könnte Liebe auf ihr kleines Baby übertragen. Mit einem Seufzen blickte sie auf.

Agnes beobachtete sie, umarmte die Luft, tat, als hätte sie ein eigenes Kissen oder vielleicht ein eigenes Baby, und lächelte das gleiche traurige Lächeln, das Bea zweifellos gerade auf den Lippen gehabt hatte.

Der geschäftige und von Eulenrufen erfüllte Abend wurde nach und nach stiller.

Im Lager saßen ein paar andere Mitglieder der Gemeinschaft noch am Feuer, die meisten aber atmeten leise in dem Kreis, in dem alle schliefen. Bea und Glen deckten sich mit ihrem Elchfell zu. Agnes legte sich, wie sie es immer tat, an ihre Füße. Ihre Hand schlang sich um Beas Knöchel wie eine Ranke.

»Vielleicht warten am Posten ein paar gute Päckchen«, murmelte Glen. »Eine schöne Schokolade oder so.«

Bea machte hmmm, obwohl sie so etwas eigentlich nicht mehr essen konnte, ohne krank zu werden, da ihr Körper überfordert war von dem, wonach er in ihrem alten Leben gelechzt hatte.

Statt Schokolade wünschte sie sich, dass Glen von dem Kind spräche, das sie gerade begraben hatte. Oder sie glaubte, sich das zu wünschen. Was würde sie sagen? Was konnte sie sagen, was er nicht schon wusste? Und wollte sie wirklich darüber reden? Nein. Das wusste er auch.

Sie wandte sich Glen zu und sah im Feuerschein einen Ausdruck von Hoffnung in seiner Miene flackern. Er wusste, dass Schokolade eine solche Verstörtheit nicht lindern konnte, aber vielleicht konnte die Erwähnung erreichen, was die Schokolade erreichen sollte. Sie schmiegte sich in seine Arme. »Ja, ein bisschen Schokolade wäre nett«, log sie.

Überall um sich herum hörte Bea die Geräusche der Tierwelt. Das Gurren von Kaninchenkäuzen, ein Kreischen. Das Gleiten nächtlicher Flieger zwischen Himmel und Sternen. Während das Lagerfeuer sich in den Schlaf zischte, hörte sie die Letzten der Gemeinschaft vorsichtig und blind von den hellen Flammen zu ihren Betten laufen und sich einkuscheln. Jemand sagte: »Gute Nacht allerseits.«

An ihrem Knöchel spürte Bea Agnes’ Blut durch ihre heiße, klammernde Hand pochen. Sie atmete in seinem Rhythmus ein und aus, und das half ihr, sich zu konzentrieren. Ich habe eine Tochter, dachte sie, und keine Zeit zum Grübeln. Sie wurde hier und jetzt von jemandem gebraucht. Sie gelobte, schnell damit abzuschließen. Das wollte sie. Das musste sie. So lebten sie jetzt.

Fluss 9 floss schnell und wogte an seine Ufer, und für die Gemeinschaft wirkte er wie ein völlig fremder Fluss. So fremd, dass sie noch einmal die Karte zurate gezogen hatten, um die Symbole mit dem in Einklang zu bringen, was jetzt da war und was ihrem Gedächtnis nach da zu sein hatte. Seit ihrer Ankunft im Wildnis-Staat hatten sie den Fluss viele Male überquert. Nach ihren Begegnungen mit ihm anderswo hatten sie ihn sogar als träge eingeschätzt, weil er sich in engen Kurven durch Felsen und Erde von den Gebirgsausläufern quer durch die Beifuß-Ebene schlängelte. Aber es sah aus, als hätte ein Unwetter das Ufer verändert und das Inselchen überschwemmt, auf dem sie normalerweise Rast machten, bevor sie sich weiter zum gegenüberliegenden Ufer wagten. Es war ein sehr hilfreiches Inselchen gewesen. Jetzt war es nicht mehr da, und sie konnten nicht mit Sicherheit feststellen, wo genau sich die Furt befand. Vielleicht hatte dasselbe Unwetter, das sie seit dem letzten Sommer auf der anderen Seite des Gebirges festgehalten hatte, auch diesen Fluss umgeformt.

Über einen kleinen Felsvorsprung ließen sie erst sich und danach die Kinder auf das fast nicht vorhandene Ufer hinunter, wo Grün wuchs, eine Farbe, die man praktisch ausschließlich an Flüssen fand. Die Gräser, Moose, die aufstrebenden Bäume, so dünn, dass man sie mit zwei Fingern umknicken konnte, das neue Frühlingslaub ein Beben von zartem Grün. Sie reichten ihr zusammengerolltes Bettzeug hinunter, die Beutel mit geräuchertem und getrocknetem Fleisch, mit Pemmikan, Pinyon-Nüssen, kostbaren Eicheln, wildem Weizen, einer Handvoll wilder Zwiebeln, das zerlegte Räucherzelt, ihre eigenen Taschen, die Jagdbogen und Pfeile, den Sack mit den Essschalen und die Holz- und Steinsplitter, die sie als Werkzeuge benutzten, das wertvolle Kästchen mit den wertvollen Messern, die Büchertasche, das Gusseisen, das Handbuch und die Tüten mit ihrem Müll, die sie von den Rangern am Posten wiegen und entsorgen lassen mussten.

Im Wasser hüpfte ein Baumstamm ohne Rinde und Äste vorbei, obwohl die nähere Umgebung baumlos war. Der Stamm musste aus dem Vorgebirge kommen und von dem ungewöhnlich reißenden Wasser weitergetragen worden sein. Auf einem trägeren Fluss, oder auch einem trägeren Abschnitt dieses Flusses, hätte sich ein Baumstamm längst in einem Strudel verfangen oder wäre sogar ans Ufer geschoben worden. Hier kreiselte er in den Stromschnellen. Stromschnellen, die sie bei bisherigen Überquerungen nicht einmal bemerkt hatten, weil das Wasser tief stand und höchstens die Steine im Fluss kleine Hütchen aus Schaum trugen. Ein weiterer Stamm überschlug sich der Länge nach. Caroline machte einen ersten zaghaften Schritt ins Wasser.

Caroline war ihre Fluss-Kundschafterin. Sie war am trittsichersten. Hatte den niedrigsten Schwerpunkt. Ihre Zehen konnten zugreifen wie Finger. Wunderschöne Zehen, in der Stadt jahrelang durch Einquetschen in Schuhe vergeudet. Caroline hatte am meisten über das Verhalten von Wasser gelernt. Sie konnte gut Dinge erfassen, die unberechenbar erschienen.

