Die offene Gesellschaft - Stefan Brunnhuber - E-Book

Die offene Gesellschaft E-Book

Stefan Brunnhuber

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Beschreibung

»Ein höchst wertvoller Wegweiser.« Hartmut Rosa, Autor von »Resonanz« Wiederholt sich Geschichte? Aktuell verdichten sich die Anzeichen, dass wiederkehrt, was als überwunden galt: geschlossene, illiberale Gesellschaften, die sich vor allem über Ausgrenzung definieren. »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« – der Titel des Hauptwerks von Karl Popper – scheint aktueller denn je. Im Angesicht der Katastrophe wirkte die Veröffentlichung 1945 als politisches Signal. Was Popper darin verurteilte, waren geschlossene Ideologien – Gesinnungen also, die heute wiederkehren, ob in Trumps Amerika, Orbans Ungarn oder in der Türkei Erdogans. Handelt es sich dabei nur um ein vorübergehendes Phänomen oder erwächst hier Gefahr? Stefan Brunnhuber denkt Poppers Konzept für die Moderne weiter und plädiert für eine »Ordnung der Freiheit« als Voraussetzung dafür, auch morgen noch das Leben führen zu können, das eine große Mehrheit befürwortet.

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Stefan Brunnhuber
Die Offene Gesellschaft
Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnungim 21. Jahrhundert
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 oekom verlagGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Manuel SchneiderUmschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.deLayout, Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-551-4
Gewidmet meinem Mentor und Lehrer Sir Ralf Dahrendorf (1.5.1929–17.6.2009)sowie einer offenen Zukunft im 21. Jahrhundert
Nichts ist sicher, gar nichts, auch der Weg hin zu einer Offenen Gesellschaft nicht. Alle bisherigen Errungenschaften und vermeintlichen Etappensiege scheinen angesichts neonationalistischer Strömungen, Populismen und illiberaler und autokratischer Rhetorik zu zerrinnen. Nichts ist mehr sicher, wenn der öffentliche Diskurs durch wissenschaftsfeindliche Kampagnen, Fake News, ungeprüfte Großtechnologien und Totaldigitalisierung beherrscht wird. Und nichts ist mehr sicher, wenn diffuse Ausländerfeindlichkeit und Fundamentalismen die Deutungshoheit darüber haben, wie wir miteinander umgehen. Und nichts scheint mehr sicher, wenn Extremwetterlagen, Plastikvermüllung, die Zunahme von Elektroschrott, der Verlust an Biodiversität sowie extreme Einkommens- und Vermögensunterschiede uns die Sicht dafür nehmen, wie wir zusammenleben können.
Viele gesellschaftliche Bereiche, welche als »offen« galten, verschließen sich zunehmend wieder. Die Narrative von Linken und Rechten tragen nicht mehr, und auch die regressiven Antworten auf die zunehmende Komplexität, Unsicherheit und Orientierungsschwäche helfen nicht wirklich weiter. Und so kann man fragen: Was sind eigentlich offene gesellschaftliche Verhältnisse? Ist das alles nur ein schöner Traum von gestern oder eine Erinnerung an die Vergangenheit? Was hat es auf sich mit dem Konzept einer Offenen Gesellschaft? Wenn wir hier genauer hinsehen, ist die Offene Gesellschaft, welche der Sozialphilosoph Karl Popper vor über 75 Jahren am Ausgang des Zweiten Weltkrieges entworfen hat, eine gesellschaftspolitische Antwort auf die Zukunft und eine Vision für ein Zusammenleben auf diesem Planeten. Sie kommt uns als Spezies Mensch näher als all seine derzeit diskutierten Alternativen. Karl Poppers Sicht der Dinge ist an manchen Stellen unerwarteter, als man denkt. Auch wenn Sie als Leser*) vielleicht kein Spezialist oder Experte für die oben genannten Herausforderungen im engeren Sinne sind, so kann die Lektüre dieses Buches dennoch ein Gewinn sein. Dann nämlich, wenn Sie wissen wollen, was eine Offene Gesellschaft ist. Der vorliegende Essay ist aber kein Buch über andere Bücher und auch keine Theorie über andere Theorien, sondern vielmehr ein Übersetzungsversuch der Idee Karl Poppers ins 21. Jahrhundert. Die Offene Gesellschaft ist dabei fast wie eine regulative Idee aus der Zukunft, wie wir sie seit über 2400 Jahren nur von Platos Politeia – Πολιτεία – her kennen: eine politische Orientierung, wie wir zusammenleben können, wenn wir wollen. Denn von Anfang an soll gelten, dass die Chancen, welche sich hier ergeben können, genauso faszinierend sind, wie die Herausforderungen beängstigend sein können. So viel vorweg: Es geht in der Offenen Gesellschaft, welche immer unfertig und unvollkommen ist, schließlich immer um das richtige Verhältnis von Kritik, Freiheit und Ordnung. Wenn man dies alles konsequent zu Ende denkt, entstehen erstaunliche Aussichten.
