Die Patienten - Nikolas Stoltz - E-Book
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Die Patienten E-Book

Nikolas Stoltz

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Beschreibung

Niemand hört dich schreien ...

Ein bestialischer Frauenmord in einer Klinik für psychisch Kranke auf einem abgelegenen Gutshof im Taunus! Die Polizei soll behutsam vorgehen, fordert der charismatische Leiter der Anstalt, Dr. Jonas Klinger. Doch will er wirklich nur seine Patienten schützen?

Allein die Polizeipsychologin Caro Löwenstein darf auf dem Hof ermitteln. Mehr noch: Sie soll für die Dauer der Untersuchungen dort wohnen. Ihr Kollege, Kommissar Simon Berger, ist strikt gegen diese Idee - doch er hat auch mit eigenen Problemen zu kämpfen.

Bald stößt Caro auf finstere Geheimnisse, die sich in dem Anwesen tief im Wald verbergen. Aber eines ahnt sie nicht: Der Mörder hat sie bereits als sein nächstes Opfer auserkoren ...

Ein rasanter Psychothriller für alle Leser von Sebastian Fitzek und Andreas Winkelmann - der erste Fall für Caro Löwenstein und Simon Berger.

Löwenstein und Berger ermitteln weiter in "Todeskalt"!

eBooks von beTHRILLED: mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

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Über dieses Buch

Niemand hört dich schreien …

Ein bestialischer Frauenmord in einer Klinik für psychisch Kranke auf einem abgelegenen Gutshof im Taunus! Der Leiter der Anstalt, Dr. Jonas Klinger, behindert von Anfang an die Arbeit der Polizei. Will er wirklich nur seine Patienten schützen, wie er vorgibt?

Allein die Polizeipsychologin Caro Löwenstein darf auf dem Hof ermitteln. Mehr noch: Sie soll für die Dauer der Ermittlungen dort wohnen. Dabei müsste die Alleinerziehende sich eigentlich um ihre pubertierende Tochter kümmern. Ihr Kollege, Kommissar Simon Berger, ist strikt gegen diese Idee – doch er hat auch mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen …

Bald stößt Caro auf finstere Geheimnisse, die sich in dem alten Gehöft tief im Wald verbergen. Doch eines ahnt sie nicht: Der Mörder hat sie bereits als sein nächstes Opfer auserkoren …

Über den Autor

Nikolas Stoltz schreibt und liest am liebsten spannende Krimis und Thriller. Ihn fasziniert die menschliche Psyche in all ihren Facetten – vor allem die Abgründe. In »Die Patienten« lebt er außerdem seine Vorliebe für ungewöhnliche Orte und sogenannte »Lost Places« aus. Nikolas Stoltz wurde 1973 in Lübeck geboren und lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Bonn.

Nikolas Stoltz

Die Patienten

Thriller

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock/haraldmuc, © andreiuc88/shutterstock, © Jeff Wilber/shutterstock, © Yeti studio/shutterstock

E-Book-Produktion: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-8221-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Nicole hastete die maroden Treppenstufen hinab. Sie rannte an den Mauern des Backsteingebäudes entlang, bis die Dunkelheit des Waldes sie verschluckte. Die knorrigen Baumwurzeln, die den Pfad überrankten, schienen nach ihr zu greifen, als wollten sie ihre Flucht vereiteln. Sie stolperte und wäre um ein Haar gestürzt. Ihr Herz pochte. Nie zuvor hatte sie eine derartige Angst verspürt. Als sie über die Schulter blickte, erstarrte sie. Eine dunkle Gestalt stand vor dem Gemäuer, von Mondlicht beschienen.

Renn um dein Leben!

Sie hörte seine Schritte. Ohne nachzudenken, rannte sie weiter, tiefer in den Wald hinein. Am Wegesrand standen die geschnitzten Baumstammfiguren, die ihre Flucht durch leere Augen verfolgten. Schon immer hatte sie sich vor den gruseligen Fratzen gefürchtet, aber noch nie so sehr wie in diesem Augenblick.

Lauf schneller! Er ist dicht hinter dir!

Sie rannte weiter. Vor ihr tauchten die Umrisse der Waldkapelle auf, ein Felssteingebäude mit Spitzdach und Minitürmchen, in dieser Nacht jedoch nicht viel mehr als ein unheimlicher Schatten. Niemand würde dort sein, um ihr zu helfen. Niemand würde sie beschützen – genau wie damals. Aber vielleicht konnte sie sich im Inneren des Gotteshauses verstecken oder den Eingang verbarrikadieren.

Wieder blickte Nicole zurück. Der Pfad war plötzlich leer, die Schritte verstummt. Gerade noch hatte der Verfolger an ihren Fersen gehangen.

Sie öffnete das Eingangsportal – langsam, um möglichst wenig Lärm zu verursachen. Trotzdem knarrte die Tür. Nicoles Puls raste.

Das Innere der Kapelle wurde durch eine einzelne Kerze auf dem Altar in ein gespenstisches Zwielicht getaucht. Es roch nach Weihrauch und altem Holz. Während Nicole die Tür hinter sich schloss, hetzte ihr Blick durch den Raum, auf der Suche nach einem Versteck. Oder nach einer Möglichkeit, den Eingang zu versperren. Verzweifelt sah sie sich um. Die Bänke waren zu schwer, schieden also aus.

Du musst eine Lösung finden! Schneller!

Ihr Blick fiel auf den hölzernen Buchständer neben dem Altar. Sie lief los, zog das verzierte Holzgestell klappernd hinter sich her und klemmte es unter die Klinke des Eingangsportals. Es funktionierte. Der Türgriff saß bombenfest. Erleichtert atmete Nicole auf. Die Gefahr war zwar nicht vorüber, aber zumindest kam ihr Verfolger so schnell nicht an sie heran.

Erschöpft sank sie auf den Natursteinboden der Kapelle und versuchte, ihre wirren Gedanken zu sortieren.

Ein hartes Krachen durchschnitt die Stille. Jemand rüttelte an der Tür. Nicole wich zurück. Ihr Puls beschleunigte sich wieder, ihr Atem wurde hastiger. Sie hoffte inständig, dass die Konstruktion halten würde. Der Buchständer sah stabil aus. Aber würde er einem Mann widerstehen, der sich mit vollem Gewicht gegen die Tür warf?

Er ist hier, um dich zu holen!

Sie begann zu zittern. Warum hatte sie bloß ihre Nase in diese Sache gesteckt? Was hatte sie sich dabei gedacht? Weshalb war sie nicht längst abgehauen? Schon vor Tagen. Doch all diese Gedanken kamen zu spät. Jetzt saß sie in der Kapelle fest, mitten im Wald. Niemand würde ihre Schreie hören. Niemand würde ihr helfen. Eine einzige Holztür trennte sie von einem Mann, der zu allem fähig war. Der wie ein verwundetes Tier sämtliche Kräfte mobilisieren würde, um selbst zu überleben. Sie wusste zu viel, er konnte sie nicht gehen lassen.

