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Gott ist tot? Es leben die Ersatzgötter!
Das Lamento ist stets das gleiche: Die Kirchen verlieren an Einfluss, die Gotteshäuser bleiben leer. Verschwindet etwa die Religion? Weit gefehlt! Religiosität treibt jetzt nur anderswo ihre Blüten. Andreas Lehmann spürt diese neuen »Religionen« auf, die uns heute Moral lehren. Bio ist der neue Katechismus der entkirchlichten Mittelschicht, Veganismus der Weg zur Weltrettung und der Raucher der Sünder schlechthin. Das Kind mutierte zum Sinnprojekt Nummer eins, und Experten streiten sich wie die alten Kirchenväter um die richtige Erziehung. Und ist Apple wirklich nur eine Marke und nicht vielmehr ein Kult? Intelligent und amüsant führt der Autor uns vor Augen, wie wir unsere Sehnsucht nach Religion unter den seltsamsten Umständen erfüllen.
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Seitenzahl: 182
Andreas Lehmann
DIE NEUEN ZEHN GEBOTE
Wie Erziehungsexperten, Gesundheitsfetischisten und militante Nichtraucher zu den Priestern unserer Zeit wurden
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1. Auflage
Originalausgabe
© 2015 Riemann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Lektorat: Gerhard Seidl
Umschlaggestaltung: Stephan Heering, Berlin
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-16434-8
www.riemann-verlag.de
FÜR AMET. ICH HABZU DANKEN!
INHALT
WER BIN ICH UND WAS IST MEINE MISSION?
PROLOG – STATT EINER PREDIGT
DAS ERSTE GEBOT
Ich bin Ich, mein Gott. Ich brauche niemanden neben mir.
Eigentlich: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
DAS ZWEITE GEBOT
Du sollst die Namen möglichst vieler anderer Götter gebrauchen, sie heißen Daniela Katzenberger, Dalai Lama oder CR7.
Eigentlich: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
DAS DRITTE GEBOT
Du sollst den Samstagnachmittag heiligen.
Eigentlich: Du sollst den Feiertag heiligen.
DAS VIERTE GEBOT
Du sollst deine Frau beziehungsweise deinen Mann ehren, aber vor allem dein Kind.
Eigentlich: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
DAS FÜNFTE GEBOT
Du sollst nicht töten. Auch kein Tier. Vor allem kein Tier. Denn alles ist Bio.
Eigentlich: Du sollst nicht töten.
DAS SECHSTE GEBOT
Du sollst nicht ehebrechen, aber vor allem nicht rauchen, nicht trinken und nicht falsch parken.
Eigentlich: Du sollst nicht ehebrechen.
DAS SIEBTE GEBOT
Du sollst nicht stehlen, sondern dir nehmen, was dir zusteht, denn Gier ist gut.
Eigentlich: Du sollst nicht stehlen.
DAS ACHTE GEBOT
Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten reden, Hauptsache, du redest viel, am bestenüber WhatsApp. Oder besser noch über Telegram.
Eigentlich: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
DAS NEUNTE GEBOT
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut, beim Shoppen findet sich bestimmt noch was Besseres.
Eigentlich: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
DAS ZEHNTE GEBOT
Du sollst begehren deines Nächsten Weib, weil das nächste Weib alles tut, damit du es begehrst.
Eigentlich: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.
DAS ELFTE GEBOT – STATT EINES NACHWORTS
Ach, vergiss es, gehn wir bowlen!
WER BIN ICH UND WAS IST MEINE MISSION?
Bin ich Moses? Bin ich nicht. Es gibt auf den folgenden Seiten nichts zu verkünden. Das hier ist keine Steintafel, sondern nur einer von jährlich knapp hunderttausend erscheinenden Buchtiteln in Deutschland. Und der Verfasser dieser Zeilen ist lediglich ein Beobachter ohne Botschaft, der das Buchcover zierende Heiligenschein ist deswegen möglicherweise etwas irreführend, also Vorsicht!