Dresden Januar 2019Stefan Brunnhuber
*) Der Text bezieht sich immer auf Leserinnen und Leser, macht aber im Folgenden keine grammatikalische Unterscheidung zwischen den Geschlechtern.

Inhalt

1  Worum es jetzt im 21. Jahrhundert geht
2  Jenseits von links und rechts
2.1 Wir erzählen uns ständig Geschichten
2.2 Leben im Anthropozän
2.3 Die große Rückkopplung
2.4 Kritisches Denken in einem neuen Aggregatzustand
2.5 Die großen und vielen kleinen Feinde
3  Der Übergang
4  Die Offene Gesellschaft im 21. Jahrhundert
4.1 Der unveräußerliche Sixpack
4.2 Der autonome Mensch: Kritik, Freiheit und Ordnung
4.3 Institutionen: Von Regeln und Anrechten
4.4 Abwählbarkeit: Versuch, Irrtum und der offene Marktprozess
4.5 Bürgerliche Tugenden: Was verhindert und was verbindet
4.6 Negativer Utilitarismus: Die zwei Formen der Ungleichheit
4.7 Stückwerktechnologie: Politik auf Sicht
4.8 Die Schwächen der Offenen Gesellschaft
5  Transformation
Anhang
6  Leben Sie in einer Offenen Gesellschaft?
7  22 Merkmale einer Offenen Gesellschaft
8  Anmerkungen
9  Literatur (Auswahl)
10  Autor
1
Worum es jetzt im 21. Jahrhundert geht
Das vorliegende Buch ist ein Beitrag zur Initiative Offene Gesellschaft und will einen Diskussionsbeitrag zu der schlichten, aber doch bedeutsamen Frage leisten: Was ist eigentlich eine Offene Gesellschaft?1 Die kurze Antwort auf die Frage ist, dass die Offene Gesellschaft nicht nur ein Negativprogramm zu Totalitarismen, zu autokratischen Regimen und zum Populismus darstellt. Sie ist mehr als dies. Und warum haben wir Angst vor offenen gesellschaftlichen Verhältnissen? Weil wir Angst vor der Realität, der Zukunft und uns selbst haben.2 Und wenn wir genauer hinsehen, dann wird deutlich, dass die Offene Gesellschaft eine zwar unfertige, aber doch zeitgemäße, angemessene und demokratische Antwort auf geoökologische Grenzen, auf Digitalisierung, Globalisierung und auf die sozialen Herausforderungen im 21. Jahrhundert darstellt. Das sind alles große Themen, über welche bereits so viel geschrieben worden ist, dass man hier kaum etwas hinzufügen kann. Aber vielleicht leben wir in einem Zeitalter der Einseitigkeiten. So können wir beispielsweise über Globalisierung diskutieren, aber nicht in gleicher Weise über Regionalisierung; wir können die Erfolge disruptiver Technologien feiern, aber nicht in Ansätzen darüber diskutieren, wie eine hierzu veränderte soziale Lebenswelt aussehen müsste; wir können trefflich über Digitalisierung reden, aber es gelingt uns nicht, die sozialen und psychologischen Nebenwirkungen in den Blick zu nehmen; auf der Agenda aller parlamentarisch vertretenen Parteien stehen der expansive Wachstumspfad und Umverteilung ganz oben, wirkliche Alternativen dagegen nicht. Wir gehen dabei schnell mit der Idee fremd, dass es dazu eigentlich keine wirklichen politischen Alternativen gibt. Doch die gibt es! Eigentlich benötigen wir hier die hohe Kunst der Ambivalenztoleranz, das heißt die Fähigkeit, Gegensätze richtig und kritisch zusammenzudenken. Wie wir für diese Auseinandersetzung richtig ausgestattet sind, zeigt uns Karl Popper.
Zugleich ist die Offene Gesellschaft von Karl Popper ein genuin westlicher Beitrag gegen die eigene Sprach- und Orientierungslosigkeit und gegen den imperialen Drang, mit unserem Wohlstandsmodell den Rest der Welt zu beglücken. Der Frontabschnitt liegt also innerhalb von uns, gleichsam im toten Winkel. Was wir lernen müssten, ist, die richtigen Fragen zu stellen. Fragen wie etwa: – Wer soll regieren? oder Wie steigern wir den Wohlstand? oder Was ist eine gerechte Verteilung? – gehören nicht zum Repertoire der Offenen Gesellschaft. Das ist erstaunlich, aber wahr. Es sind andere Fragen, welche uns erst den Zugang zu dem ermöglichen, was offene gesellschaftliche Verhältnisse ausmacht. Dazu gleich mehr.