»Okay«, überbrüllte Caroline das Tosen, die Füße fest ins kniehohe Wasser gesetzt, um den Sog zu testen, sich zu entscheiden, ob sie weiterging. »Seil.«

Carl und Juan reichten ihr ein Seilende, das sie sich umwickelte, und schlangen sich dann das andere jeweils einmal um die Taille, Carl hinter Juan. Die Kinder und die anderen Erwachsenen traten so weit zurück, wie sie konnten.

Sie hatten schon an zwei anderen Stellen durchzuwaten versucht, aber beide Male war Caroline, entweder dicht am Ufer oder schon hüfttief im Wasser, zurück an Land gekommen. »Zu tief« oder »zu schnell« oder »Seht ihr die kleine Welle dort? Da ist irgendwo eine Vertiefung, die uns unter Wasser ziehen wird«.

An dieser, der dritten Stelle, watete Caroline bis zur Mitte. Vom Ufer aus machte es einen vielversprechenden Eindruck. Sie blieb stehen, den Kopf leicht schief gelegt, wie ein Kojote, der auf die Rufe der Wildnis horchte – Freund oder Feind, Freund oder Feind. Ihre Hände schwebten über dem schäumenden Wasser, es teilte sich um ihren Körper herum und floss hinter ihr wieder zusammen. Caroline drehte den Kopf zu ihnen herum, gefolgt von den Schultern, eine Hand mit der Innenfläche nach oben gehalten, im Begriff, ihnen ein Zeichen zu geben. Genau, als sie den Mund zum Sprechen öffnete, tauchte neben ihr die Spitze eines Baumstamms auf, und mit einem furchtbaren Klatschen und Spritzen war Caroline weg.

Dann riss der Fluss wie ein aufgewachter Bär am Seil, und Juan ging ebenfalls unter. Er versuchte, sich einzustemmen. Er brüllte, als das Seil seinen Bauch einschnürte. Carl zerrte an seinem Abschnitt des Seils, nicht um Juan zu helfen, sondern um es zu lockern, um nicht in die gleiche extrem schmerzhafte Lage wie er zu geraten.

Bea stand mit den anderen da, die Hand um Agnes’ Schultern gekrallt. Vor langer Zeit hatten sie immer jemanden mit einem Messer neben die Seilhalter gestellt, um es in einem Fall wie diesem durchzuschneiden. Aber der Fall war nie eingetreten, und Carl und Juan hatten verkündet, dass sie stark genug für eine solche Katastrophe waren. Außerdem wollte ohnehin niemand derjenige sein, der das Seil durchtrennte. Dennoch waren an jedem Fluss langwierige Debatten geführt worden, ob ein Seilschneider erforderlich war oder nicht. Wenn sie dann unweigerlich beschlossen hatten, dass ja, sie einen brauchten, hatte sich niemand freiwillig gemeldet, also hatten sie losen müssen, und dann hatte sich derjenige, der verlor, die ganze Zeit in die Hose gemacht. Und da nie etwas schiefgegangen war, hatte es ihnen um die ganze überflüssige Sorge und Mühe leidgetan. Also hatten sie schließlich entschieden, und zwar vor gar nicht so langer Zeit, auf einen Seilschneider zu verzichten.

Das war eindeutig die falsche Entscheidung gewesen.

Blitzschnell griff Bea nach Carls Messer an seinem Gürtel, machte einen Satz nach vorn und zerschnitt das Seil vor Juan, sodass er sich ans Ufer werfen konnte, wo er zusammenbrach und vor Erleichterung aufheulte. Carl wurde fluchend rückwärts auf die anderen geschleudert, und dann lagen alle durcheinander im Gestrüpp. Caroline, vermutlich immer noch am Seil und so gut wie sicher tot, rauschte flussabwärts.

Carl rappelte sich auf. »Was sollte das denn?«, schrie er.

»Es ging nicht anders.« Bea steckte ihm das Messer zurück in die Halterung.

»Aber ich hatte es im Griff. Scheiße, ich hatte es im Griff.«

»Nein, hattest du nicht.«

»Doch.«

»Nein.«

Carl stotterte: »Aber das war unser bestes Seil.«

»Wir haben noch andere.«

»Nicht so eins. Es war unser Fluss-Seil!«

»Wir können uns ein anderes besorgen.«

»Wo denn?«, schrie Carl. Theatralisch raufte er sich die Haare und sah sich in der leeren Wildnis um. Aber das Gefühl war echt. Er kochte vor Wut.

Bea gab keine Antwort. Vielleicht konnte sie einen Ranger dazu breitschlagen, ihnen ein genauso gutes zu geben, genauso lang und dick. Aber sie machte besser keine Versprechungen. Ihr fiel auf, dass zwar niemand Carls Partei ergriff, aber auch niemand sie verteidigte. Alle waren anderweitig beschäftigt – inspizierten ihre Beutel, zupften einem anderen etwas aus den Haaren, aßen eine Ameise –, bis der Moment verstrichen war. Außer Agnes, die das Ganze mit verstörender Neutralität beobachtete.

Bea half Juan auf, und Dr. Harold beeilte sich, eine Salbe auf die vom Seil aufgeriebenen Stellen an Juans Bauch und Händen zu schmieren. Sie würde nicht viel helfen. Keine von Dr. Harolds Salben half viel.

Debra und Val rannten am Ufer entlang, um zu sehen, ob Caroline wieder aufgetaucht war. Das war sie, ungefähr einhundert Meter flussabwärts, die Haare in den Zweigen eines weiteren Baumstamms verfangen, das Gesicht im Wasser, der Körper schlaff. Ihre Leiche und der Stamm blieben kurz an etwas hängen und rissen sich dann frei, rasten erneut den Fluss hinab. Das Seil war unmöglich zu bergen. Und für Caroline nicht viel zu tun.

Sie nahmen sich einen Moment Zeit, um zu sich zu kommen, Wasser zu trinken, einen Beutel Dörrfleisch herumzureichen. Debra sagte etwas Nettes über Caroline, dass sie als Fluss-Kundschafterin unentbehrlich für ihr Überleben gewesen sei und man sie vermissen werde. »Sie hat mir so viel über Wasser beigebracht.« Debra wirkte ziemlich erschüttert. Sie und Caroline hatten sich nahegestanden. Bea betrachtete die Gesichter der Gruppe, um ihnen ihre Gefühle von den Mienen abzulesen. Sie persönlich hatte Caroline als spröde empfunden, was sie allerdings für sich behielt. Ungeduldig kaute sie auf einem Fingerknöchel, während sie auf das Ende der ritualisierten Schweigeminute wartete.