Wer kennt diesen Spruch überhaupt noch: Bin ich Moses? – Das haben wir frechen, schnippischen Jungs einst so gesagt, wenn Eltern oder Lehrer irgendetwas von uns wissen wollten, irgendetwas Wichtiges, im oder fürs Leben, was wir mal werden wollen, wie das Zeugnis wohl ausfällt, wann wir denn gedenken, von der Party am Samstag nach Hause zu kommen. Bin ich Moses? – Das war unser Spruch, so wie meine Kinder heute auf all meine Fragen und Fingerzeige antworten mit: »Chill mal, Alter!«
Also: Chillt, Leute! Natürlich bin ich nicht Moses. Dieses Buch soll weder eine Analyse der Krise der Kirche sein, noch werden hier Vorschläge zu ihrer Reform gemacht. Ebenso wenig soll mit mahnendem Zeigefinger auf merkwürdige Phänomene oder moralische Fehlentwicklungen der Gesellschaft und ihrer Mitglieder verwiesen werden; ich bin ja auch nicht Margot Käßmann oder Peter Hahne, dazu fehlt es mir selbst leider an festem Glauben und der Überzeugung, anderen ins Gewissen reden zu müssen.
Es ist so: Ich bin inzwischen in einem Alter, bei dem man wirklich »Alter« zu mir sagen kann. Ich rede inzwischen nicht selten von »früher« und muss dabei feststellen, dass früher vieles anders war. Ich glaube nicht so recht an Wunder, aber ich wundere mich immer öfter. Einerseits frage ich mich zum Beispiel, ob wir nicht doch Religion brauchen wie das Bio-Ei zum Sonntagsfrühstück. Wenn Sie in einem Örtchen in Oberbayern oder im Badischen wohnen, denken Sie sich wahrscheinlich, was für eine unsinnige Frage, aber seien Sie mal nicht so voreilig. In meiner Umgebung, dort, wo ich lebe, in einer großen Stadt, einer Metropole, würde man diese Frage auch als abwegig empfinden, aber aus einem ganz anderen Blickwinkel. Die einen sagen, selbstverständlich kann der Mensch nicht ohne, die anderen: Religion braucht kein Mensch mehr.
Andererseits frage ich mich, woher diese Unbedingtheit kommt, dieser Furor (ups, gleich ins Fettnäpfchen getreten, siehe das sechste Gebot), der uns mittlerweile überall und rund um die Uhr umgibt: der Bio-Wahn, der Fußball-Fanatismus, warum Eltern Helikopter-Eltern geworden sind, warum Kinder gepampert werden müssen, obwohl sie längst dem Windel-Alter entwachsen sind, warum wir so verbotsvernarrt sind, warum alle Mädchen dünn sein und am liebsten Model werden wollen. Älter gewordene Menschen sagen an der Stelle gern: Das gab es früher alles nicht! Jedenfalls nicht in so frommen Ausprägungen. Ich bin ein Kind der 90er-Jahre, und die 90er, das ist mir heute viel klarer als damals, waren tatsächlich die Spaßgesellschaft; das Leben war leicht, ironiegeschwängert und vergleichsweise unverkrampft, vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch.
Heute ist das anders. Strenger, strafender, eben fromm. Wie auch immer, wir zählen hier in diesem Buch jetzt eins und eins zusammen, und siehe da: Auf der einen Seite fehlt es offensichtlich zunehmend an traditioneller, christlicher Religion und ihren Geboten, der Einfluss schwindet; auf der anderen gibt es eine Reihe neuer gesellschaftlicher Werte und Praktiken, die die Leerstellen, die Religion offensichtlich hinterlässt, ausfüllen, und zwar sehr fromm; daraus entstehen die »neuen Zehn Gebote«.
