Freiheit oder Zwang - Stefan Brunnhuber - E-Book

Freiheit oder Zwang E-Book

Stefan Brunnhuber

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Beschreibung

Politisch steht unsere Welt am Scheideweg: Die eine Hälfte der Menschheit lebt aktuell in Demokratien, die andere in Autokratien oder failed states. Der Systemkonflikt wird nicht mehr zwischen links und rechts ausgetragen, sondern zwischen offenen und autokratischen Gesellschaften. Dieser »Kampf der Systeme« wird auch unseren Umgang mit den ökologischen Krisen bestimmen. Zwischen Klimanotständen, gescheiterten Klimakanzlern, demokratisch gewählten Klimaleugnern und Chinas ambitionierten Umweltschutzversprechen fragen sich nicht wenige: Wer kann Nachhaltigkeit eigentlich besser? Brauchen wir am Ende eine Art »Ökodiktatur«, um handlungsfähig zu sein? Stefan Brunnhuber kennt sich im Zwist zwischen den Forderungen nach Freiheit, demokratischen Prozessen und den Notwendigkeiten einer ökologischen Kehrtwende aus. Er stellt unsere Demokratie Autokratien gegenüber und zieht ein weitsichtiges Fazit, wie wir auf dieser Welt zusammenleben und überleben können.

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Stefan Brunnhuber
Freiheit oder Zwang
Wer kann Nachhaltigkeit besser – Offene Gesellschaften oder Autokratien?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2023 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Goethestraße 28, 80336 München
Lektorat: Antje Maria GreisigerAbbildungen: Alistair BellUmschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.deLayout, Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-98726-264-7
»Ein klares, beeindruckendes Buch, das unbedingt lesen sollte, wer verstehen will, warum offene und demokratische Gesellschaften Nachhaltigkeit und Transformation besser können als autokratisch-geschlossene.«
Prof. Dr. Gert Scobel, 3 Sat, Wissenschaftsjournalist
»Durch Rahmenbedingungen, aber nicht immer mit Vorschriften Menschen zum freiwilligen Umdenken bewegen. Damit lässt sich Nachhaltigkeit in einer offenen Gesellschaft verbessern.«
Dr. W. Schäuble, MdB, Präsident desDeutschen Bundestages a.D.
»Wer wissen will, warum Offene Gesellschaften Nachhaltigkeit besser können, wird hier fündig.«
Prof. Dr. Werner J. Patzelt,Professor für Politologie, TU-Dresden,Research Director MCC Brüssel
»Freiheitliche Gesellschaften leben von Erwartungs-märkten. Dort wird Zukunft ausgehandelt. Wie das geht, steht in diesem Buch – unbedingt lesen!«
Prof. Dr. Rudolf Korte, Politologe,Direktor der NRW School of Governance
»Das Buch zeigt, wie Liberalismus und Nachhaltigkeit zusammen passen. Unbedingt lesen!«
Hermann Otto Solms, ehemaliger Vizepräsident des Deutschen Bundestages
»Kann eine offene Gesellschaft nachhaltig sein? Oder ist die Autokratie unvermeidlich? Stefan Brunnhuber stellt große Fragen und gibt ermutigend liberale Antworten. Lesenswert!«
Prof. Dr. Dr. h. c. Karl-Heinz Paqué,Vorstandsvorsitzender derFriedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Das Buch ist all jenen gewidmet, die noch nicht in einer Offenen Gesellschaft leben, in Zukunft aber für sich und ihre Kinder mehr Nachhaltigkeit und auch mehr Freiheit einfordern.
Vorwort
TEIL 1   WAS JETZT AUF DEM SPIEL STEHT
1   Das planetarische Momentum
Der Krieg, der hinter der Nachhaltigkeit tobt
Krisen, asymmetrische Schocks und der Kairos-Moment
Globalisierung 4.0: Wo Werte und Interessen zusammenfallen
2   Umgang mit Unsicherheit
Vom Wissen und von der Unvollständigkeit
Wissenschaft und Politik: Denken, Deliberation und Dezision
Geschichten als verbindendes Narrativ: Das Schweigen der Lämmer und die Wasserscheide
3   Die zwei Kontrahenten
(Äußere) Fallen und (innere) Feinde
Kritik, Kreativität und Koexistenz versus Konformismus, Kopie und Kontrolle
TEIL II   WIE ES ANDERS GEHT
4   Ein neuer Aggregatzustand für die Kritik
Datafizierung, Mustererkennung und die Verdopplung der Welt
Die Dritte Kultur und die zweite wissenschaftliche Revolution
Aufklärung 2.0
5   Das Prinzip Freiheit
Die vielen Spielarten der Freiheit
Freiheit und Verantwortung
(Falsche) Widersprüche und (echte) Gegensätze
Der Trichter und der Schlauch
TEIL III   WORAUF ES JETZT ANKOMMT
6   Die Offene Gesellschaft im 21. Jahrhundert und die Nachhaltigkeitsfrage
Routenplanung in die Zukunft
Das Sixpack für die Freiheit: Was nicht verhandelbar ist
Wenn Schwächen zu Stärken werden: Warum Offene Gesellschaften Nachhaltigkeit besser können
Anhang
Checkliste: Freiheit oder Zwang?
Disclaimer
Anmerkungen
Literatur (Auswahl)
Autor

