Die Partie seines Lebens - Walter Tevis - E-Book

Die Partie seines Lebens E-Book

Walter Tevis

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Beschreibung

Auf den ersten Blick könnte man Fast Eddie Felson für einen mittelmäßigen Billardspieler mit einem ehrlichen Lächeln und locker sitzender Brieftasche halten. Liegen aber die großen Scheine auf dem Tisch, zeigt Eddie sein ganzes Können und zockt seine Gegner gnadenlos ab. Doch die Chicagoer Billardlegende Minnesota Fats ist ein anderes Kaliber. Fast Eddie riskiert mehr als nur sein Geld und geht einen Pakt ein, um das Spiel seines Lebens zu spielen.

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Walter Tevis

Die Partie seines Lebens

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda

Diogenes

1

Mit einem Schlüssel an einem großen Metallring sperrte Henry, schwarz und gebeugt, die Tür auf. Es war neun Uhr morgens. Soeben hatte der Aufzug ihn heraufgebracht. Die Tür bestand aus schwerem, kunstvoll verziertem Eichenholz, das einst auf Mahagoni gebeizt worden war, nun aber nach sechzig Jahren Qualm und Schmutz wie Ebenholz aussah. Er stieß sie auf, schob mit dem lahmen Fuß den Türstopper an seinen Platz und hinkte hinein.

Es war nicht nötig, Licht zu machen, denn morgens gingen die drei riesigen Fenster an der Längsseite des Raums zur aufsteigenden Sonne hinaus. Dort draußen erstreckte sich ein Großteil von Chicagos Stadtzentrum im hellen Tageslicht. Henry zog an der Kordel und öffnete die schweren, verstaubten Vorhänge, die sich in schmuddeliger Eleganz zu beiden Seiten der Fenster rafften. Dahinter erstreckte sich ein Panorama grauer Gebäude mit vereinzelten Flecken eines jungfräulich blauen Himmels. Er schob die Fenster ein paar Zentimeter hoch. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte kleine Staubpartikel auf und vertrieb langsam den vier Stunden alten Zigarettenrauch. Nachmittags würden die Vorhänge wieder zugezogen und die Fenster geschlossen sein, nur früh morgens wurde die verqualmte Luft durch frische ersetzt.

Ein Billardsalon am Morgen ist ein merkwürdiger Ort. Er hat bestimmte Phasen, macht tägliche Metamorphosen durch, streift die gemusterten Häute ab. Jetzt, gegen neun Uhr morgens, hätte er eine große Kirche sein können, mit der Stille, der Sonne, die durch die schmutzigen Fenster fiel, in sich gekehrt und außerhalb der Zeit, und den großen Tischen aus massivem Mahagoni, deren grüne Filzbeläge diskret mit Hüllen aus grauem Wachstuch abgeschirmt waren. Entlang der Wände standen wuchtige Spucknäpfe aus Messing zwischen hohen Stühlen mit Sitzflächen aus echtem, strapazierfähigem, von vielen Hinterteilen zu antikem Glanz poliertem Leder, und über allem wölbte sich eine hohe Decke mit vier großen Kandelabern und einem mehrfach unterteilten Oberlicht – denn dieser Saal befand sich im obersten Stockwerk eines altehrwürdigen Gebäudes, das sich mitten in Chicago wie ein hässlicher Klotz von achtstöckiger Bedeutungslosigkeit erhob. Der ganze gewaltige Raum mit den hochlehnigen Zuschauerstühlen, die respektvoll um jeden der zweiundzwanzig Tische gruppiert waren, erinnerte an eine Kultstätte, eine heruntergekommene Kathedrale.

Aber später, wenn die Aufsteller und der Kassierer eintrafen, die Deckenventilatoren eingeschaltet wurden und Gordon, der Manager, sein Radio einschaltete, nahm er die typische vormittägliche Atmosphäre aller Nachtclubs, Bars und Billardsalons an, die nur nachts wirklich lebendig sind. Dann hörte man in dem großen, beinahe menschenleeren Saal nur das Schlurfen vereinzelter Schritte, das gelegentliche Klirren von Glas oder Metall, das Geräusch der Besen und nassen Wischlappen, das Scharren von Möbelstücken, die verschoben werden, und die unwirkliche Musik aus dem Radio. Vor allem aber spürte man, dass der Ort zwar noch nicht wirklich zum Leben erwacht war, aber bereits die ersten Ansätze seiner allabendlichen Wiederauferstehung in sich trug.

Wenn dann am Nachmittag die Spieler eintrudelten und der Tabakrauch, das Klicken der schweren glänzenden Kugeln und das Quietschen der Kreideklötzchen auf den harten Lederspitzen der Queues zurückkehrten, begann die letzte Phase der Metamorphose, die ihren Höhepunkt erst erreichte, wenn spät in der Nacht Gelegenheitsspieler und Betrunkene verschwunden waren und nur noch Besessene und Gauner übrig blieben, die zusahen und Wetten abschlossen, während andere – eine kleine Gruppe von durchweg ärmlich gekleideten Männern, die sich alle untereinander kannten, aber nur selten miteinander sprachen, auf den Tischen im hinteren Teil des Raumes stumme Partien von intensivem, fantastisch gespieltem Pool austrugen. Zu dieser Zeit war Bennington’s Billard Hall auf eine einzigartige Art lebendig.

Henry nahm einen großen Besen aus dem Schrank neben der Tür und begann, humpelnd den Boden zu fegen. Noch ehe er fertig war, kam der Kassierer herein, stellte sein kleines Plastikradio an und zählte Geld für die Registrierkasse ab. Die Kasse gab einen lauten Klingelton von sich, als er die Taste drückte, um sie zu öffnen. Die Stimme im Radio wünschte allen einen guten Morgen.

