Die Neunte Stadt - J. Patrick Black - E-Book

Die Neunte Stadt E-Book

J. Patrick Black

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Beschreibung

Fünfhundert Jahre nach der Invasion

Die Erde in der Zukunft: Ausgerechnet am Valentinstag wurde die Menschheit von einer unbekannten, mächtigen Alien-Spezies angegriffen. Innerhalb kürzester Zeit wurden Länder zerstört und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Und doch waren die Menschen nicht völlig wehrlos, denn der Angriff der Aliens stattete sie mit einer Macht aus, die sie bisher ins Reich der Magie verbannt hatten. Nun, fünfhundert Jahre später, tobt der Kampf um die Erde noch immer, und das Schicksal der gesamten Menschheit ruht auf den Schultern von acht ungleichen Helden. Dies ist ihre Geschichte…

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Seitenzahl: 944

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Das Buch

Sie kamen aus dem Dunkel des Alls.

Wir waren nicht darauf vorbereitet …

Es ist der vierzehnte Februar, und nach diesem Tag wird nichts mehr sein, wie es einmal war: Als die »Valentines« die Erde angreifen, verschwinden ganze Nationen innerhalb eines einzigen Augenblicks. Zurück bleibt nur Schutt und Asche. Denn die Aliens aus einer fremden Welt haben geradezu magische Fähigkeiten. Fähigkeiten, denen die Menschen nichts entgegensetzen können. Denken sie zumindest. Doch dann stellt sich heraus, dass einige Auserwählte die sogenannte »Thelemitie« ebenfalls beherrschen – und die Menschheit schlägt zurück.

Fünfhundert Jahre später liefern sich Menschen und Valentines noch immer einen zermürbenden Stellungskrieg zwischen den Sternen. Während die Auserwählten in den Elite-Akademien der verbliebenen Riesenmetropolen auf den Kampf gegen die Aliens vorbereitet werden, fristet der Großteil der Bevölkerung in den Ruinen einer gestorbenen Welt sein Dasein und muss für die Versorgung der Städte schuften. Ein Ausweg – oder gar Frieden – scheint unmöglich.

Doch eines Tages ändern die Valentines ihre Taktik, und schnell wird klar, dass sich nun das Schicksal der Menschheit endgültig entscheiden wird. Ihre letzte Hoffnung ruht nun auf acht ungleichen Helden. Dies ist ihre Geschichte.

Die Neunte Stadt ist ein fantastisches Abenteuer voller Intrigen, Machtspiele und Action, das man nie wieder vergisst.

Der Autor

J. Patrick Black hat als Barmann, Rettungsschwimmer, Rechtsanwalt, Bauherr und als Maskottchen in einem Freizeitpark gearbeitet. Seine wahre Leidenschaft gehörte jedoch schon immer dem Schreiben, das er jetzt zu seinem Beruf gemacht hat. Die Neunte Stadt ist sein erster Roman. Der Autor lebt und arbeitet in Boston.

Mehr über den J. Patrick Black und seinen Roman erfahren Sie auf:

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Markus Mäurer

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

NINTH CITY BURNING

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 07/2017

Redaktion: Birgit Herden

Copyright © 2016 by J. Patrick Duffy

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagillustration © Matthew Griffin

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19572-4V002

www.diezukunft.de

Für dich, lieber Leser, der du gerade diese Zeilen liest.

Dieses Buch wurde für dich geschrieben.

ERSTER TEIL

Die Multiplikation des Unmöglichen

1

Jax

Die Klausur läuft erst seit einigen Minuten, als die Sirene losgeht, und das Erste, was ich fühle, ist Erleichterung, obwohl ich weiß, dass das total falsch ist, dass ich so nicht empfinden sollte. Ich kann mich noch an die Panik erinnern, den Schrecken, der mich früher immer überkam, wenn ich die Atmosphäreneinfall-Sirenen gehört habe – das Signal, dass unsere Stadt angegriffen wird. Und ich weiß, dass sich die anderen aus meiner Klasse auch jetzt wieder so fühlen. Aber für mich ist es nun anders. Nachdem der erste Schock der heulenden Sirene verebbt ist, habe ich zwar Angst, aber es ist nicht dasselbe wie früher. Mich quält eher die Sorge, dass ich die anderen im Stich lassen werde, und selbst diese Angst hält sich noch in Grenzen, auch wenn sie sicher noch schlimmer werden wird. Aber für einen Moment, nur für einen kleinen Augenblick, bin ich erleichtert, denn auf diese Klausur bin ich echt nicht vorbereitet. Ich weiß, dass es verrückt ist, denn wer denkt schon: Hey, großartig, ich muss die Klausur nicht schreiben, weil alle anderen sterben werden!

Ich bin kein schlechter Schüler, wirklich nicht. Noch nicht einmal in Biologie, worum es in der Prüfung geht. Vor allem über Fotosynthese, die dafür sorgt, dass Pflanzen Sonnenlicht in Energie umwandeln. Das Problem ist, wann immer ich mich zum Lernen hinsetze, endet es damit, dass ich zum Handbuch der Akademie greife. Es ist kein langer Text, aber jedes Mal, wenn ich damit durch bin, fange ich wieder von vorne an, als würde ich die Antwort, nach der ich suche, finden, wenn ich es noch einmal lese. Als hätte ich sie bei den anderen hunderttausend Malen übersehen. Aber obwohl alle Regeln über das Leben an der Akademie in dem Handbuch stehen, erfahre ich daraus nicht, was ich wirklich wissen muss. Und es steht auch nichts über Fotosynthese darin.

»Stifte hinlegen, Kadetten.« Das ist Danyee, unsere Rhetorin. Alle in der sechsten Klasse, Sektion E, haben bei ihr Biologie, Physik und irrationale Mechanik. Gerade ist sie noch durch Reihen geschritten und hat jedem Einzelnen von uns über die Schulter geblickt, aber beim ersten Aufheulen der Sirene ist sie nach vorne gegangen. »Bitte in einer Reihe an der Tür aufstellen«, sagt sie mit ruhiger Stimme, fast fröhlich, als wäre dies einfach eine weitere Lektion.

Überall um mich herum knarzen Stühle unter den Pulten. Hinten im Raum kreischt ein Mädchen auf: Ihr Stift schreibt einfach weiter. Sie schlägt danach wie nach einer lästigen Fliege und blickt dann schuldbewusst um sich, ob jemand es bemerkt hat. Das haben wir alle, inklusive Rhetorin Danyee, die das Mädchen an der Hand nimmt und zur Reihe der Kadetten führt, die sich an der Tür bildet. Einen artifizierten Stift zu benutzen, verstößt gegen jede Regel, und jeder, der einen Blick in das Handbuch der Akademie geworfen hat, weiß das auch. An einem normalen Tag würde sie jetzt großen Ärger bekommen, aber nicht heute. Rhetorin Danyee, die normalerweise sehr streng ist, drückt beruhigend die Hand des Mädchens, bevor sie es in die Reihe führt. Sollte es morgen noch leben, können sie sich dann immer noch über eine Bestrafung unterhalten.

Ich bin Kadett 6-E-12, was bedeutet: sechste Klasse, Sektion E, Platz zwölf – also nehme ich den zwölften Platz von der Tür aus ein. Als ich die Reihe entlanggehe, spüre ich die Blicke der anderen Schüler – kein offenes Anstarren, denn wenn man sich in Reih und Glied befindet, muss der Kopf geradeaus gerichtet sein; aber sie beobachten mich aus den Augenwinkeln. Meine Uniform ist vom selben Grau wie die Uniformen der anderen Kadetten, und es befinden sich dieselben sechs schwarzen Streifen darauf wie bei allen anderen in der sechsten Klasse, aber es gibt niemanden in der Stadt, der mich mit einem normalen Jugendlichen verwechseln würde. Das Symbol in meinem Nacken, ein goldener Kreis mit einem zweiten Kreis in seinem Inneren, dient nur zur Erinnerung. Während der Schulstunden wird von meinen Kameraden erwartet, so zu tun, als wäre ich nur ein weiterer Schüler an der Akademie, aber das ist auch alles, was sie machen können: so tun, als ob.

In den letzten paar Monaten habe ich mich daran gewöhnt, dass mich alle komisch ansehen, habe mich an das Flüstern gewöhnt, das mich begleitet, wo immer ich auch hingehe. Nicht, dass die Leute gemein zu mir wären. Wenn überhaupt, sind sie überfreundlich. Manche Offiziere halten sogar an und salutieren oder gratulieren mir oder bitten mich, mir die Hand schütteln zu dürfen. Seit ich auf der Schule der Rhetorik angefangen habe, habe ich eine Menge Freunde gefunden, und meine alten Freunde sind mir auch geblieben. Die Kids in Sektion E scheinen in der Regel stolz auf mich zu sein. Aber nicht heute. Heute liegen die Dinge anders. Heute sind alle nervös, weil sie wissen, dass schon bald ihr Leben von mir abhängen könnte.