Karl Popper, der gelernte Tischler, Lehrer und Philosoph, hat das Konzept 1945 in die Diskussion eingebracht. Karl Popper stand zeitgeschichtlich unter dem Eindruck der verheerenden Auswirkungen des Faschismus und Stalinismus, also totalitärer Regime. Gleichzeitig markiert das Erscheinungsjahr das Ende des Zweiten Weltkrieges. Seither ist der Begriff vielfach rezipiert, besetzt und wohl auch missbraucht worden, von der politischen Rechten wie der Linken. Aber die Offene Gesellschaft lässt sich in diesen Kategorien gar nicht fassen. Sie steht gewissermaßen quer zur üblichen Links-rechts-Debatte. Sie ist darüber hinaus nicht identisch mit Markt, Rechtsstaat und Demokratie. Sie ist auch keine Negativkategorie zu all dem, was wir nicht wollen. Das ständige Gegen-etwas-zu-Sein hilft hier also auch nicht weiter. Sie beinhaltet stattdessen eine Reihe positiver Merkmale. Die Offene Gesellschaft bei Karl Popper steht folglich für ein positives Programm. Aber was ist das für ein Programm? Sicher ist wohl, dass jenes Programm für eine andere Zukunft steht, jenseits der bekannten Rhetorik und jenseits der rückwärtsgewandten Betrachtungen der Freunde einer geschlossenen Gesellschaft. Und obwohl sich seit 1945 die Formen des Zusammenlebens und die Herausforderungen für die Freunde der Offenen Gesellschaft in vielfacher Hinsicht geändert haben, kann man einen solchen Gesellschaftsentwurf im Originaltext bereits nachlesen. Zu den wichtigsten Veränderungen Anfang des jungen 21. Jahrhunderts gehören sicherlich Globalisierung, Digitalisierung, die Zunahme von sozio-ökonomischen Ungleichheiten sowie die geoökologischen Grenzen unseres westlichen Wohlstandsmodells. Zu all diesen Themen wird viel Gutes und Kluges geschrieben. In der Lesart von Karl Popper liegt die Bedeutung dieser Veränderungen darin, inwieweit sie offene oder eher geschlossene gesellschaftliche Verhältnisse fördern. Ist also die Kategorie der Offenen Gesellschaft aktuell und brauchbar genug, um Antworten im jungen 21. Jahrhundert zu geben? Was wäre dann das Narrativ der Offenen Gesellschaft? In den folgenden Kapiteln wird dies deutlicher. Man könnte etwa fragen: »Trägt Globalisierung oder Digitalisierung zur Offenen Gesellschaft bei, sind sozioökonomische Ungleichheiten förderlich, um eine Offene Gesellschaft zu vertreten, und welche Herausforderungen ergeben sich für uns, wenn wir in einer Offenen Gesellschaft leben wollen und zugleich auf ökologische Grenzen treffen?« Dies meint, die einzelnen Megatrends müssen sich vor dem Hintergrund ihres Beitrags zu offenen gesellschaftlichen Verhältnissen legitimieren.
Geschichten, die uns die Welt erklären sollen, entstehen aus einer evolutionären und anthropologischen Sicht immer dann, wenn etwas Selbstverständliches auf einmal erklärungsbedürftig wird: Kriege, Krisen, Katastrophen und Krankheiten gelten seit jeher als die zentralen Auslöser und Verursacher für diesen Zwang zum Narrativ. Historisch waren es vor allem extreme Naturereignisse (wie Blitze, Tsunamis, Erdbeben oder Fluten) sowie Infektionserkrankungen (wie Pest, Cholera, Aids), welche einen Erklärungsnotstand ausriefen. Das galt ex post, also rückwirkend, genauso wie ex ante, also vorausschauend. Wir suchen gegenüber all den faktischen Bedrohungen ständig eine Ordnung, eine Kohärenz; die Welt muss für uns Menschen berechenbarer sein und verstehbar bleiben, auch wenn das Narrativ falsch ist. Je besser die Geschichte allerdings ist, umso höher ist der Überlebensvorteil der Gruppe und der Gemeinschaft. Und dann ist die Frage: Was ist die Geschichte der Offenen Gesellschaft?
Diese Geschichte ist jedoch komplizierter. Denn gleichzeitig sind die Feinde der Offenen Gesellschaft unter uns, im Großen wie im Kleinen. Im Großen etwa, wenn es um einen interreligiösen Dialog, um neonationalistische Tendenzen geht, aber auch subtiler in den Auseinandersetzungen etwa um die richtige Medizin, die richtige Erziehung, das richtige Wirtschaften, den Einsatz der richtigen Technologien und der richtigen Wissenschaft. Im Kleinen, wenn sich die Feinde und Freunde der Offenen Gesellschaft tagtäglich begegnen, etwa in der Art und Weise, wie wir unsere Nachbarschaft leben, wie wir uns fortbewegen, ja mehr noch, was wir essen, wie wir beten, denken, wahrnehmen und sprechen. Karl Popper hat dies vor über 75 Jahren bereits gesehen. Als Übersetzungsvorschlag ins 21. Jahrhundert soll dieses Buch dienen.