Vorwort

Dies ist kein weiteres Buch über Klimaschutz, Nahrungsmittelsicherheit und erneuerbare Energien, kein Buch über Artenverlust oder Vermüllung, Landgrabbing, Entwaldung oder Wasserstress. Es ist ein Buch, welches all diese Herausforderungen bereits als gegeben voraussetzt. Ohne eine langfristige nachhaltige Strategie wird unser Zusammenleben auf diesem Planeten mindestens mit nachweislichen Wohlstandsverlusten und politischer Instabilität verbunden, wenn nicht gar unzumutbar und existenziell bedroht sein. Das vorliegende Buch ist ein Beitrag zur drängenden Debatte um die Frage: Wer kann Nachhaltigkeit besser? Denn diese Nachhaltigkeitsdebatte findet innerhalb eines neuen Systemkonfliktes statt. Jenseits von Artensterben und globaler Erwärmung tobt ein Krieg der politischen Systeme um die Deutungshoheit im 21. Jahrhundert. Ein Konflikt, der als überwunden galt, als 1989 die Berliner Mauer fiel und viele glaubten, dass es nunmehr nur noch um eine fast zwangsläufige Umsetzung von Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit ginge. Diese Einschätzung hat sich als falsch erwiesen. Wir stehen mitten in der Auseinandersetzung um die Frage, welches politische System Nachhaltigkeit und Zukunft besser kann. Die Kontrahenten sind bekannt: illiberale Autokratien auf der einen Seite und Offene Gesellschaften auf der anderen. Die einen setzen auf Kontrolle und Konformismus, die anderen auf Kreativität und Kritik. Die Fürsprecher der einen Seite plädieren für mehr technokratische Lösungen und Top-down-Beschlüsse, die Fürsprecher der anderen Seite befürworten individuelle Verantwortung und Multilateralismus. Die Ersteren setzen auf Wohlfahrt in Sicherheit durch Zwang, die Letzteren auf Wohlstand in Freiheit und (Selbst-)Verantwortung. Für die einen gilt vielleicht Singapur als Modell, für die anderen eher die Schweiz. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus fragen: Hat gesellschaftliche Offenheit an sich überhaupt einen Wert, der uns größere Agilität und Fehlerfreundlichkeit verspricht und infolgedessen einen höheren Grad an Freiheit garantiert? Oder ist das Gegenteil der Fall: Sind Zwang, Kontrollen und nichtdemokratische Entscheidungen die bessere Agenda für mehr Nachhaltigkeit? Schlimmer noch: Sind Offene Gesellschaften gar zu einer Zumutung verkommen? Haben wir uns – vollverpflegt, vollversorgt und schonungsbedürftig – in ihnen derart eingerichtet, dass immer ein anderer oder der Staat liefern muss, und ist uns damit die Fähigkeit zu einer aktiven Anpassung und Auseinandersetzung abhandengekommen?1 Sicher ist, je länger wir warten, umso geringer wird die Chance zur Entscheidung für eine Ordnung der Freiheit und umso wahrscheinlicher werden Notverordnungen, autoritäre Entscheidungsprozesse, Zwang und Kontrollen, die dann fast automatisch in eine Knechtschaft münden. Deshalb sollten wir die Frage, wofür wir eigentlich stehen, schnellstmöglich klären. Es könnte sein, dass die beiden politischen Systeme voneinander abhängen und voneinander lernen müssen. Der US-Journalist Thomas Friedman fragt: Was wäre, wenn wir für einen Tag China wären, alle Probleme administrativ und technokratisch lösen und dann wieder zu einer Offenen Gesellschaft zurückwechseln würden?2 Wüssten wir dann, wer Zukunft und Nachhaltigkeit besser kann? Entscheidend ist wohl, dass wir zumindest immer die Wahl haben, die Wahl zwischen Freiheit und Zwang.3
Dresden 2023, Stefan Brunnhuber
Teil I
Was jetzt auf dem Spiel steht
1
Das planetarische Momentum
Die globale Coronapandemie, die im Jahr 2020 begann, hat etwas bisher Einzigartiges in Gang gesetzt: ein planetarisches Momentum, das alle Menschen gleichzeitig und auf unverrückbare Weise miteinander verbindet. Und der Moment, in dem sich die Menschheit nun findet am Ende der Pandemie, ist ein ebenso spannender wie problematischer.

Der Krieg, der hinter der Nachhaltigkeit tobt

Hinter den Kulissen der Debatten um mehr Klimaschutz und Artenreichtum, Wiederaufforstung und Entmüllung herrscht ein Kriegszustand von ganz anderer Qualität: ein Krieg der politischen Systeme um die Deutungshoheit im 21. Jahrhundert. Ein Krieg, bei dem es nicht nur um Fragen der Nachhaltigkeit geht, sondern auch um Fragen der Sicherheit, etwa der nationalen Grenzen, der Energie- und Nahrungsmittelversorgung. Es scheint sogar, als träten Sicherheitsfragen in einen Wettstreit mit Nachhaltigkeitsfragen und rückten diese in den Hintergrund: Sicherheit vor Nachhaltigkeit. Diese beiden Themenfelder gehören nicht nur zusammen, sondern bedingen sich gegenseitig. In den letzten 30 Jahren bestand in den Debatten ein grundlegender Gegensatz von Freiheit und Nachhaltigkeit. Beide galten als unversöhnlich. Der Neoliberalismus setzt auf Deregulierung und Privatisierung, die ökologische Bewegung dagegen auf Bewahrung der Umwelt und auf Verzicht. Es scheint offenbar eine ungesunde Dreiecksbeziehung zwischen Sicherheit, Freiheit und Nachhaltigkeit zu geben. Können wir stets nur einen der drei Werte haben? Oder ist diese Gegenüberstellung nicht doch vielmehr ein Pseudokonflikt?