Von allen Elf- und Zwölfjährigen, die aus Sequester zurückkehrten, bin ich der Einzige, der sich als Fontanus entpuppt hat, und als jüngster Fontanus der Stadt ist es meine Aufgabe, den Menschen während eines Angriffs beizustehen. Die letzte Verteidigungslinie. In zehn Minuten könnte die Neunte Stadt komplett verschwunden sein, und ich müsste kämpfen, um diejenigen zu beschützen, die noch übrig sind. Und das erklärt die Blicke, die mir die anderen Kadetten jetzt zuwerfen: Sie fragen sich, ob sie mir ihr Leben anvertrauen können, diesem Jungen mit der langen Nase und dem gelockten braunen Haar, der irgendwie dürr und pummelig zugleich ist. Der zu den Schlechtesten der Klasse gehört, wenn es um Klimmzüge und Liegestütze geht, von Fünf-Kilometer-Läufen ganz zu schweigen. Der nie wirklich in irgendwas gut gewesen ist. Sie sehen den gleichen Jax, den sie seit zwölf Jahren kennen, nur, dass ich sie jetzt vor der Vernichtung bewahren soll. Sogar Rhetorin Danyee wirkt angespannt. Ich mache ihnen da keinen Vorwurf: Ich wünschte ja selbst, sie wären nicht von mir abhängig.

Als sich alle Kadetten der Sektion E in einer Reihe aufgestellt haben, öffnet Danyee die Tür, und wir verlassen das Klassenzimmer und bilden zwei Schlangen aus je zehn Leuten. Jeder bewegt sich reibungslos im Takt. Seit wir laufen können, haben wir Atmosphäreneinfall-Übungen absolviert. Die Bestzeit unserer Sektion für den Weg vom Klassenzimmer bis zum Bunker beträgt drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden. Das ist alles so vertraut, ich vergesse beinahe, dass es echt ist. Aber nur beinahe.

Der Flur des Ostflügels ist voll mit anderen Sektionen – Kinder, die ganz ruhig in Zweierreihen gehen, jeweils von einem Rhetor geführt. Die Rhetoren stechen aufgrund ihrer schwarzen Legionärsuniformen hervor und weil sie meist um die zwanzig sind, so alt wie Danyee. Einige der Rhetoren für die höheren Klassen sind sogar noch älter, aber nicht die der Dodos, wie die Sechstklässler an der Akademie genannt werden. Es heißt, dass die Rhetoren keine jüngeren Kinder mehr unterrichten dürfen, wenn sie ihre erste Tour hinter sich haben.

Niemand spricht und alle blicken stur geradeaus; die einzigen Geräusche sind das rhythmische Stapfen unserer Akademieschuhe und das Heulen der Angriffssirene. Die Sirene ist ein Artifizium, so entworfen, dass es praktisch unmöglich ist, sie zu ignorieren, ein Geräusch, das aus der Luft selbst zu kommen scheint, wie Wasser, das sich an der Seite eines Glases sammelt. Ich frage mich, ob es ein echtes Heulen sein könnte – wie wenn jemand wirklich schreit. So sind Artifizien: Ganz gleich, wie präzise sie entworfen sind, man kann sich nie sicher sein, was sie wirklich machen.

Wir folgen dem Strom der Kadetten die breite Steintreppe des Ostflügels hinab bis ins Erdgeschoss, aber alle anderen gehen weiter in die tieferen Etagen, während Danyee uns ins Hauptfoyer führt. Vor einem hohen Steinbogen lässt sie uns anhalten; er wirkt wie der Rahmen einer großen Tür, wird aber von einer massiven Platte aus weißem Stein blockiert, dessen durchscheinende Oberfläche im schräg hereinfallenden Licht schimmert. »Adjutant Sektion E«, sagt sie und wendet uns das Gesicht zu. »Bericht.«

Elessa verlässt ihren Platz in der Reihe und tritt vor. »Kadett Adjutant Elessa erstattet Bericht, Ma’am«, sagt sie. »Klasse sechs, Sektion E: alle anwesend und in guter Verfassung.« An unserem ersten Tag an der Schule der Rhetorik, als Danyee uns anwies, einen Sektionsadjutanten zu wählen, waren sich alle sicher, dass es Bomar sein würde. Bei der Eingangsprüfung hatte er bei den Führungsqualitäten höhere Ergebnisse erzielt als alle anderen in unserer Sektion. »Siebenundneunzig Prozent«, sagte er mindestens zehnmal am Tag, damit es auch niemand vergaß. Für Bomar war seine hohe Punktzahl Grund genug, alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen; beim Essen befahl er den Leuten, ihm ihre Nachtischrationen zu geben – »zum Wohle der Sektion«. Elessa war die Erste, die aussprach, was alle dachten: Mit Bomar als Adjutant würde die Schulzeit furchtbar werden. Danach war das Wahlergebnis klar. Als es zur Abstimmung kam, gewann sie mit neunzehn zu eins Stimmen. Elessa ist clever und gut organisiert, und sie kann wahnsinnig viele Klimmzüge hintereinander machen. Sie scheint immer zu wissen, was zu tun ist – ich wette, sie wäre eine gute Fontana geworden. Stattdessen hat die Neunte Stadt mich bekommen.

»Sie übernehmen Sektion E«, teilt Danyee Elessa mit. »Bringen Sie Ihre Kadetten zum Bunker des Ostflügels, und melden Sie sich bei Ihrem Zenturioaspiranten.«

»Jawohl, Ma’am« Elessa dreht sich auf dem Absatz zu uns um. »Kadetten, folgt mir«, sagt sie und geht los. Die anderen marschieren hinter ihr her, bis nur noch ich übrig bin.

Danyee nickt mir knapp zu und lächelt sogar leicht, dann geht sie auf den Bogen mit seiner riesigen Steinmauer zu. Während sie das tut, erscheint eine Gestalt auf der Oberfläche: die Umrisse eines Mannes, wie der Schatten von jemandem, der auf der anderen Seite steht. Er hält einen Arm hoch, bedeutet uns so, anzuhalten, und aus der Wand kommt eine Stimme. »Es wurde ein Atmosphäreneinfall-Alarm ausgelöst«, tönt es tief und donnernd, mit einem ähnlichen Widerhall wie die Sirene, die noch immer durch die Luft heult. »Die Akademie der Neunten Stadt ist bis auf Weiteres geschlossen. Sämtliches Personal hat sich zu seinen zugewiesenen Bunkern zu begeben. Dies ist keine Übung.«

Die Stimme schweigt für einen Moment, dann fängt die Nachricht wieder von vorne an, hält aber an, als Danyee ihre Handfläche auf den weißen Stein legt. »Rhetorin Danyee von der Akademie«, sagt sie, »eskortiert Fontanus Jaxten zum Forum.«

Nach einem kurzen Augenblick sagt die Stimme: »Eintreten.«

Die weiße Wand verschwindet umgehend wie Nebel, der sich auflöst, und wir blicken auf einen Platz mit weiten Grünflächen und steinernen Wegen, leer und strahlend hell unter dem bewölkten Himmel. Sobald wir draußen sind, erscheint die Wand wieder hinter uns; ich höre nicht, wie es passiert, aber als ich zurücksehe, ist sie da.

Danyee hat eine kleine Metallscheibe aus ihrer Tasche hervorgeholt. Es ist ein Behälter, um Artifizien darin aufzubewahren, der ihr nur für einen Zweck gegeben wurde: mich während eines Angriffes zum Forum zu bringen. Ich hätte alleine genauso schnell dorthin gelangen können, aber die Akademie ist sehr streng und manchmal etwas uneinsichtig, wenn es darum geht, was Kadetten alleine tun dürfen. Tatsächlich gefällt es mir sogar besser so.

»Bereit, Kadett?«, fragt Danyee.

Sie scheint tatsächlich nervös zu sein, ich bin mir aber nicht ganz sicher. »Bereit, Ma’am.«

Danyee fährt mit zwei Fingern über die Oberfläche der Scheibe, und plötzlich ist alles verschwommen, der Boden unter uns erhebt sich wie der Wind, Fußwege und Treppen wirbeln mit orkanartiger Geschwindigkeit um uns herum.

Als sich die Welt wieder beruhigt, stehen Danyee und ich vor einem weiteren Steinbogen, locker doppelt so groß wie der letzte; er führt auf einen weiten Platz. Ich spüre, wie Danyee die Hand auf meine Schulter legt. Wir gehen unter dem Bogen hindurch, sie tritt zurück und salutiert. »Für mich ist hier Schluss, Sir«, sagt sie. Die ganze Prozedur steht in meinem Handbuch als Teil eines speziellen Anhangs nur für mich. Es fühlt sich seltsam an, wenn Erwachsene mir salutieren und mich »Sir« nennen, aber jetzt, wo wir uns nicht mehr auf dem Grundstück der Akademie befinden, stehe ich einige Ränge über Danyee.