Nicole horchte in die Stille. Das laute Rütteln an der Tür war verstummt.

Plötzlich hallte ein scharrendes Geräusch vom Altar herüber. Siedend heiß fiel Nicole die Bodenluke ein. Warum hatte sie nicht vorher daran gedacht? Die Klappe führte in einen Kellerraum, den man auch von außen erreichen konnte. Und umgekehrt.

Er wird dich umbringen!

Entsetzt sprang sie auf, aber es war zu spät. Ein Schatten erhob sich hinter dem Altar. Nicole schrie vor Schreck auf, rannte zum Eingangsportal und zerrte an dem Buchständer, der sich gerade vom Rettungsanker zum Sargnagel entwickelte. Sie hörte Schritte, bemerkte den Schatten hinter sich, dann spürte sie einen Schlag auf dem Hinterkopf, unendliche Schmerzen, ein Lichtblitz.

Schließlich Dunkelheit.

Wie ein Schmetterling flog Nicole durch den Wald. Flatterte vorbei an hohen Eichen, den Bach entlang, über die Wassermühle, über einen feuchten Waldweg, bis sie schließlich über der Kapelle kreiste. Plötzlich verlor sie an Höhe. So sehr sie sich auch anstrengte, sie kam nicht mehr aufwärts. Es schien, als würde sie eingesaugt werden. Dazu überrollte ein stechender Schmerz ihre Fühler. Ein lautes Klatschen erschütterte die Umgebung. Eine dunkle Stimme rief von oben. »Nicole!« Wieder versuchte sie zu entkommen, aber der Sog war einfach zu stark. »Nicole!«

Sie öffnete die Augen. Und flog noch immer.

»Nicole, wach auf!«

Vor ihr erschienen die Umrisse der Kapelle. Das Eingangsportal, das von dem Buchständer verbarrikadiert wurde. Eine der Bankreihen.

Sie schwebte.

Und endlich begriff sie. Seile hielten sie in der Luft. Hektisch blickte sie sich um. Sie hing an einem Deckenbalken, splitternackt.

»Ich dachte schon, du wachst nie mehr auf!«

Nicole zuckte zusammen und versuchte, den Kopf in Richtung der Stimme zu drehen. »Bitte, mach mich los«, presste sie hervor.

Sie hörte ein Zungenschnalzen.

»Hmm, ich überlege es mir.«

»Ich behalte auch alles für mich.« Nicole schöpfte Hoffnung.

»Vielleicht lasse ich dich laufen, vielleicht nicht.« Er stand noch immer hinter ihr und schnalzte erneut mit der Zunge. Was für ein entsetzliches Geräusch.

Unvermittelt spürte Nicole eine kalte Klinge auf ihrem Rücken. Sie riss panisch die Augen auf. Das scharfe Metall ritzte ihre Haut.

»Bitte, nicht!« Tränen rollten ihre Wangen hinab. Sie fühlte sich ausgeliefert. Vollkommen hilflos. Verzweifelt.

»Bitte, nicht!«, äffte er sie nach. »Dein Gewinsel wird dich nicht retten.«

Die Klinge glitt ihre Haut entlang und erreichte die Vorderseite. Wieder das Zungenschnalzen.

»Ich halte das nicht aus! Bitte!«

Ein spitzer Schmerz jagte durch ihre linke Brust. Sie spürte, wie das Blut über ihre Haut rann. Vergeblich riss sie an den Seilen und schrie um Hilfe.

»Wer soll dich denn hören? Du bist mitten im Wald.«

»Hör auf! Bitte!«

Die Messerspitze strich über ihren Bauch, ihre alte Narbe entlang. Sofort kamen die Erinnerungen von damals in ihr hoch. Die grausamen Schmerzen. Ihre eigenen Schreie.

»Es ist schon faszinierend, wie sich die Geschichte wiederholt, findest du nicht?«

Nicole schüttelte heftig den Kopf. »Lass mich gehen! Bitte!«

Wieder schnalzte er mit der Zunge. Plötzlich überfiel sie ein gewaltiger Schmerz. Ihr Bauch schien zu explodieren. Sie sah Blut spritzen. Furchtbar viel Blut. Sie spürte, wie es ihre Beine hinablief und auf den Steinboden platschte. Sie begriff nicht, was geschehen war. Begriff gar nichts mehr. Als sie wie in Trance an sich hinabblickte, wurde sie Zeugin eines bizarren Schauspiels. Sie sah ihren Bauch, der sich wie ein Mund weit geöffnet hatte und aus dem ein blutroter Springbrunnen heraussprudelte.

Es wurde kälter. Immer kälter. Nicole wurde müde. Ein trüber Nebel umgab sie. Er wurde immer dichter und dunkler, bis er sie vollkommen verschlang.

2

Sonntag, 21. Oktober

Carolin Löwenstein biss in ihr Mohnbrötchen. Vor ihr stand ein reich gedeckter Frühstückstisch, der kaum einen Wunsch offenließ. Es gab Rührei mit Schnittlauch, eine Käseplatte, Obst, frische Croissants und Orangensaft. Aber Caro war nicht nach Essen zumute. Vielmehr hatte sie das Gefühl, dass ihr der Bissen im Hals stecken blieb. Sie hatte soeben eine Textnachricht von ihrem Ex-Mann Georg erhalten. Er hatte mal wieder einen wichtigen Schultermin ihrer gemeinsamen Tochter abgesagt und noch nicht einmal einen Grund genannt.

»So ein Idiot!«, platzte es aus Caro heraus. Sie kniff die Augen zusammen und strich das lange rote Haar hinter die Ohren.

Jennifer blickte ihre Mutter stirnrunzelnd an. »Was ist denn los?«

»Dein Vater hat den Termin bei der Direktorin abgesagt.« Caro schüttelte den Kopf.

Sie hatte sich vor knapp einem Jahr von Georg getrennt, nachdem sie herausgefunden hatte, dass er seit längerer Zeit eine Affäre mit einer Arbeitskollegin gehabt hatte. Ihre Illusion eines friedvollen Familienlebens war damals abrupt geplatzt.

»Hat die Direktorin nicht gesagt, dass ihr beide an dem Gespräch teilnehmen sollt?«, fragte das blonde Mädchen mit leicht gelangweiltem Unterton.

»Allerdings!« Caro brodelte innerlich, doch vor ihrer Tochter wollte sie sich nicht gehenlassen. »Ich regle das schon. Wir finden sicher einen neuen Termin.«

Sie stellte sich vor, wie Georg anstelle des Schultermins mit seiner neuen Freundin entspannt Essen ging, während sie selbst alles geradebiegen musste. Wie immer. Die ganzen Jahre hatte sie ihre eigene Karriere als Psychologin beim Landeskriminalamt Hessen zugunsten der Familie zurückgestellt, obwohl sie eigentlich höhere Ambitionen gehabt hatte.