Bekanntlich leben wir in einer ungewissen Welt, in der niemand die Deutungshoheit darüber hat, was falsch und was gerecht, was wahr und was gut ist. Es sind offene gesellschaftliche Verhältnisse, die diese unvollständige Suche ständig gewährleisten. Jene gilt es zu verteidigen und weiterzuentwickeln: offen und ehrlich, unaufgeregt und engagiert, klar, transparent und echt, unverfälscht und analog, live und in Farbe, angemessen, unparteiisch, fantasievoll, kreativ, mutig, authentisch und vor allem kritisch.
Es gehört wohl zu dem bleibenden Beitrag Karl Poppers, dabei immer wieder auf die menschliche Dimension der kritischen Auseinandersetzung verwiesen zu haben. Offene gesellschaftliche Verhältnisse setzen nämlich in einer ihr eigenen Form das kritische Potenzial des Menschen frei. Es ist nicht identisch mit dem dialektischen Vorgehen linker Philosophien, und es passt auch nicht mit dem reduzierten Kritikverständnis von Populisten, Verschwörungstheoretikern und Fundamentalisten zusammen. Kritik hat hier etwas bemerkenswert Selbstbezügliches und Strukturkonservatives,3 Subtiles und an manchen Stellen fast Scheues an sich. Ihr fehlt sicherlich auch das disruptive, chaotische und revolutionäre Moment, welches sich manche Aktivisten für die Veränderungen utopischer Gesellschaftsentwürfe wünschen. Karl Popper ist bescheidener.
Der kritische Rationalismus, was so viel heißt wie »Wir verwenden unseren kritischen Verstand, um in einer freieren, besseren Welt zu leben«, dieser kritische Rationalismus steht gewissermaßen als Philosophie hinter dem Konzept der Offenen Gesellschaft. Er lebt ganz wesentlich von der Einsicht, dass wir viel zu wenig wissen. Dass wir das wenige, das wir wissen, in seinen Auswirkungen meist nicht verstehen und kontrollieren können und zuallerletzt der Bewertungsvorgang selbst meist unvollständig oder gar falsch ist. Das heißt, jeder der kritisiert, muss wissen, was und wie er kritisiert, und sich der Konsequenzen der Kritik selbst bewusst sein. Karl Popper hat hier vor allem den Wissenschaftsbetrieb, die öffentliche Diskussionskultur, die Bedeutung von Institutionen und sein ihm eigenes Demokratieverständnis in der Pflicht gesehen. In anderen Worten könnte man auch sagen: Wir müssen uns endlich die Wahrheit sagen über das, was wir wirklich wissen, wie wir zusammenleben wollen und wie das alles im 21. Jahrhundert gehen soll. Und eine dieser Wahrheiten ist wohl, dass einiges aus dem Ruder gelaufen ist. Also mehr kritisch diskutierte Fakten als Fakes oder Fiktion und mehr wirkliche Debatten als Symbolpolitik.
Die Freunde der Offenen Gesellschaft treten genau für dieses Vorgehen ein, unaufgeregt und ehrlich, kohärent und standsicher, selbstkritisch und offen; zugleich aber neugierig und demütig, wissend, dass es immer nur ein kritisches Bewusstsein sein kann, welches uns offene gesellschaftliche Verhältnisse ermöglicht, dauerhaft sichern kann und um welches wir ständig ringen müssen. Geht uns nämlich diese Fähigkeit verloren und wird sie nicht ständig immer wieder neu auf die Probe gestellt, laufen wir Gefahr, dass wir als schweigende Mehrheit genau das verlieren, was uns unausgesprochen am Leben hält. Menschen, welche in einer Offenen Gesellschaft politisch eingeschlafen sind, laufen dann Gefahr, in einer geschlossenen Gesellschaft wieder aufzuwachen.
Die Idee ist nicht vollständig rezipiert, ohne darauf hinzuweisen, dass es historisch immer zu wenig Freunde der Offenen Gesellschaft gewesen sind und zu viele Feinde, welche das zivilisatorische Projekt von Freiheit und Ordnung zu Fall gebracht haben. Eine Beschäftigung mit diesem Projekt ist wie die Botschaft aus der Zukunft, etwa nach dem Motto: »So wollen wir zusammenleben«; sie ist keine Erzählung über die Vergangenheit: »So hat es bisher immer geklappt.« Sicherlich ist sie eine Erzählung darüber, dass, wenn es uns nicht gelingt, offene gesellschaftliche Verhältnisse zu garantieren, wir uns sagen lassen müssen: »Wir werden es gewusst haben, dass wir diese Zukunft nicht verhindert haben.«
Denn es gibt wohl viele Demokratien, viele Formen der Marktwirtschaft, wie es auch immer viele Utopien, Autokratien und Totalitarismen geben wird. Aber es gibt letztlich immer nur eine Offene Gesellschaft.
