Die Novemberrevolution - Norbert Fiks - E-Book

Die Novemberrevolution E-Book

Norbert Fiks

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Beschreibung

In der ostfriesischen Kleinstadt Leer hat sich, wie in vielen anderen Städten Deutschlands, am 9. November 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Unter der Führung des Tischlergesellen und Gewerkschafters Conrad Bruns bestimmte er bis März 1919 die Geschicke in der Stadt. Arbeiter, in der Stadt stationierte Soldaten und Teile des Bürgertums versuchten in Zusammenarbeit mit dem städtischen Magistrat als Revolutionäre wider Willen, in der Stadt "Ruhe und Ordnung" aufrechtzuerhalten, nachdem der Krieg verloren gegangen und die Monarchie zusammengebrochen war.

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Norbert Fiks, Jahrgang 1957, ist Journalist und lebt seit 1988 in Leer. Er schreibt Sachbücher zu historischen Themen und Science-Fiction-Storys. Er bloggt unter blog.fiks.de.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Machtübernahme

Räte im Kreisgebiet

Das Bürgertum reagiert

Die Republik Oldenburg-Ostfriesland

Aufgaben des Arbeiter- und Soldatenrats

Der Sicherheitsdienst

Ein wenig Normalisierung

Neue Soldaten in der Stadt

Konflikte mit der Bürgerschaft

Konflikt mit dem Kreisbauern- und Landarbeiterrat

Parteienbildung nach dem Krieg

Die Wahl zur Nationalversammlung

Die Wahl des Bürgervorsteherkollegiums

Das Ende des Arbeiter- und Soldatenrats

Zusammenfassung

Anhang

Lebensmittelunruhen

Die Garnison in Leer

Zeittafel

Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrats vom 10.11.1918

Verzeichnis der Personen und Gremien

Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung und zur Preußischen Landesversammlung

Literaturverzeichnis

Vorwort

„Der 9. und 10. November werden in unserer Stadt für immer unvergessen bleiben.“ Nichts beschreibt besser als dieser Satz aus dem Leerer Anzeigeblatt vom 12. November 1918, wie stark die jedermann erkennbaren Umwälzungen in den ersten November-Tagen die Menschen in der ostfriesischen Kleinstadt Leer bewegt haben. Aber er erwies sich schnell als Irrtum. Denn schon im November 1919 war der rote Stimmungsnebel längst verflogen und taugte nur noch für eine Randnotiz in der örtlichen Presse: „Ruhiger fast als jeder andere Tag ist in unserer Stadt der Jahrestag der Revolution verlaufen“.

Heute, ein Jahrhundert später, erinnert in der Stadt nichts mehr an jene aufregenden Wochen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs, um die es in diesem Text geht. Er versteht sich in erster Linie als Spurensicherung. Er soll helfen, die Ereignisse, die zwischen diesen beiden Zitaten liegen, vor dem Vergessen zu bewahren und ihren Stellenwert in der städtischen Geschichte zu ergründen. Gleichzeitig kann die Darstellung der örtlichen Ereignisse auch einen kleinen Beitrag zum Verständnis des Revolutionsverlaufs insgesamt liefern.

Die Novemberrevolution ist zurecht als eine der folgenreichsten Zäsuren der jüngsten deutschen Vergangenheit bezeichnet worden. Dem deutschen Volk bot sich nach dem Zusammenbruch des monarchistischen Obrigkeitsstaats erstmals die Chance, die Zukunft frei nach demokratischen Prinzipien zu gestalten. Den Menschen war bewusst, dass sie an der „Gestaltung des neuen Vaterlandes“ mitwirkten, es muss eine ganz besondere Spannung und Aufregung in der Stadt geherrscht haben, die wir heute nicht mehr nachempfinden können. Die Chance haben die Menschen nicht genutzt oder nicht nutzen können, nur 14 Jahre später herrschte der Nationalsozialismus, der in besonderem Maße daran beteiligt war, die Revolution und ihre Errungenschaften in Misskredit zu bringen und zu verraten.

Auf eine umfassende Darstellung der überregionalen Ereignisse wurde verzichtet. Die Beschränkung auf eine allgemeine Einführung und gelegentliche Verweise auf das, was andernorts geschah, ist nicht nur in der Arbeitsökonomie begründet: Es zeigt sich nämlich, dass die überregional bedeutsamen Ereignisse – sei es der Austritt der Unabhängigen Sozialdemokraten aus dem Rat der Volksbeauftragten am 29. Dezember 1918 oder die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 – sich nicht erkennbar in der örtlichen Politik niederschlugen, gleichwohl darüber ausführlich in der lokalen Presse berichtet wurde.