»Jawohl, Ma’am«, sage ich und erwidere den Salut. »Von hier an übernehme ich.«

Doch statt zu gehen, kniet sich Danyee hin und umarmt mich fest. »Viel Glück, Sir«, flüstert sie. »Wir alle drücken Ihnen die Daumen.«

Die Umarmung überrascht mich völlig. Nirgendwo im Handbuch – nicht einmal im speziellen Anhang – steht etwas von Umarmungen, ganz zu schweigen davon, einen vorgesetzten Offizier zu umarmen. Soweit ich weiß, sind Umarmungen völlig regelwidrig. Ich murmle ein Dankeschön, und Danyee lässt mich los, auf ihrem Gesicht ein trauriges Lächeln. Sie salutiert noch einmal, dann ist sie mit einem Windstoß fort.

2

Jax

Erst dann bemerke ich die Stille. Die Sirene ist hier nicht zu hören, das Forum, normalerweise so bevölkert, dass man kaum atmen kann, ist menschenleer. Die gewaltigen Gebäude an den Seiten scheinen wie ferne Berge am Horizont.

Ich atme tief durch, schließe die Augen, und für einen Moment ist das graue Licht des Forums verschwunden, und ich stehe auf einem Feld aus grünem Gras unter einem blauen Himmel. Die Sonne scheint warm auf mein Gesicht, die Luft ist frisch. In der Ferne höre ich Menschen jubeln – vielleicht rufen sie sogar meinen Namen. Wenn ich kämpfen muss, ist dies der richtige Ort dafür.

Jetzt fühle ich mich ein wenig selbstsicherer, ich öffne die Augen und gehe zu dem monströsen Springbrunnen im Zentrum des Platzes. Als erste Aufgabe an der Schule der Rhetorik muss jeder Kadett einen Aufsatz über diesen Springbrunnen schreiben, inwiefern er die Geschichte und die Ideale unserer Stadt repräsentiert. Der Springbrunnen hat fünf Ebenen, auf denen sich Figuren mit Schwertern, Gewehren und Flaggen drängen; einige von ihnen sollen echte historische Persönlichkeiten sein, dazu gesellen sich ganze Gruppen von Menschen, während manche Gestalten abstrakte Dinge wie Ehre, Pflicht und Mut repräsentieren – sie stechen hervor, weil sie keine Kleidung tragen. Der Aufsatz ist an der Akademie zu einer Art Witz geworden, weil die Rhetoren einem im Prinzip vorher erzählen, was man schreiben soll. Der offizielle Name des Springbrunnens lautet »Brunnen des Prinzipats«, aber die meisten nennen ihn einfach »Old Fife«.

An einem Rand des Brunnens ist ein gigantischer Stuhl eingelassen, der unter den Kadetten der Akademie als Macduff bekannt ist, und es ist eine Art Sport, so viele Leute wie möglich auf einmal in ihn hineinzuquetschen. Fünfundzwanzig war das meiste, was ich je gesehen habe – Kinder, die als wackliger Turm übereinandergestapelt auf den Schultern der anderen standen. Sein richtiger Name ist aber »Sitz des Helden«. »Held« ist ein alter Titel aus der Zeit, bevor die Legion gegründet wurde, der aber noch immer eine symbolische Bedeutung besitzt. Ich schätze, darum geht es bei dem Springbrunnen vor allem. Und im Moment bin ich der Held der Neunten Stadt.

Es gelingt mir, ungefähr zehn Sekunden auf dem Sitz des Helden zu bleiben, bevor ich komplett ausflippe. Erst ist es noch nicht so schlimm. Die Steinoberfläche ist kalt und ein wenig feucht von den Nieselschauern, die über die Stadt gezogen sind, aber das stört mich nicht. Ich lehne mich zurück, blicke zum Himmel hinauf und höre Bomars Worte. »Ich kann nicht glauben, dass Jax der Eine geworden ist. Von allen ausgerechnet er. Der schafft ja kaum einen Fünf-Kilometer-Lauf, und wir sollen ihm bei der Verteidigung der Stadt unser Leben anvertrauen? Das ist ein schlechter Witz.«

Das war an unserem ersten Tag an der Rhetorik. Ich hatte direkt vor der Tür zu unserem Klassenzimmer gestanden, als ich hörte, wie sich meine Mitschüler drinnen unterhielten. Was Bomar sagte, überraschte mich nicht – er hat aus seiner Meinung nie ein Geheimnis gemacht. Überrascht hat mich, was als Nächstes passierte.

»Halt die Klappe, Bomar. Du bist nur neidisch.« Das war Elessa. Sie ist keine besonders freundliche Person, aber sie ist fair, und ich war froh, dass wir sie als Sektionsadjutantin gewählt hatten. Doch dann sprach sie weiter. »Wie auch immer, es wird nicht wirklich Jax sein, von dem unser Leben abhängt. Fontani haben eine zweite Persönlichkeit oder so, die für sie kämpft.«

»Das wird aber eine mächtige Persönlichkeit oderso sein müssen, um Jax auszugleichen«, sagte Bomar. »Sonst könnten wir uns auch direkt umbringen und Romeo die Mühe ersparen.«

Elessa widersprach nicht. Andere Stimmen meldeten sich zu Wort, und mir wurde klar, dass sich fast die ganze Sektion da drinnen versammelt hatte. Niemand wollte, dass ich für sie kämpfe.

Ich denke daran, wie Danyee mich umarmt hat. »Wir alle drücken Ihnen die Daumen«, hat sie gesagt. Jede Wette, dass sie sich wünscht, sie hätten einen anderen Fontanus. Ich wünsche mir das ja selbst auch.

Im Handbuch der Akademie steht viel über Mut. Es sei in Ordnung, Angst zu haben, Angst sei ein Teil der Tapferkeit, heißt es darin. Und dass man wisse, was zu tun sei, wenn es so weit ist; man solle nur auf sein Training vertrauen. Aber was man tun soll, während man ganz allein unter dem offenen Himmel wartet, mit dem sicheren Gefühl, dass alle, die man je getroffen hat, sterben werden, weil man nicht stark genug ist, um sie zu retten – das steht nicht im Handbuch.

Als mir die Leute in Sequester sagten, dass ich ein Fontanus sein könnte, war ich mir sicher, dass es sich um einen Irrtum handelte. Fontani sind die Besten der Besten, und ich bin so durchschnittlich, wie man nur sein kann. Aber sie behielten recht. Ich dachte, ich würde mich anders fühlen, nachdem ich das erste Mal geschattet hatte, dass ich wirklich wissen würde, was zu tun war. Aber das ist bis heute nicht der Fall. Wenn ich manchmal nachts nicht schlafen kann, stehe ich auf und betrachte mich im Spiegel, um zu sehen, ob es einen Beweis für meine Veränderung gibt, aber es ist immer das gleiche Ich.

Ganz plötzlich kann ich nicht mehr atmen, als wäre die Luft um mich herum zu Stein geworden. Mein Herz fühlt sich an, als würde es rasend schnell einen Hügel hinabrollen, während es die ganze Zeit schlägt, und ich bekomme immer mehr das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Ich schließe die Augen, atme tief ein und versuche, dieses große grüne Feld herbeizurufen, so wie Charles, mein Spezialausbilder, es mir gezeigt hat. Ich sehe, wie sich das Gras überall um mich herum ausbreitet, aber dieses Mal ist nirgends eine Sonne zu sehen. Der Himmel ist tiefgrau, fast schwarz, und es regnet Schneematsch, der sich wie eisige Spucke anfühlt. Das Gras beginnt zu welken und wird braun, und ganz plötzlich sind überall kahle Flecken, und ich versinke langsam in dem kalten Matsch, erst bis zu den Knöcheln, dann bis zu den Knien …

Ich reiße die Augen auf und klettere vom Sitz des Helden herunter, entschlossen, keinen Berg Erbrochenes zu hinterlassen. Sobald ich ihn verlassen habe und mir sicher bin, zurück in der Neunten Stadt zu sein, fühle ich mich ein bisschen besser, aber immer noch nicht gut. Ganz außen humpele ich an den Rändern des Forums entlang, gehe nacheinander an den Gebäuden vorbei, aus denen die vier Seiten des Platzes bestehen: die Akademie, die Basilika der Legion, das Prätorium und die Halle des Prinzipats.

Ich befinde mich auf meiner dritten Runde und fühle mich wie auf Kilometer drei des schlimmsten Fünf-Kilometer-Laufs aller Zeiten, als ich etwas Seltsames aus einem der hohen Gänge höre, die durch die Halle des Prinzipats führen – das unwahrscheinlichste Geräusch der Welt: Gelächter. Ohne nachzudenken, folge ich dem Gang auf die andere Seite des Gebäudes, wo er in eine breite Terrasse mündet. Darunter breitet sich die Neunte Stadt aus, die Altstadt mit ihren gewundenen Straßen, den gewaltigen Steintürmen der neueren Bezirke, den wie Klauen aufragenden Schlachtspitzen und den schwerfälligen Stadtgeschützen, groß wie Gebäude, einige über zweihundert Meter hoch. Charles bezeichnet sie als »buchstäbliche Wolkenkratzer«.