Gleich vorweg: Die Offene Gesellschaft ist ein europäischer Beitrag auf die Frage, wie wir als Menschen im 21. Jahrhundert zusammenleben wollen. Dieser Beitrag steht in Konkurrenz und im Wettstreit mit anderen Formen des Zusammenlebens, etwa autokratischen Systemen, Neonationalismen oder auch anderen Formen von Demokratien, in welchen Stabilität wichtiger ist als Partizipation. Das alles sind Regierungsformen, in denen die Zustimmung in der Bevölkerung empirisch messbar oft höher liegt als in den meisten westlichen Demokratien. Die Golfstaaten, Russland, Brasilien, China haben beispielsweise ihre eigenen Vorstellungen über die Organisation ihres Gemeinwesens, über Meinungsbildung und Freizügigkeit, politische Partizipation, Markt und Menschenrechte. Die Welt wird schnell zu dem, was der Politikwissenschaftler Charles Kupchan eine »no one’s world« genannt hat.4 In diesem Konzert der konkurrierenden Staatsformen ist die Offene Gesellschaft einer der Player, High Potenzials oder Game changer. Die Geschichte des weiteren 21. Jahrhunderts wird uns dann zeigen, wer diese Auseinandersetzung gewonnen haben wird. Wenn wir es richtig machen, spricht vieles für die Offene Gesellschaft. Was und warum, werde ich in diesem Buch zeigen.
Die Fähigkeit, das innere Bild mit der äußeren Realität besser abzugleichen, stellt bekanntlich einen Selektionsvorteil dar. Gleichzeitig gilt aber: Das Bild ist nicht die Realität, die Landkarte ist nicht das Gelände, die Speisekarte ist nicht das Menü und die Geschichte ist nicht die Realität. Aber die Geschichte der Offenen Gesellschaft kommt der Realität im 21. Jahrhundert wohl am nächsten.
Ausgangspunkt ist zunächst der allgemeine Verweis, dass wir nun in einem neuen Zeitalter leben (Kapitel 2), in welchem die traditionelle Links-rechts-Debatte keinen wirklichen Platz mehr hat. Stattdessen leben wir nun im Zeitalter des Menschen (»Anthropozän«), in welchem unser Denken in einen neuen Aggregationszustand gerät. Dem stehen die vielen großen und kleinen Freunde einer geschlossenen Gesellschaft entgegen. Kurz: »In welcher Welt leben wir jetzt?«
In Kapitel 3 wird dann der allgemeine Übergang beschrieben, den wir als Einzelne und als Gesellschaft zu nehmen haben, wenn wir schließlich in offenen gesellschaftlichen Verhältnissen ankommen wollen. Also: »Wie sieht der Wechsel von geschlossenen zu offenen Verhältnissen aus?«
Dann geht es in Kapitel 4 um die Klärung von positiven und inhaltlich ausgewiesenen Aspekten einer Offenen Gesellschaft im 21. Jahrhundert: Ein »Sixpack« wird sichtbar, welcher den Unterschied zu anderen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens markiert. Man kann die Offene Gesellschaft aber nur als Ganzes haben, und so müssen wir abschließend auch über die Schwächen der Offenen Gesellschaft sprechen: »Was ist eine Offene Gesellschaft im 21. Jahrhundert und worauf lassen wir uns ein, wenn wir uns für sie entscheiden?«
Kapitel 5 thematisiert dann den Vorgang der Transformation: »Wie gelingt uns eine Transformation hin zu offenen Verhältnissen? Welche Themen müssen wir ansprechen? Und welche Fragen müssen wir eigentlich stellen?« Gleichwohl bleibt der Fragenkatalog hier unvollständig.
Im Anhang soll ein kurzer Fragenkatalog (Kapitel 6) Orientierung darüber geben, ob er wirklich bereits in einer Offenen Gesellschaft lebt. Im 7. Kapitel werden dann die wichtigen Merkmale einer Offenen Gesellschaft nochmals zusammengefasst. Es sind mindestens 22 solcher Merkmale, welche hier in die Diskussion eingebracht werden sollen. Neben einer Literaturauswahl kommen im Kapitel 8 die Anmerkungen zu diesem Text zur Geltung, welche den aktuellen Diskussionsstand weiterverfolgen, vertiefen oder in einen größeren Zusammenhang stellen. Der Haupttext ist allerdings ohne Mühen und ohne weiteren Informationsverlust für sich lesbar.
Obwohl ich mich im Folgenden am Originaltext und der Gesamtausgabe von Karl Popper orientiere, habe ich auf konkrete Literaturhinweise verzichtet. Damit bleiben der Lesefluss und der Erzählcharakter besser erhalten. In den Anmerkungen des Kapitels 8 wird dann detaillierter auf die weiterführende Diskussion eingegangen. Und trotz zahlreicher Debattenbeiträge, Diskussionen und Kontroversen aus den letzten Monaten und Jahren,5 für die ich große Dankbarkeit verspüre, bleibt der Text meine Interpretation einer Offenen Gesellschaft im noch jungen und doch mächtigen 21. Jahrhundert, für welche ich dann auch kritisch die Selbstverantwortung übernehme. Denn es ist die hohe Zeit der Kritik und der Freiheit für uns alle.