»Lass dir ruhig Zeit«, sagte Jennifer. »Die alte Schachtel nervt eh nur rum.«

Caro sah ihre Tochter tadelnd an. »Wenn du nicht ständig schwänzen würdest, dann bräuchten wir dieses Gespräch nicht.«

Jennifer verdrehte die Augen. »Schule ist totale Zeitverschwendung.«

Verfluchte Pubertät, dachte Caro. Es fiel ihr zunehmend schwer, ihre sechzehnjährige Tochter auf der Spur zu halten, vor allem, seit Georg aus ihrer Wiesbadener Wohnung ausgezogen war. Die Doppelbelastung aus Polizeiarbeit und endlosen Diskussionen mit einem hormondurchtränkten Teenager nagte an ihren Kraftreserven. Es war eine ewige Gratwanderung.

»Du weißt genau, dass ich nicht mit dir über den Sinn der Schule diskutiere«, erwiderte Caro ruhig. »Das ist eine Pflichtveranstaltung!« Es war wichtig, Jennifer Grenzen aufzuzeigen. Rote Linien durften nicht infrage gestellt werden. Zu keiner Zeit.

Caros Handy vibrierte. Auf dem Display erschien der Name von Kriminalkommissar Simon Berger. Er arbeitete in der Abteilung für schwere Kriminalität im Landeskriminalamt Hessen und griff gerne auf Caros psychologische Expertise zurück.

Nach der Scheidung von Georg hatte Caro eine Zusatzausbildung zur operativen Fallanalytikerin gemacht, mit dem Ziel, als Profilerin die Aufklärung von Mordfällen zu unterstützen. Allerdings waren ihre Kenntnisse bisher nur wenig nachgefragt worden. Umso mehr freute sie sich über den Anruf des Kommissars.

»Ich muss rangehen«, sagte Caro knapp.

»Wer ist das?«, fragte Jennifer.

»Meine Dienststelle.« Caro nahm den Anruf entgegen. »Guten Morgen, Berger.«

Obwohl man sich im LKA üblicherweise mit dem Vornamen ansprach, wurde der Kommissar von allen nur Berger genannt.

»Ich störe ja nur ungern deinen Sonntagsbrunch«, sagte er. »Aber ich brauche dich bei einem neuen Fall.«

Caro schielte zu ihrer Tochter hinüber. »Was ist denn passiert?«

»Ein Mord in einem Waldstück im Taunus.«

»Was haben wir damit zu tun? Ist das nicht Sache der lokalen Polizei?«

Jennifer beobachtete ihre Mutter interessiert.

»Eine Frau wurde äußerst brutal ermordet. Außerdem ist der Tatort … speziell.«

»Wie meinst du das?«

»Es handelt sich um eine Art Therapiezentrum für Aussteiger, die mit dem normalen Leben nicht zurechtkommen. Das ist auch der Grund, warum ich deine Hilfe benötige.«

»Klingt interessant. Was heißt, der Mord war ›besonders brutal‹?«

»Dem Opfer wurde bei lebendigem Leib der Bauch aufgeschnitten. Aber mehr weiß ich auch nicht. Wir werden am Tatort erwartet. Ich hole dich gleich von zu Hause ab.«

»Ich, äh, ja, in Ordnung.« Caro dachte an ihre Tochter. Das Mädchen war zwar alt genug, um alleine zu Hause zu bleiben. Trotzdem verspürte Caro ein unangenehmes Magengrummeln, vor allem, wenn sie an Jennifers Clique dachte.

»Ich bin in fünf Minuten da.« Berger legte auf.

»Ich muss zur Arbeit«, sagte Caro.

Jennifer zuckte mit den Achseln. »Kein Problem. Ich hatte eh nicht vor, den ganzen Tag hier abzuhängen.«

Der Klumpen in Caros Magen vergrößerte sich. »Du bist wieder zu Hause, sobald es dunkel wird. Verstanden?«

Jennifer nickte mit einem unverkennbar genervten Gesichtsausdruck.

Wohl oder übel zog Caro ihre Sneakers an und warf sich eine Jacke über. Auf dem Weg zur Wohnungstür sah sie kurz in den Spiegel und strich sich die Haare hinter die Ohren. Sie hatte sich am Morgen dezent geschminkt und die blauen Augen stärker zur Geltung gebracht. Das schmale Gesicht mit den Sommersprossen, der feinen Nase und den hohen Wangenknochen wirkte deutlich jünger, als es tatsächlich war. Es war fast schon zu einem Ritual geworden, dass sie sich bestätigend zunickte, wenn sie aus dem Haus ging.

Nachdem sie sich von Jennifer verabschiedet hatte, verließ sie die Wohnung.

3

Die Reifen wirbelten Staub auf, als Kriminalkommissar Simon Berger auf den Schotterweg abbog. Die Fahrt von Wiesbaden ins Silberbachtal im Taunus hatte knapp eine halbe Stunde gedauert.

Durch die dichten Baumkronen fiel kaum Licht. Der Weg war zunehmend von der Natur zurückerobert worden, und der Wagen streifte immer wieder Büsche, die über die Fahrbahn wucherten. Ein verrostetes Zauntor, das mit Stacheldraht gesichert war, stand offen, wirkte aber alles andere als einladend.

Ein paar Hundert Meter voraus erreichten die Ermittler ein in die Jahre gekommenes Gutshaus aus rotem Backstein, das mit Efeu zugewachsen war. Das breite Eingangsportal mit zwei römischen Säulen passte überhaupt nicht zum Rest des Gebäudes, sollte aber vermutlich einen feudalen Eindruck vermitteln. Links neben dem Haupthaus stand eine Scheune, die – den neuen Fenstern zufolge – erst vor kurzer Zeit in ein Wohnhaus umgebaut worden war. Um das Hofgelände herum verteilten sich einige Blockhütten, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg. Ein mächtiger Ahornbaum zwischen den Häusern bildete mit seinen rötlich gefärbten Blättern einen einsamen Farbtupfer unter dem grauen Oktoberhimmel. Auf dem Schotterplatz vor dem Gutshaus parkten mehrere Polizeifahrzeuge und der Einsatzwagen der Spurensicherung.

Berger stellte den Wagen ab und stieg aus. Er hatte eine athletische Figur, kurze dunkle Haare und einen Dreitagebart. Seine braunen Augen wirkten wach, aber auch stets leicht melancholisch. Kantige Gesichtszüge und tiefe Falten spiegelten die Härte seines Jobs wider, was von einer länglichen Narbe über seiner rechten Augenbraue noch unterstrichen wurde.

»Der Hof sieht irgendwie unheimlich aus«, sagte Caro. »Und das soll ein … wie hast du es genannt? … Therapiezentrum sein?«

»Soweit ich weiß, hat ein Psychologe den Hof gekauft und in eine Klinik umgewandelt. Vermutlich haben sich die Patienten in ihre Häuser zurückgezogen. So ein schrecklicher Mord spricht sich schnell herum.«

»Ja, vermutlich.« Caro spürte, wie eine Gänsehaut ihre Arme überzog, als sie das Gutshaus betrachtete.