Zuerst glaube ich, dass das Lachen ein Streich sein muss, den mir der Wind spielt, doch dann sehe ich sie: Legionäre, drei an der Zahl, zwei Männer und eine Frau. Für einige Sekunden starre ich sie an und überlege, was sie hier verloren haben. Sie sollten auf ihren Posten sein, sich auf den Kampf vorbereiten. Und dann sehe ich die Insignien auf ihren Krägen, das spitz zulaufende Symbol, das sie als Offiziersanwärter aus der Schule der Philosophen kennzeichnet. Sie sind jünger, als ich dachte, vielleicht in Rhetorin Danyees Alter. Das ergibt Sinn, da auch sie ein Offiziersanwärter ist. Aber das erklärt immer noch nicht, warum die drei hier sind.

»Ihr solltet in den Bunkern sein«, platzt es einfach aus mir heraus. Sie drehen sich zu mir um, eindeutig überrascht.

Einer der jungen Männer fängt sich als Erster wieder, der größte von den dreien, schlank, mit dunkler Haut und einem hageren Gesicht. Sein Haar ist schwarz und länger, als es die Kadetten normalerweise tragen. »Seht nur, wen wir hier haben«, sagt er. »Fontanus Jaxten. Ist dir der Sitz des Helden ein wenig zu nass?«

»Ihr solltet in den Bunkern sein«, wiederhole ich und höre mich dabei wie ein Idiot an. Erst nachdem ich meinen Mund geöffnet habe, kommt mir in den Sinn, wie nahe an der Wahrheit seine Worte sind.

Auch der zweite junge Mann ist groß und irgendwie bronzefarben, mit Muskeln, die sich unter der Uniform abzeichnen. »Jaxten, wirklich?«, fragt er und rückt seine silbern eingerahmte Brille zurecht, als wolle er mich in den Fokus bringen. »Fantastisch. Komm rüber, Held. Trink was mit uns.«

Ich bemerke die kleinen silbernen Tassen, die jeder von ihnen hält, und zwei Flaschen mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, auf dem Stein neben ihren Füßen. »Ist das Fizz?« Fizz ist ein Getränk, das Kadetten aus Aquavee und Gewürzpackungen mischen. Im Handbuch wird es manchmal als Gurgel oder Schaum bezeichnet und gehört zu den verbotenen Substanzen der Kategorie vier.

»Wo bleiben nur unsere Manieren?«, sagt der erste Mann. »Wir sollten uns dem jungen Jaxten zunächst einmal vorstellen, bevor wir ihm ein illegales Getränk anbieten.«

»Ich weiß, wer ihr seid«, sage ich. »Du bist Vinneas. Und du« – ich drehe mich zu dem anderen Mann – »bist Imway.« Imway sieht überrascht und beeindruckt aus, aber Vinneas grinst nur, als hätte ich gerade die richtige Antwort auf ein Matheproblem gegeben. »Ihr steht im Handbuch«, erkläre ich, »in der Sektion für Leitende OAs.«

Vinneas ist Prokurator der Akademie, im Prinzip so etwas wie der Rhetor aller Rhetoren, und damit für alle Kadetten hier verantwortlich. Imway ist der hochrangigste OA unter den Equite-Anwärtern, der Elitekampfeinheit an der Akademie. Alle Kadetten der Neunten Stadt kennen die beiden.

»Hört sich an, als wären wir berühmt, Way«, sagt Vinneas, immer noch grinsend. »Das Handbuch! Besser geht’s nicht.«

Die junge Frau beobachtet mich währenddessen mit einer Mischung aus Ungeduld und Sarkasmus. Sie ist viel kleiner als die anderen beiden, mit strahlend blauen Augen, schwarz gewelltem Haar, das in seltsamen Winkeln hochgesteckt ist, und einer Menge an Ohrringen, die deutlich über die erlaubte Anzahl hinausgeht. »Ähm«, sage ich, mich unter ihrem Blick windend. »Wer du bist, weiß ich nicht.«

Imway und Vinneas fangen an zu lachen, als wäre das das Witzigste, das sie je gehört hätten.

»Jetzt, wo du es erwähnst«, sagt Imway zwischen zwei Lachern. »Ich kenne sie auch nicht. Vinneas, wer ist dieses Mädel?«

»Ich weiß nicht – dachte, du hättest sie eingeladen.«

Die junge Frau betrachtet sie mit sichtbarem Ärger. »Nett, dich kennenzulernen«, sagt sie zu mir. »Ich bin Kizabel, aber meine Freunde nennen mich Kiz.« Sie blickt zu den beiden rüber, die sich jetzt aufeinanderstützen, als würden sie vor Lachen gleich umfallen. »Von denen ist im Moment aber keiner hier.«

»Ach, Kiz, das haben wir doch nicht so gemeint«, sagt Vinneas und legt spielerisch den Arm um sie. »Ich muss dir sagen, Jaxten, dass unser Mädel hier einige bemerkenswerte Talente besitzt.« Imway schnaubt daraufhin; Kizabel versucht, ihn zu treten, aber Vinneas hält sie zurück.

»Zum Beispiel«, sagt er demonstrativ, »ist sie zweifelsfrei die gefragteste Artifex der Akademie, womöglich sogar der ganzen Stadt. Ich wette, dass du schon einige ihrer Artifizien benutzt hast, ohne es zu wissen. Eine Menge Philosophen würden töten, um mit ihr arbeiten zu können.«

»Wenn sie nur nicht immer wieder durch ihre Hauptprüfung fallen würde«, schließt Imway, immer noch grinsend, ab. Etwas Metallisches prallt von seinem Arm ab, und ich sehe, dass Kizabel ihre Tasse nach ihm geworfen hat. Sie versucht, sich aus Vinneas’ Griff zu lösen, und knurrt dabei, als wollte sie Imway den Kopf abreißen.

»Bist du damit schon fertig?«, sagt Imway, hebt die Tasse auf und betrachtet sie. »Die werde ich nicht zurückgeben, weißt du. Du bist viel zu zornig, wenn du betrunken bist.«

»Ich bin nicht betrunken, du blöder Ochse«, knurrt Kiz. Sie boxt Vinneas in die Rippen, damit er sie loslässt, dann duckt sie sich an ihm vorbei und greift Imway direkt an. Das scheint kein guter Plan zu sein. Er ist mindestens doppelt so groß wie sie und hält sie mühelos mit einem Arm auf Distanz, während sie ihn mit Schlägen und Tritten eindeckt und dabei mit Sachen beschimpft, die ihr eine Menge Strafarbeiten eingebrockt hätten, wenn ein leitender Offizier hier wäre.

»Pass gut auf, Jaxten«, sagt Vinneas, der sich grinsend die Seite reibt. »So regeln Erwachsene ihre Meinungsverschiedenheiten.«

»Halt’s Maul, Vinn«, brüllt Kizabel. »Du bist als Nächstes dran!«

Vinneas hebt kapitulierend die Hände. »Ich habe nichts gesagt.« Während Kizabel weiter auf Imway einschlägt, beugt sich Vinneas zu mir und flüstert etwas. »Kizabels Ehre verlangt eine symbolische Kraftdemonstration. Solange niemand seine Artifizien einsetzt, besteht kein Grund zur Sorge.«

Genau in diesem Moment ist da ein summendes, knallendes Geräusch, und Imways Brille fliegt durch die Luft. Er stolpert blinzelnd zurück und blickt zwischen Kizabel und seiner Brille hin und her, die am anderen Ende des Balkons gelandet ist. »Oh, so läuft das also?«, sagt er.

Kizabel legt ihre Ohrringe ab und steckt sie in eine Tasche. »Jepp.«

»Das ist jetzt der Moment, in dem wir in Deckung gehen sollten«, sagt Vinneas.

»Ihr müsst zu den Bunkern«, rufe ich. Ich hatte fast vergessen, dass wir uns mitten in einem Angriff befinden, bis Vinneas die Deckung erwähnte. »Wenn die Stadt getroffen …«

»Wir machen uns da keine Sorgen«, sagt Imway beiläufig. Beim Gedanken an den Bunker habe ich kurz den Blick von ihm und Kizabel gelöst, und jetzt hat er sie im Schwitzkasten. Beim Versuch, sich aus seinem Griff herauszuwinden, ist ihr Gesicht knallrot angelaufen, aber Imway scheint nichts dabei zu finden. »Wir haben doch dich, unseren Helden, der uns beschützen wird. Nicht wahr? Nichts kommt an Fontanus Jaxten vorbei. Du wirst …«

»Jetzt halt endlich das Maul!«, unterbricht ihn Kizabel. Auch wenn sie Imway praktisch die gesamte Zeit, seit ich hier bin, angebrüllt hat, hört sie sich jetzt zum ersten Mal tatsächlich wütend an. Imway lässt sie umgehend los, sie steht auf und kämmt sich mit den Fingern das Haar zurück, das durch die Rangelei ziemlich durcheinandergebracht wurde. »Komm schon. Sieh dir den Jungen an.«

Dieses kranke, stickige Gefühl ist zurück, mir ist heiß, und meine Beine geben nach, als würden sie schmelzen. Nicht ich sollte hier draußen sein. Der Sitz des Helden ist für Menschen wie Imway, Vinneas und Kizabel gemacht, Menschen, die clever, tapfer und fantastisch sind. Nicht für irgendeinen Jungen.