Im Anschluss stritten sie sich über Carolines letzte Absicht. Sie hatte sich umgedreht und den Mund geöffnet, um ihnen etwas über die Furt mitzuteilen. Aber was? Hatte sie den Daumen nach oben oder nach unten strecken wollen, bevor der Stamm sie traf? Was für einen Ausdruck hatte ihr Gesicht gehabt, bevor sie es in schmerzlicher Überraschung verzog? Am Ende entschieden sie, dass die Stelle immer noch die vielversprechendste für eine Überquerung war, trotz Carolines Tod. Juan übernahm als Fluss-Kundschafter und wagte sich ohne Seil hinein. Kurz vor der Mitte drehte er sich um und reckte den Daumen nach oben. Im Gänsemarsch wateten sie los, Kinder an die Rücken von Erwachsenen geklammert. Die Stelle erwies sich als ziemlich gut, und wäre dieser Baumstamm nicht gewesen, hätten sie alle problemlos das andere Ufer erreicht. Arme Caroline. Sie hatte einfach Pech gehabt, befand Bea.

Als die Kinder an Land waren, bildeten die Erwachsenen eine Kette durch den Fluss und reichten die schweren und unhandlichen Gegenstände weiter, das Handbuch, das Gusseisen, die Büchertasche, den Müll, das Bettzeug, das zerlegte Räucherzelt, die Proviantsäcke, die Holzschalen und Werkzeuge, dann sämtliche Taschen, ein Stück nach dem anderen, von Ufer zu Ufer. Und als sie ihre ganze Ausrüstung wieder aufgehoben und verschnürt und festgezurrt hatten, wanderten sie weiter. Die Sonne trocknete sie sofort. Sie spuckten die von ihren Füßen aufgeworfene schlammige Erde aus. Ihre Haut wurde schmutzig und glitschig davon. Ein Nasenloch zugehalten, schnaubten sie Rotz in den Staub und stapften durch die Beifuß-Ebene, die sich wie ein Meer um sie herum ausbreitete.

Als der Weg vom Mondlicht beschienen wurde, hielten sie zum Übernachten an. Ein kleines Feuer wurde angezündet, und sie legten sich im Kreis darum herum auf den Boden. Keine Felle wurden ausgerollt, keine Pelze ausgepackt. Der Schlaf wäre die Mühe nicht wert. Im Morgengrauen zogen sie weiter. Wenn sie schnell vorankommen wollten, machten sie das so.

Am Horizont sah Bea den leuchtenden Punkt einer Außenlampe, die am Mittelposten brannte. Es war nicht mehr weit.

Juan sagte: »Nur ein, zwei schnelle Geschichten« und setzte gähnend zu einer aus dem Großen Märchenbuch an, das sie früher in der Büchertasche mitgeschleppt hatten, das aber vor einiger Zeit einer Sturzflut zum Opfer gefallen war. Alle Geschichten waren mittlerweile so oft erzählt worden, dass sie sie auswendig kannten.

Die Kinder schliefen als kleine Hügel am Feuer. Außer Agnes, die darauf beharrte, als ältestes Kind der Gemeinschaft mit den Erwachsenen aufbleiben und über Entscheidungen, die die Jüngsten betreffen könnten, berichten zu müssen. Abends am Feuer wurden nie solche Entscheidungen gefällt. Sie blieb einfach gern länger auf. Bea ließ sie. Sie genoss Agnes’ Ruhelosigkeit. Sie konnte die Zeit nicht vergessen, als Agnes ein schmächtiges, schwächliches Mädchen gewesen war, zu krank, um die Augen offen zu halten.

Bea kauerte sich neben Glen, der mit einem Grunzen von seiner Tätigkeit aufsah.

»Wie läuft es mit den Pfeilen?«, fragte sie und stupste ihn an der Schulter an.

»Pfeilspitzen«, murmelte er. »Gut.« Er war abgelenkt, so bemüht, sie schön spitz zu machen. Bea spähte ihm über die Schulter. Sie waren zu nichts zu gebrauchen. Er hatte zu viel abgeschlagen. Bea lächelte aufmunternd. Glen war ein miserabler Jäger. Das wusste er. Und sie wusste, dass er darüber enttäuscht war. Carl war der wahre Jäger der Gemeinschaft und beschaffte einen großen Teil ihres Fleischs. Also versuchte Glen, die Werkzeugherstellung zu meistern, weil er sich auf eine Art und Weise nützlich machen wollte, die er sich immer erträumt hatte. Natürlich war Carl auch ein Meister in der Steinbearbeitung, und sie hatten bereits reichlich perfekte Pfeilspitzen. Aber darauf wollte sie Glen nicht aufmerksam machen.

Glens Stirn war in äußerster Konzentration gefurcht. Trotz seiner Unzulänglichkeiten genoss er das Leben hier in vollen Zügen. Als Junge hatte er nichts als Bücher über primitive Kulturen gelesen. Die Höhlenmenschengeschichten seiner Kindheit waren das Einzige, wofür er sich je richtig interessiert hatte. Inzwischen war er Professor, Spezialist für die Entwicklung des Menschen von den ersten aufrechten Schritten bis zum Rad. Er kannte das grundlegende Wesen der Menschheit, und er kannte das Wie und Warum des Ansturms der Zivilisation. Doch im echten primitiven Leben war er überraschend glücklos.

Sie hatten sich in der Stadt kennengelernt. Bea hatte den Auftrag bekommen, die Universitätswohnung einzurichten, die Glen nach dem Ende seiner ersten Ehe bezog. Im Vergleich zu anderen Wohnungen war sie unanständig groß, und Bea begriff, dass er wichtig sein musste. Als sie ihm Muster zeigte und beschrieb, wohin sie welches Stück stellen wollte, erklärte er ihr den Ursprung jedes Objekts, das sie ausgesucht hatte. Es verlieh ihrer Arbeit eine Bedeutung, als wäre sie eine Verwalterin von Geschichte, von Brauchbarkeit. Sie heirateten. Er benahm sich väterlich gegenüber Agnes, deren leiblicher Vater ein Arbeiter auf Wochenendausflug aus der riesigen Industriezone vor der Stadt gewesen war. Bea mochte damals die Männer, die nur auf Urlaub waren, weil sie gute Hände hatten und nicht lange blieben, denn sie mochte ihr Leben so, wie es war. Und sie liebte Agnes hingebungsvoll, obwohl die Mutterschaft ihr vorkam wie ein schwerer Mantel, den sie jeden Tag anzuziehen hatte, egal bei welchem Wetter.

Glen war eine angenehme Abwechslung. Als er auf der Bildfläche erschien, war sie bereit für ihn. Sie hoffte, dass er ihr Leben unerwartet verändern würde, hätte sich allerdings niemals vorstellen können, wie sehr.