Bin ich selbst überhaupt religiös? Falls es für die nachfolgende Rezeption dieses Buches wichtig ist, weil heutzutage ja auch immer alles gleich persönlich genommen und psychologisiert wird, weil der Autor eines Buches (das ICH und das Bild vom ICH, darüber steht einiges im ersten Gebot) wichtiger geworden ist als der Text: Nein, ich bin kein eingeschriebenes Mitglied einer Kirche, ich bin nicht einmal getauft (meine Kinder sind es aber), trotzdem würde ich von mir nicht behaupten, ich sei Atheist. Viele der »neuen Gebote«, von denen hier die Rede sein wird, kenne ich aus eigener Anschauung und Handhabung. Ich kaufe gelegentlich im Bio-Laden, bin Dreiviertelvegetarier, ich mache gern Selfies, ich verbiete mir oft, eine zu rauchen, ich schaue gelegentlich GNTM und bin ein ziemlich leidenschaftlicher Fußballfan und -spieler: Ich spiele in einer Altherrenmannschaft in der Berliner Landesliga, unsere Messe findet meist freitags 18.30 Uhr auf einem Kunstrasenplatz zwischen Berliner Brandwänden statt, gleich gegenüber dem Gemeindehaus einer Neuapostolischen Kirche.
Ich lebe ziemlich protestantisch, weil ich sehr protestantisch aufgewachsen bin, obwohl meine Eltern sich zumindest formell und vor ewigen Zeiten von der Kirche losgesagt haben. Seit vielen Jahren bin ich allerdings durch andere Teile meiner Familie religiös verbandelt, die Mutter meiner Kinder und Frau an meiner Seite ist Theologin, als sie studierte, war ich Probehörer von Referaten und durfte Seminararbeiten vorab diskutieren.
Was meinen Glauben betrifft, halte ich es vorzugsweise mit Woody Allen: »Natürlich gibt es eine jenseitige Welt – die Frage ist nur, wie weit ist sie vom Stadtzentrum entfernt, und wie lange hat sie offen?« Okay, zugegeben, das ist sehr lakonisch und nicht wirklich ernsthaft geantwortet auf die Frage: Wie hältst du es mit der Religion? Obwohl, doch, das ist die Antwort: Ironie und der Zweifel können einen schon sinnvoll durchs Leben tragen und einen mit den ganz großen religiösen Fragen nach Tod und Sinn fertigwerden lassen, daran glaube ich.
PROLOG – STATT EINER PREDIGT
Gott ist tot, oder was auch immer mit ihm los ist, vielleicht hatte Nietzsche ja recht mit seiner Fröhlichen Wissenschaft. Vielleicht schläft er, vielleicht ist gerade Nacht im Himmelreich, möglicherweise ist er gelangweilt von seinem Lieblingsspielzeug Mensch. Vielleicht sind wir auch gar nicht sein Lieblingsspielzeug, vielleicht sind wir für ihn eine eingemottete Carrera-Rennbahn im Keller. Auf jeden Fall fehlt schon seit geraumer Zeit eine Nachricht, ein Plan, wie es weitergeht, und ob er mit seinem Werk bis hierher eigentlich halbwegs zufrieden ist. Wo Optimierungsbedarf besteht, was gar nicht geht, was die nächsten Ziele sind und so weiter.
Seit er Moses die Zehn Gebote mit auf den Weg gab und Jesus das Ganze noch mal schöner formulieren ließ, kam nicht mehr viel. Jedenfalls nichts, was wir alle oder wenigstens fast alle verstanden hätten. Seitdem ist viel Wasser den Jordan heruntergeflossen, und wir fragen uns nicht nur, wo Gott eigentlich bleibt, sondern auch, was wir von seinen Vorgaben halten sollen, die vor sehr, sehr langer Zeit auf schwere Steintafeln gemeißelt waren, an denen sich der gute Moses fast einen Bruch hob; inzwischen können wir ganze Bibliotheken auf nicht mal vierhundert Gramm schweren Tablets lesen.
Wir bräuchten mal ein Update, Gott! Die Gebote von wegen »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen« oder »Du sollst nicht ehebrechen« sind ein wenig aus der Mode gekommen. Oder sie sind unverständlich, irgendwie nicht mehr handhabbar, interpretierbar, sie halten nicht mehr alle Abgleiche aus mit dem, was wir täglich erleben, und gehören deswegen nicht mehr wie selbstverständlich zu unserer Sprache und zu unserem Wertesystem, sie sind nicht mehr eingebrannt in unser Bewusstsein. Fragen wir doch mal jemanden auf der Straße, wie das achte Gebot heißt! Oder fragen Sie sich selbst!