»Hey, Jaxten«, sagt Kizabel und kommt zu mir rüber. »Ist schon okay.«

Ich habe Angst, dass ich anfange zu weinen, was vor diesen dreien schlimmer wäre, als auf den Sitz des Helden zu kotzen.

»Wir haben alle Angst«, sagt Kizabel. »Deshalb sind wir hier oben.«

»Genau«, stimmt Imway ihr zu.

»Das verstehe ich nicht«, sage ich kopfschüttelnd. Sind sie sich sicher, dass sie mit mir als Held sterben werden? Sind sie sich so sicher, dass sie sich gar nicht die Mühe machen, in den Bunker zu gehen? Romeo die Mühe ersparen, wie Bomar es ausdrückte?

»Wenn die Stadt getroffen wird, spielt es keine Rolle, ob wir in den Bunkern sind oder nicht«, sagt Vinneas.

»Was meinst du damit?« Verwirrt blicke ich zu ihm auf, doch er trinkt nur gelassen seine Tasse leer.

»Vinn.« Da liegt eine Warnung in Kizabels Stimme.

»Man hat ihm gesagt, dass er die Stadt beschützen soll, Kiz. Er sollte zumindest wissen, was er da verteidigt.« Er sieht mich an. »Was glaubst du, Jax? Kann ich dich Jax nennen?«

Ich bin mir nicht sicher, wie ich darauf antworten soll, sage aber: »Okay«.

»Ausgezeichnet«, sagt er und stellt seine Tasse ab. »Also, Jax, Folgendes: Diese Bunker wurden vor langer Zeit gebaut, bevor wir überhaupt wussten, welche Feuerkraft Romeo besitzt. Wie sich herausstellte, ist nichts, was wir bauen können, stark genug, um ihm standzuhalten. Ob da unten oder hier oben, wir werden sowieso gekocht. Außer dir natürlich«, fügt er grinsend hinzu. »Du bis das unzerstörbarste Ding auf dieser Seite eines schwarzen Lochs.«

»Aber wenn das stimmt, warum …«

»… warum dich ins Forum stecken, wenn du auch beim Rest der Verteidigungsstreitkräfte bleiben könntest? Hauptsächlich, damit die Stadt am Laufen bleibt und die Geschütze weiterfeuern. Nach dir sind sie unsere beste Chance, aus dem Ganzen mit all unseren Atomen am richtigen Platz herauszukommen. Und ich schätze, es schadet auch nicht, dass die Leute glauben, sie befänden sich in Sicherheit. Die Aussicht auf den bevorstehenden Tod kann die Moral deutlich drücken.«

Aus irgendeinem Grund fühle ich mich dadurch besser. Warum, weiß ich nicht. Ich meine, es ist schrecklich, wenn all diese Menschen glauben, sie seien sicher, obwohl sie es nicht sind. Aber wenn sie sterben, dann zumindest nicht, weil ich etwas falsch gemacht habe. »Aber woher wisst ihr das?«, frage ich. »Das mit den Bunkern, meine ich.«

»Einer der Vorteile, wenn man gut im Rechnen ist«, sagt Vinneas.

»Einer der Vorteile, Freunde zu haben, die gut im Rechnen sind«, fügt Imway hinzu und gibt Kiz einen leichten Schubser, der sie fast umfallen lässt.

»Wir sind natürlich nicht die Einzigen«, sagt Kizabel, nachdem sie Imway zurückgeschubst und ihm gegen das Schienbein getreten hat. »Alle Amtsleute der Stadt wissen mehr oder weniger Bescheid.«

»Und du weißt es.« Vinneas beugt sich über das Geländer. »Wir drei sind zu dem Schluss gekommen, dass uns niemand in den Bunkern braucht, außerdem arbeiten wir alle in unterschiedlichen Stadtteilen, weshalb es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir während eines Angriffs am gleichen Ort enden. Wir haben uns entschieden, lieber zusammenzubleiben.«

»Und da sonst niemand hier ist«, sagt Imway, der seine und Vinneas’ Tasse nachfüllt, »dachten wir, wir könnten stattdessen eine kleine Party veranstalten.«

»Und hier ist die Aussicht definitiv besser als in den Bunkern«, ergänzt Kiz. »Die Dinger jagen mir Angst ein.«

»Was meine Freundin damit sagen möchte, ist: In beengten Räumen merken die Leute eher, wenn man betrunken ist«, sagt Imway.

»Ich bin nicht betrunken!«, zischt Kizabel, ihn mit jedem Wort schlagend.

»Ist auch besser als auf dem Sitz des Helden«, sage ich.

»Ich kann nicht glauben, dass sie dich alleine da hocken und warten lassen.« Kizabel scheint diese Vorstellung wirklich abartig zu finden.

»Das ist Tradition. So steht es im Handbuch.«

»Ach ja, richtig, das Handbuch. Die Summe aller Wahrheiten und alles Wissens der Welt.«

»Aber hallo.« Imway lacht und hebt seine Tasse, damit er Vinneas zuprosten kann.

Kizabel ignoriert sie. »Lasst uns das hier zu einer neuen Tradition machen. Jedes Mal, wenn die Sirene losgeht, triffst du uns hier. Wir bringen dir auch etwas mit, das nicht zu den verbotenen Substanzen der Kategorie vier gehört.«

»Ich habe es ja schon immer gesagt, Kiz hat einfach die besten Ideen«, sagt Vinneas. »Was meinst du, Jax?«

»Okay«, sage ich. »Einverstanden.« Und das ist seltsam, aber zum ersten Mal, seit der Angriff begonnen hat, habe ich das Gefühl, kämpfen zu können.

Schließlich überzeugt Kizabel Imway, ihr die Tasse zurückzugeben. Sie bietet mir einen Schluck an, aber ich lehne ab – ich habe noch nie Aquavee getrunken, und ich bin mir nicht sicher, was es mit mir anstellen würde. Falls ich heute auf Romeo treffe, will ich einen klaren Kopf haben; dann soll er bezahlen, für alles, was er getan hat. Eine Weile schweigen wir, blicken über die Neunte Stadt, die seltsam friedlich im grauen Licht liegt. Die Aussicht ist immer ziemlich beeindruckend, vor allem, wenn man sich oben im Forum befindet und sich die großen Steingebäude unter einem ausbreiten, aber bis jetzt hatte ich sie nie als schön empfunden. Die Luft ist warm, aber klar, sauber gewaschen vom Regen, mit kleinen vorbeiziehenden Nebelstreifen. In dieser Stille kann ich mir fast einbilden, irgendwo hoch in den Bergen zu sein, weit weg von allem.

Und dann setzen sich die Geschütze der Stadt in Bewegung. Der Boden erbebt, als sie sich drehen und mit ihren gewaltigen Läufen in den Himmel zielen.

Vinneas hat eine kleine Uhr aus seiner Tasche gezogen. Er blickt auf die Ziffern, dann hoch in die Wolken. »Und los geht’s«, sagt er.

»Noch etwas, das wir herausgefunden haben, Jax«, sagt Imway. »Wenn Romeo uns nicht innerhalb von zwanzig Minuten nach dem Einfall erwischt, wird er uns überhaupt nicht erwischen.«

Überall in der Neunten Stadt beginnen die Geschütze zu feuern, aus jedem einzelnen schießen Blitze, die als Lichtsäulen gen Himmel rasen, die Wolken durchschneiden und große Löcher darin zurücklassen – groß genug, um den blauen Himmel und Sonnenstrahlen zu sehen.

Plötzlich holt Kizabel aus und wirft ihre Tasse gen Himmel. »Komm und hol uns, Romeo, du Arschloch!«, schreit sie. »Worauf wartest du? Wir sind direkt hier!«

»Imway hatte recht«, sagt Vinneas zu mir. »Sie ist eine Schnapsdrossel.«

Aber jetzt schreit auch Imway. »Ja, los geht’s! Was ist dein Problem, Romeo … Hast du Angst?«

Und ohne es zu merken, schreie ich mit ihnen. »Versuch es nur! Ich werde dir deine blöde Fresse polieren!« Wenn wir das hier überleben, geht mir durch den Kopf, muss ich mir für das nächste Mal etwas Besseres überlegen.

»Zeig uns, was du draufhast!«

Wir brüllen weiter, und der Boden erzittert bei jedem Donnern der Geschütze. Schneller und schneller fallen die Schüsse, wie eine gigantische Trommel, bis sie so schnell und laut kommen, dass wir unser eigenes Geschrei nicht mehr hören.

Neben mir schaut Vinneas immer noch auf die Uhr.

3

Naomi

Wir erreichen den Pass, als uns die Wolken, die unserer Karawane seit einem Tag und einer Nacht folgen, schließlich überholen und plötzlich Flocken, so klein und hell wie Sterne, durch die Luft wirbeln. Der erste Schnee desWinters wird auf allen Wagen mit lauten Rufen begrüßt. Ich weiß, in den Städten und bei den nördlichen Stämmen empfindet man anders, aber für uns Wanderer ist der Winter schon immer die glücklichste Jahreszeit gewesen.