Henry fegte den Boden zu Ende, stellte den Besen weg und zog die Abdeckung von den Tischen, sodass die hellgrünen Filzbeläge zum Vorschein kamen. An den Tischen, an denen in der Nacht zuvor Geschäftsleute und Büroangestellte gespielt hatten, war der Filz von blauen Kreidestrichen und weißem Talkum-Puder gesprenkelt. Nachdem er die Schutzhüllen einzeln zusammengefaltet und in der Ablage des Schranks verstaut hatte, polierte er mit einer Bürste die Holzleisten der Tische, sodass sie in einem warmen Braunton glänzten. Anschließend bürstete er den Stoff ab, bis die Kreide-, Talkum- und Schmutzflecken verschwunden waren und das Grün wieder leuchtete.

2

Am frühen Nachmittag trainierte ein großer schwerer Mann mit grünen Hosenträgern über dem sportlich geschnittenen Hemd an einem der vorderen Tische. Gleichzeitig rauchte er eine Zigarre auf dieselbe Art und Weise, wie er seinen Anstoß übte: bedächtig und konzentriert. Er war ein gelassener Mensch, der sanft und gleichmäßig seine Zigarre hin und her schob wie eine wiederkäuende Kuh, bis das Zigarrenende genau den Grad an Feuchtigkeit erreicht hatte, den er gerade haben wollte. Geduldig stieß er seine Kugel, immer gleich schnell, immer in dieselbe Tasche, und fast immer lochte er sie sacht und sicher ein. Dennoch schien es ihm kaum etwas zu bedeuten, wenn er den Ball versenkte, denn er trainierte diesen Stoß schon seit zwanzig Jahren.

Ein jüngerer Mann mit schmalem, ausgezehrtem Gesicht beobachtete ihn. Er trug einen schwarzen Anzug, obwohl es Sommer war, und hatte einen gequälten Gesichtsausdruck. Ständig rang er die Hände, als wäre er bekümmert, oder legte nervös den Zeigefinger an die Nase und schnief‌te. An manchen Nachmittagen wurde sein ängstlicher Blick durch einen überspannten Ausdruck und erweiterte Pupillen noch verstärkt. Dann rieb er sich nicht die Nase, sondern kicherte in sich hinein. Das geschah, wenn er in der Nacht zuvor beim Wetten gewonnen und sich Kokain hatte kaufen können. Er selbst spielte kein Pool, verdiente sich aber einen bescheidenen Lebensunterhalt, indem er, wann immer er konnte, Wetten abschloss. Man nannte ihn den Prediger.

Nach einer Weile zog er die Nase hoch, um die Stimme seines Affen zu übertönen, dieses hartnäckige Flüstern der Sucht, das zu einem ständigen Quengeln geworden war. »Big John«, sagte er an den trainierenden Mann gerichtet, »ich glaube, ich hab Neuigkeiten.«

Der große Mann führte seinen Stoß zu Ende, ohne dass die Unterbrechung den gleichmäßigen Schwung seines kräftigen Arms hätte stören können. Er beobachtete, wie die helle Dreierkugel den Tisch hinaufrollte, gegen die Bande stieß, zurückrollte und passgenau in der Ecktasche verschwand. Dann drehte er sich um, nahm die Zigarre aus dem Mund, betrachtete sie kurz und sah den Prediger an: »Du glaubst also, du hättest Neuigkeiten? Was soll das heißen, du glaubst, du hättest Neuigkeiten?«

Seine Reaktion schüchterte den Prediger so ein, dass er den Faden verlor. »Ich hab da was gehört … letzte Nacht bei Rudolphs … Na ja, da war dieser Kerl am Pokertisch, und der hat erzählt, er wär gerade von den Pferderennen in Hot Springs zurückgekommen …« Die Stimme des Predigers klang jetzt kläglich. Big John schüchterte ihn ein, und das Quengeln seines Affen klang allmählich kratzig. Er rieb sich mit dem Zeigefinger heftig über die Nase, »… der hat gesagt, Eddie Felson wär in Hot Springs gewesen und hätte ihm erzählt, er käme hier hoch. Vielleicht schon morgen, Big John.«

Big John kaute bereits wieder an seiner Zigarre. Er nahm sie erneut aus dem Mund und musterte sie. Sie war sehr weich, und er lächelte zufrieden. »Fast Eddie?«, sagte er und zog dabei die dicken Brauen hoch.

»Das hat er gesagt. Beim Geben hat er gesagt: ›Ich hab Fast Eddie unten in Hot Springs getroffen, und der hat mir erzählt, er wollte hier hochkommen. Nach den Rennen.‹« Der Prediger rieb sich die Nase. »Er hat gesagt, Eddie hätte da unten in Hot Springs kein Glück gehabt.«

»Ich hab gehört, dass er ziemlich gut sein soll«, sagte Big John.