Lesarten historischer Ereignisse

1989 war bekanntlich mit einem welthistorischen Ereignis verbunden: dem Berliner Mauerfall. Zugleich war es aber auch das Jahr, in dem auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tian’anmen-Platz in Peking, die Panzer rollten. Beide Ereignisse fielen in den gleichen Zeitraum, und beide Ereignisse wurden unterschiedlich interpretiert. Für den Westen bedeutete der Mauerfall das Ende der zweigeteilten Welt, und es wurde ein unipolares Momentum ausgerufen: Marktwirtschaft und Demokratie würden sich von nun an weltweit durchsetzen, gleichsam zwangsläufig. Der Aufstand am Tian’anmen-Platz passte in dieses Narrativ. Die chinesische Regierung interpretierte das Ereignis auf dem Platz des Himmlischen Friedens jedoch gänzlich anders. Die Niederschlagung war kein Versagen oder Fehltritt, sondern eine rationale Reaktion eines Einparteiensystems. Hinter der westlichen Lesart dagegen stand das Verständnis einer Konvergenz der Systeme. Auch andere autokratische und illiberale Regime würden sich früher oder später der Politik des Westens und dessen Gesellschaftsverständnis annähern (müssen), die Panzer in Peking galten als Aufbruchssignal. Eine solche Betrachtung greift allerdings zu kurz, denn jeder Fehltritt eines politischen Gegners kann als einfache Verzögerung in der Entwicklung (»Der andere ist noch nicht so weit«) gelesen werden. Da dies immer gelten kann, ist diese Konvergenztheorie in diesem Sinne nicht widerlegbar, aber auch wenig überzeugend. Es bestehen folglich berechtigte Zweifel, ob das liberale Gesellschaftsmodell überhaupt taugt, um die Zukunft hinreichend zu erklären.

Thesen auf dem Prüfstand

Aber es kommt noch schlimmer. Unser westliches Verständnis von einem geordneten und freiheitlichen Zusammenleben ist in mehrfacher Hinsicht überholt. Zum einen gilt die Modernisierungsthese als widerlegt. Sie besagt, dass sich die westliche Moderne in Bezug auf Demokratie, Marktwirtschaft, technologischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum linear entwickelt und damit fortschreibt. Alle diese Bausteine stehen vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsfragen auf dem Prüfstand. Soziale und ökologische Ausbeutung zuungunsten Unbeteiligter (Externalitäten), Landraub (Landgrabbing) sowie forcierte, also erzwungene Migration sind nur die augenscheinlichsten. Zum anderen scheint auch die Individualisierungsthese keinen Bestand mehr zu haben. Sie geht davon aus, dass kollektive Gemeinschaften durch Bindungen und Zugehörigkeiten abgelöst werden, die jeder Einzelne autonom und individuell für sich wählt. Derzeit spricht vieles dafür, dass Gruppenbildungen ähnlich archaischer Tribalisierungen und homogene Habitate auf dem Vormarsch sind.
Die Säkularisierungsthese schließlich geht mit der Überzeugung einher, dass der Mensch keiner wirklichen religiösen Bindungen mehr bedarf, da sie durch weltliche Institutionen und säkulare, soziale Interaktionsformen abgelöst werden. Jedoch gab es noch niemals in der Geschichte mehr Menschen, die sich einer religiösen Gemeinschaft zugehörig fühlten als heute. In Zahlen: 85 Prozent der Weltbevölkerung haben eine konfessionelle Bindung.
Und auch die Ambiguitätsthese4 greift nicht mehr. Die westliche (Post-)Moderne war angetreten, Vielfalt und Vieldeutigkeit zu respektieren und zu fördern. In mehrfacher Hinsicht haben digitale und globalisierte Wettbewerbsmärkte aber das Gegenteil erreicht: Ob Sprachen oder Dialekte, lokale Apfelsorten oder regionale Frischgetränke, sie werden zugunsten von wenigen standardisierten, dafür aber global verständlichen und zugänglichen Produkten und Dienstleistungen ersetzt. Aus Vielfalt wurde Einfalt.
Wenn nun unser westliches Gesellschaftsmodell derart in die Defensive gerät, so müssen wir klären: Haben wir das richtige Modell, um auf die drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts die richtigen Antworten zu finden? Eine solche Betrachtung lässt zwei Perspektiven zu. Es könnte sein, dass der politische Gegenspieler schlicht und objektiv die besseren Antworten hat. Damit wären digitale illiberale Autokratien fähiger als Offene Gesellschaften. Es könnte aber auch sein, dass wir uns unserer eigenen Position nicht hinreichend im Klaren sind, weil wir uns nicht genügend darauf verständigt haben, was wir eigentlich meinen, wenn wir von einer »Ordnung der Freiheit« sprechen; wenn wir von einer Freiheit sprechen, in der ein unerschöpfliches Potenzial zur Lösung der Probleme für ein langfristiges und friedliches Zusammenleben steckt. Kurz: Offene Gesellschaften wären dann besser, wir wüssten es nur noch nicht, würden nachgeben und schließlich auf einem Weg zur Knechtschaft und nicht in die Freiheit enden.

Bedeutung von Freiheit

Warum aber ist die Freiheit so wichtig? Ohne Freiheit würden sich unsere Erziehung nicht mehr an individueller Kreativität, unser Denken nicht mehr an der Fähigkeit zur Kritik und unsere Wohlfahrt nicht mehr an Mut, Leistung und Risikobereitschaft orientieren. Ohne Freiheit wären Digitalisierung, Unternehmertum und Forschung, Bildung und politische Praxis nur ein blinder Reflex, ein Algorithmus, den wir befolgen. Ohne Freiheit gäbe es keine wirkliche Verantwortung, denn sie braucht es, um sich auch gegen die Freiheit entscheiden zu können. Wenn wir anfangen, Freiheit durch Solidarität oder Gerechtigkeit oder durch Sicherheit, Tradition und Ordnung zu ersetzen – so wichtig und edel diese Tugenden sind –, dann kann es schnell passieren, dass wir in Unfreiheit solidarisch miteinander sind; dass wir in Unfreiheit Verteilungsmustern und politischen Entscheidungen zustimmen, die wir gar nicht gewollt haben; und dass wir einer Form der Sicherheit und Ordnung beipflichten, die wir vielleicht gar nicht gut finden. Ohne Freiheit führt all dies zur Knechtschaft, in die Zensur und in die Autokratie. Das können wir eigentlich nicht wollen.