Die Zahlen lügen nicht, die Tendenz scheint unumkehrbar, und das Lamento darüber ist in schöner Regelmäßigkeit das ewig Gleiche: Die großen Kirchen verlieren an Einfluss und Mitgliedern. Gottes Häuser bleiben karg besucht, lediglich zu Weihnachten treffen sich nach guter alter Sitte ein paar Schäfchen mehr und lassen triste Krippenspiele und die üblichen weihnachtlichen Besinnungsaufrufe über sich ergehen – aber dann ist auch wieder gut. Seit 1990 treten aus der Evangelischen Kirche jährlich 0,7 Prozent der Mitglieder aus, aus der Katholischen Kirche im Schnitt 0,5 Prozent. Karfreitag besuchen gerade mal vier Prozent der protestantischen Kirchenmitglieder einen Gottesdienst.
In zwanzig Jahren, so die Prognosen, werden weniger als fünfzig Prozent der in Deutschland lebenden Menschen einer der beiden großen Kirchen angehören. Und wir wissen heute, was mit »angehören« gemeint ist. Ein großer Teil derer, die »angehören«, sind Karteileichen, eingeschriebene Mitglieder, die aus familiärer Tradition, aus Rest-Respekt (»Die Idee ist eigentlich ganz gut.«/»In der Bibel stehen schon auch ein paar wahre Sätze.«/»Jesus Christ Superstar hat mich im Musical überzeugt.«) oder aus irgendeiner »abendländischen« Sehnsucht sich noch mit der Amtskirche verbunden sehen. Verbunden heißt lediglich: Wir zahlen noch Kirchensteuern, weil damit ja auch viele soziale Einrichtungen unterstützt werden, und wir sind schließlich sozial, wir denken zumindest sozial (am besten freilich ist es, wenn andere sozial tätig sind und wir nur dazu Beifall klatschen). Wir lassen unsere Kinder taufen beziehungsweise empfehlen unseren Kindern, sich taufen zu lassen, sobald sie das selbst entscheiden können. Und wir heiraten wieder, auch kirchlich, aber das gehört wahrscheinlich zu einer anderen Geschichte, von der später noch die Rede sein wird.
Die Zehn Gebote, dass da irgendein Herr ist, dass man keine Götter neben ihm haben soll, dass man nicht falsch Zeugnis ablegen und nicht Vieh (Nettoeinkommen), Magd (Putze) oder alles, was dein Nächster hat (Haus, Auto, Boot), begehren soll, das sind keine allgemeingültigen und akzeptierten Glaubenssätze mehr, an die man sich hält oder halten könnte. Allenfalls Orientierungen, die aber von Fall zu Fall in ihrer Bedeutung auch aufgehoben werden dürfen beziehungsweise mit dem »menschlichen Faktor« selbstverständlich noch einmal ganz andere Interpretationen und Möglichkeiten zulassen. Die Anhänger diverser Freikirchen nehmen die Dinge noch ernst, sicher, aber mit ihren Dogmen vom »Kein Sex vor der Ehe«, ihrer Homophobie oder dem Glauben an den Teufel sind sie keine wirklichen Alternativen für den halbwegs aufgeklärten Zeitgenossen von heute.
Und die, die noch »angehören«, sind sich ihrer Sache nicht mehr sicher. In einer Studie unter deutschen Katholiken heißt es: »Viele Befragte verstehen sich nicht als gläubig im traditionellen Sinn und suchen auch nicht aktiv nach einer Beziehung zu Gott.« Die meisten dieser Kirchenmitglieder bezeichnen sich als religiös, »definieren aber den Inhalt ihres Glaubens ebenso wie ihre Vorstellungen von Gott eher diffus«.
