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Das gewaltige Vermächtnis an innovativem Wissen und Initiativen, das Steiner uns hinterlassen hat, hat eine Vielzahl von Initiativen in den verschiedenen Bereichen menschlichen Strebens in der ganzen Welt hervorgebracht, darunter die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die anthroposophische Medizin, die Eurythmie, die Kunst der Sprache, die Steinersche Pädagogik (Waldorfschulen) und die lebendige Architektur. Die Aktivitäten der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, künstlerische und theatralische Aktivitäten, Konferenzen, Treffen und Konzerte finden im Goetheanum statt.
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EINE AUSSERGEWÖHNLICHE STUDIE von RUDOLF STEINER, Ph.D. (Wien), 1912
Blut ist eine ganz besondere Flüssigkeit".
Jeder von Ihnen weiß sicherlich, dass der Titel dieses Vortrags Goethes Faust entnommen ist. Sie alle wissen, dass in diesem Gedicht gezeigt wird, wie Faust, der Vertreter des höchsten menschlichen Strebens, einen Pakt mit den Mächten des Bösen eingeht, die ihrerseits in dem Gedicht von Mephistopheles, dem Abgesandten der Hölle, vertreten werden. Sie werden auch wissen, dass Faust einen Pakt mit Mephistopheles eingehen muss, dessen Urkunde mit seinem eigenen Blut unterzeichnet werden muss. Faust hält dies zunächst für einen Scherz. Mephistopheles aber sagt an dieser Stelle den Satz, den Goethe zweifellos ernst nehmen wollte: "Blut ist eine ganz besondere Flüssigkeit".
Nun stoßen wir bei diesem Vers aus Goethes Faust auf einen merkwürdigen Zug bei Goethes sogenannten Kommentatoren. Sie wissen natürlich, wie umfangreich die Literatur ist, die sich mit Goethes Version der Faust-Sage beschäftigt. Es handelt sich um eine Literatur von so gewaltigem Ausmaß, dass man ganze Bibliotheken damit füllen könnte, und ich kann mir natürlich nicht die Zeit nehmen, auf die verschiedenen Kommentare dieser Goethe-Interpreten zu dieser speziellen Stelle einzugehen. Keine der Interpretationen wirft ein besseres Licht auf den Satz als die von einem der letzten Kommentatoren, Professor Minor. Er behandelt es, wie andere auch, im Lichte einer ironischen Bemerkung von Mephistopheles und macht in diesem Zusammenhang die folgende sehr merkwürdige Bemerkung, die ich Sie bitte, mit größter Aufmerksamkeit zu lesen; denn Sie werden zweifellos überrascht sein, zu welch seltsamen Schlussfolgerungen Goethes Kommentatoren fähig sind.
Professor Minor stellt fest, dass "der Teufel ein Feind des Blutes" ist, und weist darauf hin, dass der Teufel, der der Feind des Menschengeschlechts ist, auch ein Feind des Blutes sein muss, da das Blut das Leben erhält und bewahrt. Dann weist er zu Recht darauf hin, dass auch in den ältesten Fassungen der Faust-Legende - und überhaupt in Legenden - das Blut immer die gleiche Rolle spielt.
In einem alten Faust-Buch wird detailliert beschrieben, wie Faust sich mit einem kleinen Taschenmesser einen kleinen Schnitt in die linke Hand macht und wie dann, als er die Feder zur Hand nimmt, um seinen Namen auf dem Vertrag zu unterschreiben, das Blut, das aus dem Schnitt fließt, die Worte bildet: "O Mensch, flieh!" All das ist authentisch genug; aber jetzt kommt die Feststellung, dass der Teufel ein Feind des Blutes ist und dass er deshalb verlangt, dass die Unterschrift mit Blut geschrieben wird. Ich möchte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, dass ein Mensch darauf erpicht ist, genau das zu besitzen, wofür er eine Abneigung hat? Die einzig vernünftige Erklärung, die sich nicht nur im Hinblick auf Goethes Bedeutung in dieser Passage, sondern auch im Hinblick auf die Bedeutung der Hauptlegende sowie aller älteren Faust-Gedichte geben lässt, ist, dass für den Teufel Blut etwas Besonderes war und dass es ihm keineswegs gleichgültig war, ob die Urkunde mit gewöhnlicher neutraler Tinte oder mit Blut unterzeichnet wurde.
Wir können hier nichts weiter vermuten, als dass der Vertreter der Mächte des Bösen glaubt - ja, überzeugt ist -, Faust noch mehr in seine Gewalt zu bekommen, wenn er nur wenigstens einen Tropfen seines Blutes in die Hände bekommt. Dies ist offensichtlich, und niemand kann den Vers wirklich anders verstehen. Faust muss seinen Namen in sein eigenes Blut einschreiben, nicht weil der Teufel ihm feindlich gesinnt ist, sondern weil er Macht über ihn gewinnen will.
Nun liegt dieser Passage eine bemerkenswerte Erkenntnis zugrunde, nämlich dass derjenige, der Macht über das Blut eines Menschen erlangt, Macht über den Menschen erlangt, und dass das Blut eine "ganz besondere Flüssigkeit" ist, weil es sozusagen diejenige ist, um die der eigentliche Kampf geführt werden muss, wenn es um den Kampf des Menschen zwischen Gut und Böse geht.
All das, was uns in den Legenden und Mythen verschiedener Völker überliefert ist und das menschliche Leben berührt, wird in unserer Zeit eine besondere Wandlung erfahren, was die gesamte Auffassung und Interpretation der menschlichen Natur betrifft. Vorbei sind die Zeiten, in denen Legenden, Märchen und Mythen lediglich als Ausdruck der kindlichen Vorstellungskraft der Menschen betrachtet wurden. In der Tat ist auch die Zeit vorbei, in der es in halbwegs ernsthafter und kindlicher Weise Mode war, auf Legenden als poetischen Ausdruck der Seele einer Nation anzuspielen.