»Er gilt als einer der Besten. Einer mit massig Talent. Leute, die ihn spielen gesehen haben, behaupten, er wär der Beste.«

»Die Leier kenn ich! Das hab ich schon über jede Menge zweitklassiger Spieler gehört.«

»Klar.« Der Prediger konzentrierte sich auf sein Ohr und fing an, spekulativ daran zu zupfen, in dem vergeblichen Versuch, einen intelligenten Eindruck zu machen. »Aber alle sagen, er hätte drüben in L.A. Johnny Varges geschlagen. Hätte ihn richtig plattgemacht.« Er zupf‌te an seinem Ohr und setzte dann, als Big John nicht reagierte, mit Nachdruck hinzu: »Wie Pisse auf dem Highway, einfach platt.«

»Vielleicht war Johnny Varges besoffen. Hast du das Spiel gesehen?«

»Nein, aber …«

»Wer hat’s gesehen?« Plötzlich war Big John hellwach. Er nahm die Zigarre aus dem Mund, beugte sich zu dem Prediger hinab und starrte ihn durchdringend an. »Bist du jemals wem begegnet, der Fast Eddie Felson hat Pool spielen sehen?«

Die Augen des Predigers schossen umher, als suche er ein Loch, um sich zu verkriechen. Als er keins fand, sagte er: »Also …«

»Also was?« Big John starrte ihn immer noch an, streng, ohne zu blinzeln.

»Also … nein.«

»Nein. Natürlich nicht.« Big John richtete sich auf und breitete die Arme aus, als wollte er den Allmächtigen anrufen. »Und wer in Gottes Namen hat diesen Kerl jemals zu Gesicht bekommen? Das frag ich dich. Niemand, sag ich. Kein Mensch.« Er drehte sich wieder zum Tisch um, holte seinen Dreierball aus der Ecktasche und legte ihn auf den grünen Filz. Dann fing er an, die Spitze seines Queues bedächtig mit Kreide einzureiben, als wäre das Gespräch für ihn damit beendet und die Angelegenheit erledigt.

Der Prediger brauchte eine Weile, um seine Fassung zurückzugewinnen und seine wirren Gedanken zu ordnen. Schließlich sagte er: »Aber du hast doch Abie Feinman gehört, was die sich drüben im Westen über Fast Eddie erzählen, über ihn und Texaco Kid und Varges und Billy Curtiss und all die anderen, die er abgeschossen hat. Und der Kerl heute Nacht bei Rudolphs, der hat gesagt, in Hot Springs würde man über nichts anderes mehr reden als Fast Eddie Felson.«

»Ach ja?« Big John ließ von seinem Dreierball ab, drehte sich voller Geringschätzung um und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Und? Hat dieser Kerl in Hot Springs Fast Eddie spielen sehen?«

»Na ja … Offenbar hat er bei den Rennen irgendein krummes Ding am Laufen gehabt, ich glaub, er kriegt Tipps von einem fahrenden Wettbüro oder so – und er meinte, er hätte sich um seine Klienten kümmern müssen. Aber er sagt …«

»Schon gut, alles klar, ich hab’s gehört. Du hast es mir schon erzählt.« Big John wandte sich wieder seiner Kugel zu. Der Ball rollte vor, prallte von der Bande ab und fiel erneut ins Eckloch. Er legte ihn wieder auf. Plumps. Noch mal dasselbe.

Der Prediger beobachtete ihn stumm und fragte sich, wann er das Loch verfehlen würde. Unablässig stieß Big John den Dreierball den Tisch rauf und runter und in die Tasche. Jedes Mal, wenn der Ball verschwand, rieb sich der Prediger die Nase. Schließlich rollte die Kugel den kaum wahrnehmbaren Bruchteil eines Zentimeters näher an die Bande heran als sonst. Sie traf die Ecke der Tasche, drehte sich kurz um die eigene Achse und blieb dann liegen. Big John nahm die Kugel, hielt sie in seiner schweren rechten Hand und starrte sie an, mehr missbilligend als wütend – schließlich hatte er sie in zwanzig Jahren schon oft verschossen. Dann warf er sie in die Tasche und wandte sich dem Prediger zu. »Und wer soll das sein, dieser Fast Eddie? Wer hatte vor sechs Monaten je von Fast Eddie gehört?«

Der Prediger war eine Sekunde lang überrumpelt. »Wie meinst du das?«

»Dieser Fast Eddie ist in aller Munde. Aber wer ist er überhaupt?«

Der Prediger zupf‌te an seinem Ohr. »Nun … der Kerl, von dem ich dir erzählt hab, der hat gesagt, er hätte früher an der Küste gespielt. Kalifornien. Er meint, er wäre erst vor zwei oder drei Monaten auf der Bildfläche erschienen. Hätte noch nie in Chicago gespielt.«

Big John nahm die Zigarre aus dem Mund, sah sie missmutig an und warf sie dann sachte in einen der Spucknäpfe aus Messing neben dem Talkum-Behälter. Sie zischte, als sie in den Spucknapf fiel, und beide betrachteten ihn eine Weile, als warteten sie darauf, dass irgendetwas passierte. Als das nicht der Fall war, sah Big John den Prediger an. Zigarre und Dreierball waren verschwunden, jetzt war er ganz konzentriert. Der Prediger schien unter dem strengen Blick zu schrumpfen.

»Vor dreißig Jahren war ich die große Nummer«, sagte Big John. »Genau wie dieser Fast Eddie. Ich hatte Talent. Vor dreißig Jahren trug ich schicke Stiefel, lebte in Columbus, Ohio, und fuhr mit dem Taxi in den Billardsalon – mit dem Taxi –, um gegen die Jungs aus den Fabriken und die kleinen Angeber aus der Provinz zu spielen. Damals paffte ich 25-Cent-Zigarren, bei Gott! Und dann kam ich nach Chicago, bei Gott!« Er hielt kurz inne und holte Luft, ohne den Blick von dem Prediger zu nehmen. »Ich kam in diese große gottverfluchte Stadt, und ich hatte einen Namen. Die Leute fingen an zu tuscheln, kaum dass ich einen Fuß in den Billardsalon setzte, und zeigten mit dem Finger auf mich, Big John aus Columbus. Dann brachten sie mich zum alten Bennington, dem Mann, dessen Name auf dem Schild da draußen vor der Tür dieses gottvergessenen Billardsalons stand, wie jetzt, nur dass er auf Holz gemalt statt aus Neon war. Ich war heiß, bei Gott, war ich heiß, ich war ein heißer Spieler aus Columbus, Ohio, ein großer Name von außerhalb. Und weißt du, was passiert ist, als ich gegen Bennington spielte, da drüben am Tisch Nummer drei?« Er zeigte auf einen robusten Billardtisch aus massivem Mahagoni. »An dem Tisch da drüben, zwanzig Dollar das Spiel. Weißt du, was passiert ist?«