Diffus? Selbst unter Katholiken? Bei denen man doch am ehesten noch von einer gewissen Stand- und Bibelfestigkeit hätte ausgehen wollen? Bei jenen, denen alte Rituale und eine traditionelle Frömmigkeit mit all ihren Regeln, Ge- und Verboten einigermaßen klar und selbstverständlich schien? Verschwindet gar das Religiöse selbst, wie es die Repräsentanten der großen Volkskirchen immer wieder gern und sehr besorgt dreinschauend in Sonntagspredigten und anderen, weltlichen, aber nicht minder bedenkenträgerischen Talkshowrunden hinausposaunen? Was ist mit unserer ungestillten Sehnsucht nach Transzendenz, der Sehnsucht danach, es möge mehr geben als das, was wir Realität nennen? Weil offensichtlich in unsere DNA eingeschrieben ist, dass wir mehr sehen wollen, als wir mit dem bloßen Auge erkennen, mehr wahrnehmen, als wir in einer auf Effizienz und Rationalität getrimmten Gesellschaft erfahren?
Wir feiern Myriaden von Möglichkeiten, die wir haben, und sind doch überfordert. Einst waren Biografien vorgegeben durch Bildung, sozialen Status, Herkunft und Geschlecht. Es wurde geheiratet, ein Beruf ergriffen, gearbeitet, es wurden Kinder großgezogen, wenn es sein musste, fürs Vaterland gefallen oder altersschwach im Kreise der Familie gestorben. Es gab Ausnahmen, aber für den Großteil der Bevölkerung war das Leben eingebettet in ähnliche, wiederkehrende gesellschaftliche Erwartungen und Möglichkeiten, und somit meist begrenzt. Anders heute: Wir haben die Wahl, wir dürfen experimentieren, wir sollen uns sogar ausprobieren. Wir können unsere Identität selbst entwerfen. Biografien setzen sich heute aus Fragmenten zusammen, geradlinige Lebensläufe gibt es nicht mehr, unbefristete Vollzeitstellen, die einem allzeit eine sichere Existenz garantierten und die das Leben strukturierten, sind aus einer fremden, früheren Zeit. Lag die Scheidungsrate um 1900 noch unter zwei Prozent, geht inzwischen fast jede dritte Ehe in die Brüche. Die Institutionen, die Vorschriften machten, wie ein Leben auszusehen hat, haben an Einfluss verloren. Familie und Kirche können nicht mehr vorgeben, wen wir zu heiraten haben oder in welchem sozialen Milieu wir uns bewegen sollen. Wir können mit dem Sex bis zur Hochzeitsnacht warten oder polyamourös viele Menschen gleichzeitig lieben. Wir können den Familienbetrieb übernehmen oder Jura studieren, um dann Yoga-Lehrer zu werden. Alles ist möglich, es gibt kein Richtig oder Falsch mehr. Das ist eine Befreiung, bringt aber auch Unsicherheit, Beliebigkeit und Entwurzelung mit sich, was uns offensichtlich nicht nur guttut.
An jeder Kreuzung unseres Lebens müssen wir Entscheidungen treffen und dann die Konsequenzen tragen. Diese Bürde und Verantwortung nimmt uns keiner mehr ab. Das macht uns Stress: Wir wollen das Beste, alles oder zumindest möglichst viel erreichen, unser Leben soll schließlich ein Erfolg werden, der sich aus sich selbst erklärt. Früher galt, dass ein Mensch eine Einheit war, ein selbstverständliches Ich von der Geburt bis zum Tod. Heute spricht man von »Patchwork-Identität« oder »Bastel-Identität«; die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, zu optimieren, damit sie möglichst gut in der sich rasant verändernden Umwelt funktioniert – das ist ein lebenslanges, anspruchsvolles und zeitintensives Projekt geworden.
Wir leben in einer Epoche, in der es uns, also dem Mittelstand – äußerlich betrachtet zumindest – so gut geht wie nie. Kriege finden ziemlich weit weg statt, die Freiheit des Individuums war nie größer, wir können mitbestimmen, sagen und schreiben, was wir denken, wir haben Geld, wir haben nicht nur genug, sondern auch gut zu essen, selbst die nicht so gut Verdienenden unter uns leisten sich per Billigflieger Fernreisen, wir leben beschützt und behütet, wenn wir krank sind, werden wir behandelt auf einem Niveau, um das uns fast der ganze Rest der Welt beneidet. Ist das nicht wunderbar? Aber warum zeigen wir das nicht, warum scheint es so selten durch, das große Glück, das wir haben?