2
Jenseits von links und rechts
Karl Popper (17.9.1902–28.7.1994), in Wien geboren und aufgewachsen, hat 1945 unter dem Druck der historischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges das zweiteilige Werk Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde geschrieben.6 Heute, im Jahr 2019, ist die Debatte wieder genauso aktuell wie damals, allerdings sind die Herausforderungen und Ausdrucksformen an manchen Stellen neu; die Antworten, welche die Freunde der Offenen Gesellschaft geben können, allerdings nicht.7
Die Zeitspanne zwischen dem Kriegende 1945 und dem Mauerfall 1989 war vorrangig durch Gegensätze zwischen linken und rechten Systemen geprägt. Diese Auseinandersetzung der Systemkonkurrenz geht nun zu Ende. Nicht selten sind die Unterschiede gar nicht mehr erkennbar. Damit geht aber nicht die Geschichte zu Ende, wie manch ein Betrachter gemeint hat, sondern sie beginnt hier erst wirklich.8 Bis hierher galt der kleinste gemeinsame Nenner und nicht die best possible practice. Das soll jetzt anders werden. Dazu kommt, dass das politische Spektrum kein Lineal ist, sondern bekanntlich ein Kreis, bei dem sich die Extreme in der Argumentation dann immer wieder treffen. Beides, der kleinste gemeinsame Nenner und die kreisförmige Bewegung der Extreme, macht eher schwindlig und kurzsichtig, als dass es uns hilft, eine wirkliche Orientierung dahingehend zu bekommen, wo die Reise hingehen soll.
Um gleich ein vordergründiges Missverständnis aufzulösen: Die Offene Gesellschaft ist nicht identisch mit Demokratie, Rechtsstaat und sozial eingehegter Marktwirtschaft.9 Sie ist auch keine Utopie, keine Multikultiveranstaltung, bei der alles geht, also alles irgendwie »offen«, beliebig und gleichwertig ist;10 sie ist auch kein spiel-theoretisches Konstrukt, bei welchem es allen automatisch besser geht (Win-win-Situation), und auch kein Ort, an dem es niemals regnet und alle nett zueinander sind. Sie ist auch kein Kindergeburtstag und kein Wunschkonzert. Offene Verhältnisse sind letztlich nicht einmal identisch mit dem Grundgesetz eines Landes, auch nicht mit dem der Bundesrepublik Deutschland, und selbst die Unterscheidung von »liberal« und »illiberal« trifft den Kern der Offenen Gesellschaft nicht.
Denn in den 202 offiziell gelisteten Nationen weltweit gibt es mehr oder weniger auch 202 Verfassungen, welche alles andere als gleich sind, die aber alle das Potenzial in sich tragen, zu Offenen Gesellschaften zu werden. Das heißt, das Modell einer Offenen Gesellschaft muss ausreichend formal sein, um für möglichst viele Verfassungen der Welt und für viele Menschen attraktiv zu sein. Gleichzeitig muss es aber inhaltlich konkret genug sein, damit Menschen sich prinzipiell damit identifizieren können. Beides kann die Offene Gesellschaft leisten.
Topografisch betrachtet, steht die Links-rechts-Debatte gleichsam horizontal zur Debatte um »offen« versus »geschlossen«. Hier geht es um ein regressives oder progressives Gesellschaftsmodell. Bei der Links-rechts-Debatte dagegen geht es um Ausformulierungen innerhalb dieses Modells. Das zivilisatorische Projekt der Offenen Gesellschaft ist das zukunftsgewandte, die Links-rechts-Debatte kennzeichnet dagegen das Ende der Systemkonkurrenz und hat ihre Zukunft bereits hinter sich. Aber wir müssen aufpassen, dass die Erzählung über die Wahrnehmung der Realität nicht mit der Realität selbst verwechselt wird. Nur der kritische Verstand mit seiner Fähigkeit zur Widerlegung kann diese Unterscheidung immer wieder einfordern. Denn der, der das Narrativ beherrscht, beherrscht auch die Realität.