Hier ist auch nicht der Ort, auf die Forschungsgeschichte einzugehen oder die Diskussion darüber, ob Deutschland in den Novembertagen 1918 tatsächlich eine Revolution erlebt hat, auch nur zu skizzieren. Im Verständnis der Zeitgenossen war es eine, von Beginn an ist sogar von einer „deutschen Revolution“ die Rede. Das rechtfertigt die Verwendung des Begriffs; auf eine Definition des Revolutionsbegriffs wird verzichtet.

Es ist versucht worden, alle mit einem vertretbaren Aufwand erreichbaren Quellen heranzuziehen und auszuwerten. Dennoch lässt sich ein einseitiger Blick auf die Ereignisse nicht vermeiden. Die Darstellung beruht größtenteils auf den Akten der Stadtverwaltung von Leer und des Regierungspräsidenten in Aurich sowie den Berichten der beiden örtlichen Zeitungen, dem liberalen „Leerer Anzeigeblatt“ (LAB) und dem konservativen „Allgemeinen Anzeiger für Ostfriesland“ (AA).

Der Arbeiter- und Soldatenrat hat so gut wie keine eigenen Dokumente hinterlassen. Was noch vorhanden ist, stammt aus den Behördenakten und bezieht sich fast ausschließlich auf den Geschäftsverkehr zwischen dem Rat und der städtischen Verwaltung.

*

In der 2., durchgesehene Ausgabe zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution sind gegenüber der Erstveröffentlichung nur einige kosmetischen Änderungen vorgenommen worden.

Einleitung

Von Dr. Heiner Schröder

Im August 1918 geht der Erste Weltkrieg in sein fünftes Jahr. Die Deutschen leiden. Sie hungern, vor allem in den Städten. Unter diesen Umständen grassieren Schleichhandel und Wucher. Hinzu kommt der unvermeidliche Unterschied in der Lebensmittelversorgung zwischen der Masse der Städter und der Landbevölkerung. 2280 Kalorien hat das Reichsgesundheitsamt als Mindestbedarf pro Tag festgesetzt, im Sommer 1917 reichen die rationierten Lebensmittel nur noch für 1000 Kalorien.

Trotz wachsender Kriegsmüdigkeit gibt es nur vereinzelt Zweifel daran, dass der Krieg zu einem guten Ende für das deutsche Kaiserreich führt. Solange das der Fall ist, stellt kaum jemand die Monarchie in Frage. Die Soldaten stehen tief in Frankreich, sind trotz jahrelangen Grabenkriegs immer noch nur einige Tagesmärsche von der Hauptstadt Paris entfernt. Drei Offensiven seit Beginn des Jahres haben die Truppen näher an ihr Ziel gebracht, auch wenn es nie erreicht wird.

Eine vierte Offensive soll die Entscheidung erzwingen. Aber bevor es dazu kommt, reißen die Alliierten die militärische Initiative an sich.

Sie greifen am 8. August 1918 mit Tanks, den ersten Panzerwagen, an und durchbrechen die deutschen Linien. Zwar gelingt es den deutschen Truppen mit Mühe, die Lücke zu schließen. Aber von Offensive spricht in der Heeresleitung unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff niemand mehr. Das Eingreifen der Amerikaner bringt die Einsicht, dass der Krieg verloren ist. In seinen Erinnerungen schreibt Ludendorff: „Der Krieg war zu beendigen.“

Aber im September spitzt sich die militärische Lage durch den Zusammenbruch der deutschen Verbündeten derartig zu, dass die Armeeleitung von der Politik den Waffenstillstand fordert. In der Hoffnung auf einen „gerechten“ Frieden erfüllt das die Forderung von US-Präsident Wilson nach einer Demokratisierung. Schon im Januar 1918 hat Wilson 14 Punkte genannt, die für einen dauerhaften Frieden erfüllt sein müssen. Wilson ist überzeugt, dass ein solcher Friede nur wischen Staaten möglich ist, „deren Regierungen Ausdruck der Volksmeinung seien“. Das ist in Deutschland noch nicht der Fall. Für das Deutsche Reich bedeutet das: Wenn es den Krieg beenden will, muss es ein parlamentarisches Regierungssystem einführen und das Dreiklassenwahlrecht in Preußen abschaffen.