Mama sitzt neben mir vorne auf dem Wagen und raucht schweigend ihre Pfeife, während ich Chester, unser Zugpferd, antreibe. Baby Adam versteckt sich hinten, seine Großmäuligkeit der letzten Tage hat nur bis zum ersten Anblick des hohen Passes angehalten, woraufhin er sich fast in die Hose gemacht hat. Ich habe ihm gesagt, er solle rausgehen und eine Weile mitlaufen, damit er sehen kann, wie weit und mächtig diese Bergketten sind, aber er zieht es vor, den Kopf unter eine Decke zu stecken. Leon, unser Rat Terrier, winselt, um ihn zu trösten. Ich muss zugeben, der Pfad fühlt sich viel schlimmer an, als er aussieht. Wir werden kräftig durchgeschüttelt, und hinter uns im Wagen klappern alle Pfannen und Töpfe. Ich bin froh, dass wir erst an fünfter Stelle im Treck durch die Schlucht gekommen sind und nicht an erster.

»Komm und leiste uns Gesellschaft, Cowboy«, ruft Mama. »Wir haben den Kamm erreicht.« Cowboy. Das reicht aus, um meinen Bruder nach draußen zu locken, denn Mama hat ihn nicht Baby Adam genannt, ein Name, den er überhaupt nicht mag, der aber von klein auf an ihm hängengeblieben ist. Baby ist jetzt sieben und zu groß, um verhätschelt zu werden. Er hat noch immer das feine blonde Haar, mit dem er geboren wurde; meiner Meinung nach ein deutliches Zeichen, dass er in vielerlei Hinsicht immer noch ein Kleinkind ist, und ich werde ihn Baby Adam nennen, bis er mich vom Gegenteil überzeugt. Er kommt mit der Fidel raus, die er von Papa geerbt hat, offensichtlich fürchtet er sich noch immer. Mit diesem Instrument die Ohren aller, die sich in Hörweite befinden, zu quälen ist anscheinend Balsam für Babys Seele, denn er spielt nur, wenn er angespannt ist oder Angst hat. Schon bald hockt Leon neben ihm und singt mit. Zusammen mit den Töpfen, die bei jeder Unebenheit klirren, erzeugen sie eine dämonische Sinfonie, die sonst nur einem Chor von Teufeln gelingen würde.

Zu dieser unmelodiösen Hymne kehren die Fährtensucher zurück. Sie erscheinen auf dem Kamm, Pferde und Reiter atmen Wolken in die kalte Luft aus, an den Felswänden glitzert Eis, und einen Moment lang hören wir das Horn durch die Berge schallen, ein Signal, dass der Weg frei ist und keine Gefahr droht. Wieder einmal stößt die Karawane Jubelschreie aus. Selbst Chester spürt die Aufregung, und ich kann ihn nur mit Mühe davon abhalten, nach vorne zu stürmen. Die Schneedecke ist noch immer dünn, und ich weiß, dass der Boden darunter vereist ist.

Die Fährtensucher warten auf uns, während wir den Pass überqueren. Der Kamm verbreitert sich und wird ebener; und da ein Sturz in die Schlucht unwahrscheinlich ist, stellen Baby und Leon das Katzengejammer ein. Das letzte Geheul verstummt aber erst, als meine Schwester auf Neidmähne, ihrer gescheckten Stute, herübertrottet.

»Ich hoffe, du hast noch ein weiteres Lied auf Lager«, sagt Rae und blickt ihn lächelnd aus ihren braunen Augen an. »Ich habe den Fährtensuchern erzählt, dass du bis nach Neuabsalom für uns spielen kannst.«

Baby schüttelt den Kopf und streckt die Arme aus, eine stumme Bitte, von ihr hochgehoben zu werden. Dabei vergisst er die Fidel, die bei der nächsten Erschütterung fast vom Wagen fällt.

»Verdammt, Baby!«, rufe ich und greife nach dem Instrument. »Wenn du das Ding kaputt machst, reiß ich dir die Eingeweide aus dem Leib!« Ich habe schon erlebt, wie meine Schwester mit weniger drastischen Worten die übelsten Rowdys in unserer Koda eingeschüchtert hat, aber mein kleiner Bruder scheint mich kaum gehört zu haben.

Rae hat Baby inzwischen auf ihren Sattel vor sich gehoben und setzt ihm ihren Hut auf. Nur bei Rae verdient Adam seinen Namen wirklich, und sie wird auch nie damit aufhören, ihn zu verhätscheln, ganz gleich, wie oft ich es ihr vorwerfe.

»Hmm, tut mir leid«, sagt Baby Adam, dem es eindeutig nicht leidtut.

»Was ist mit dir, Sonnenschein?«, fragt Rae. Rae ist die Einzige, die mich noch so nennt. Ich will ihr schon antworten, dass ich entweder Naomi heiße oder sie Puddingkopf, aber anders als Baby Adam bin ich vernünftig genug, mich nicht über ungeliebte Spitznamen aufzuregen.

»Was soll mit mir sein?«, frage ich schärfer als beabsichtigt. Seit einem Monat kabbeln wir beide uns immer wieder, und ich bin auf eine Zurechtweisung vorbereitet. Aber meine Schwester ist niemand, der jemanden hintenrum angreift. Wenn sie einen Streit anfangen möchte, macht sie das geradeheraus, und momentan wirkt sie so fröhlich, wie man nur sein kann.

Rae schüttelt den Schnee von ihren verfilzten Zöpfen, ihr Haar hat den goldenen Ton von Karamell. Ihr gebräuntes Gesicht ist von der Kälte gerötet, ihr Schal steif vom gefrorenen Atem. Sie ist neunzehn und wunderschön, selbst nach den Standards der Städte, wo die Mädchen den Gerüchten zufolge fast täglich baden und in der Regel noch all ihre Zähne besitzen. »Warum spielst du nicht für uns? Ich habe den Fährtensuchern Musik versprochen, und du wirst deine Schwester doch nicht als Lügnerin dastehen lassen.«

Wenn es um meine Fidelei geht, ist Rae höchst sonderbar. Sie könnte genauso gut selbst spielen, dennoch vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht versucht, mich zu einem Lied zu bewegen, meist unter einem Vorwand, doch in letzter Zeit bin ich es müde geworden, als ihre persönliche Bardin zu dienen. Ich würde ja mit einer fiesen Bemerkung antworten, wenn ich wüsste, dass es sie entmutigen würde, aber soweit ich das beurteilen kann, ist es unmöglich, Raes Gefühle zu verletzen, und wie es der Zufall will, bin ich heute in der Stimmung, etwas zu spielen. Als würde die Fidel wollen, dass ich spiele. Ich könnte schwören, dass sie mir etwas zusummt. Also reiche ich Mama Chesters Zügel und lege mir das alte Instrument auf den Arm.

Die Weise, die ich im Sinn habe, ist langsam und ein wenig klagend, aber auch fröhlich – Papa hat sie als Walzer bezeichnet. Es ist ein altes Lied, wohlbekannt in unserer Koda, und nach nur wenigen Noten fangen die Leute an mitzusingen, erst nur die Wagen, die uns am nächsten sind – Jasper Hollis und seine Familie direkt vor uns und die Silva-Mädels mit ihren Ehemännern und Alicia Silvas neugeborenem Jungen –, dann die anderen vor und hinter uns die Reihe entlang, bis alle fünfzehn Wagen mit meiner Fidel summen und brummen, bis wir schließlich Neuabsalom erreichen, wo wir unser Winterlager aufschlagen wollen.

Das ganze Jahr über ist meine Koda über den Kontinent gereist, um zu handeln, zu hamstern und unsere kleinen Herden zu hüten, und an keinem Ort haben wir mehr als ein paar Nächte verbracht. Länger zu bleiben würde einen Angriff der Stämme herausfordern, die diese Gebiete für sich beanspruchen. Die meisten von ihnen sind allen anderen gegenüber feindselig eingestellt und sehen unsere Karawanen als leichte Beute an. Selbst wenn wir in Bewegung bleiben, müssen wir uns häufig verteidigen, aber in der Regel sind wir besser bewaffnet als die Stammesleute und nicht bereit, unsere Wagen ohne einen hohen Blutzoll aufzugeben; und sobald unseren Angreifern das klar wird, sind wir ihnen in der Regel den Ärger nicht wert. Aber in der Winterzeit wird alles nördlich der Brückenlande von so heftigen Schneefällen bedeckt, dass eine Reise, ganz gleich über welche Entfernung, eine Einladung an den Tod darstellt, und selbst die härtesten Krieger wagen sich nicht weit von ihren Quartieren fort. Wenn die Kälte kommt, suchen wir uns mitsamt unseren Vorräten, die wir das Jahr über gesammelt haben, einen Unterschlupf und warten die Wintermonate in Sicherheit ab.