Glen wusste von der Studie, die Menschen in den Wildnis-Staat schicken wollte. Als die Lage in der Stadt schlimmer wurde und Agnes’ Gesundheit sich massiv verschlechterte wie die so vieler Kinder, war Glen derjenige, der den Forschern seine Hilfe anbot, im Tausch gegen drei Plätze: für sich, Bea und Agnes. Beas Ahnung hatte sie nicht getrogen – Glen war wirklich wichtig an der Universität, und die Forscher willigten ohne Zögern ein.

Dennoch mussten sie ein Jahr arbeiten und warten, bis sie die Genehmigung bekamen, Menschen in eine Region zu setzen, die im Grunde ein Schutzgebiet für Tiere darstellte, als letzte verbliebene Wildnis, und bis sie die nötigen Gelder aufgetrieben und andere Teilnehmer gefunden hatten. Zwanzig sachkundige Freiwillige mit Kenntnissen in Flora und Fauna, Biologie und Meteorologie hatten sie sich gewünscht. Einen echten Arzt oder Krankenpfleger, nicht nur einen Amateur-Kräuterkundler. Selbst ein richtiger Koch wäre nett gewesen, doch letzten Endes mussten sie die Gruppe mit den Leuten auffüllen, die schlicht und einfach mitzumachen bereit waren. Es klinge riskant, hieß es. Es war riskant. Es war unbehaglich fremd. Es war eine extreme Idee und eine noch extremere Realität. Extremer als Selbstmord, wandte eine Mutter aus Beas Haus damals ein. Es war schwer vermittelbar. Unterdessen wurde Agnes kränker.

Während dieser Zeit fragte Bea sich manchmal, wenn sie ihre schlafende Tochter auf dem Schoß hielt, was sie täte, wenn Glens Plan nicht oder zu spät aufging. Ihr fiel keine andere Möglichkeit ein, um Agnes zu retten. Die Medikamente waren nicht mehr stark genug. Jedes Husten färbte sich rosa vor Blut. »Was dieses Kind braucht«, sagte die Ärztin bedauernd, »ist andere Luft«. Da es keine andere Luft gab, empfahl sie Palliativpflege, und Bea war endgültig voll und ganz auf Glen und seine blöde Idee angewiesen. Gegen Ende der Wartezeit, kurz bevor sie die Genehmigung bekamen – das hatte sie nie jemandem erzählt, und es blieb auch so –, fing sie bereits an vorauszudenken, an ein Leben ohne Agnes. Sie fing an, sich zu verabschieden. Es lag ein schrecklicher Trost darin, diesen Punkt zu erreichen. Und dann, mit sehr wenig Vorbereitungszeit, wurden die Studie und die zwanzigköpfige Gruppe genehmigt, und es wurden Armeekleidung anprobiert, Arzttermine absolviert, Urinproben abgegeben, Aufnahmegespräche durchgeführt, Habseligkeiten gepackt, letzte Dinge erledigt und dann, ohne großes Trara, aufgebrochen. Bea war fassungslos über die Kehrtwende und die Veränderung, unsicher, ob das alles real war, selbst als die ersten kalten Nächte in der Wildnis auf sie alle herabsanken und sie auf einmal alle Hände voll damit zu tun hatte, Agnes auf eine neue Art zu beschützen.

Es kam ihr wie ein Spiel vor, sogar an jenem ersten Abend, als die Sonne plötzlich unterging, bevor sie ein Feuer angezündet hatten. Sogar als ihr Magen sich von minderwertiger Nahrung verkrampfte oder bald schon von zu wenig Nahrung. Sogar als ihr Lager zum ersten Mal von einem hungrigen Bären geplündert wurde. Dann starb der Erste, an Unterkühlung. Ein anderer an einem falsch bestimmten Pilz. Und ein weiterer an bei einem Pumaangriff erlittenen Wunden. Ein Kletterunfall. Es war, als wären sie einem Ungeheuer entkommen, indem sie sich in einem Schrank versteckten, nur um dort zwischen den Kleiderbügeln ein weiteres zu finden, mit gezückten Klauen. Sie konnten unmöglich dort bleiben, oder? Es kam ihr unwirklich vor. Ein gemeiner Trick.

Jeden Moment rechnete sie damit, dass Glen sie am Handgelenk packte und sie und Agnes zurück zum Grenzzaun brachte, zurück zur Zivilisation. Aber das passierte nicht. Irgendwann begriff Bea, dass der Boden, auf dem sie müde Tag für Tag dahintrotteten, endlos war. Und falls, erkannte sie nun, sie ein Ende fänden, eine Grenze, einen Zaun, eine Granitmauer, würden sie einfach kehrtmachen. Wie konnten sie je in die Stadt zurückkehren? Agnes war wie ein Fohlen, übermütig, neugierig. Und zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben gesund. Zum ersten Mal gestattete Bea sich zu glauben, dass Agnes doch eine Zukunft hatte. Und Bea hatte überlebt, während andere umgekommen waren, Stärkere als sie. Es hatte ihre Angst gemildert, ihrem Ego geschmeichelt. Womöglich konnte sie das mit diesem Überleben ja. Vielleicht war es die richtige Entscheidung. Vielleicht wird alles gut. Vielleicht sind wir nicht verrückt. Es war ihr Mantra. Sie dachte es beinahe täglich. Sie dachte es jetzt.

Sie betrachtete den Kreis der vom tanzenden Feuerschein wahnsinnig wirkenden Gesichter. Ihrem Empfinden nach lag seit Fluss 9 eine Bedrücktheit auf der Gruppe. Seit dem Seil. Seit Caroline. Niemand wollte Bea ansehen. Der Dörrfleischbeutel war ihr kommentarlos gereicht und zu schnell wieder abgenommen worden. Die Bedrücktheit schien gegen sie gerichtet. Was ihrer Meinung nach absurd war. Es waren schon andere wichtige Dinge verloren gegangen, und niemand war deshalb geschnitten worden.

Zum Beispiel die Teetasse, die sie in feierlichen Momenten bei den schon früh für die unterschiedlichen Meilensteine ihres Lebens erfundenen Ritualen benutzt hatten.