Eine Autotür klappte. Ein uniformierter, blonder Polizist kam auf sie zu. »Kommissar Berger, Frau Löwenstein? Ich bringe Sie zum Tatort. Wir müssen allerdings ein Stück durch den Wald laufen.«

Er steuerte einen schmalen Weg an, der vom Hof wegführte. »Folgen Sie mir bitte.«

»Wer hat das Opfer entdeckt?«, fragte Berger, der von seiner Dienststelle offensichtlich nur wenige Informationen über den Mord erhalten hatte.

»Wiebke Böhm. Eine Patientin aus der Kolonie. Sie wollte heute Morgen in der Kapelle beten gehen.«

»Kolonie?«, hakte Caro nach.

»Ja, die Bewohner nennen die Klinik so«, erwiderte der Polizist. »Silberbachkolonie.«

»Und das Opfer?«, erkundigte sich Berger.

»Sie war ebenfalls eine Patientin hier.« Der uniformierte Kollege zeigte auf den Hof. »Sie hieß Nicole Bachmann.«

»Hmm. Sind Sie selbst auch aus der Gegend?«

»Ja, zwei Orte weiter«, antwortete der Polizist.

Rechter Hand lichtete sich der Wald, und ein abgeerntetes Feld kam zum Vorschein. Kurz darauf erreichten sie einen Wegpunkt, an dem ein vergilbtes Kreuz stand.

»Kennen Sie die Leute, die in der Kolonie wohnen?«, fragte Caro.

»Nein. Ich habe aber gehört, dass es vor ein paar Jahren Ärger gab, als die Einrichtung eröffnet wurde. Die Bewohner der anliegenden Dörfer hatten wohl Angst vor den Patienten, aber das hat sich schnell wieder gelegt. Vermutlich deshalb, weil die Leute hier in einer anderen Welt leben.«

Caro starrte ihn an. »Wie meinen Sie das?«

»Die Kolonie ist abgelegen, und keiner von den Bewohnern verlässt das Gelände.«

»Aber sie müssen sich doch versorgen«, gab Berger stirnrunzelnd zu bedenken.

»Soweit ich weiß, erzeugen die Menschen hier sämtliche Lebensmittel selbst.«

»Damit leben sie gesünder als wir alle zusammen«, erwiderte Caro.

Berger nickte.

Die Gruppe überquerte eine Holzbrücke, die über einen Bach führte. Auf der linken Seite erhob sich ein Backsteingebäude, durch das der Wasserlauf mitten hindurchführte. Eine Wassermühle. Im Schatten der Bäume wirkte das alte Gemäuer schwermütig, genau wie das Gutshaus. Mehrere Fenster waren zerbrochen oder mit Brettern zugenagelt, das Fundament bröckelte vor sich hin. Moos bedeckte die Wände. Wieder richteten sich Caros Nackenhaare auf.

»Sieht echt trostlos aus«, bemerkte sie.

Berger kräuselte die Stirn, sodass sich seine Falten tiefer gruben. »Wohnen möchte ich hier auch nicht.«

Der Streifenpolizist bog an einer Gabelung rechts ab. »Wir sind gleich da.«

Auf beiden Seiten des Weges standen bunte Holzfiguren, die aus Baumstümpfen geschnitzt worden waren. Düster dreinblickende Fratzen mit verzerrten Gesichtern und unförmigen Kopfbedeckungen. Die merkwürdigen Pfähle verstärkten Caros beunruhigendes Gefühl noch.

Etwa hundert Meter voraus tauchte die Kapelle auf: ein viereckiger Felssteinbau mit einem Satteldach, auf dem ein spitzes Türmchen thronte. Auf der Vorderseite gab es eine Rundbogentür, darüber ein Steinkreuz. Vor dem Gotteshaus warteten mehrere Polizisten und Kollegen der Spurensicherung.

Simone Schweitzer, die Rechtsmedizinerin des Landeskriminalamtes, stand etwas abseits der Gruppe und telefonierte. Caro mochte die etwa fünfzigjährige Frau mit der dickrandigen Brille – trotz ihrer ruppigen Art.

»Simone!« Berger lief bereits auf die Kollegin zu.

Sie legte auf und funkelte Berger an. »Schau an, der Kommissar kommt auch endlich.« Anschließend begrüßte sie Caro freundlich.

»Die Leiche läuft schon nicht weg«, erwiderte Berger zwinkernd.

Die Pathologin rollte mit den Augen. »Sieh dich erst mal um, dann vergehen dir die Scherze. Die Spurensicherung ist bereits durch, ihr könnt den Tatort also direkt begutachten.«

Zu dritt betraten sie die Kapelle. Caros Magen verkrampfte sich, als sie das Szenario erfasste. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, dann zwang sie sich, das Opfer erneut anzusehen.

Eine nackte Frau hing in der Mitte des Raumes an einem Deckenbalken. Stricke fraßen sich in ihre Handgelenke. Der Kopf war zur Seite gefallen, und das dunkle Haar klebte auf den Schultern. Das Gesicht wirkte noch im Tod schmerzverzerrt. Quer über den Bauch klaffte eine tiefe Wunde, aus der Gedärme herausquollen. Blut war in alle Richtungen gespritzt, die Beine hinabgeronnen und hatte unter ihrem Körper eine dickflüssige Lache gebildet.

»Oh mein Gott!«, entfuhr es Caro. Während ihrer Weiterbildung zur Tatortanalystin hatte sie viele schreckliche Bilder gesehen – in Büchern und auf Leinwänden. Eine grausam zugerichtete Leiche direkt vor sich zu erleben, war jedoch eine andere Dimension. Sie schloss erneut die Augen.

Berger wandte sich an Simone Schweitzer. »Ich nehme an, die Todesursache war Verbluten?«

»Nach meinen ersten Untersuchungen, ja. Der Blutverlust war massiv, sodass der Tod innerhalb weniger Minuten eingetreten ist. Sie muss furchtbar gelitten haben, ein so tiefer Schnitt durch die Eingeweide ist extrem schmerzvoll.«

»Kannst du schon sagen, wann sie gestorben ist?«

»Der Körpertemperatur zufolge heute Nacht zwischen ein und drei Uhr morgens.«

»Und die Tatwaffe?«

»Ein Messer oder ein Schwert. Für eine detaillierte Beurteilung muss ich aber erst noch die Schnittränder untersuchen.«

Caro zwang sich, die hängende Frauenleiche erneut anzuschauen. Es kam ihr vor, als würde sie die Schreie der Frau hören. Als hätte der Mörder sein vor Blut triefendes Messer gerade aus ihr herausgezogen.