Weil etwas fehlt. Weil etwas nicht stimmt. Es ist wie in Matrix, als sich Morpheus und Neo zum ersten Mal begegnen und Morpheus sagt: »Ich will dir sagen, wieso du hier bist. Du bist hier, weil du etwas weißt. Etwas, das du nicht erklären kannst, aber du fühlst es. Du fühlst es schon dein ganzes Leben lang, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Du weißt nicht, was, aber es ist da. Wie ein Splitter in deinem Kopf, der dich verrückt macht. Dieses Gefühl hat dich zu mir geführt. Weißt du, wovon ich spreche?«
Neo: »Von der Matrix?«
Die Matrix in unserem Fall ist ein schwer zu bestimmendes, außerhalb unserer vorherrschenden und uns beherrschenden rationalen Denk- und Verhaltensmuster liegendes Gefühl, eine Sehnsucht nach Transzendenz, nach Sinn und Unsterblichkeit – eben etwas Religiöses. Es fehlt an Religion. Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack macht den Kirchen allerdings wenig Hoffnung, dass wir sie künftig noch dort suchen: Durch wachsenden Wohlstand und zunehmende Individualisierung nehme die Religiosität in der westlichen Welt nach seiner Analyse kontinuierlich ab. Die Ursache liege weniger in einer Unzufriedenheit von Menschen mit der Kirche, vielen seien schlicht andere Angebote wichtiger. Menschen zögen zwar aus Gebeten Trost und Beruhigung, Hoffnung und Vertrauen, was wir in hochkomplexen, schnelllebigen Gesellschaften auch dringend bräuchten; wir wollen Inseln der Ruhe und der Besinnung, und Religion sei so etwas wie eine Unterbrechung unseres Alltags und in dieser Funktion für viele Menschen eine wichtige Hilfe. »Für die Abwendung der meisten Menschen von der Kirche ist weniger entscheidend, dass sie mit den Kirchen unzufrieden sind, an ihr Kritik üben und die Predigten langweilig oder die Gottesdienste unschön finden. Bedeutsamer ist, dass ihnen anderes wichtiger ist als Religion oder Kirche. Wenn sie aus der Kirche austreten, dann sagen sie, sie hätten diesen Schritt vollzogen, weil sie mit dem Glauben nichts mehr anfangen können oder weil ihnen die Kirche gleichgültig geworden ist. Konkrete Kritik an politischen Stellungnahmen der Kirche oder gar am Pfarrer vor Ort haben sie weniger. Die Distanzierung von den Kirchen wird auch erfolgen, wenn die Kirchen eine gute Arbeit leisten, dialogisch auf die Menschen zugehen, offen für Veränderungen sind und an den Problemen der Gesellschaft Anteil nehmen.« Die Entfremdung habe vor allem mit den vielen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des Individuums in der Moderne, sei es in Beruf oder in der Freizeit, zu tun. Diese ziehen die Aufmerksamkeit von Religion und Kirche ab. Gegen diese Ablenkung von religiösen Fragen können die Kirchen vergleichsweise wenig tun.