Die Teetasse hatte Caroline gehört, durch Generationen hindurch an sie vererbt von Vorfahren, die zu den frühen Siedlern in der Neuen Welt gehört hatten. Ein absurder Gegenstand für die Wildnis, aber sie war edel und hübsch, mit einem angeschlagenen Goldrand und dem bunten Wappen des Ortes, aus dem diese Verwandten geflüchtet waren. Es gab dazu ein eigenes Transportkästchen aus Holz, ausgekleidet mit brüchigem altem Samt, in dem sie fest und sicher saß, bis sie gebraucht wurde. Albern, aber die Tasse war ihnen lieb und teuer. Dort hinein gossen sie dann einen Tee aus Blüten oder Wurzeln oder Knochen, je nach Ritual oder Jahreszeit, und reichten sie am Feuer herum. Sie fühlte sich wunderschön in ihren Händen an, und obwohl es in der Wildnis vieles gab, was zart aussah, war es das eigentlich nicht. Hohle Vogelknochen? Hauchdünne Spinnweben? Filigran wirkende Flechten? Die waren robust, widerstandsfähig. Die Teetasse dagegen war wahrlich zart, und sie machte jeden von ihnen zart, in dessen Besitz sie gelangte. Und dieses Gefühl war eine Art Geschenk, weil sie ansonsten hart sein mussten.

Sie war bei dem Kletterunfall verloren gegangen. Die Gemeinschaft wollte über den Winter in die Berge, weil die Jahreszeit im Tiefland zu streng und nahrungsarm war, während die Höhlen und der aufgetürmte Bergschnee gute Unterkünfte boten, wo im Frühling jeder Hinweis auf sie wegschmolz, was einem spurlosen Verschwinden gleichkam. Thomas trug die Teetasse in seinem Beutel. Beim Klettern verlor er den Halt und fiel rückwärts von einem Vorsprung, den alle anderen problemlos überwunden hatten. Er stürzte ab, und der Beutelinhalt verstreute sich über die darunterliegenden Felsen. Als sie das Kästchen gegen einen Stein prallen und aufklappen sahen, schrien sie leise auf, obwohl niemand einen Ton von sich gab, als Thomas abstürzte. Keiner stand ihm besonders nah, außer Caroline, seiner Frau. Er war nie mit der Gemeinschaft warm geworden. Er sei kein Gruppentyp, hatte er freundlich erklärt, als sie alle einander zum ersten Mal begegneten.

Die Teetasse flog aus ihrem schützenden Samtbett in die Luft hinaus, mit in der Sonne funkelndem Goldrand, und ein paar von ihnen, die nah genug standen, versuchten, sie aufzufangen. Selbst Thomas griff im Fallen danach statt nach etwas, woran er sich festhalten konnte.

Die Tasse zerbrach, Porzellanstaub rieselte wie Knochenasche auf den Stein. Einige sammelten kleine Scherben auf und steckten sie sich als neues Andenken in den Lederbeutel. Doch an diesen Splittern schnitten sie sich, wenn sie nach etwas wühlten, und nach einer Weile wurden sie diskret in der Landschaft deponiert, die sie durchwanderten, klein genug, um im Staub zu verschwinden.

Selbstverständlich war der arme Thomas weiter abgestürzt und vermutlich gestorben. Mehrere Leute kletterten ein Stück hinunter, konnten ihn aber nicht entdecken, und er reagierte nicht auf ihre Rufe. Also hatte die Gemeinschaft einen Moment innegehalten, um etwas Nettes über ihn zu sagen und Caroline zu trösten, und war dann weitergelaufen. Sie führten jetzt nicht mehr viele Rituale durch, hauptsächlich, weil die Teetasse weg war. Es stimmte, dass Rituale Zeit und Mühe kosteten, und je länger sie sich in der Wildnis aufhielten, desto weniger war ihnen nach Feiern. Anfangs war jede Flussdurchquerung beachtenswert gewesen, inzwischen aber hatten sie kaum noch Lust, den Jahresbeginn zu begehen. Trotz allem wusste Bea, dass sich ohne die Teetasse einfach kein feierliches Gefühl einstellte. Ohne die Tasse tranken sie einfach nur Tee. Trotzdem, niemand sprach hinterher schlecht von Thomas. Hätte er überlebt, hätten sie ihn nicht am Feuer angeschwiegen. Niemand hatte ihm die Schuld gegeben, zumindest nicht laut. Bea wünschte, sie würden sich daran jetzt erinnern.

Über das Feuer hinweg versuchte sie, Debras Blick aufzufangen, aber Debra sah demonstrativ an ihr vorbei. Ihr Mund war unbewegt, ihre Miene streng. Sie hatte Carolines Tasche neben sich und strich über den weichen Lederriemen. Schlagartig begriff Bea, dass die beiden mehr als nur ein enges Verhältnis gehabt haben mussten. Debra war mit einer viel jüngeren Ehefrau angekommen und Caroline mit einem viel älteren Mann. Beide Gefährten waren mittlerweile weg, eine desertiert, der andere tot. Eine Paarung der beiden war wohl naheliegend, dachte Bea. Wobei das relativ neu gewesen sein musste. Debra und Caroline hatten zwar im Schlafkreis nebeneinander gelegen, aber nicht zusammen. Was auch immer gelaufen war, sie hatten es für sich behalten. Gar nicht so einfach innerhalb der Gemeinschaft.

Dr. Harold war emsig dabei, eine neue Salbe in ein ausgehöhltes Holzstück zu quetschen. Selbst im Feuerschein konnte Bea seine Wangen rot aufleuchten sehen, als sie ihn durchdringend anstarrte, um von ihm beachtet zu werden. Carl konnte sich nicht verkneifen, sie anzusehen, einfach um den Mund böse zu verziehen und ihr zu zeigen, dass er immer noch verärgert wegen des Seils war. Bei Val, die sie hasste und umgekehrt, probierte sie es gar nicht erst. Überrascht war sie von Juan, der, während er die Geschichte erzählte, mit jedem am Feuer nacheinander einen Moment Blickkontakt hielt. Nur über Bea hüpften seine Augen nervös, wütend vielleicht, hinweg. Ich hab dir doch das Leben gerettet, wollte sie schreien.