Der Prediger trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Nun, ich kann’s mir denken. Ich glaub schon …«

Big John hob die Hände. Er sah aus wie ein Koloss. »Du glaubst. Herrgott, Mann, gibt es eigentlich irgendwas, das du weißt?«

Irgendwie erlaubte sich der Prediger inmitten all des Zorns, der ihm entgegenschlug, einen Anflug von Gereiztheit. »Okay, schon gut, du hast verloren. Wahrscheinlich hat er dich geschlagen.«

Big John schien die Antwort zu gefallen. Er senkte die riesigen Hände wieder, stemmte sie in die Hüften und beugte sich vor. »Prediger«, sagte er leise, »er hat mir meinen fetten Arsch versohlt. Aber wie!«

Dann schwieg er eine volle Minute. Der Prediger senkte den Blick. Big John trat an den Tisch, fischte den Dreierball aus der Ecktasche und musterte ihn spekulativ.

Schließlich sah der Prediger auf. »Du bist immer noch ein guter Spieler, einer der besten in der ganzen Stadt, Big John. Außerdem heißt das nicht, dass Fast Eddie …«

»Klar heißt es das, verdammt noch mal. Seit ich vor mehr als dreißig Jahren zum ersten Mal durch diese Tür da getreten bin, hör ich das Gerede über die tollen Hechte von außerhalb, die auf dem Weg hierher sind. Ich hab gegen die Großen aus Hot Springs und Atlanta City gespielt, und sie haben mich ausgenommen wie eine Gans. Aber ich war nie eine richtig große Nummer und werde auch nie eine sein. Die großen Nummern, die kommen nicht aus Mississippi, aus Texas oder Kalifornien, um hellwach gegen einen Topspieler aus Chicago zu spielen und den Saal mit mehr in der Tasche zu verlassen, als sie beim Reinkommen hatten. Das gibt’s nicht. Das passiert einfach nicht.«

Der Prediger zog die Nase hoch. »Verdammt, Big John, hin und wieder muss doch mal irgendwer auf‌tauchen, der … Na ja. Du weißt doch, wie’s zugeht beim Pool.«

Big John nahm eine neue Zigarre aus seiner Hemdtasche. »Ich weiß, wie Pool geht. Weiß ich, wie Pool geht?« Er zog die Zellophanhülle von der Zigarre und zerknüllte sie in der Hand. »Herrgott, ich hab’s versucht. Ich hab versucht, dir zu erklären, dass ich weiß, wie dieses Spiel geht, und ich hab versucht, dir zu erklären, dass niemand«, er beugte sich vor, »kein Mensch hier reinkommt und George the Fairy oder Jackie French oder Minnesota Fats schlägt. Nicht wenn es mit rechten Dingen zugeht, nicht wenn der sich ein Queue nimmt und die sich ein Queue nehmen und Woody oder Gordon die Kugeln aufsetzen und sie irgendeine Version von Pool spielen, die du oder ich oder Willie Hoppe mit Gottes Hilfe als solche erkennen, erahnen oder erträumen können. Wenn jemand Handicaps ausgibt, wenn George the Fairy oder Jackie French anfangen, Bälle zu spotten, dann wird es vielleicht ein ausgeglichenes Spiel. Aber kein Großmaul aus Columbus, Ohio, oder Kalifornien wird je einen Topspieler aus Chicago schlagen.« Er steckte sich die Zigarre in den Mund, ohne sie auch nur anzufeuchten. »Also, was ist jetzt mit diesem Fast Eddie Felson aus Kalifornien?«

Der Prediger schnief‌te. »Na gut, dann warte ich, bis er hier ist.« Und setzte dann beinahe unhörbar hinzu: »Trotzdem, Johnny Varges hat er plattgemacht. Auch wenn’s bloß in Hot Springs war, aber er hat ihn erledigt.«

Big John schien nicht zuzuhören. Er hatte den Dreierball die ganze Zeit in der Hand gehalten und setzte ihn jetzt wieder auf seinen Spot auf dem Tisch. Den weißen Spielball legte er dahinter. Dann rieb er die lederne Pomeranze an der Spitze des Queues mit Kreide ein und sagte leise: »Mal sehen, wie er sich gegen Minnesota Fats schlägt.« Sachte stieß er die Dreierkugel an, und sie folgte ihrer vorgezeichneten Bahn über den grünen Filzbelag und fiel in die Ecktasche. Dann griff er in die Hosentasche, zog einen zerknüllten Schein heraus und legte ihn auf die Tischkante. »Na los, zisch ab und besorg dir dein Koks. Ich kann nicht mehr mitansehen, wie du ständig an deiner verdammten Nase rumreibst.«

3

Etwa zur gleichen Zeit betraten in Watkins, Illinois, zwei Männer eine Kneipe namens The Smoker: Pool Hall, Stag Bar and Grill. Sie wirkten müde vom Fahren und schwitzten, obwohl sie Sporthemden mit offenem Kragen trugen. Sie setzten sich an die Bar, wo der Jüngere – ein gut aussehender Kerl mit dunklem Haar – Whiskey für beide bestellte. Seine Stimme und sein Auf‌treten waren angenehm, höf‌lich. Er bat ausdrücklich um Bourbon. Hier drin war es ruhig und leer, bis auf den Barkeeper und einen jungen Schwarzen in engen Jeans, der den Fußboden fegte.