»Es sieht nach einem Ritualmord aus«, sagte sie leise. »Vielleicht mit einem religiösen Hintergrund.«

Die Rechtsmedizinerin nickte. »Verdammt makaber, in einer Kapelle.«

Berger ging um die Leiche herum. »Ist sie vergewaltigt worden?«

»Ich denke nicht. Mir sind auf den ersten Blick keine Verletzungen im Genitalbereich aufgefallen. Aber auch das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen.«

Das Mordopfer musste etwa in Caros Alter gewesen sein, Mitte bis Ende dreißig, schlank und vermutlich attraktiv, wenn man sich die leichenblasse Haut und die verzerrten Gesichtszüge wegdachte. Warum war sie auf solch barbarische Art hingerichtet worden?

Berger untersuchte das Seil. Der Täter hatte es über einen Balken der Dachkonstruktion geworfen, dann das Opfer damit gefesselt, in die Höhe gezogen und anschließend das andere Ende an einem Fenstergitter befestigt. »Eine Frau können wir wohl ausschließen. Der Mörder muss ziemlich kräftig sein.«

»Das sehe ich genauso«, gab ihm Caro recht. »Auch die Brutalität der Tat spricht für einen Mann.«

»Mir sind noch weitere Schnittwunden aufgefallen«, meldete sich Simone Schweitzer zu Wort. »Am Rücken und auf der Unterseite der linken Brust. Es sieht so aus, als hätte der Täter die Frau vor dem tödlichen Schnitt gequält.

Alle traten näher, um die Stiche genauer betrachten zu können.

»Das stimmt«, sagte Berger. »Mehrere Schnitte, einige davon sogar recht tief.«

»Ich nehme an, der Killer hat mit ihr gespielt«, schlussfolgerte Caro. »Er hat die Tat genossen.«

»Also haben wir es mit einem sadistischen Mörder zu tun, der vermutlich wieder zuschlagen wird«, ergänzte Berger. »Wir müssen die Kolonie auseinandernehmen.«

4

Als Caro und Berger auf den Hof zurückkehrten, trat ein grauhaariger Mann in einem dunklen Anzug und einer roten Krawatte aus dem Gutshaus. Er hatte eine breite Nase, schmale Lippen und einen stechenden Blick. Die Hände in die Hüften gestemmt, wartete er auf die Polizisten.

»Ich bin Doktor Klinger«, rief er ihnen mit einer Reibeisenstimme entgegen. »Ich leite diese Einrichtung.«

Berger ging ruhig auf ihn zu. »Dann können Sie uns sicher mehr über das Opfer sagen.« Er zog seinen Polizeiausweis heraus und stellte Caro und sich vor.

»Nicole Bachmann war meine Patientin und hat in der Kolonie gelebt«, entgegnete der Doktor.

»Welche Krankheiten therapieren Sie denn hier eigentlich?«, fragte Caro.

»Zivilisationskrankheiten. Burn-out, Psychosen, Phobien. Das, was passiert, wenn Menschen von der Gesellschaft zu sehr unter Druck gesetzt werden.«

»Und woran litt Nicole Bachmann?«, erkundigte sich Berger.

Klinger kniff die Augen zusammen. »Sie hatte Depressionen.«

Berger nickte. »Wo finden wir Wiebke Böhm, die Frau, die das Opfer entdeckt hat?«

»Es tut mir leid. Sie steht noch unter Schock. Ich möchte nicht, dass Sie die Frau heute weiter verschrecken.«

»Ich verstehe, dass Sie Frau Böhm schützen möchten, aber sie ist eine wichtige Zeugin«, sagte der Kommissar.

»Herr Berger, wir sind eine Therapieeinrichtung. Frau Böhm befindet sich in einem labilen Zustand. Ich werde alles tun, um ihre Ermittlungen zu unterstützen, aber ich muss auch auf das Wohl meiner Patienten achten.«

Caro konnte nachvollziehen, dass der Doktor die Koloniebewohner schützen wollte. »Herr Klinger, was halten Sie davon, wenn wir Frau Böhm unter Ihrer Aufsicht, wirklich nur kurz, befragen?«

Der Psychologe starrte Caro einen Moment lang an, dann nickte er knapp. »Wenn Sie meine Patientin mit Ihren Fragen zu sehr aufwühlen, breche ich die Unterredung sofort ab.«

Berger hatte seine Stirn in Falten gelegt und setzte zu einer wenig diplomatischen Antwort an, aber Caro kam ihm zuvor. »In Ordnung.«

Klinger stieg die Treppenstufen des Hauseingangs herunter. »Kommen Sie mit.« Er führte die Kollegen zu der umgebauten Scheune hinüber. Caro bemerkte, dass er leicht humpelte.

»Wie viele Menschen leben hier?«, fragte sie.

»Achtundzwanzig.«

»Und das sind alles Patienten? Oder haben Sie auch Angestellte?«

»Von meiner Familie abgesehen, leben ausschließlich Patienten auf dem Hof. Wir sind keine Klinik im engeren Sinne, sondern eine Langzeittherapieeinrichtung. Ein Refugium für ein paar Menschen, fernab von gesellschaftlichem Druck. Jeder Bewohner der Kolonie hat eine sinnvolle Aufgabe, die ihn ausfüllt, aber nicht belastet. Wiebke Böhm zum Beispiel arbeitet hier als Frisörin. Andere Patienten helfen in der Wäscherei aus, schaffen auf den Feldern oder in der Mühle.«

»Sie erzeugen alle Lebensmittel selbst?«, fragte Caro.

»Ja, somit ist niemand gezwungen, den Hof zu verlassen.«

Caro dachte einen kurzen Moment über seine Worte nach. War es für die Patienten wirklich vorteilhaft, vom Rest der Welt abgeschottet zu werden? Wurden damit ihre Ängste nicht eher verstärkt?

Als sie die Scheune erreichten, fuhr der Doktor fort: »Ich habe hier vierzehn Wohneinheiten untergebracht. Einfache und zweckmäßige Zimmer. Wiebke Böhm wohnt im Erdgeschoss.«

Klinger steuerte eine Wohnungstür an und klopfte. Kurz darauf öffnete eine blond gelockte Frau die Tür, zunächst nur einen kleinen Spalt, dann weiter. Sie zuckte zusammen, als sie Caro und Berger erblickte. Gleichzeitig entwich die Farbe aus ihrem rundlichen Gesicht.

»W… wer ist d… das?«, stotterte sie.

»Es ist alles in Ordnung, Wiebke!«, sagte Klinger in einem ruhigen Tonfall. »Die Herrschaften sind von der Polizei und möchten kurz mit Ihnen sprechen. Ich bleibe die ganze Zeit hier. Sie brauchen also keine Angst zu haben.«

Caro schätzte die Frau auf Mitte fünfzig. Sie war untersetzt und mit einem grauen Wollpullover sowie einer ebenfalls grauen Jogginghose unvorteilhaft gekleidet. Alles in allem erinnerte sie Caro an eine schreckhafte graue Maus.