Sogar Ludendorff erhebt angesichts der aussichtslosen militärischen Lage diese Forderung. Tatsächlich gesteht das preußische Herrenhaus dem Volk das allgemeine und gleiche Wahlrecht zu, Reichskanzler Georg Graf von Hertling tritt am 3. Oktober 1918 zurück, der Liberale Prinz Max von Baden wird sein Nachfolger, mit Philipp Scheidemann rückt erstmals ein Sozialdemokrat als Staatssekretär in die Regierung, der Gewerkschaftsführer Gustav Bauer wird Leiter des neugebildeten Reichsarbeitsamtes. Die gemäßigten Spitzen der Mehrheits-SPD und der Gewerkschaften haben damit ihr Ziel erreicht. Sie wollen keine Revolution, sondern eine parlamentarische Demokratie mit einem Monarchen.

All das geschieht aber unter dem Eindruck der militärischen Niederlage. Direkt nach dem Amtsantritt des neuen Reichskanzlers informiert die Oberste Heeresleitung über die militärische Situation, diesmal ohne die Illusionen, die bislang aufrechterhalten worden sind, um den Kriegswillen der Bevölkerung nicht zu schwächen. Am 4. Oktober 1918 geht das deutsche Waffenstillstandsgesuch an die Alliierten heraus, die sich Zeit lassen und erst am 23. Oktober antworten. Denn jeder Tag verändert die Kriegslage zu Gunsten der Alliierten. Die amerikanische Antwort ist praktisch die Forderung nach einer Kapitulation. Das geht der Obersten Heeresleitung plötzlich zu weit. Sie lehnt die Kapitulation ab. Die Konsequenz: Die Monarchie hat den Krieg begonnen, die Demokratie muss ihn beenden.

Erst in dieser Phase, Ende Oktober 1918, beginnen die Prozesse, die in Deutschland eine Revolution auslösen. Eine Woche nach der Kapitulationsforderung der Alliierten befiehlt die Leitung der Marine, die Entscheidungsschlacht in einem bereits verlorenen Krieg zu suchen.

Kaiser Wilhelm II. billigt diese Entscheidung, die neue Regierung nicht. Auch die Soldaten weigern sich. Denn im Unterschied zum Heer, das in jahrelangen Grabenkämpfen eine besondere Kameradschaft entwickelt hat und in dem offenbar ein zumindest respektvolles Verhältnis zwischen Soldaten und Offizieren besteht, gibt es in der Marine Spannungen. Jahrelang lagen die kaiserlichen Schiffe praktisch tatenlos in den Häfen, der Alltag auf den Schiffen war langweilig, die Privilegien der Offiziere wirkten sich verheerend auf die Stimmung aus. Nur so ist zu erklären, dass im Kriegshafen Wilhelmshaven Matrosen die Befehle zum Auslaufen verweigern. Es gibt Auseinandersetzungen, noch einmal setzen sich die Offiziere durch, sie lassen die Meuterer festnehmen. Aber die Entwicklungen können sie nicht mehr stoppen.

Am 3. November 1918 verlangen die Besatzungen der in Kiel liegenden Kriegsschiffe die Freilassung ihrer Kameraden in Wilhelmshaven.

Sie verbinden damit keine politischen Forderungen, sondern wollen nur Verbesserungen im dienstlichen Alltag. Sie organisieren eine Demonstration an Land und suchen den Kontakt mit der Garnison und den Werftarbeitern. Dabei kommt es offensichtlich zu einer Politisierung der Matrosen. Die Lage spitzt sich zu, als es beim Zusammenstoß mit einer Militärpatrouille Tote gibt. Auch der Offizier, der die Patrouille anführt, stirbt.

Für die aufbegehrenden Soldaten gibt es jetzt kein Zurück mehr.

Einen Tag später wehen auf den Kieler Schiffen die roten Fahnen, die Einheiten wählen aus ihrer Mitte ein kollegiales Gremium, das sie nach dem Vorbild der russischen Räte (Sowjets) Soldatenrat nennen.