Als ihre Drinks kamen, reichte der Jüngere dem Barkeeper einen Zwanzig-Dollar-Schein und grinste. »Ganz schön heiß, was?« Sein Grinsen war irgendwie merkwürdig. Es wollte nicht so recht zu ihm passen; er war zwar sympathisch, machte aber einen nervösen Eindruck, so, als stünde er unter Hochspannung. Die leuchtenden dunklen Augen blickten auf beinahe kindliche Art ernst in die Welt. Aber das Grinsen war breit und entspannt und wirkte paradoxerweise natürlich.

»Yeah«, erwiderte der Barkeeper. »Irgendwann besorg ich mir eine Klimaanlage.« Er gab Eddie das Wechselgeld zurück. »Ihr Jungs seid wohl auf der Durchreise, wie?«

Erneut schenkte der junge Mann ihm dieses seltsame Grinsen über den Rand seines Glases hinweg. »Stimmt.« Er konnte kaum älter als fünfundzwanzig sein. Ein attraktiver junger Mann, lässig gekleidet, freundlich, mit ernsten, leuchtenden Augen.

»Chicago?«

»Ja.« Er stellte das halb volle Glas ab, nahm einen Schluck Wasser und warf einen offensichtlich interessierten Blick auf die vier Billardtische, die etwa zwei Drittel des Raums einnahmen.

Der Barkeeper war eigentlich nicht sehr gesprächig, aber der junge Mann gefiel ihm. Er schien schlau zu sein, machte aber einen grundanständigen Eindruck. »Hin- oder Rückfahrt?«, fragte der Barkeeper.

»Hinfahrt. Morgen müssen wir da sein.« Wieder dieses Grinsen. »Vertreterkonferenz.«

»Tja, da habt ihr ja noch viel Zeit. In zwei, höchstens drei Stunden seid ihr da.«

»Ach ja?«, sagte der junge Mann fröhlich und warf seinem Kumpel einen Blick zu. »Dann lass uns eine Runde spielen, Charlie. Bis es draußen ein bisschen kühler wird.«

Charlie, ein rundlicher kleiner Mann mit lichtem Haar, der mit seiner ungerührten Miene wie ein Komiker wirkte, schüttelte den Kopf. »Verdammt, Eddie, du weißt doch, du hast keine Chance gegen mich.«

Der Jüngere lachte. »Das werden wir noch sehen. Ich hab hier einen Zehner, der nur darauf wartet, dass ich dich schlage.« Er nahm einen Zehner von dem Wechselgeld, das vor ihm auf der Theke lag, hielt ihn in die Höhe und grinste herausfordernd.

Der andere schüttelte den Kopf, als machte ihn das sehr traurig. »Eddie«, sagte er und rutschte vorsichtig vom Barhocker. »Du wirst bluten müssen. Wie immer.« Er nahm ein ledernes Zigarettenetui aus der Tasche und öffnete es mit seinem kräftigen, geschickten Daumen. Dann zwinkerte er dem Barkeeper bedeutungsvoll zu. »Er kann’s sich leisten«, sagte er mit kratziger, trockener Stimme. »Hat letzten Monat Drogerieartikel für siebzehntausend Dollar an den Mann gebracht. Der Tüchtigste im ganzen Bezirk. Morgen auf der Konferenz werden sie ihm als Allererstes einen Orden verpassen.«

Eddie war an den ersten der vier Tische getreten und hatte das hölzerne Dreieck von den bunten Kugeln gehoben. »Nimm dir einen Stock, Charlie«, rief er fröhlich. »Los, kneifen gilt nicht.«

Charlies Gesicht war noch immer völlig ausdruckslos, als er zu ihm hinüberwatschelte und ein Queue aus dem Regal nahm. Es war leicht, so wie das, für das sich auch Eddie entschieden hatte, höchstens siebzehn Unzen. Da der Barkeeper selbst hin und wieder spielte, war es ihm aufgefallen. Erfahrene Spieler nahmen eher schwere Queues.

Eddie machte den Anstoß. Er hielt das Queue beim Spielen mit der rechten Hand am Endstück fest. Der Bogen aus Zeigefinger und Daumen, mit dem er seine Brücke bildete, war eng und ungelenk. Er stieß die weiße Kugel so ruckartig und hart an, als wollte er sie aufspießen. Der Spielball traf seitlich auf die Bälle, sodass die Kraft des Stoßes erheblich gedämpft wurde und die Kugeln nicht allzu weit auseinander rollten. Er sah sich ihre Positionen an und grinste Charlie zu. »Du bist dran.«

Charlies Spiel war nicht viel besser. Alles deutete darauf hin, dass er ein mittelmäßiger Spieler war, seine Brücke war fast genauso plump wie die von Eddie, und er schien nicht genau zu wissen, was er mit seinen Füßen anfangen sollte, wenn er zum Stoß ausholte. Unsicher trat er von einem auf den anderen. Auch er stieß zu hart zu, aber einige Stöße gelangen ihm trotzdem. Der Barkeeper registrierte das alles. Er beobachtete auch, wie nach jedem Spiel das Geld den Besitzer wechselte. Charlie gewann drei Spiele in Folge. Nach jedem Spiel genehmigten sich die beiden einen weiteren Drink, und Eddie überreichte Charlie einen Zehner aus seiner prall gefüllten Brief‌tasche.