Die Wohnung bestand aus einem getäfelten Raum, der mit einem schlichten Bett und einem Esstisch mit zwei Holzstühlen eingerichtet war. Auf einem Bücherregal standen zerfledderte Taschenbücher. Auf der linken Seite gab es eine Mini-Küchenzeile mit Herd und Waschbecken, daneben eine Tür, die vermutlich in ein Badezimmer führte. Klinger hatte nicht gelogen, als er die Räumlichkeiten als ›einfach‹ bezeichnet hatte.

»Ich möchte nicht mit Ihnen reden.« Wiebke Böhm zitterte.

Klinger ergriff ihre Hand. »Keine Sorge, Wiebke. Setzen Sie sich bitte erst einmal!«

Caro fand es ungewöhnlich, dass er die Frau mit ›Sie‹ ansprach. Bei so wenigen Bewohnern auf dem Hof hätte sie etwas mehr Nähe erwartet. Aber vermutlich wollte der Doktor die Distanz zu seinen Patienten wahren.

Nachdem sich Wiebke Böhm am Esstisch niedergelassen hatte, ergriff Caro das Wort. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Wir möchten nur von Ihnen erfahren, was Sie heute Morgen gesehen haben.«

Die Frau zitterte jetzt noch heftiger.

»Es war … so … furchtbar. Die arme Nicole.«

Caro hatte das Bild des nackten, ausgeweideten Opfers vor Augen. »Haben Sie sonst jemanden beobachtet?«

»N … nein. Niemanden.«

»Hatte Nicole Bachmann Feinde in der Kolonie?«, fragte Berger.

Wiebke Böhm blickte Klinger an, der den Kopf schüttelte. Dann antwortete sie schnell. »Nein. Nein.«

Caro kräuselte die Stirn. Offensichtlich war das nicht die ganze Antwort gewesen. »Denken Sie bitte noch mal nach.«

»Ich weiß das nicht.« Sie schüttelte übertrieben stark den Kopf.

»Sie kann Ihnen nicht helfen«, sagte Klinger. »Sehen Sie doch, wie sehr sie die Situation belastet. Ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen.« Er baute sich schützend vor Wiebke Böhm auf.

»Wir sind aber noch nicht fertig«, erwiderte Berger.

»Es tut mir leid! Ich muss die Notbremse ziehen«, sagte der Doktor mit fester Stimme.

Caro nickte ihrem Kollegen zu. In diesem Zustand würden sie ohnehin nicht mehr aus der Frau herausbekommen. Wohl oder übel verabschiedeten sich die Polizisten und traten ins Freie.

Klinger steuerte sein Haus an und rief den Ermittlern im Gehen zu: »Ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Wenn Sie meine Hilfe benötigen, bin ich gerne für sie da.«

»Er ist nicht wirklich kooperativ«, bemerkte Berger, als der Kolonievorsteher außer Hörweite war. »Wenn jemand aus der Kolonie den Mord begangen hat, dann sind hier alle in Gefahr.«

»Ich kann nachvollziehen, dass er seine Patienten schützen will. Frau Böhm hatte eine Heidenangst. Das war nicht zu übersehen.«

Berger schoss einen Stein zur Seite. »Sie weiß mehr, als sie uns gesagt hat.«

»Ja, das denke ich auch.«

Auf der anderen Seite des Schotterplatzes packten die Mitarbeiter der Spurensicherung gerade ihre Ausrüstung in die Fahrzeuge. Zwei Polizisten mühten sich mit einer Trage ab, auf der ein schwarzer Leichensack ruhte. Das Opfer wurde in die Gerichtsmedizin abtransportiert. Simone Schweitzer winkte ihnen zu, bevor sie in ihren Wagen stieg.

»Wir sollten noch mal mit Klinger sprechen«, sagte Caro. »Vielleicht können wir ihm noch ein paar Zugeständnisse abtrotzen. Weitere Befragungen in seiner Anwesenheit.«

»Das müssen wir auf jeden Fall. Aber jetzt fahren wir erst mal zurück nach Wiesbaden.«

5

Auf der Fahrt ins Präsidium vibrierte Bergers Mobiltelefon. Er sah mit einem Auge aufs Display. Sofort bremste er den Wagen ab und hielt am Straßenrand. »Es ist Jens.« Er nahm den Anruf entgegen.

Jens Schröder war der Chef der Abteilung für schwere Kriminalität. Caro kannte ihn nicht persönlich, hatte aber ein Bild vor Augen. Hagere Statur, dunkelbraune, nach hinten gegelte Haare und eine randlose Brille. Sie konnte nicht verstehen, was Bergers Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung sprach.

Plötzlich riss der Kommissar die Augen auf. »Das ist nicht dein Ernst!«

Er reichte Caro das Handy wortlos herüber. Sein Blick sprach Bände. Die Psychologin meldete sich, woraufhin Schröder ohne Begrüßung in das Gespräch einstieg.

»Ich habe Berger bereits ausführlich unterrichtet. Normalerweise würde ich eine SoKo einrichten und die Silberbachkolonie auseinandernehmen lassen, bis wir den Täter gefasst haben. Dieser Fall gestaltet sich allerdings komplizierter. Doktor Klinger ist ein angesehener Psychologe und seine Patienten äußerst labil. Ich möchte unter keinen Umständen einen Artikel über Polizeigewalt in der Zeitung lesen. Wir müssen also sensibel vorgehen.«

»Natürlich sind wir vorsichtig«, erwiderte Caro. »Trotzdem müssen wir die Leute befragen.«

»Das ist mir auch klar. Aber in einem deutlich reduzierten Umfang. Ich habe soeben ein langes Telefongespräch mit Doktor Klinger geführt. Nachdem er mir seine Situation deutlich gemacht hat, haben wir einen Kompromiss ausgehandelt.«

»Und der wäre?« Caro sah zu Berger hinüber, der heftig den Kopf schüttelte.

»Die Ermittlungen vor Ort werden auf ein Minimum beschränkt, damit die Patienten vorerst möglichst wenig belastet werden. Doktor Klinger hat vorgeschlagen, dass Sie, Frau Löwenstein, als ausgebildete Psychologin, in der Kolonie ermitteln und sogar ein paar Tage auf dem Hof wohnen. Offenbar haben Sie einen guten Eindruck hinterlassen. Ich persönlich halte das für eine hervorragende Idee. So können Sie die Patienten in Ruhe befragen.«

In Caros Hirn ratterte es. Ein paar Tage auf dem Hof bleiben?

»Habe ich das richtig verstanden, dass ich alleine dortbleiben soll?«, hakte Caro nach.

»Ganz genau. Herr Klinger hat angeboten, Sie bestmöglich zu unterstützen, damit die Befragungen zügig abgeschlossen werden können.«

Caro dachte an Jennifer. Sie konnte ihre Tochter unmöglich so lange alleine lassen. Oder doch?