Am 5. November wird ein Arbeiterrat aus den Obleuten der Kieler Großbetriebe, aus 14 Vorstandsmitgliedern der beiden sozialistischen Parteien USPD und Mehrheits-SPD und dem Vorsitzenden des Gewerkschaftskartells gebildet.

Die Bewegung ist nicht geplant. Mehr oder weniger spontan bilden sich in der Umgebung von Kiel und dann im ganzen Norden Arbeiter- und Soldatenräte. Am 6. November gibt es sie in Kiel, Hamburg, Bremen, Lübeck, Wilhelmshaven, Emden und anderen größeren Städten.

Leer gehört zu den zahllosen Orten, in denen am 8. und 9. November 1918 Arbeiter- und Soldatenräte entstehen. Die SPD spürt, was sich im Norden anbahnt. Die Parteizentrale schickt ihren Militärfachmann Gustav Noske nach Kiel. Er kann die Arbeiter und Soldaten aber nicht davon überzeugen, die Entscheidungen der neuen Regierung anzuerkennen. Noske lenkt ein und erkennt den Kieler Rat als „provisorische Leitung für Schleswig-Holstein“ an. Die Taktik ist vorerst erfolgreich: Der Abgesandte aus Berlin wird von den Vertrauensleuten der Kieler Schiffe zum Gouverneur gewählt.

Schon in der Anfangsphase wollen die Arbeiter- und Soldatenräte keine gesamtgesellschaftlichen Veränderungen. Ihnen geht es vorrangig um eine tiefgreifende Reform des Militärapparats und darum, Ruhe und Ordnung in der Bevölkerung wiederherzustellen. Davon zeugen die in diesen Tagen vorgelegten Forderungskataloge. Als die Friedensbedingungen der Alliierten bekannt werden und eine Welle der nationalen Empörung durch das einige Wochen vorher noch siegessichere Deutschland rollt, marschieren die meisten Arbeiter- und Soldatenräte vorneweg. „Vaterlandslose Gesellen“, wie der Kaiser einst die organisierten Arbeiter im Kaiserreich nannte, sind die Mitglieder der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte in ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl nicht.

Die kaiserliche Verwaltung leistet der Bewegung kaum Widerstand.

„Ich hätte nie für möglich gehalten, dass diese Leute so glatt umfallen“, kommentiert Scheidemann in einer Sitzung des engeren Kriegskabinetts die Haltung der Beamtenschaft. Meist unterstellen sich die kommunalen Verwaltungsspitzen schnell den Arbeiter- und Soldatenräten. Selbst die besonders kaisertreue Polizei Berlins widersetzt sich nicht.

Kaiser Wilhelm II. muss unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Armee zurücktreten. Zwar zögert er, aber Reichskanzler von Baden verkündet einfach am 9. November die Abdankung des Monarchen, der in die Niederlande ins Exil geht.

Noch am selben Tag überträgt von Baden dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Friedrich Ebert, das Amt des Reichskanzlers. Eine spontane Handlung von Badens, die nicht durch die Verfassung legitimiert ist. Die Sozialdemokratie hat die Macht in Deutschland übernommen, oder besser: verliehen bekommen. Das ist die eigentliche Revolution dieser Tage, der lautlose Übergang zur Demokratie, repräsentiert von den nur wenige Jahre vorher staatlich verfolgten Sozialdemokraten. Führende Politiker von Mehrheits-SPD und USPD bilden den Rat der Volksbeauftragten, eine Art Übergangsregierung, die gleich die Annahme der Waffenstillstandsbedingungen billigen muss.

Die Mehrheits-SPD hat starken Rückhalt in der Rätebewegung. Das zeigen die Tage zwischen dem 16. und 21. Dezember 1918. Beim Ersten Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin sind rund 300 der 514 Delegierten aus ganz Deutschland Mehrheitssozialdemokraten. Der Kongress entscheidet sich daher für eine frühe Wahl der Nationalversammlung und gegen eine von radikalen Kräften in der USPD geforderte Räterepublik. Damit liegen die Arbeiter- und Soldatenräte auf der Linie der Reichsregierung unter Reichskanzler Ebert.