Sie spielten Rotation Pool, auch – fälschlicherweise – 14/1 Endlos genannt. Es war die verbreitetste Pool-Disziplin und vor allem bei Collegestudenten und Handelsreisenden sehr beliebt. Sie wird beinahe ausschließlich von Amateuren gespielt. Es gibt ein paar Profis, die sie spielen, aber nur sehr wenige. Richtige Zocker ziehen 9-Ball, Bank Pool, Straight Pool und One-Pocket vor. Jede dieser Varianten bietet einem Könner einen nahezu garantierten Sieg. Bei Rotation Pool dagegen ist zu viel Glück im Spiel, es sei denn, die Allerbesten treten gegeneinander an.

Doch dieses Wissen überstieg den Horizont des Barkeepers. Er kannte sie nur als weitere Lieblingsdisziplin von Amateuren. Die ernsthaften Spieler in seinem Laden spielten 9-Ball. Einmal hatte er sogar gesehen, wie ein Spieler aus der Stadt vier Partien 9-Ball spielte, ohne einen einzigen Stoß zu verfehlen.

Der Barkeeper sah ihnen interessiert zu, denn im Billardsalon einer Kleinstadt ist eine Zehn-Dollar-Wette ein Ereignis. Mit der Zeit gesellten sich ein paar Stammgäste dazu. Nach einer Weile erhöhten die beiden ihre Einsätze auf zwanzig Dollar. Inzwischen war es später Nachmittag, und fast nach jeder Partie bestellten sie neue Drinks, sodass der Jüngere allmählich betrunken wurde. Und erfolgreicher. Oder er wurde heiß und fand besser ins Spiel. Er gewann, wurde übermütig und fing an, sich allen Ernstes über den Älteren lustig zu machen. Mittlerweile hatte sich eine Zuschauermenge um den Tisch versammelt.

Dann lag am Ende einer Partie der Vierzehner in einer schwierigen Position auf dem Tisch, drei oder vier Zoll von der Seitenbande zwischen zwei Taschen, und die weiße Kugel fast genau gegenüber, ungefähr zwei Fuß entfernt. Eddie trat an, holte aus und stieß. Man hätte erwartet, dass er versuchen würde, die Vierzehn über die Seitenbande in die gegenüberliegende Ecktasche zu spielen. Stattdessen prallte der Spielball mit gerade genug Ef‌fet von der Bande ab, traf den farbigen Ball von hinten und beförderte ihn in die Ecktasche.

Jubelnd stieß Eddie den Schaft seines Queues auf den Boden und drehte sich zu Charlie um. »Her mit der Kohle, du Flasche!«

Charlie reichte ihm die zwanzig Dollar. »Du solltest es mal mit Glücksspiel versuchen, Eddie.«

Eddie grinste. »Was willst du damit sagen?«

»Du weißt genau, was ich damit sagen will. Du wolltest die Kugel über Bande lochen.« Er wandte sich ab. »Und dann hast du unverschämtes Schwein und versenkst sie mit Vorbande.«

Eddies Lächeln erstarb. Man sah ihm an, dass er betrunken war. »Nun mal langsam, Charlie«, sagte er leicht gereizt. »Nun mal langsam.« Der Barkeeper beugte sich fasziniert über die Theke.

»Was meinst du damit, nun mal langsam? Setz die Bälle auf.« Charlie begann, die Kugeln aus den Löchern zu nehmen und ans Fußfeld des Tisches zu rollen.

Plötzlich packte ihn Eddie am Arm und hielt ihn zurück. Er steckte die Bälle in die Taschen zurück. Dann nahm er die Vierzehnerkugel und die weiße Kugel und legte sie vor Charlie auf den Tisch. »So, Charlie. Setz sie wieder so auf, wie sie vorhin lagen.«

Charlie blinzelte ihn an. »Wozu?«

»Los, setz sie auf«, sagte Eddie. »So, wie sie vorhin lagen. Ich wette zwanzig Dollar, dass ich den Stoß genau so hinkriege wie eben.«

Charlie blinzelte erneut. »Sei kein Dummkopf, Eddie«, sagte er ernst. »Du bist betrunken. Den Stoß kriegst du nie wieder so hin, und das weißt du. Fangen wir ein neues Spiel an.«

Eddie warf ihm einen eisigen Blick zu. Er setzte die Bälle ungefähr wieder so auf den Tisch auf, wie sie zuvor gelegen hatten. Dann schweif‌te sein Blick über die Menschen rings um den Tisch, die alles aufmerksam verfolgten. »Wie sieht’s aus?«, fragte er mit ernster Stimme und einem betrunken verzogenen Gesicht. »Ist es so richtig?«

Die Leute zuckten die Achseln. Einige murmelten unverbindlich: »Scheint so.« Eddie sah Charlie an. »Was meinst du? Ist das okay, Charlie?«

Charlies Stimme klang vollkommen gelassen. »Ja, sicher.«

»Um deinen Zwanziger?«

Charlie zuckte die Schultern. »Es ist dein Geld.«

»Gilt die Wette?«

»Ja. Schieß los.«

Eddie wirkte euphorisch. »Na schön«, sagte er. »Pass auf.« Er kreidete seine Pomeranze übertrieben gewissenhaft. Dann ging er zum Behälter mit dem Talkum-Puder und pumpte geräuschvoll eine viel zu große Menge in seine Hände, wobei er eine dicke Staubwolke aufwirbelte. Anschließend wischte er die Hände an den Hosenbeinen ab, trat wieder an den Tisch, nahm sein Queue, schaute daran entlang, schaute sich die Position des Balls an, bückte sich, visierte den Stoß an, richtete sich wieder auf, schaute an seinem Queue entlang, bückte sich erneut, stieß den Spielball an – und verfehlte das Loch.