»Ich, äh, … gibt es nicht eine andere Möglichkeit?«

»Soweit ich erfahren habe, möchten Sie gerne in den operativen Dienst wechseln. Eventuell wird bald eine feste Stelle in meiner Abteilung frei. Aber dafür müssen Sie sich beweisen, Frau Löwenstein.«

Caros Schläfen pochten. Was für eine Entscheidung! Sie würde sich in Gefahr begeben und außerdem ihre Tochter – zumindest zeitweise – aus den Augen lassen müssen. Auf der anderen Seite war es eine große Chance. Sie brauchte mehr Zeit, um sich darüber klar zu werden, was sie eigentlich wollte. Abwägen, was die Konsequenzen sein würden. Aber sie hatte keine Zeit. Sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt!

»Ich mache es.«

Berger verdrehte die Augen. »Das ist zu gefährlich, Caro!«

»Dann sind wir uns ja einig«, sagte Schröder. »Melden Sie sich bitte bei Herrn Klinger. Viel Erfolg.«

Schröder legte auf.

»Das ist verrückt!«, schimpfte Berger. »Du bist nicht für eine solche Aufgabe ausgebildet. Was passiert, wenn du plötzlich dem Mörder gegenüberstehst? Was, wenn du ihn aus der Reserve lockst? Du trägst ja nicht einmal eine Waffe.«

»Das wäre wohl auch das Letzte, was Klinger in der Kolonie akzeptieren würde. Ich weiß, dass es schwierig und möglicherweise auch gefährlich wird. Aber ich möchte die Chance nutzen. Außerdem kann ich immer noch die Reißleine ziehen, wenn es brenzlig wird.«

»Vielleicht ist es dann zu spät. Die Kolonie liegt zu abgelegen, um schnell hier zu sein.«

»Ich kenne die Gefahren.«

Berger schüttelte erneut den Kopf. »Das gefällt mir alles nicht. Und schon gar nicht, dass du auf dem Hof übernachtest.«

»Mach dir keine Sorgen! Ich halte dich immer auf dem Laufenden.«

»Aber sicher. Ich möchte, dass du mich regelmäßig anrufst.«

Caro nickte zögernd. Die ganze Sache war ihr ebenfalls nicht geheuer.

»Dann fahr mich jetzt bitte nach Hause, damit ich meine Sachen packen kann.«

Der Kommissar formte einen Fluch auf den Lippen, und Caro spürte regelrecht die Sorgenfalten, die sich in seine Stirn gruben.

Zwei Stunden später rollte Bergers Wagen wieder auf den Gutshof. Er hatte sich angeboten, Caro zurück in die Kolonie zu fahren.

Caro machte sich Gedanken wegen Jennifer. Sie hatte ihre Tochter nicht in der Wohnung angetroffen, als sie ihre Sachen gepackt hatte. Sie litt unter der emotionalen Distanz, die das Mädchen in der letzten Zeit zu ihr aufbaute, obwohl sie wusste, dass es sich um einen normalen Prozess während der Pubertät handelte. In gewisser Weise gab sie sich selbst die Schuld an Jennifers Verhalten, das seit der Scheidung von Tag zu Tag schlimmer zu werden schien. Sie schwänzte die Schule, hatte angefangen, Alkohol zu trinken, und erweckte den Eindruck, als sei ihr alles egal. War es richtig, das Mädchen alleine zu lassen?

Sie könnte Georg anrufen und ihn um Hilfe bitten. Sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Ihr Ex-Mann war in dieser Situation so nützlich wie eine Sahnetorte bei einer Diät. Aber vielleicht würde ihre Freundin Katharina einspringen.

Die Fahrzeuge der Spurensicherung und der Bereitschaftspolizei hatten das Gelände inzwischen verlassen. Dadurch wirkte der Hof noch trister als zuvor. Caro schluckte schwer.

Berger parkte vor dem Eingang des Gutshauses und blickte seiner Kollegin in die Augen. »Vergiss nicht, dich zu melden!«

»Ja, ich rufe dich an«, erwiderte Caro.

Sie hätte sich Berger am liebsten in die Arme geworfen und ihn angefleht, nicht zu fahren, aber sie riss sich zusammen. Stattdessen nickte sie ihm kurz zu und stieg aus dem Auto.

Als er vom Parkplatz fuhr, blickte sie ihm sehnsüchtig hinterher, bis der Wagen zwischen den Bäumen verschwunden war. Jetzt war sie auf sich allein gestellt.

Caro schulterte ihren Rucksack, in dem sie ihre Wechselkleidung, Kulturtasche, Wasser und etwas Proviant mitführte. Dann stieg sie die Treppen zum Eingang des Gutshauses hinauf. Bevor sie klopfte, blickte sie sich noch einmal um. Der Hof wirkte noch immer ausgestorben. Dennoch kam es ihr vor, als würden die Patienten sie von allen Seiten beobachten, unter ihnen ein psychopathischer Mörder.

Doktor Klinger öffnete die Tür. »Wie ich sehe, hat Ihr Vorgesetzter Sie bereits instruiert. Das ist gut! Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihre Hütte.«

»Meine Hütte?«, fragte Caro skeptisch.

»Sie bleiben doch in der Kolonie, oder nicht?«, fragte der Doktor.

»Ja.«

»Na also. Wenn Sie nicht im Wald schlafen wollen, dann kann ich Ihnen eine leer stehende Blockhütte anbieten.«

Caro nickte unsicher.

»Folgen Sie mir!« Klinger humpelte am Gutshaus entlang.

Etwas abgelegen hinter dem Hof standen Holzhütten, die Caro eher an Gartenhäuser erinnerten. Direkt dahinter begann der Wald. Der Doktor steuerte eine Hütte an, die in Sichtweite des Haupthauses lag, und öffnete die Tür.

Das Innere des Häuschens wirkte ähnlich spartanisch wie Wiebke Böhms Zimmer in der umgebauten Scheune. Ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen, Herd und Waschbecken. Dazu ein Ofen, der allerdings nicht lief. Entsprechend kühl war es in der Hütte. Es roch intensiv nach Holz.

»Willkommen in Ihrer Unterkunft«, sagte Klinger knapp. »Und nun zu den Regeln, Frau Löwenstein. Wenn Sie einen meiner Patienten befragen möchten, dann sagen Sie mir bitte vorher Bescheid. Ich muss die Leute behutsam auf ein solches Gespräch vorbereiten.«

Caro nickte. »In Ordnung.«

»Ach. Bevor ich es vergesse«, fuhr Klinger fort. »Betreten Sie auf gar keinen Fall die Wassermühle! Das Gebäude ist baufällig.«

Caro blickte auf die Tür. »Bekomme ich einen Schlüssel?«

»Wir benutzen keine Schlüssel.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte sie entgeistert.