Was wir an dieser Stelle vermeiden sollten, ist folglich die ständige Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Positionen, da sie Gefahr läuft, in eine existenzielle Falle zu tappen. Erfahrungsgemäß führen solche Debatten nämlich in eine Diskussion um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies ist in Zeiten realen Wachstums, stabiler nationalstaatlicher Umverteilung, relativ geringer Umweltbelastungen, wie wir dies in der Nachkriegszeit erlebt haben, sinnvoll und rational. Aber jetzt ist eine andere Zeit. Wir verschenken viel Zeit für Fragen um diesen Minimalkonsens zwischen rechten und linken Positionen und fördern damit indirekt die Freunde einer geschlossenen Gesellschaft. Es gibt Zeiten, in denen es nicht um einen Minimalkonsens geht, sondern um ein anderes Denken und eine andere Sicht auf die Dinge, nämlich der zwischen vorwärts oder rückwärts. Dabei gilt es, einen klaren Blick, viel Disziplin und intellektuelle Bescheidenheit zu zeigen, diese, nennen wir sie die »horizontale« Debatte zwischen linken und rechten Lagern, jetzt auszusetzen und grundlegendere Fragen zu stellen. In einer solchen Zeit leben wir jetzt. Wie weit dieses Moratorium reichen soll, diese Frage werden wir uns als Freunde der Offenen Gesellschaft selbst zumuten müssen. Die Diskussion wird aber so lange andauern, bis die eigentlichen Fragen zwischen gesellschaftlicher Offenheit und Geschlossenheit sichtbar werden. Die Frage ist: »Wie weit können wir als Freunde der Offenen Gesellschaft eigene Positionsinteressen, Minderheitenrechte, Vorlieben und selektive Lobbyarbeit zurückstellen, eingefahrene Argumentationsrituale, auswendig gelernte Gedankengänge und lieb gewordene Selbstverständlichkeiten aussetzen, um uns den eigentlichen Verteidigungslinien zu stellen?« Kurz: »Was sind für eine Offene Gesellschaft im 21. Jahrhundert die wirklich wichtigen Fragen und welche Antworten gibt Karl Popper darauf? Worauf kann man derzeit eher verzichten? Was ist wirklich wichtig und was stellt eher ein ›divertimento‹, ein vernachlässigbares Vergnügen dar, welches man jetzt zunächst einmal hintenanstellen kann?« Anders formuliert: »Was kann weg, was muss jetzt nicht auf die Agenda und kann später diskutiert werden?«
Es ist diese Unterscheidung von »offen« versus »geschlossen«, die uns eine erste Landkarte und Orientierung anbietet, wie es weitergehen kann. Vielleicht ist die Unterscheidung auch zu grob, aber das lässt sich klären. Es gibt Zeiten, in denen alle anderen Unterscheidungen zu Phantom- und Scheindebatten, Nebenschauplätzen werden, in Teilen fast Zeitverschwendung. Vielleicht haben wir jetzt eine solche Zeit. Man kann auch sagen: Wir verlieren schlicht die Gestaltungsmöglichkeiten über die Gegenwart, wenn wir es uns nicht zutrauen über offene Verhältnisse, welche vor uns liegen, aktiv zu streiten. Aber wir reagieren auf die Orientierungs- und Sprachlosigkeit nicht mit einer kontemplativen Pause oder einem kritischen Reflex, sondern damit, dass wir die Geschwindigkeit der Entscheidungen exponentiell erhöhen, dabei die Kontrolle verlieren, uns ständig in Überforderungen üben und dies in nahezu allen Lebensbereichen. Das kann einfach nicht gut gehen. Wenn wir geklärt haben, was offene gesellschaftliche Verhältnisse eigentlich meinen, dann wissen deren Freunde auch, wofür sie einstehen und was potenziell verloren gehen kann.

2.1 Wir erzählen uns ständig Geschichten

Wir hatten davon gesprochen, dass Geschichten dann wichtig werden, wenn Ereignisse nicht erklärbar sind oder schlicht ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Plastiktüten, Kohlekraftwerke, exponentielles Wirtschaftswachstum, Trinkwasserqualität, extreme Wohlstandsungleichheiten, frische Luft zum Atmen und endliche Ressourcen waren in früheren Zeiten kein Thema, jetzt sind sie erklärungsbedürftig, und deshalb benötigen wir neue Narrative. Die Deutungshoheit für all jene Fragestellungen haben derzeit die Ingenieurwissenschaften, die Makro- und Agrarökonomie, die Politikwissenschaften sowie die Demografen. Ich denke allerdings, dass hinter den Erklärungen dieser Disziplinen psychologische Vorgänge sichtbar werden, die ihre Stärken und Schwächen deutlich machen können. Denn auch Narrative sind selektiv und adaptiv. Manche sind nämlich besser und manche sind schlechter. Geschichten haben eben keinen Selbstzweck, sondern sind Mittel, um Krisen zu meistern und unser Zusammenleben im besten Fall zu verbessern. Historisch ging es etwa darum, Essgewohnheiten, Hygiene, Sexualpraktiken, Quarantänemaßnahmen und Moralvorstellungen durch empirische Beobachtungen in ein noch vorwissenschaftliches, protowissenschaftliches Konzept einzubinden und dabei Regeln für unser Zusammenleben zu entwerfen.11
Anthropologen und Bibelwissenschaftler können beispielsweise zeigen, dass das meistgelesene Buch der Welt, die Bibel, einem solchen Vorgehen folgt. Aber die Geschichten, die wir uns hier erzählen, wurden über Jahrhunderte, genauer: sogar über fast 500 Jahre, ständig angepasst, umgeschrieben und aktualisiert. Es war ein work in progress. Bei der Bibel endet dieses Vorgehen etwa im 4. Jahrhundert nach Christus. Von nun an geht es nicht mehr darum, ein Tagebuch der Menschheit zu schreiben, sondern den gegebenen Text immer wieder neuen Deutungen zu unterwerfen. Er ist von nun an gewissermaßen schockgefroren. Fortan dominieren Kanonisierung und Deutungshoheit und nicht mehr die Wiedergabe realer Erfahrungen. Es entsteht nichts Neues mehr, sondern das Gegebene unterliegt einer Exegese. Und dies ist dann die Geburtsstunde der Experten, jener, die uns sagen, wie die Geschichte eigentlich zu deuten sei.12
Eigentlich benötigen wir eine Erzählkultur, die es erlaubt, die praktische Lebenswirklichkeit des Menschen im 21. Jahrhundert in einer großen Geschichte einzubringen, mitzuschreiben und ständig umzuschreiben. Das heißt: »Bräuchten wir nicht eigentlich eine lebendige Geschichte, bei der jeder beteiligt ist, gleichsam ein interaktives Tagebuch im Zeitalter des Menschen?« Man kann hier mit Popper vorsichtig »Ja« sagen. Das ist eigentlich schon fast größenwahnsinnig. Aber wenn wir den Unterschied zwischen Tagebuch und Deutung aufrechterhalten wollen, dann ist die Offene Gesellschaft ein solches interaktives Tagebuch im 21. Jahrhundert. Anders formuliert: Die Offene Gesellschaft ist gewissermaßen eine Erzählung für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen.