Top down oder bottom up?

Dieser Text wurde für Optimisten und Neugierige geschrieben, nicht für Apokalyptiker oder Alarmisten. Uns steht nicht die eine große Endzeitstimmung bevor, sondern es sind viele und ständige Nadelstiche in Form von Schocks und Krisen, die die nächsten Jahrzehnte bestimmen werden. Deshalb ist dies ein Buch für Menschen, die aus Fehlern lernen wollen, die bereit sind, auf wissenschaftliche Evidenz zu hören, und wissen, dass wir vieles nicht wissen und mit jener Unwissenheit richtig umgehen müssen und dennoch natürlich kritisch bleiben wollen. Es ist ein Buch für alle, die an die Kraft der Freiheit glauben, gerade wenn es darum geht, sinnvolle Lösungen für die andauernde Triple-Krise5 von Erderwärmung, Pandemien und Artenverlust zu finden. Und es ist ein Buch für alle, die Dilemmata, Polaritäten und Widersprüche nicht als intellektuelle Kapitulation oder Mangel erleben, sondern sie als das eigentliche Programm eines aufgeklärten politischen Liberalismus 2.0 im 21. Jahrhundert begreifen. Kurz: Wenn der Liberalismus nicht gleich liefert, sollten wir ihn nicht abschaffen oder ersetzen, sondern weiterentwickeln.
Die Alternative wäre: Wir setzen nicht auf individuelle Freiheitsgrade, sondern auf Kontrolle und Zwang, auf kollektivistische Lösungen und auf Konformismus und Gleichschaltung. Wir geben unsere Entscheidungsspielräume an eine politische Instanz ab und delegieren die Verantwortung an andere. Die Fürsprecher der Kontrolle werden dann sagen, dies sei effektiver. Wir verzichten auf den umständlichen Weg der öffentlichen Debatten, zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die Korrekturen des Wissenschaftsbetriebs und der Medien, weil wir gar nicht mehr genügend Zeit haben. Wir sind dann einfach schneller. Top down schlägt bottom up. Wir folgen einem anderen »Multikulturalismus«, der regionale Identität und die Gleichberechtigung aller Völker respektiert, jedoch keine universellen Ansprüche mehr erhebt. Und wir bevorzugen eine Form von Außenpolitik, die weniger auf »Multilateralität« als auf bilaterale Beziehungen setzt. Das klingt zunächst alles gut. Die Fürsprecher der Kontrolle und des Zwangs werden sagen, dass ein großer Teil der Bevölkerung gerade diese Politik stützt und befürwortet, in Zahlen sogar mehr, als dies in den »Ordnungen der personalen Freiheiten« der Fall sei. Doch aus Kontrolle und vermeintlicher Sicherheit können schnell Zensur, Knechtschaft und Überwachung werden.

Angst und Ignoranz

Warum haben wir eigentlich Angst vor der Freiheit und fordern sie dennoch ständig ein? Es mag damit zu tun haben, dass wir nicht genau wissen, was Freiheit für uns bedeutet, welches Potenzial in ihr steckt und welche Konsequenzen sich aus der Forderung nach individuellen Freiheitsgraden für unser gesellschaftliches Zusammenleben ergeben.6
Wären wir wirklich frei, würden wir womöglich bloßgestellt mit all unseren Schwächen und Fehlern. Vielleicht ist es auch die Angst, dass, wenn wir wirklich frei wären, all das, was wir wollen, tatsächlich passieren würde: wirklicher Friede, ein nachhaltiges Zusammenleben, Sicherheit und Wohlstand für alle. Persönliche Freiheit heißt nicht, dass jeder macht, was ihm gerade in den Sinn kommt, oder sich stumpf und ständig bereichern muss, sondern vielmehr, dass man wählen darf, weniger zu brauchen und weniger zu wollen. Die Kunst des Neinsagens und Weglassens, der Genügsamkeit und der Veränderung sowie die Kritik am Status quo sind wesentliche Bausteine der Freiheit. Das alles wird im Folgenden deutlich. Vermutlich haben wir Angst vor der Freiheit, weil sie uns unsere eigene Unwissenheit vor Augen führt und Entscheidungen von uns fordert. Niemand weiß alles, wir alle wissen etwas und unterscheiden uns in dem wenigen, was wir wissen, sehr stark. Nur in der Unwissenheit sind wir alle mehr oder weniger gleich. Dennoch gestehen wir uns diese Unwissenheit nicht ein. So oder ganz ähnlich hat der Philosoph Karl Popper bereits vor 75 Jahren unseren Umgang mit der Ignoranz beschrieben.
Das Buch Der Weg zur Knechtschaft markiert den Beginn einer Auseinandersetzung von Friedrich August von Hayek mit dem Sozialismus im Jahre 1944.7 Hayek, Ökonom, Sozialphilosoph und Zeitgenosse Poppers, warnt vor dem, was uns bevorsteht, wenn wir auf personale Freiheitsrechte verzichten und sie für andere edle Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität, Sicherheit oder Gleichheit eintauschen. Mittlerweile wissen wir, dass sich Geschichte so lange wiederholt, bis allen klar geworden ist, was auf dem Spiel steht: die besagte Ordnung der Freiheit. Heute, in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts, erscheint der Weg zur Knechtschaft in einem anderen Gewand als vor 75 Jahren – beispielsweise als autokratisches Regime, illiberale Demokratie, Populismus, unkontrollierte digitale Großtechnologie oder Cancel Culture, also eine Kultur der vorauseilenden (Selbst-)Zensur –, und er wirkt deutlich subtiler und latenter, ist aber nicht weniger machtvoll. Hierher gehören auch die unkritischen, einseitigen und teils fundamentalistischen Auseinandersetzungen mit der Triple-Krise. Manche dieser Kontroversen finden weit weg, am anderen Ende der Welt statt und sind damit außerhalb unserer nationalen Zuständigkeit. Andere werden jedoch unmittelbar in unserer Nachbarschaft ausgetragen, vor unserer Haustür. Die Systemsprenger sitzen gewissermassen gleich nebenan.
In meinem Buch Die Offenen Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung (2019) ging es darum, Karl Poppers Idee in unsere Zeit zu übersetzen und zu zeigen, wer seine Feinde sind und wie das Modell einer Offenen Gesellschaft mit neuen globalen Herausforderungen umgeht. »Freiheit oder Zwang« geht nun den Fragen nach: Wer kann diese Herausforderungen besser meistern? Wer kann Nachhaltigkeit überhaupt? Welche Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist in der Lage, klug und erfolgreich auf die Komplexität dieses neuen Zeitalters (Anthropozän) mit seinen asymmetrischen Schocks, bedeutsamen wirtschaftlichen Ereignissen (black swan, long tail) und unterschiedlichen Kipppunkten (tipping points) zu reagieren? Linke und rechte Narrative helfen nicht mehr weiter. Die Konfliktlinie ist eine völlig andere und verläuft zwischen digitalen autokratischen Regimen, die mit potenzieller Manipulation, Zensur, Kontrollen und staatlichen Vorgaben durchregieren, und einer Ordnung der Freiheit mit kritischen Bürgern in einer kritischen Öffentlichkeit, die durch »Versuch und Irrtum« mutig Fehler korrigieren. Grundsätzlich müssen wir also fragen: Wählen wir den Weg zur Knechtschaft oder in die Freiheit?