»Verdammt!«, sagte er.

Irgendjemand in der Menge lachte.

»Schon gut«, sagte Eddie. »Setz die Kugeln wieder auf.« Er zog einen Zwanziger aus der Brief‌tasche und legte dann die immer noch pralle Brief‌tasche demonstrativ auf den Rand des Billardtischs.

»Okay, Charlie. Setz sie auf.«

Charlie ging zum Wandregal und stellte sein Queue weg. »Eddie, du bist betrunken. Ich lass mich darauf nicht mehr ein.« Er krempelte die Ärmel herunter und schloss die Manschettenknöpfe. »Lass uns aufbrechen. Morgen früh müssen wir auf die Konferenz.«

»Ich scheiß auf morgen früh. Ich will gegen dich spielen. Mein Geld liegt noch auf dem Tisch.«

Charlie würdigte ihn keines Blickes. »Ich will es nicht.«

In diesem Augenblick mischte sich jemand ein. Es war der Barkeeper hinter der Theke. »Ich halte dagegen«, sagte er leise.

Eddie riss die Augen auf und drehte sich zu ihm um. »Sieh an«, sagte er. »Sieh mal einer an.«

»Sei kein Dummkopf«, warnte Charlie. »Setz kein Geld mehr auf diesen blöden Stoß, Eddie. Den kriegt keiner hin.«

Eddie starrte den Barkeeper noch immer an. »Sieh einer an«, wiederholte er. »Sie wollen also dagegenhalten? Na gut. Zuerst war es nur eine kleine Wette unter Freunden, aber jetzt wollen Sie dagegenhalten.«

»Ja«, sagte der Barkeeper.

»Sie glauben, ich bin besoffen und hab eine volle Brief‌tasche, aber jetzt, wo das Geld auf dem Tisch liegt, wollen Sie ein Stück vom Kuchen abhaben.« Eddie blickte in die Menschenmenge und spürte sofort, dass sie zu ihm hielt. Das war sehr wichtig. Dann sagte er: »Okay, ich nehme die Wette an. Setzen Sie die Bälle auf.« Er legte beide Kugeln auf den Tisch. »Na los, setzen Sie sie auf.«

»Okay.« Der Barkeeper kam hinter der Theke hervor und setzte die beiden Kugeln vorsichtig auf. Ihre Position war jetzt eher noch schwieriger als zuvor.

Eddies Brief‌tasche lag noch immer auf dem Tischrand. Er griff danach. »Okay. Sie wollen sich ein kleines Taschengeld verdienen.« Er begann, die Scheine mitten auf dem Tisch zu zählen, Zehner und Zwanziger. »Hier haben wir zweihundert Dollar. Eine Woche Provision plus Spesen.« Er grinste den Barkeeper an. »Setzen Sie Ihre zweihundert Dollar dagegen, und Sie kriegen Ihre Chance, an leichtes Geld zu kommen. Und? Sind Sie dabei?«

Der Barkeeper versuchte, ruhig zu wirken. Sein Blick schweif‌te über die Zuschauer. Sie starrten ihn an. Dann dachte er an die vielen Drinks, die er Eddie serviert hatte. Es mussten mindestens fünf gewesen sein. Der Gedanke war beruhigend. Er dachte auch an die Spiele der beiden Männer, die er beobachtet hatte. Das stimmte ihn zuversichtlich.

Obendrein hatte der junge Mann ein ehrliches Gesicht. »Ich nehm’s aus der Kasse«, sagte er.

Im Nu hatte er das Geld geholt, und jetzt lagen vierhundert Dollar am Ende des Tisches, wo sie den Spielern nicht im Weg waren. Wieder trat Eddie an den Talkum-Behälter. Dann beugte er sich vor, visierte die Kugel mit dem Queue an, zielte unbeholfen und stieß zu. Zwischen diesem Stoß und denen, die er den ganzen Abend über ausgeführt hatte, gab es nur einen winzigen Unterschied – die Bewegung des Arms war unmerklich gleichmäßiger und fließender. Doch nur einer der Anwesenden bemerkte diesen Umstand. Dieser Mann war Charlie, und als alle anderen Augen im Billardraum auf den Spielball gerichtet waren, vollzog sich in seinem bislang ausdruckslosen Gesicht eine erstaunliche Wandlung. Er lächelte leicht und still – wie ein Vater, der seinem talentierten Sohn zusieht.

Die weiße Kugel prallte von der Bande ab und traf mit einem leisen Klicken ganz leicht die Vierzehn. Diese rollte langsam über den Tisch und fiel sanft in die Ecktasche …

4

Als sie in den Wagen stiegen, pfiff Eddie leise vor sich hin. Gut gelaunt warf er seinen Sakko auf den Rücksitz, rutschte hinter das Lenkrad und zog die zerknitterten Scheine, größtenteils Zehner und Zwanziger, aus der Hosentasche. Dann glättete er sie, einen nach dem anderen auf seinem Knie und zählte laut mit.