Geschichtenerzählen gehört mit zum Wichtigsten in allen Kulturen: Die Bibel, der Koran, Karl Marx’ Kapital, der »American Way of Life«, »Globalisierung« sind solche Geschichten. Sie verbinden uns und sie tragen jenseits der unterschiedlichen Deutungen der Welt dazu bei, dass wir uns grundlegend verstehen, verständigen und einen Konsens über formale Regeln und Formen des »guten Lebens« herstellen können. Der westliche und transatlantische Konsens über ein solches gemeinsames Narrativ, welches von Wirtschaftswachstum, Wohlstand, Glück, Frieden, Freiheit, Aufstieg und Demokratie erzählt, ist im Gesamten zwar noch für viele Menschen identitätsstiftend, aber häufig nicht mehr hinreichend sinnstiftend. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass mit den BRICS-Staaten (Brasilien – Russland – Indien – China – Südafrika) bereits mehr als die Hälfte der Wirtschaftskraft nicht mehr im traditionellen Westen liegt und zugleich die Bevölkerungsentwicklung und die Machtverschiebungen sich weiter nach Süden und Osten verlagern, drängt sich die Frage auf: Was verbindet uns als Menschen, jenseits von Ost und West, jenseits des digital divide, jenseits zunehmenden Wohlstandsgefälles vom Norden zum Süden und jenseits der verschiedenen Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen, um ein Zusammenleben zu ermöglichen?
Denn was den Menschen so erfolgreich gemacht hat, war nicht seine individuelle Wettbewerbsfähigkeit, sein Werkzeuggebrauch, der aufrechte Gang oder seine abstrakte Intelligenz, sondern die Fähigkeit, sich Geschichten erzählen zu können, an deren Inhalte dann alle glaubten. Es sind meist Geschichten, welche nicht nur von der natürlichen Welt handeln, sondern von einer selbst gemachten, gleichsam zweiten, kulturellen Realität. Sie handeln von Ideen, welche ihren Mitgliedern immer einen gewissen Abstraktionsgrad abverlangen, der über das Konkrete und Faktische hinausreicht. Und es sind dann meist Geschichten über Gott, Tod und Endlichkeit, über Technik, über Naturgesetze, Geld, Macht und Politik. Erst der gegenseitige Glaube an jene fiktionalen Narrative ist die Grundlage dafür, dass Menschen in großer Anzahl koordiniert zusammenarbeiten konnten. Und aus dieser koordinierten Form der Kooperation entsteht jener Selektionsvorteil, welcher den Menschen nicht nur eine Anpassung an äußere Umstände abverlangt, sondern ihn immer wieder zu Neuem und Besserem aufbrechen lässt. Menschen reproduzieren sich eben nicht nur, sondern wollen das, was sie machen, ständig besser machen. Neugierverhalten und Entdeckertum, Wissenschaft und Technik, die Organisation von großen Sozialverbänden und berufliche Spezialisierung verbunden mit dem ständigen Drang zum »Besseren« unterscheidet ihn wohl von anderen Lebewesen wie Bienenvölkern und Affenpopulationen.13
Gibt es ein solches Metanarrativ, auf das sich Menschen einlassen können, egal, ob wir einer konservativen Partei in Bayern oder einer kommunistischen in Kuba angehören, ob wir altkatholisch, wahhabitisch, buddhistisch oder religionsfrei sind, ob wir homo- oder heterosexuell sind; und auch unabhängig davon, ob wir einen Schulabschluss haben, eine Lehre absolviert haben oder einen Doktortitel tragen, welchen Pass wir besitzen, welchen Bildungsstand der Vater und die Mutter haben und wie viel Erbe der Einzelne mitbringt?