Neue Spielregeln des Liberalismus

Zugegeben: Digitale Autokratien beeindrucken durch ihre Größe und Durchschlagskraft, ihre ökonomischen Teilerfolge in der Armutsbekämpfung und das rigorose Umsetzen administrativer Dekrete. Wenn es Offenen Gesellschaften aber gelingt, den einseitigen ökonomischen Liberalismus der vergangenen 30 Jahre8 zu überwinden, werden sie beweisen, dass sie besser zur Selbstkorrektur in der Lage sind und flexibler und anpassungsfähiger reagieren können als alle ihre geschlossenen, autokratischen Gegenspieler. Mehr noch: Erst in Offenen Gesellschaften wird das geschaffen, was wir benötigen, um im 21. Jahrhundert bestehen zu können – Märkte und Medien, Kunst und Kultur, Wissenschaft und Dritter Sektor, allesamt systemrelevant. Dies mag nicht immer gelingen, aber das spricht nicht grundsätzlich gegen eine kritische Ordnung der Freiheit, die zur Selbstkorrektur und damit zu neuer Anpassung fähig ist. Dadurch verschieben sich das Koordinatensystem und die Spielregeln für eine Gesellschaft. In mehrfacher Hinsicht stellen die ökologischen Herausforderungen die Freiheitsfrage also neu. Aus einer zeitlichen Perspektive lautet sie: Ist es erlaubt, dass ich meine Freiheiten auf Kosten zukünftiger Generationen durchsetze? Aus einer geografischen Perspektive muss gefragt werden: Ist es erlaubt, dass ich meine Freiheiten auf Kosten der Freiheiten anderer Menschen in anderen Regionen der Welt durchsetze? Und grundlegend gehört auch die Unterscheidung von negativen und positiven Freiheiten auf den Prüfstand: Abwehrrechte gegen staatliche Institutionen und Freiheitsgrade, das zu tun, was man will. Es geht also um neue Spielregeln des Liberalismus. Das alles und noch vieles mehr steht nun auf dem Spiel.

Krisen, asymmetrische Schocks und der Kairos-Moment

Als am 11. März 2020 die WHO COVID-19 zur weltweiten Coronapandemie erklärte, passierte global etwas historisch Einmaliges. Erstmals in der Menschheitsgeschichte wurden über einen sehr kurzen Zeitraum von wenigen Monaten acht Milliarden Menschen rund um die Uhr in einen Zustand versetzt, der alle miteinander synchronisierte. Unabhängig davon, welcher Partei oder Religion man angehörte, welchen Pass man besaß, welches Geschlecht und welche Hautfarbe man hatte, ob man groß oder klein war, jung oder alt, reich oder arm, überall auf der Welt war das Virus gedanklich in den Köpfen angekommen. Solche universellen Synchronisierungen sind eine Seltenheit. Wir waren alle betroffen. Dadurch geriet die Weltbevölkerung in einen geistigen Zustand der preparedness for change9. Unsere Bereitschaft für Veränderung und unser (Um-)Denken hatten sich zwar noch nicht in einer realen Praxis niedergeschlagen, aber wir wurden alle zeitgleich mental bereit für einen Wandel. Uns war klar geworden, dass wir so nicht weitermachen konnten, und schnell wurde sichtbar, dass das Coronavirus in engem Zusammenhang mit unserer Lebensweise und unserem Wirtschaften stand. Ein Virus, das es seit Millionen von Jahren auf diesem Planeten gibt und das es wohl auch noch geben wird, wenn alle menschliche Existenz verschwunden ist, war auf den Menschen übergesprungen. Man spricht hier von einer Zoonose. Hintergrund ist, dass sich die Habitate für Tiere durch unsere expansive und extraktive Wirtschaftsform immer weiter verkleinern. Dadurch nähern sich ihre Lebensräume an unsere an, was die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Übersprung exponentiell erhöht.10 Dieses Risiko trifft uns alle. Ab jetzt und auch in Zukunft. Ich nenne dies ein planetarisches Momentum. Alles ist mit allem vernetzt, und vieles geschieht gleichzeitig. Wir leben nun in einem neuen Erdzeitalter. In ihm ist der Mensch kausal für die geoökologischen Bedingungen seines Planeten verantwortlich. Der Atmosphärenforscher Paul Crutzen hat dieses Zeitalter das Anthropozän genannt.11 Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass alle Vernetzungen nicht mehr zeitversetzt, sondern real time, also in Echtzeit, geschehen und wir mit unkontrollierbaren Kipppunkten konfrontiert sind. Sobald wir diese erreichen, läuft das weitere Geschehen gleichsam zwangsläufig und ohne die Möglichkeit menschlicher Kontrolle, automatisch ab. Die Abholzung des Amazonas ist ein solcher tipping point.12 Außerdem verlaufen die menschlichen Einträge und Auswirkungen auf unseren Planeten wie Hockeyschläger: nichtlinear und exponentiell, also steil nach oben. Wir haben aber nur einen Planeten, mit planetaren Grenzen beim Verbrauch von Ressourcen und dem Eintrag schädlicher Stoffe,13 es kann also nicht unbegrenzt so weitergehen. Bei der Bodenerosion und der Vermüllung haben wir diese Grenzen schon überschritten. Gleichzeitig haben wir soziale und menschenrechtliche Standards unterschritten.