Charlies Gesicht und Stimme waren wie immer ausdruckslos. »Es sind zweihundert Dollar, das weißt du doch, also lass uns fahren.«

Eddie schenkte ihm ein besonders breites Grinsen und genoss es umso mehr, weil ihm klar war, dass sein Charme keine sichtbare Wirkung auf Charlies Gesichtsausdruck hatte. »Wozu die Eile«, sagte er und kostete die Freude über seinen Sieg aus. »So krieg ich meine Kicks. Beim Zählen der Scheine.«

Der Wagen war ein in die Jahre gekommener, unglaublich verstaubter Packard. Nachdem er genug davon hatte, das Geld zu zählen, rollte Eddie die Scheine ordentlich zusammen und schob sie in die Tasche. Dann ließ er den Wagen an. »Der arme Teufel hinter der Bar«, sagte er grinsend. »Er wird seinem Boss verklickern müssen, wo die zweihundert Dollar abgeblieben sind.«

»Er hat’s nicht anders gewollt«, sagte Charlie.

»Stimmt. Wir alle wollen es nicht anders. Und wir sollten dankbar sein, dass es uns nicht genauso ergangen ist.«

»Er war gierig«, sagte Charlie. »Als wir da rein sind, wusste ich sofort, dass er so einer ist, der den Hals nicht vollkriegt.«

Fast eine Stunde fuhren sie schweigend den Highway entlang. Eddie pfiff leise vor sich hin. Eine Weile hatten sie das Radio eingeschaltet, ziemlich schreckliche Musik angehört, wurden aufgefordert, Wein von Mogen David zu trinken, am Wochenende vorsichtig zu fahren, Royal Crown Cola zu trinken (einem Geschmackstest zufolge die beste von allen) und Aktien zu kaufen. Nach dieser letzten Zumutung schaltete Eddie das Radio aus.

»Und? Wo stehen wir?«

Charlie nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche und zog eine Zigarette für Eddie heraus, bevor er sich selbst eine ansteckte. »Du hast jetzt ungefähr sechstausend beisammen.«

Eddie spielte den Zufriedenen, obwohl er natürlich genau wusste, wo sie standen. »Nicht schlecht«, sagte er. »Für den Anfang. Vier Monate von Oakland weg und sechstausend in der Tasche. Plus Spesen.« Er lachte. »Verdammt.« Er zündete sich mit einer Hand die Zigarette an und hielt mit der anderen das Lenkrad. »Wenn ich nicht so ein Trottel gewesen wäre und in Hot Springs die achthundert vergeigt hätte, wären es jetzt siebentausend. Ich hätte auf dich hören sollen und den Kerl aussteigen lassen. Ich darf nicht jedem Platzhirsch, der mir über den Weg läuft, beim Bank Pool zwei Bälle vorgeben.«

»Stimmt.« Jetzt zündete sich auch Charlie seine Zigarette an.

Eddie lachte. »Na ja, man lernt nie aus. Ich bin schon ziemlich gut, aber so gut nun auch wieder nicht.« Plötzlich gab er Gas, scherte aus und schoss an einer Schlange von Wagen vorbei, hinter der sie schon seit zehn Minuten hertrödelten. Als er den vierten Wagen überholen wollte, sah er einen entgegenkommenden Laster, trat auf die Bremse und reihte sich mit quietschenden Reifen wieder in die Schlange ein.

»Stimmt, so gut bist du nun auch wieder nicht«, sagte Charlie, und Eddie lachte erneut.

»Die Kiste ist ganz in Ordnung«, sagte er mit einem Grinsen. »Hält was aus. Und weißt du was, Charlie? Wenn wir abgesahnt haben und ich, sagen wir, fünfzehn Riesen beisammen habe und genug Geld, um nach Hause zu fliegen, kannst du die Karre haben.«

»Danke«, sagte Charlie mit ernstem Gesicht. »Plus zehn Prozent.«

»Plus zehn Prozent.« Eddie lachte und schwenkte erneut auf die Überholspur. Der alte Packard zischte mit erstaunlicher Geschwindigkeit an den übrigen Wagen der Schlange vorbei. Als Eddie sich wieder rechts eingereiht hatte, fuhr er mit gleichmäßigen siebzig Meilen die Stunde weiter.

Kurz darauf fragte Charlie. »Warum rast du eigentlich so?«

»Na, ich will endlich ankommen.« Er hielt kurz inne. »Bennington’s. Auf diesen Teil wird’s ankommen. Bennington’s wollte ich mir schon immer mal ansehen.«

Charlie schien kurz nachzudenken. »Hör mal, Eddie. Hast du vergessen, was ich dir geraten habe? Mach einen großen Bogen um Chicago.«

Eddie versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Er ließ die Worte sacken, dann entgegnete er: »Wieso?«

Charlies Stimme war so ausdruckslos wie immer. »Du könntest den Kürzeren ziehen.«

Eddie behielt die Straße im Blick. »Dann sollte ich vielleicht gar nicht erst anfangen zu spielen, weil ich immer den Kürzeren ziehen könnte. Ich sollte lieber Handelsvertreter werden. Für Drogeriebedarf vielleicht.«

Charlie schnippte seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster. »Vielleicht bist du längst einer.«

»Was soll das heißen?«

»Dass du der Typ von Zocker bist, der Leute hinters Licht führt. Ein erstklassiger Hochstapler, mit dem seine Opfer sich anfreunden. Als du das erste Mal in meinen Schuppen in Oakland spaziert bist, warst du keine sechzehn und hast die Leute schon um den Finger gewickelt.«

Eddie grinste. »Na und? Ich weiß nun mal, wie man ein gutes Spiel aufsetzt. Was ist daran verwerf‌lich?«

»Du willst also im Bennington’s gegen einen der Großen antreten? Hast es satt, kleine Brötchen zu backen, was? Willst mit einem Schlag richtig Kohle machen?«

»Wo sonst kann ich in einer Nacht zehntausend absahnen?«