Die Einzige, die ihr Beachtung schenkte, war Agnes, die sie genau beobachtete und ihr alles nachmachte. Wenn Bea sich am Knöchel kratzte, kratzte Agnes sich am Knöchel. Bea sagte lautlos hör auf damit, und Agnes sagte lautlos hör auf damit. Bea schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Und Agnes ebenfalls, übertrieben, als wollte sie sich lustig machen. Dann, als Bea wütend wurde, legte Agnes ihr eine Hand aufs Knie wie ein Erwachsener, der einen anderen tröstete, und grinste dabei mit ihrem abgebrochenen Zahn. Unter dem schiefen Grinsen ihrer Tochter und der Wärme ihrer Hand schmolz Bea dahin. Sie wünschte sich, dass jemand nett zu ihr war. Sie wünschte sich etwas bedingungslose Liebe. Sie streckte die Hand aus, um Agnes in den Arm zu nehmen, aber sprunghaft, wie sie war, entwand sie sich. Bea probierte es mit einer neuen Taktik. Sie gähnte, damit Agnes gähnen musste. Sie reckte die Arme, damit Agnes die Arme reckte. Sie lehnte sich zurück und versuchte, Agnes mit sich zum Schlafen hinunterzuziehen. Aber Agnes ließ sich nicht überlisten. Sie wollte nicht schlafen. Sie klemmte die Arme an die Brust, unterdrückte ein echtes Gähnen und rutschte näher zu Glen, drückte eine neugierige Fingerspitze auf die Feuersteinsplitter zu seinen Füßen. Niedergeschlagen stand Bea auf, schon in der kleinen Entfernung vom Feuer fröstelnd. Sie wollte nicht im gleichen Kreis wie diese Leute schlafen. Weit weg, hinter einem Hügel, kläfften Kojoten einander zu, Freund, Freund, Freund, und Bea fühlte sich beim Klang solcher Zwiesprache einsam.

Was sie wahrnehmen konnte, war Sternenlicht und Geruch zu verdanken. Sie erschnüffelte Glens Tasche mit ihrem Bettzeug. Es war durchdrungen von ihrem Duft. In einigem Abstand zum Feuer rollte sie es aus. Als sie hinter sich ein Knirschen hörte, verkrampfte sie sich kurz, bis sie Glens Hände ihre Schultern kneten spürte.

»Harter Tag«, murmelte er an ihrem Hals. Sie merkte ihm an, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er sie am Feuer ignoriert hatte.

»Du hättest das Seil auch durchgeschnitten, oder?«

»Natürlich.« Sie spürte seine Lippen sich zu einem Lächeln verziehen, als er ihr einen Kuss auf die Schläfe gab.

»Aber?«

»Ich hätte vielleicht eine Spur länger gewartet.«

»Ach, Scheiße, Glen. Hab ich gerade Caroline umgebracht?«

»Aber nein, nein, nein«, sagte er geduldig und zog sie auf ihr Bettzeug hinunter. »Caroline war sofort tot, als der Stamm sie gerammt hat.«

»Was spielt das Timing dann für eine Rolle?«

Glen zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich gar keine. Aber wenn sie sowieso schon tot war, warum dann die Eile?«

»Wegen Juan.«

Glen winkte ab. »Juan wäre nichts passiert.«

Sie stampfte mit dem Fuß auf, und Glen legte ihr wieder die Hände auf die Schultern. »Hör mal, Juan ging es gut. Caroline war verloren. Aber das Seil nicht. Erst, als du es durchgeschnitten hast. Die anderen brauchen einfach einen Moment.« Er schwieg kurz und zuckte noch einmal die Achseln. »Es war ein echt gutes Seil.«

Agnes schlich sich in dem Moment an, als Bea und Glen ohnehin am Ende ihres Gesprächs verstummten, nahm es aber persönlich. »Ihr müsst nicht aufhören zu reden«, lispelte sie ärgerlich. »Ich weiß viel. Ich bin schon erwachsen.«

Glen packte Agnes am Bauch und drehte sie auf den Kopf. »Wir waren schon fertig«, sang er, während er sie zwei Zentimeter über den Boden hielt, bis ihr beleidigtes Schnauben zu widerstrebendem Lachen, dann zu entzücktem Kreischen wurde. Er setzte sie sanft auf dem Bett ab, und sie nahm ihren üblichen Platz zu ihren Füßen ein.

Glen und Bea legten sich unter die Decke, und in der folgenden Stille schweiften Beas Gedanken zu dem Himmel ab, der gleißend weiß über ihr geleuchtet hatte, als sie Madeline zur Welt brachte, weshalb sie dankbar für die Ablenkung war, als Agnes leise vom Fußende sagte: »Ich bin traurig wegen Caroline.«

»Ehrlich?« Bea merkte an Agnes’ lautem Einatmen, dass sie erstaunt über das Erstaunen ihrer Mutter war.

»Ja«, sagte Agnes, obwohl es jetzt eher wie eine Frage klang.

»Na ja«, sagte Bea. »Caroline war immer nett zu dir.« Wenn Bea ganz ehrlich war, hatte sie Caroline für noch spröder als Thomas gehalten und sie eigentlich überhaupt nicht gemocht. Das hieß nicht, dass sie froh über ihren Tod war. Es machte ihr nur nicht besonders viel aus, sie verloren zu haben, und das Ausmaß an Trauer, das da vor sich ging, war ihr unangenehm. Es war schlimm genug, die Schuld für das Seil zugeschoben zu bekommen, ohne dass alle auch noch wegen Caroline herumjammerten. Sie verdrehte im Dunklen die Augen. Sie war nie sicher, welches die bessere Erziehungsmethode war – Mitgefühl vorleben oder einfach ehrlich sein. Agnes war so nett zu jedem, selbst wenn sie nicht immer sehr nett zu ihrer Mutter war. Also behielt Bea ihre Empfindungen Caroline gegenüber wieder einmal für sich. »Sie war ziemlich lustig«, sagte sie mit einem Nicken.

»Es ist nur«, meinte Agnes zaghaft, »dass ich wirklich wünschte, wir hätten sie retten können.«

Selbst ihre Tochter glaubte, sie hätte das Seil zu schnell gekappt. »Du auch?«, blaffte Bea. »Und wahrscheinlich vermisst du das Seil auch total?«

»Schon gut, schon gut.« Glen legte einen Arm um Bea und wuschelte Agnes durch die Haare. »Wir müssen schlafen.« In der Dunkelheit sah Bea Agnes’ Zähne, als sie Glen und Bea angrinste, und erkannte, dass sie auf den Arm genommen wurde. Natürlich hatte Agnes genug von ihrem Gespräch mit Glen gehört, um zu wissen oder ausprobieren zu wollen, wie diese Bemerkung bei Bea ankäme. Damit experimentierte Agnes in letzter Zeit herum – stichelnde Kommentare, wissende Blicke. Testete Grenzen aus wie als Kleinkind. Jetzt aber hatte sie dabei etwas Schneidendes an sich, etwas Bissiges. Neuerdings experimentierte Agnes mit vielem herum, und Bea hatte das Gefühl, kaum mithalten zu können.

Agnes kroch unter die Felle und schloss wie jede Nacht die Hand fest um Beas Knöchel. Bea kämpfte gegen den Drang an, ihn wegzuziehen. Sie selbst versuchte, sich in Glens Arme zu schmiegen, aber sie war noch aufgebracht und fühlte sich gefesselt statt umarmt.