Ursachen und Verursachende eines neuen Zeitalters

Das Pikante an den planetaren Grenzen ist, dass 80 Prozent der Weltbevölkerung innerhalb derselben zu leben wissen, 20 Prozent jedoch nicht. Die reichsten 10 Prozent der Einkommensschichten verursachen über 50 Prozent des CO2-Ausstoßes. Die Auswirkungen davon spürt jedoch die ganze Menschheit, die Ärmsten besonders drastisch. Damit ist klar, wem hier in erster Linie die Arbeit zukommt. Wie der UN Human Development Index (HDI), ein alternativer Indikator für den Entwicklungsstand der Menschheit, bestätigt, hat uns die Pandemie hier um zehn Jahre zurückgeworfen.14 Wir stehen also bei der sozialen Dimension der Nachhaltigkeitsfrage im Jahre 2011. Das Ungleichgewicht zwischen Verursachern und Leidtragenden erzeugt zahllose unkontrollierbare Feedbackschleifen: Rückkopplungen, die irgendwo unvermittelt auftreten und zu dem führen, was Systemtheoretiker externe, asymmetrische Schocks nennen. Ereignisse, die niemand will, die keine isolierten Verursacher aufweisen, die in der Regel jene am stärksten treffen, die sich am wenigsten wehren können und am geringsten dafür in Haftung zu nehmen wären. Ereignisse, die zudem immense Kosten und unvorstellbare Verwüstungen mit sich bringen und die zur Frage überleiten: Hätten wir das nicht wissen und anders machen können? Solche großen Rückkopplungen berichten uns weniger über die Vergangenheit als über die Zukunft. Um es klar zu sagen: Es ist eine globale Minderheit heute, welche über die globale Mehrheit von morgen entscheidet. Es ist ein Zeitalter, das durch einen Wechsel von einem großen, langsamen, leeren und übersichtlichen Planeten hin zu einer kleinen, schnellen, vollen und komplexen Welt charakterisiert ist.15 Jetzt geht es darum, mit Unsicherheiten und Unschärfen, mit Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten und mit kausalen Verschränkungen umzugehen. Dabei dürfen wir nicht den Fehler machen, die Welt rational entzaubern zu wollen. Die Kunst wird es sein, diesen ambivalenten, unsicheren und widersprüchlichen Zauber besser zu verstehen und damit umzugehen.

Wechsel des gesellschaftlichen Aggregatzustandes

Strukturelle Verarmung, Verelendung und Arbeitslosigkeit; himmelschreiende Ungleichheiten mit fehlenden Aufstiegschancen; sensible Großtechnologien, die niemand kontrollieren und versichern kann; ein Bildungssystem im chronischen Kollaps, unterfinanziert und fehlgesteuert; ein Gesundheitssektor in der Dauerreanimation und systematisches Wettrüsten mit unvorhersehbaren asymmetrischen Kriegen, die keiner wirklich will. Im Kern geht es bei all diesen Krisen, die sich gegenseitig verstärken, gar nicht um Krisen. Der Begriff Krise kommt aus der Medizin und meint κρίση: Ein Patient kommt in einen Zustand, bei dem er existenziell bedroht ist, stirbt oder überlebt und dann weitermacht wie bisher. Deshalb sollten wir eher von einem Wechsel des gesellschaftlichen Aggregatzustandes sprechen. Ähnlich wie bei Wasser, das wir in einer festen, flüssigen und einer gasförmigen Form kennen, erfolgt der Wechsel von einem gesellschaftlichen Aggregatzustand zum nächsten nicht linear, sondern meist abrupt oder spontan. Bei einem Phasenwechsel dieser Art werden die Bausteine und Komponenten neu ausgerichtet, sodass sie im Ergebnis anders zueinander in Beziehung stehen. Ein solcher Wechsel des Aggregatzustandes steht uns als Gesellschaft jetzt bevor. Dabei geht es nicht um den »ewigen Frieden« (I. Kant)16 sondern darum, dass wir die Hölle auf Erden verhindern. Wenn das Haus brennt, brauchen wir nicht noch eine randomisierte, kontrollierte Doppelblindstudie oder weitere Petrischalen-Experimente, sondern viel eher Unschärfeerfassung (fuzzy logic) und rasche Lösungen. Lieber ungefähr richtig als zu 100 Prozent falsch. Aber wo ist dann vorne? In Richtung von mehr kollektiver Kontrolle und Zwang oder mehr individueller Freiheit? Hier sind keine neuen Utopien gefragt, hier geht es um die konkrete Gestalt einer Zukunft. Alles steht auf dem Spiel, alles muss neu ausgerichtet und ausbalanciert werden. Statistische Zahlen wie Eckrentner oder durchschnittliche Wachstumszahlen helfen uns nicht weiter. Auf dem Weg in einen neuen Aggregatzustand sind sie nur Zwischenergebnisse, die morgen schon nicht mehr aussagekräftig sind.