Die Sehnsucht nach Religion, nach Ritualen, nach Ge- und Verboten, ja, man ist geneigt zu sagen, die Notwendigkeit dazu aber bleibt, auch wenn das, was für unsere Vorvorfahren religiös war, aus der Mode gekommen ist. Sie bleibt nicht nur, sie ist wahrscheinlich stärker, als wir vermuten. Michel Houellebecq sagt: »Jedes Mal, wenn ich auf eine Beerdigung gehe, spüre ich, dass der Atheismus unserer Gesellschaften unerträglich geworden ist. Eine Gesellschaft ohne Religion ist nicht überlebensfähig.« Nicht nur eine Gesellschaft ist möglicherweise nicht überlebensfähig, ihre Mitglieder brauchen eine göttliche Ordnung, brauchen Rituale wie die Luft zum Atmen. Einst, unter weitaus schwierigeren Lebensbedingungen, in einer Zeit, in der das Wort Stress überhaupt noch nicht zum Vokabular gehörte, gab uns Religion das, was wir gern »Halt« nennen. Prediger wiesen uns den Weg, sie schufen eine Moral, an der wir uns aufrichten oder auch abarbeiten konnten. Religion fing uns auf, wenn es uns schlecht ging, sie tröstete, wenn wir nicht mehr weiterwussten – aber was tun, wenn wir jetzt sonntags ausschlafen und uns zum Brunch treffen, statt eine Predigt anzuhören, was tun, wenn wir nicht mehr zur Beichte gehen, was tun mit unseren Sünden, mit unseren Fragen, Zweifeln, mit unserem Leid und der alles entscheidenden Frage nach den Sinn? Wenn schon kein Gott oder wenigstens ein Pfarrer mehr da ist, dem wir uns anvertrauen können, wenn schon keiner mehr richtet, müssen wir uns selbst Götter schaffen und uns Ersatz für ebendiese normative Kraft der Religion herholen.
Das Bedürfnis, religiös zu sein, scheint ungebrochen. Vielmehr: Zuweilen möchte man fast von einer Gier sprechen, einer neuen Gier nach Ritualen, nach quasireligiösen Praktiken, nach spiritueller Gemeinschaft und moralischen, von alter Religion inspirierten Mustern. Warum? Weil vor allem der – weit verbreitete – Mittelstand verunsichert ist: Ohne Kompass und ohne Werte kann man doch nicht leben! Und deswegen haben wir uns neue Gebote auferlegt, modifizierte Varianten der alten Dogmen, oder sollte man besser sagen: Mutationen? Ohne können wir nicht sein, nichts ist uns lieber und wichtiger als Struktur, klare Ansagen und Regeln, die eingehalten werden müssen.
Das wird vor allem dann klar und deutlich, wenn die zu großen Teilen eigentlich schon religionsfernen beziehungsweise -freien Mittdreißiger Familien gründen und Kinder bekommen: Dann rückt auf einmal die Frage in den Mittelpunkt, was denn wirklich wichtig ist im Leben. Ob man seinem Kind nicht feste Rituale ermöglichen muss, ob es nicht einen Kanon braucht, Regeln, Traditionen. Es geht nicht zuletzt um die »Vermittlung von Werten« – an irgendwas muss das Kind doch glauben. Aber an was? Es geht um Geborgenheit, um Sicherheit. Etwas Göttliches soll das Glück beschützen, fast so wie eine zusätzliche Unfallversicherung.
Und so findet Religion Ersatz. Der Begriff »Ersatzreligion« ist inzwischen zu einer stehenden Wendung geworden; man und frau sind verschwurbelte Dreifaltigkeitsthesen, kirchliche Hierarchien, einschläfernde Predigten oder leiernden und wenig unterhaltsamen Kirchengesang mehr oder weniger leid. Doch ohne Wertesystem, ohne Glaubenssätze scheinen wir nicht durch dieses Leben zu kommen. Mit religiöser Ernsthaftigkeit, ja mitunter mit religiösem Eifer, werden also neue Gebote aufgestellt, die Ersatz für das Abhandengekommene bieten. Amen.
DAS ERSTE GEBOT
Ich bin Ich, mein Gott. Ich brauche niemanden neben mir.
EIGENTLICH
Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Manchmal weiß man nicht mehr, wann genau der Zeitpunkt gekommen war, an dem sich zeigte, dass unser Bild von Gott nichts mehr mit dem von einem strengen, aber letztlich gütigen, uralten Mann mit weißem Rauschebart gemein hatte. An dem sich abzeichnete, dass dieses Bild und das Verhältnis überhaupt längst diffus geworden waren, undeutlich, verwirrend. Als wir nicht mehr wussten, wo Gott wohnt und wer das eigentlich sein soll.