Agnes fiel sofort in einen unbekümmerten Schlaf, ihre Atemzüge klangen wie über den Boden schleifende schwere Vorhänge. Selbstverständlich hatte sie sie gehört, dachte Bea. Agnes lauschte immer. Und sie hatte recht. Dem Anschein nach wusste sie wirklich alles. Und wirkte tatsächlich älter, erwachsener, als sie war. Bea hatte das Kleinkind, das Agnes gewesen war, völlig aus dem Blick verloren. Konnte kaum glauben, dass ihre Tochter je etwas anderes als dieser komplizierte Mensch zu ihren Füßen gewesen war. Sie war klein, aber robust, als wäre sie schon voll entwickelt. Viel robuster als die anderen Kinder. Glen gab ihr immer mehr Fleisch als sich selbst. Wie aufs Stichwort fiel Glen in Agnes’ Schlafgeräusche ein. Bea starrte mit weit offenen Augen in die dunkle Nacht.

Am Morgen raste Staub spuckend ein Pick-up auf sie zu. Weit dahinter glitzerte die Sonne auf dem Dach des Mittelpostens. Als der Wagen anhielt, erkannten sie Ranger Gabe. Er war der Sohn eines hohen Tiers in der Regierung, hatte er ihnen einmal erzählt, als wäre es eine Drohung. Er war nicht besonders beliebt.

Manche Ranger waren gern draußen in der Natur und unterhielten sich mit der Gemeinschaft. Aber nicht Ranger Gabe. Er wirkte ihnen gegenüber und der Erde, auf der er lief, skeptisch. Seine Uniform war immer blitzsauber und frisch gebügelt, und er bewegte sich vorsichtig, als hasste er, sich schmutzig zu machen.

Er stellte den Motor ab, blieb einen Moment sitzen, drückte dann lange auf die Hupe. Die bis dahin in den Büschen versteckten Vögel zerstoben in einer Wolke. Das Blöken der Hupe wurde von einem weit entfernten Hügel als Echo zurückgeworfen.

Die Gemeinschaft, Gepäck umgehängt und abmarschbereit, versammelte sich um den Wagen herum.

»Für euch liegen neue Handbuchseiten am Unterposten.«

»Aber wir sind fast am Mittelposten«, erklärte Bea. »Es hieß, dort sind die Seiten.«

»Und die Post«, sagte Debra. Sie hatte sich ausführlich darüber geäußert, seit Langem keinen Brief von ihrer betagten Mutter erhalten zu haben. Sie war unsicher, was es bedeutete, nichts gehört zu haben.

»Tja«, sagte er gedehnt und trat dabei wiederholt mit der Ferse gegen die Seitenwand des Pick-ups. »Ich weiß nicht, was ich euch sagen soll. Ich weiß nur, dass es am Mittelposten nichts für euch gibt. Gar nichts. Ihr müsst zum Unterposten.« Er blinzelte gen Horizont wie ein Entdecker.

»Aber der Mittelposten ist doch gleich da.« Bea zeigte auf das in der Sonne glühende Dach.

»Da gibt’s nichts für euch.«

»Aber …«

»Ihr müsst zum Unterposten. Und ihr wisst, wo ich meine, oder? Der ist zwar unten, aber nicht nur.«

Sie sahen ihn verständnislos an.

Mit finsterer Miene holte er eine grob gezeichnete Karte aller Posten-Standorte heraus. Deutete auf die Stelle, die er meinte, ein X ganz unten auf dem Blatt.

Carl brummte. »Unterer Mittelposten? Warum denn bis da runter?«

»Nicht Unterer Mittelposten. Unterposten.«

»Aber der ist genau hier in der Mitte« – Carl zeigte darauf –, »und er ist unten.«

»Jetzt pass mal auf, der heißt Unterposten. Und da müsst ihr hin. Alles andere ist egal.«

»Aber warum?«

»Warum?« Ranger Gabe kratzte sich spöttisch am Kopf. »Warum? Weil ihr euer letztes Lager wie ein totales Dreckloch hinterlassen habt, darum.«

»Das stimmt nicht«, sagte Bea. Sie führten immer Mikromüll-Suchen durch. Dabei hatten sie auch nicht mehr gefunden als sonst irgendwo nach jedem beliebigen Zeitraum.

»Es sah aus, als wärt ihr ewig da gewesen. Die Vegetation war völlig kaputt. Das dauert Jahre, vielleicht ein ganzes Leben, bis sie sich wieder erholt. Wenn überhaupt.« Spucke hing in Ranger Gabes Bart.

Bea sah, dass Carl sich allmählich aufregte. Sie lächelte einnehmend. »Das überrascht mich. Ich hatte das Gefühl, wir hätten kaum ausgepackt, so kurz waren wir da.« Das war gelogen. Sie waren viel länger geblieben, als sie durften. Alle wussten das. Ranger Gabe wusste es. Es war ein Tanz, den sie häufig aufführten, die Ranger und die Gemeinschaft. Bea schätzte, dass sie ungefähr eine halbe Jahreszeit – ein skandalös langer Zeitraum für ein und denselben Ort – dort verbracht hatten, und sie waren nur weitergezogen, weil sie sich von den Gedanken an Madeline ablenken wollte. Und weil die anderen ihre Post wollten. Eigentlich durften sie nur Rast machen, um zu jagen, zu sammeln und ihre Ausbeute weiterzuverarbeiten. Laut Handbuch mussten sie sich auf sieben Tage an einer Stelle beschränken. Aber das befolgten sie praktisch nie. Es war schwer, sich wieder in Bewegung zu setzen, wenn man einmal angehalten hatte. Alles so zu packen, dass es auf absehbare Zeit relativ einfach zu tragen war. Das Räucherzelt war empfindlich, und unmittelbar nach einer Jagd hatten sie das Fleisch dabei. Im Prinzip etwas Gutes, aber viel mehr Gewicht.

»Ach, bitte«, sagte Ranger Gabe. »Hier ist alles durcheinander. Wie lange wart ihr denn hier?«

»Eine Nacht.«

Er schüttelte den Kopf. »Unfassbar. Na ja, vielleicht kann man Umwelteinwirkungen einfach nicht vermeiden, wenn man eine so große Gruppe ist. Das fand ich schon immer. Ich hab gleich gesagt, dass es keinen Grund dafür gibt. Dass eine Gruppe hier ist. Ich hab gesagt, dass sie euch nicht reinlassen sollen. Hatte ich das schon mal erwähnt?«

»Ja«, sagte Bea.

»Tja, ich bin nicht der Einzige, der das so sieht.« Das sagte er mit einem schiefen, zufriedenen Grinsen.

»Wenn es ein Trost ist, wir sind nur noch halb so viele wie früher«, sagte Bea mit gespielter Liebenswürdigkeit und dachte dabei an die Toten.