Asymmetrische Schocks und das neue Normal

Seit 200 Jahren werden die großen sozialen Fragen ausgehandelt. Kinderarbeit, Frauenrechte, Mindestlohn, Arbeitsschutz, Krankenversicherung und Urlaub konnten wir zwischen Kapitalgebenden und Arbeitnehmenden, zwischen Staat und Markt erfolgreich verhandeln. In Bezug auf die ökologischen Fragen des 21. Jahrhunderts gibt es aber nichts auszuhandeln.17 Der Aggregatwechsel folgt biophysikalischen Gesetzen. Sie sind nicht Gegenstand von Tarifautonomie oder Streiks, Sit-ins oder Kapitalflucht, Steuerdumping oder Bonuszahlungen. Wir können uns nur anpassen, und dies möglichst schnell und intelligent. In früheren Zeiten haben wir uns auf zyklische Veränderungen, die kommen und gehen, eingestellt, wie etwa den Konjunkturzyklus. Jetzt ist nichts mehr zyklisch. Unsere Herausforderungen bleiben so lange, bis wir Maßnahmen ergriffen und Einsichten umgesetzt haben, damit wir wieder einigermaßen sozial erträglich leben können, Extreme und Katastrophen vermeiden und zugleich für den nächsten asymmetrischen Schock besser gerüstet sind.18 Asymmetrische Schocks sind das neue Normal. Wir müssen davon ausgehen, dass solche Schocks in der nahen Zukunft eher zunehmen werden. Und sie treffen autokratische Regime und Offene Gesellschaften in gleicher Weise. Wir können des Weiteren davon ausgehen, dass immer wieder auf ähnliche Mechanismen zurückgegriffen werden muss, um diese Schocks zu absorbieren und uns dabei klug anzupassen. Autokratische Staatsformen scheinen hier auf den ersten Blick einen Wettbewerbsvorteil zu haben, da sie auf den umständlichen Meinungsbildungsprozess Offener Gesellschaften nicht angewiesen sind, sondern durchregieren können. Wenn nun solche Imperative notwendig sind, um asymmetrische Schocks zu bewältigen, stellt sich die Frage: Wie lassen sich diese Instrumente für eine Offene Gesellschaft nutzen, in der es um Regeln der Freiheit geht? Wie muss ein solcher eher technokratisch-administrativer und szientistischer Imperativ aussehen, damit er den Qualitätstest für Offene Gesellschaften besteht?

Planetare und psychologische Grenzen

Bereits vor 2600 Jahren fingen die Menschen an, sich ihrer selbst bewusst zu werden, abstrakt zu denken und sich in eine kritische Beziehung zur Natur zu setzen. Dies geschah fast zeitgleich an den verschiedensten Orten der Welt. Karl Jaspers, Philosoph und Psychiater, nannte es die »Achsenzeit«19.Wir leben mittlerweile im Anthropozän, vielleicht einer Art zweiten Achsenzeit, dem Erdzeitalter des Menschen.20 Das ändert fast alles: die Art, wie wir leben, arbeiten, wirtschaften, wie wir essen und beten, wie wir unsere Kinder erziehen, mit der Natur umgehen und zusammenleben, selbst die Art, wie wir denken, handeln und entscheiden. Alles wandelt sich, weil alles mit allem vernetzt ist. Es gibt kein free lunch mehr, nichts für umsonst und ohne Risiko, es gibt auch keinen Exit, also Ausgang mehr. Wir müssen uns jetzt unser Leben innerhalb von unverrückbaren Grenzen völlig neu und vor allem selbst organisieren. Dabei handelt es sich um zwei Formen von Grenzen: die planetaren äußeren und die psychologischen inneren Grenzen unseres Denkens, Handelns und Entscheidens. Erst das Eingeständnis, dass uns Grenzen umgeben und bestimmen, gibt uns letztlich Orientierung und Sinn sowie das Rüstzeug für eine weise Anpassungsleistung. Sie ist die Voraussetzung für Kreativität, Findigkeit und Innovation.21 Nur wenn wir uns die eigene Endlichkeit eingestehen, schaffen wir die Voraussetzung für jede gesellschaftliche Ordnung, sei sie nun auf Freiheit oder auf Kontrolle aufgebaut. Die Idee der Unendlichkeit dagegen gehört in die Mystik, Musik und Meditation, nicht aber in die Ökonomie, Psychologie, die Material- und Umweltwissenschaften oder in die Politik. Dort geht es immer um Knappheit, Grenzen und Entscheidungen unter Unsicherheit und Zeitdruck. Solche Grenzen gehen nicht weg, aber sie können ständig verschoben werden, durch kritisches Denken und ein Leben in Offenen Gesellschaften oder durch technokratische Kontrollen, Expertokratien und Top-down-Beschlüsse. Wir werden uns eingestehen, dass es innerhalb von planetarischen Grenzen nur Binnenverhältnisse gibt und keine externe Position, die alles richten mag. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir bedienen uns unseres eigenen Verstandes, um der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entrinnen, oder wir delegieren das Ganze an Experten, an eine Nomenklatura, eine Partei oder ein Buch. In jedem Fall würden Freiheit und Sicherheit unterschiedlich, teils widersprüchlich ausgelegt werden. Jede politische Agenda aber wird mit der Zukunft und den drängenden Nachhaltigkeitsthemen umgehen müssen.