Die Reform des Militärapparats, die am Anfang der deutschen Revolution stand, verliert im Laufe der dramatischen Wochen zwischen Oktober 1918 und dem Frühjahr 1919 an Bedeutung. Zwar beschließt der Rätekongress in Berlin mit den Stimmen der Mehrheits-SPD die so genannten Hamburger Punkte, die unter anderem die Wahl der militärischen Führer durch die Soldaten und die Abschaffung der Rangabzeichen fordern. Aber die Regierung Ebert folgt der neuen Reichswehrspitze, die das ablehnt. Im Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 6. März 1919 tauchen die Forderungen der Soldaten überhaupt nicht mehr auf. Zu dieser Zeit spielen die Arbeiter- und Soldatenräte in der sich formierenden Weimarer Republik längst keine Rolle mehr.

Die Machtübernahme

Die Revolution kommt aus Emden nach Leer. Am Abend des 8. oder im Laufe des 9. November 1918 quartieren sich 20 Delegierte des Arbeiter- und Soldatenrats Emden „zur Veranstaltung der Revolution“ im Hotel Erbgroßherzog in der Mühlenstraße ein. Gastwirt Buschmann wird der Stadt für den mehrtägigen Aufenthalt später eine Rechnung über 752 Mark präsentieren.

In der Stadt Emden, die während des Krieges zu einem für den militärischen Küstenschutz wichtigen Marine-Stützpunkt ausgebaut wurde, hat sich der Soldatenrat bereits am 6. November zunächst unbemerkt von der Öffentlichkeit gebildet, gleichzeitig mit dem Soldatenrat in Wilhelmshaven. Am 8. November tritt der Emder Arbeiter- und Soldatenrat erstmals an die Öffentlichkeit und übernimmt, wie es in einer am selben Tag veröffentlichten amtlichen Bekanntmachung heißt, „die vollziehende Gewalt“ in der Stadt.

Die Anwesenheit der Emder Soldaten in der Stadt, die Nachrichten über die Ausbreitung der „deutschen Revolution“, wie ein Artikel im Leerer Anzeigeblatt am 9. November, einem Sonnabend, überschrieben ist, die Unsicherheit über den erwarteten Waffenstillstand, die aus Emden, Wilhelmshaven und Oldenburg sickernden Informationen und Gerüchte sorgen für Unruhe in Leer. Vielleicht hat sich in der kleinen Garnison, die aus dem Landsturm-Ersatzinfanteriebataillon X/23 und einem Reservelazarett besteht, schon ein Soldatenrat gebildet. Bürgermeister Emil Helms und der Vorsitzende des Bürgervorsteherkollegiums, Bürgerworthalter Dr. Heinrich Klasen, warnen davor, „haltlose(n) Gerüchte(n)“ Glauben zu schenken. Sie appellieren in einer ebenfalls am 9. November erscheinenden Zeitungsanzeige an die Bevölkerung, „Ruhe und Ordnung“ aufrechtzuerhalten.

Das von Dettmer Heinrich Zopfs herausgegebene Leerer Anzeigeblatt stößt ebenfalls am 9. November ins gleiche Horn: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“, laute „das Gebot der Stunde“, das „strengstens zu beachten“ sei. Man hat noch die Hoffnung, dass der Kelch der Revolution an der ostfriesischen Kleinstadt vorbeigeht, dass die „Umbildung der Dinge“ woanders stattfindet: „Vielleicht werden wir hier nichts merken“, macht Zopfs seinen Lesern Mut. Aber die Unsicherheit ist greifbar: „Sollte es aber doch sein, daß irgendwelche soldatisch-militärischen Ereignisse eintreten, so wird die Bürgerschaft in keiner Weise davon betroffen sein.“

Die Appelle an „unsere Einwohner in Leer und Leser dieser Zeilen. . ., sich durch nichts beirren zu lassen und die Ruhe zu bewahren“, sind angesichts der Kraft der Revolution nicht mehr als ein zaghafter Versuch der Gegenwehr. Noch am selben Nachmittag nämlich versammelt sich laut LAB „am Kriegerdenkmal, wo am Flaggenmast ein winziges rotes Fähnchen wehte, eine große Menschenmenge“. Neben einem Matrosen namens Kampen, angeblich aus Wilhelmshaven, der einen Forderungskatalog vorstellt, wie er ähnlich auch in anderen Städten verabschiedet wurde, spricht der Vorsitzende des örtlichen Gewerkschaftskartells, der Tischlergeselle Conrad Bruns. Auch er dringt darauf, „vor allen Dingen auf Ruhe und Ordnung“ zu sehen.