Er sah sie böse an.

Größtenteils mochte sie die Ranger, selbst die unfreundlichen. Es machte Spaß, mit ihnen herumzualbern, weshalb sie sich auch freiwillig als Sprecherin der Gemeinschaft gemeldet hatte. Ihrer Erfahrung nach konnte man sie durch ein kleines Lächeln leicht entwaffnen. Sie waren jung und wirkten immer neu, egal, wie lange sie schon dabei waren. Für Bea blieben sie immer Welpen mit weichen Öhrchen. Außer Ranger Bob am Mittelposten, der älter war, mit einigem Grau an den Schläfen und im Schnurrbart. Er war ein Ebenbürtiger. Sie würde so weit gehen, ihn als Freund zu bezeichnen. Als guten sogar. Aber diese Jungs waren Spaß für sie.

»Außerdem möchte ich hinzufügen, dass ihr zu oft in dem Lager wart«, sagte Ranger Gabe ausdruckslos. Er konnte es nicht gut sein lassen. Carl tigerte auf und ab, schnaubend. Er konnte sich sicher nicht mehr lange beherrschen.

»Ich dachte, die Vorschriften beziehen sich nur auf Zeitdauer«, sagte Bea ausweichend.

»Nein. Es geht um die Anwesenheit insgesamt. Ihr behindert die Entwicklung der Natur, indem ihr ständig zurückkommt und zu lange bleibt. Kein Tier will sich irgendwo aufhalten, während ihr da rumtrampelt.«

»Nein, es geht nicht um Anwesenheit insgesamt«, platzte Carl heraus und suchte wütend nach dem Handbuch, um zu beweisen, dass er recht hatte.

Der Ranger grinste, und Bea seufzte. Sie hatte das Gefühl gehabt, dieses nicht näher bestimmte Spiel zu gewinnen, aber jetzt hatte Carl alles zunichtegemacht.

Ranger Gabe legte eine schwere Hand auf Carls Schulter. »Macht euch keine Mühe. Ich habe alles gesehen, was ich sehen muss. Entscheidend sind die Auswirkungen auf die Natur. Und eure sind heftig. Das habe ich schon ausführlich in meinem Bericht aufgelistet, und den werde ich ganz nach oben schicken, mit dem Vermerk DRINGEND. Für Verstöße wie den hier könnt ihr rausgeworfen werden.« Sein Blick war so streng wie seine feste Stimme. Es lag keine Großzügigkeit darin. »Was ihr zu tun habt, ist, euch auf den Weg zum Unterposten zu machen.« Er deutete irgendwo in die Ferne, in eine Richtung, in der sie noch nie gewesen waren. »Wie befohlen.«

Umdirigiert worden waren sie schon vorher, zweimal, um genau zu sein. Einmal wegen eines bewusst gelegten Feuers (wäre es ein natürlicher Brand gewesen, hatten die Ranger betont, wären sie nicht umgeleitet worden, gemäß Handbuch). Ein anderes Mal wegen des übergelaufenen Klärtanks am Oberposten. Damals hatte man ihnen den am günstigsten gelegenen Posten für ihre Erledigungen zugewiesen. Aber diese Anweisung jetzt erschien unnötig, eine Aufgabe, die dazu gedacht war, sie zu gefährden. Sie sahen auf die Karte. Der Unterposten lag weiter weg als alle Orte, an denen sie je gewesen waren. Es war als Strafe gemeint. Eine Aufforderung zu einem Gewaltmarsch.

Glen schob Carl sanft zurück, weg von Ranger Gabes Hand und außer Reichweite, falls Carl sich entschloss zuzuschlagen.

»Also«, sagte Glen, »wir dachten, wir hätten gründlich gearbeitet bei der Müllsuche und Renaturierung, aber beim nächsten Mal achten wir noch stärker darauf.«

»Wenn es ein nächstes Mal gibt«, blaffte der Ranger. Dann sackte er leicht in sich zusammen. Er wusste, dass die Begegnung ihrem Ende entgegenging, und wirkte bedauernd. Vielleicht hatte Bea die Sache falsch eingeschätzt. Die Gemeinschaft hier zu haben, gab den Rangern möglicherweise etwas zu tun.

»Gut, haben wir verstanden«, sagte Glen. »Und jetzt zum Unterposten, richtig?«

»Genau.«

»Super. Wir packen heute neu – für so eine Strecke muss man richtig packen –, aber dann machen wir uns sofort auf den Weg.«

Die Gemeinschaft seufzte.

Glen lächelte. »Leute, ich persönlich kann es kaum erwarten. Wer weiß, was für erstaunliche Dinge wir erleben werden?«

Nur Agnes jubelte.

»So mag ich das.« Glen strahlte sie dankbar an.

Agnes strahlte zurück.

Ranger Gabe stieg wieder in seinen Pick-up und fuhr los. Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen im Rückspiegel an. Glen lächelte und lächelte, bis der Wagen einen flachen Hügel erklomm und verschwand. Dann sackten Glens Gesichtszüge herab. Er massierte sich die Wangen.

»Also«, sagte Debra, während sie ihr Gepäck aufsetzte. »Ich kehre nicht um. Nicht so nah am Mittelposten.« Sie machte ein paar Schritte auf das funkelnde Dach zu.

Glen hob die Hand. »Warte.«

»Sag nicht, dass wir das diskutieren müssen«, sagte Juan.

»Natürlich müssen wir das diskutieren. Wir brauchen Konsens«, sagte Glen.

Alle stöhnten.

»Wir sind doch fast da.« Debras Füße zuckten.

»Tja, manche von uns gehen nicht gern zum Posten und würden es vorziehen, das zu vermeiden, wenn möglich«, meinte Val. Das sagte sie nur, um Carl zu gefallen, der es hasste, sich am Posten zu melden.

»Aber unsere Briefe!«, rief Debra.

»Debra, unsere Briefe werden doch gar nicht da sein«, herrschte Carl sie an.

Debra ruderte mit den Armen. »Aber es ist doch gleich da vorn.«

»Erstens mal ist der Konsens auf deinem Mist gewachsen, also beschwer dich nicht«, sagte Carl.

Debra verzog böse das Gesicht. Eigentlich liebte sie das Konsensprinzip. Sie war diejenige, die der Gemeinschaft das Verfahren vorgeschlagen hatte.

»Zweitens ist dir schon klar, dass sie das extra machen, damit wir nicht gehorchen und sie wieder einen Bericht schreiben und uns vielleicht rauswerfen können«, warnte Carl.

»Seit wann bist du so an den Vorschriften interessiert?«, fauchte Debra.