Neuabsalom ist das Beste unserer Lager, auch wenn es auf den ersten Blick nach nicht mehr als einer überwachsenen Ruine aussieht. Die wuchernden Büsche und das hohe Gras sind eine gute Tarnung, die bewusst gepflanzt wurde, um es so aussehen zu lassen, als hätten die letzten Bewohner Neuabsalom schon vor langer Zeit und ohne die Absicht, je zurückzukehren, verlassen. Wenn das Gestrüpp und der Dreck jedoch erst einmal weggeräumt sind, werden wir eine Stadt beziehen, mit großen Steinhäusern, die von der Zeit unberührt wirken.

Meine Leute bezeichnen einen solchen Ort als Pilzstadt, weil alles, von den Gebäuden bis zu den Straßen, Wänden und Treppen, wie Pilze aus dem Boden gewachsen zu sein scheint. Auf unseren Wanderungen haben wir noch andere Orte wie diesen entdeckt, aber keinen, der so abgeschieden und intakt war. Auch konnten wir nie herausfinden, zu welchem Zweck diese Gebäude errichtet worden waren. Einmal hat Randy Tinker Bose versucht, unter einem der Pilzhäuser zu graben, und fand heraus, dass es mit dem lebendigen Gestein darunter verschmolzen war. Er behauptete, dass die Erbauer von Neuabsalom irgendwie in der Lage gewesen seien, die Natur zu befehligen und die Häuser ähnlich wie Berge oder Bäume wachsen zu lassen, wenn auch womöglich etwas schneller. Das hielten zwar alle für eine närrische Idee, aber bis heute bleibt das unsere einzige Erklärung. Auf jeden Fall sind die Pilzhäuser stabiler und komfortabler als die Häuser in den Gemeinden, die zwar einen imposanten Anblick bieten, aber doch nur aus Nägeln, Brettern und anderen gängigen Materialien gemacht sind, so ähnlich wie unsere Wagen.

Bis morgen Abend werden wir uns komplett in Neuabsalom eingerichtet haben, und dann wird es ein Fest mit einem großen Feuer geben, um den Winteranfang zu feiern, aber heute Abend sind wir still und erschöpft und müssen uns erst noch in der gewaltigen Felsenfestung einleben, die wir Everetts Palast nennen – der Name ist hängengeblieben, wie das solche versponnenen Bezeichnungen manchmal tun. Trotz seiner großzügigen Ausmaße lässt sich der Palast mit kleinen Feuern gut heizen, und er hält die Wärme auch lange. Ich wickle mich in meine Decken ein und tue so, als würde ich schlafen, obwohl mir das in Wahrheit vermutlich schwerfallen wird.

Morgen werde ich das erste Mal mit den Fährtensuchern reiten, die der Karawane immer vorauseilen, um den Weg zu erkunden und Gefahren zu beseitigen. Rae hat ein großes Aufsehen darum gemacht, als sie von dem Beschluss gehört hat, auch wenn sie gar kein Recht dazu hat. Jedem Mitglied der Koda ist es gestattet, zu Beginn seines dreizehnten Winters ein Fährtensucher zu werden und so lange zu bleiben, wie die anderen es erlauben. Aber wenn es nach Rae gegangen wäre, würde ich weiter bei den Wagen bleiben, etwas anderes lässt sie nicht gelten. Mit dem Temperament meiner Schwester ist nicht zu spaßen, aber das war das einzige Mal, dass ich sie vor Wut habe kochen sehen. Sie hätte mich für immer auf Baby aufpassen und die Unterwäsche von allen waschen lassen, wenn nicht Schnitter Thom sie endlich überzeugt hätte. Seitdem herrschen Spannungen zwischen uns. Ich weiß nicht, warum sie sich einbildet, sich über die Gesetze der Koda hinwegsetzen zu können. Rae war ganze zwei Monate jünger als ich, als sie sich das erste Mal den Fährtensuchern angeschlossen hat, und sie zählt inzwischen zu den besten. Ich möchte genauso gut werden und habe viele schlaflose Nächte damit verbracht, darüber nachzugrübeln, wie ich dieses erhabene Ziel erreichen werde.

So bin ich überrascht, als ich aufwache und feststelle, dass schon die halbe Nacht verstrichen ist. In den oberen Kammern, die wir uns mit einigen von den Hollis’ teilen, ist es bis auf den Schein der letzten Glut dunkel. Ich liege da und lausche auf die ruhigen Atemzüge der Schlafenden. Dann höre ich etwas anderes, eine Art metallisches Knirschen, und bemerke, dass Raes Bett unberührt ist.

Ich finde sie am Fenster im Flur, wo sie hinaus in die klare Nacht blickt. Zunächst bin ich mir sicher, dass sie mich nicht gesehen hat, aber dann sagt sie: »Hey, Sonnenschein. Was ist los? Nicht müde?«

Die Fenster der Pilzhäuser wirken dünn und wenig solide, aber sie sind härter als jedes Glas, das ich je gesehen habe. Draußen hat es aufgeklart, sodass helles Mondlicht in den Flur fällt. »Ist der Sturm vorüber?«

»Noch nicht ganz. Er legt nur eine kleine Pause ein.«

»Gibt es Mondbabys?« In dem Moment, in dem ich es aussprach, bereute ich es auch schon. Mondbabys sind bunte Lichtblüten, die man in klaren Nächten in der Nähe des Mondes sieht, oft begleitet von Engelsstichen, Spatzenfeuern und ähnlichen Erscheinungen. Die wenigen Male, die ich ein solches Spektakel gesehen habe, kann ich an einer Hand abzählen. Es heißt, in Neuabsalom würde man sie öfters sehen, aber vermutlich ist das nur ein weiterer Aberglaube, der diesen Ort umrankt. Und ich fürchte, durch meine Frage gezeigt zu haben, was für ein dummes kleines Mädchen ich noch bin, wo ich doch das Gegenteil zu beweisen versuche.

»Nur der gute alte Mond«, sagt Rae.

»Was machst du dann hier?«

Sie dreht sich lächelnd zu mir um. »Über den Winter nachdenken. Da ist ein Buch mit Geschichten, das ich beenden möchte. Und ich glaube, dass ich ein Schachspiel für Baby schnitzen werde.« Sie seufzt glücklich. »Morgen ist dein großer Tag. Geh zurück ins Bett. Ich komme gleich nach.«

Rae ist in guter Stimmung, die Kabbeleien der letzten Tage scheinen vergessen. Mein Zorn verraucht meist nicht so bald, doch wie alle Leidenschaften meiner Schwester ist ihre Fröhlichkeit ansteckend, und ich krieche unter meine Decke. Dabei merke ich, wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht schleicht.

Erst als ich schon beinahe die Grenze zum Schlaf überschritten habe, fällt mir wieder das Geräusch von knirschendem Metall ein, das mich aus dem Bett geholt hat; ein Bild von Rae taucht vor meinen Augen auf, und ich sehe die Pistole in ihrer Hand, und ich höre das Ratschen des Abzugs, den sie wieder und wieder betätigt.

4

Naomi

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist der Morgen angebrochen, und ich bin umgeben von leerem Bettzeug und kalter Asche, bereit für den Tag. In der großen Halle sitzen bereits alle an langen Tischen und verschlingen lautstark Pfannkuchen. Die meisten werden ihren Tag damit verbringen, die Stadt freizumachen, was schwere Arbeit bei großer Kälte bedeutet, aber jeder ist begierig, damit anzufangen. Ich entdecke einen Platz neben Baby Adam und habe schon einen seiner Pfannkuchen annektiert, bevor er meine Ankunft überhaupt mitbekommt.

»Den gibst du zurück!«, ruft er und greift danach.

Mit vollem Mund spiele ich die Verwirrte. »Was zurückgeben, Baby?«

»Ich bin kein Baby!« Inzwischen habe ich genug von seiner Mahlzeit gemampft, dass er sie nicht mehr zurückhaben möchte, also versucht Baby stattdessen, mich zu beißen. »Und du bist eine große, alte Zicke, Frau Zicke!« Wir haben alle Namen für die anderen Familienmitglieder, und das ist Babys Name für mich.

»Vorsicht, kleiner Mann. Du hast nicht so viele Schwestern, dass du es dir leisten könntest, sie einfach aufzufressen.« Rae trifft mit einem großen Stapel Pfannkuchen ein, die alle nur so vor Ziegenbutter und karamellisiertem Zuckersirup triefen. Sie ersetzt Babys verlorenen Pfannkuchen und stellt den Rest vor mir ab. Ich schlage begeistert zu, weil ich völlig ausgehungert bin und es außerdem kaum erwarten kann, loszugehen. Doch als ich fertig bin, besteht Rae darauf, dass ich erst ein großes Glas Ziegenmilch trinke, bevor ich gehen darf. Sie behauptet, dass ich die Energie benötige. Ich bin so nervös, dass ich es sogar versäume, sie darauf hinzuweisen, dass ich für mich selbst sorgen kann, vielen Dank auch. Ich stürze das Glas in einem Zug hinunter und renne los, um meine Stiefel sowie mein Woll- und Lederzeug anzuziehen, dann laufe ich zurück in die Halle.