Synchronisierung der Veränderungen

Man kann in diesem Zusammenhang auf ein Argument zurückgreifen, das der Philosoph John Rawls formuliert hat: In welcher Welt wollen wir leben, wenn wir nicht wissen, wie die Verteilungsmuster und Belastungen aussehen werden? Die Antwort ist: in einer Welt, in der auch die am schlechtesten Gestellten von einer möglichen Wohlstandsentwicklung profitieren, von sozialer Teilhabe nicht ausgeschlossen sind und die ökologischen Rahmenbedingungen entsprechend gestützt werden. Dieses Rawls’sche Argument lässt sich auf die Situation im Anthropozän und in seiner großen Rückkopplung anwenden, gleichsam »J. Rawls 2.0«. Denn wenn alles mit allem vernetzt ist, dann gilt es, die Frage zu beantworten: Wie verhalten wir uns, wenn wir zwar wissen, dass es negative externe Effekte gibt, aber nicht, wann und wo sie uns in welchem Umfang treffen werden? In einer solchen Welt bestehen nicht nur indirekte, intellektuelle und moralische Gründe, sich mit Rückkopplungen und externen Effekten auseinanderzusetzen, sondern auch psychologische, ökonomische und politische. Denn es gibt niemanden, der in einer Welt leben will, in der ihn negative Rückkopplungen irgendwann und irgendwo unverhofft treffen können, ohne dass er auf ein Gemeinwesen zurückgreifen kann, das ihm bei der Bewältigung zur Seite steht. Damit ist die Theorie der Gerechtigkeit im Kern eine Ordnung der Freiheit oder eine der Sicherheit.
In diesem Erdzeitalter, dem Anthropozän, setzt sich die durch die Coronapandemie ausgelöste Synchronisierung fort. Sie führt dazu, dass sich die Veränderungen des Planeten mit den Lebensveränderungen einer oder zwei Generationen von Menschen verbinden. Nichts ist mehr neutral, alles und jeder ist aufgefordert, Stellung zu beziehen. Abwarten, Nicht-zuständig-Sein oder wegsehen, das gibt es nicht mehr. Statt von Krise spricht man gerne von einem Brennglas oder einem Bullauge (bull’s eye), das alles vergrößert, verschärft oder auch verzerrt abbildet. Es betrifft alle Bereiche des Lebens, häufig auch große Feldversuche der Entschleunigung, des Lockdowns, des Finanzwesens (haircuts), gesellschaftlicher Bewegungen (de-growth movement) oder der kreativen Latenz. Auf jedem Fall gilt: Alles ist jetzt anders, und es gibt ein neues Normal.

Neues Spiel, neue Regeln

Asymmetrische Schocks treffen uns als Gesellschaft, obwohl (oder weil) wir glauben, alles richtig gemacht zu haben. Sie sind häufig subtil, weil wir ihre Ursachen nicht direkt sehen können, und gleichzeitig sind sie global, weil sie geografisch nicht eingehegt werden können. Sie fordern in der Regel Maßnahmen, welche über die bekannten Instrumente hinausgehen, und legen die Funktionalität und Reaktionsbereitschaft eines Gemeinwesens offen. Sie zeigen, wie gut wir wirklich aufgestellt sind. Diese Schocks können jederzeit jeden Menschen auf diesem Planeten treffen, unabhängig davon, wo er lebt, wie alt er ist, wie viel er verdient. Im Allgemeinen erfährt jedes System, das von einem asymmetrischen Schock getroffen wird, Stress und wird unter Druck gesetzt, sich an die neuen Umstände anzupassen. Je nach Schwere des Stressors, seiner Dauer, der eigenen Konfiguration und Belastbarkeit muss das System entweder die gegebenen Regeln modifizieren oder die Spielregeln selbst radikal infrage stellen. Bei letzterer Variante muss das System neue Wege der Selbstorganisation finden. Als Weltgemeinschaft befinden wir uns gegenwärtig in einer solchen Situation. Asymmetrische Schocks sind zur neuen Normalität geworden, und das verlangt von uns, die Spielregeln zu ändern. Und die grundlegenden Alternativen, die wir hier haben, sind Spielregeln für mehr Freiheit oder für mehr Kontrolle. Jede Änderung der Spielregeln erfordert die geistige Bereitschaft, diese auch umzusetzen. Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir in der Lage, Zeuge einer globalen, kollektiven mentalen Bereitschaft zur Veränderung für fast acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten zu werden. Es ist wie ein weltweiter Feldversuch. Regierungen auf der ganzen Welt haben bewiesen, dass sie bereit sind, radikale Schritte zu unternehmen und mutige Entscheidungen zu treffen, die weitreichendere Perspektiven als je zuvor einschließen. Seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten hat die Menschheit erstmals wieder eine solche Chance erhalten. Es ist wie eine Art »Kairos-Moment«.
Abbildung 1   Krisen und AggregatzustandA beschreibt zyklische Veränderungen und Krisen; B den Kairos-Moment und den Phasenwechsel im Aggregatzustand einer Gesellschaft; C alternative zukünftige Zustände: Offene Gesellschaften und Autokratien.
In der griechischen Mythologie war Kairos der Gott des richtigen Augenblicks und der perfekten Gelegenheit. Ein Augenblick in der Geschichte, bei dem wir nicht auf Flucht und Kampf, nicht auf Apokalypse, Alarm und Angst, sondern auf Aufmerksamkeit und Achtsamkeit setzen sollten. Dieser Moment kann entweder in ein Mehr an Autonomie, kritischem Denken und individueller Selbstwirksamkeit, also letztlich Freiheit münden; oder wir entscheiden uns für Autokratie, Konformismus und kollektive, technokratische Beschlüsse und letztlich für ein Mehr an Kontrolle, Zwang und Knechtschaft.