Mama wartet mit zwei Päckchen auf mich und Rae, jedes enthält eine Mahlzeit mit hart gekochten Eiern und einem Sandwich mit einer dicken Scheibe Schinken und nicht wenig Fett, einer Flasche Milch und einer Flasche Whiskey, plus Decken für den Fall, dass wir es heute Nacht nicht zurückschaffen. Sie gibt Rae ihr Päckchen und meine Schwester beugt sich vor, um einen Kuss auf die Stirn zu erhalten. »Komm zurück zu mir, mein süßes Mädchen«, sagt Mama.

»Das werde ich«, antwortet Rae sanft.

Mama nimmt mir den Hut ab, um mich auf den Kopf zu küssen. Wir beide sind von ähnlicher Farbe, sommersprossig, mit Augen und Haar so dunkel wie Kaffee, wobei der von Mama einen die ganze Nacht wach halten würde, während meiner milchiger ist und nicht so stark. »Komm zurück zu mir, mein Schatz«, sagt sie.

»Das werde ich, Mama.«

Das ist kein einfach so dahingesagtes Versprechen oder eine nutzlose Segnung. Es ist die Pflicht der Fährtensucher, unsere Koda vor Bedrohungen zu bewahren, indem sie sich ihnen als Erste entgegenstellen. Wenn vor den sicheren Grenzen unseres Lagers Gefahr lauert, werden die Fährtensucher das Schlimmste abwenden. Dieses Jahr hatten wir das Glück, keine einzige Seele zu verlieren, auch wennTimothy Sullivan bei der Sommerzusammenkunft ein armes, törichtes Mädchen davon überzeugte, ihn zu heiraten, woraufhin er unsere Koda für sie verließ. Aber sollten wir je vergessen, dass Trennungen nicht immer so freudig verlaufen, haben wir die Tafeln als Mahnung.

Es sind große hölzerne Tafeln, in die all die Namen jener Freunde und Angehörigen geschnitzt sind, die uns durch Krankheit, Kälte oder Feinde genommen wurden. Unter diesen Namen befinden sich drei, die Rae selbst geschnitzt hat: Everett Ochre, unser Vater, und die unseres Bruders Jesse und unserer Schwester Delilah. Alle drei starben vor acht Jahren bei einem Überfall der Blattmantelkrieger. Die Tafeln sind aufklappbar wie Schränke und haben Regale, auf denen Kerzen, Bilder, Spielzeuge und andere Erinnerungsstücke stehen. Niemand verlässt die Sicherheit unseres Lagers, ohne sie zuvor zum Segen zu berühren. Die Geschichte unserer Koda ist größtenteils auf diesen Tafeln festgehalten, und während ich Rae aus der großen Halle folge, streicht meine Hand über die hölzerne Maserung, und ich spüre die Wärme der Erinnerung unter meinen Handflächen.

Die anderen Fährtensucher warten bei den Gewehrständen, die sich unter dem Gewölbe von Everetts Palast befinden. Sie johlen und machen Witze, während sie ihre Gewehre schultern. Ich halte mich zurück, um niemandem im Weg zu stehen. Plötzlich bereue ich, Baby das Frühstück geklaut zu haben. Jetzt fühle ich mich selbst wie ein Baby, unsicher, wie ich dazugehören soll. Rae rempelt und lacht mit dem Rest, aber als sie sich mir zuwendet, sehe ich, dass sie meine Waffe unter ihrem Arm trägt.

»Habe es heute Morgen sauber gemacht«, sagt sie und präsentiert mir das Gewehr. »Und das ist für dich.« In ihrer anderen Hand hält sie einen Revolver mit sechs Schuss, ganz neu und trübe schimmernd, mit einem fein gearbeiteten Holzgriff.

»Wo hast du den her?«, frage ich ehrfurchtsvoll. Ich hatte damit gerechnet, mich mit einem der alten, rostigen Dinger rumschlagen zu müssen, mit denen ich geübt habe.

»Aus der Gemeinde, in der wir vor ein paar Tagen waren.« Rae ist sichtlich mit sich selbst zufrieden und das aus gutem Grund. Die Stadtmenschen sind äußerst knauserig, wenn es um ihre Waffen geht, und ihnen auch nur das kleinste Luftgewehr abzuschwatzen, ist ein ebenso langwieriges wie teures Unterfangen.

»Aber wie hast du das bezahlt?«

Sie schenkt mir ein schnelles und keckes Lächeln. »Das ist mein Geheimnis. Na los, leg sie an.« Zur Pistole gehört ein Holster aus Leder, und Rae hilft mir, es an meinem Gürtel zu befestigen. Die Waffe hängt schwer daran, einschüchternd und gleichzeitig beruhigend. »Gutes Mädchen«, sagt Rae, als ich fertig bin. »Und jetzt geh und sattel Jumbo.«

Rae muss gewusst haben, wie ich mich bei der Aussicht fühle, Jumbo zu reiten; vermutlich hat sie mir deshalb mein Geschenk zuerst gegeben. Ich stelle mir oft vor, mit den Fährtensuchern draußen zu sein, und immer sitze ich auf einem flinken und mutigen Ross – Sherlock, Wolke, Roadster oder Raes Neidmähne. Jumbo ist ein plumpes, grau gesprenkeltes, robustes und verlässliches Pferd, aber nicht für schnelle Aktionen geeignet. Rae behauptet, dass er zu den weisesten Tieren gehört, die sie je gekannt hat, mir kommt er aber eher träge und neunmalklug vor.

In meinen zwölf Lebensjahren habe ich nur eine Gewissheit über Pferde gewonnen: Wenn sie die Wahl hätten, würden sie dich lieber nicht auf dem Rücken haben. Es sei denn, du bist Rae – meine Schwester zu tragen, scheinen sie als Privileg zu empfinden. Es dauert ein wenig, bis Jumbo und ich auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Ich möchte, dass er sein Zaumzeug annimmt, während er lieber unter meinen Hut gelangen möchte, um an meinen Haaren zu knabbern. Sehr zu meiner Demütigung kommt Rae mir zu Hilfe. Von ihr akzeptiert Jumbo das Zaumzeug, als wäre es ein kandierter Apfel.

»Du tust, was ich dir sage, es sei denn, Thom sagt dir etwas anderes«, weist sie mich ein, während wir uns zu den anderen Fährtensuchern gesellen. »Mit zwölf bist du noch nicht zu alt, um den Hintern versohlt zu bekommen, und falls Mama hört, dass du es vermasselt hast, kannst du froh sein, wenn es dabei bleibt.«

»Das werde ich nicht«, murmle ich, wütend darüber, dass Rae glaubt, diese Warnung sei notwendig. Winterausflüge sind so eine Art Eignungstest für neue Fährtensucher, und wenn ich mich als Belastung erweise, werde ich nicht bleiben dürfen, wenn wir im Frühling wieder losziehen. Ich will mir meine Chancen nicht durch eine törichte oder leichtfertige Aktion verderben.

Die anderen neun Fährtensucher sitzen bereits alle auf ihren Pferden, ihre Packen und Gewehre sicher verstaut. Sie begrüßen Rae und machen mir Komplimente für meine neue Waffe. Aber ihre Ausgelassenheit verfliegt, als Schnitter Thom auftaucht.

Thom Mancebo ist der oberste Fährtensucher unserer Koda, ein Junggeselle in den Fünfzigern mit einem harten, zerfurchten Gesicht und einem Bart aus wildem schwarzem Draht. Ganz gleich, wie viele Räuber unsere Leute in den letzten Jahren erledigt haben, es ist nur ein Bruchteil der Feinde, die Thom selbst niedergemäht hat. Es heißt, er habe so viele Seelen zur Hölle geschickt, dass der Teufel ihm dafür eine Provision zahlen müsste. Er ist schrecklich, eindrucksvoll und gefährlich mit der Haltung eines ausgehungerten Löwen. Mir fallen keine zwei Menschen ein, die unterschiedlicher sind als Schnitter Thom und Rae, und doch stehen die beiden sich so nah wie Verwandte.

Schnitter Thom ist kein Mann großer Worte. Er sagt uns nur, dass wir bis zur Bergkette reiten und dass wir nicht übermütig werden sollen, nur weil wir das Gebiet größtenteils schon gestern ausgekundschaftet haben. Diese Berge werden von mehreren Stämmen beansprucht, und ein einzelner Reiter der Vorhut reicht aus, um eine ganze Kriegspartei nach Neuabsalom zu locken. Blattmantel, Downeasters, What-Whats und Niagaras sind alle in den letzten Jahren gesichtet worden, und angesichts des anbrechenden Winters wird kein Stamm sich die Gelegenheit entgehen lassen, unsere Lager zu plündern.

»Ich möchte, dass ihr wachsam seid. Sämtliche Mätzchen müsst ihr euch für heute Abend aufheben«, knurrt Thom. »Sally Fischer hat drei Fässer ihres Spezialgebräus vorbereitet und versprochen, dass auf jeden von euch ein Krug wartet. Wenn ich den Eindruck gewinne, dass hier jemand schon feiert, bevor dieser Zapfhahn eingeschlagen ist, wird er zu Fuß und ohne Stiefel nach Neuabsalom zurückkehren. V