»Es ist Teil des Therapiekonzeptes, dass sämtliche Türen in der Kolonie offen stehen.«

»Ihnen ist schon klar, dass hier vielleicht ein Mörder herumläuft, oder?«

»Trotzdem werden wir uns nicht verbarrikadieren.« Klinger drehte sich um. »Richten Sie sich erst mal in Ruhe ein.«

Das durfte nicht wahr sein. Eine unverschlossene Hütte! Hinzu kam, dass es weder Vorhänge noch Fensterläden gab. Sie würde wie auf einem Präsentierteller sitzen. Eine Nacht in Angst. Inzwischen bereute sie ihre Entscheidung. Berger hatte recht gehabt. Für einen kurzen Moment dachte sie daran, ihren Kollegen anzurufen, um sich abholen zu lassen. Doch dann würde sich ihre Karriere im LKA in Luft auflösen. Sie verwarf den Gedanken.

Wieder blickte sich Caro in der Hütte um. Auf dem Bett lag eine einfache Wolldecke, die kratzig aussah. Dazu ein kleines Kissen. Sie öffnete die Tür zu einem winzigen Badezimmer, in dem es nur eine Toilette und ein Waschbecken gab. Keine Dusche. Neben dem Wasserhahn lag ein Stück Seife. Home, sweet home.

Es wurde Zeit, Jennifer anzurufen. Sie musste ihrer Tochter wohl oder übel mitteilen, dass sie die nächsten Tage nicht nach Hause kommen würde. Inzwischen müsste Jennifer zurück sein. Hoffentlich!

Sie griff zum Handy, stellte jedoch fest, dass sie keinen Empfang hatte. Da Berger auf dem Parkplatz hatte telefonieren können, musste es dort eine ausreichende Netzabdeckung geben. Also machte sie sich auf den Weg.

Als Caro aus der Hütte trat, kam ihr eine junge Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren und einem auffälligen Nasenring entgegen, offenbar ihre Nachbarin.

Caro winkte ihr zu. »Hallo, mein Name ist Carolin Löwenstein. Ich bin Psychologin und arbeite bei der Polizei.«

Das Mädchen sah sie misstrauisch an. »Polizei? Was wollen Sie hier?«

»Ich möchte helfen, den Mord an Nicole Bachmann aufzuklären. Wie heißen Sie?«

»Zoé«, erwiderte die Frau einsilbig. Dann verschwand sie in ihrer Hütte und schlug die Tür zu.

Herzlich willkommen, dachte Caro. Es würde ein verdammt harter Job werden, die Mauern des Schweigens in der Kolonie zu durchbrechen.

Als Caro ihr Mobiltelefon aus der Tasche holte, stellte sie fest, dass sie noch immer keine Netzabdeckung hatte. Sie lief auf den roten Ahornbaum zu, der mitten auf dem Hof vor dem Gutshaus stand. Endlich erschien ein Balken auf dem Display.

Als Caro gerade ihre Tochter anwählen wollte, ging ein Anruf der Rechtsmedizinerin Simone Schweitzer ein.

6

»Ich halte es für keine gute Idee, dass du alleine dort oben im Taunus bleibst«, begann die Rechtsmedizinerin das Telefongespräch.

»Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte Caro.

»Es ist zu gefährlich! Der Killer ist ein ausgeprägter Sadist.«

»Das ist mir bewusst.«

»Nein, du verstehst nicht. Er ist ein Monster! Ich habe die Leiche von Nicole Bachmann inzwischen weiter untersucht. Dabei ist mir aufgefallen, dass ihre Bauchwunde nicht aus einem geraden Schnitt besteht, sondern innen ausgefranzt ist.«

»Was heißt das?«

»Dass der Mörder der Frau größtmögliche Schmerzen zufügen wollte. Er hat das Messer nach dem ersten Schnitt nochmals durch die offene Wunde gezogen und dann in ihren Eingeweiden hin- und hergedreht.«

Ein eiskalter Schauer lief Caros Rücken hinunter. »War das Opfer da schon tot?«

»Nein, die Frau muss entsetzliche Schmerzen gehabt haben. Und das sagt mir, dass der Killer eine Bestie ist. Der Gedanke daran, dass du alleine in dieser merkwürdigen Kolonie ermittelst, treibt mir den Schweiß auf die Stirn.«

»Es gibt leider keine andere Möglichkeit. Die Patienten sind labil und müssen unter großer Vorsicht befragt werden. Dafür wurde ich ausgewählt.«

»Das ist doch Irrsinn! Wer zum Teufel hat das entschieden?«

»Jens Schröder.«

»Hmm. Ich glaube kaum, dass die Entscheidung allein von Jens kommt. Bitte geh keine Risiken ein, Caro! Am besten wäre, wenn du dich verbarrikadierst und wartest, bis Berger zurückkommt.«

Mit einigem Unbehagen dachte Caro an die nicht abschließbare Hütte, behielt den Gedanken aber für sich. »Ich passe schon auf mich auf, Simone. Danke für deine Hilfe.«

»Ich halte dich über die Fortschritte der Obduktion auf dem Laufenden.«

Caro bedankte sich und legte auf. Anschließend rief sie Jennifer an und teilte ihr mit, dass sie die nächsten Tage nicht nach Hause kommen würde. Erwartungsgemäß hatte das Mädchen keine Probleme damit. Sie schien sogar ganz zufrieden mit der Situation zu sein, was Caros ungutes Gefühl deutlich verstärkte.

Sofort, nachdem sie das Gespräch beendet hatte, rief sie Katharina an, eine gute Freundin, die sie seit ihrer Schulzeit kannte und die nur fünf Minuten entfernt wohnte. Katharina versprach, regelmäßig bei Jennifer vorbeizuschauen, was Caros Sorgen etwas linderte.

Als sie das Telefon in die Tasche gesteckt hatte und sich umdrehte, erschrak sie. Auf der Treppe des Gutshauses stand eine blonde Frau, die sie durchdringend anstarrte. Caro hatte das Gefühl, dass der Blick sie regelrecht durchbohrte. Die Frau war Anfang dreißig, auffällig schlank und trug eine enge Hose aus Lederimitat, dazu einen roten, ebenfalls körperbetonten Rollkragenpullover. War sie eine von Klingers Patientinnen?

Caro trat die Flucht nach vorne an und ging auf die Frau zu. Als sie bis auf fünf Meter herangekommen war, rief sie möglichst unaufgeregt: »Hallo!«

»Was machen Sie hier?«, fragte die Frau, ohne Caro zu begrüßen.

»Ich heiße Carolin Löwenstein und suche – zusammen mit Kommissar Berger – nach dem Mörder von Nicole Bachmann. Und wer sind Sie?«

»Evelyn Klinger.«

War das die Tochter des Doktors? Doch bevor sie etwas sagen konnte, ergänzte die Koloniebewohnerin: »Ich bin Jonas Klingers Ehefrau.«

Caro war überrascht. Der Altersunterschied zwischen den Eheleuten war beträchtlich.

»Es gibt hier keinen Mörder«, fuhr Evelyn fort. »Jeder kennt jeden. Wir wüssten sofort, wenn jemand aus der Kolonie für die Tat verantwortlich wäre.«

»Man sieht Straftätern ihre Absichten nicht unbedingt an«, gab Caro zu bedenken.

Evelin trat zwei Treppenstufen hinunter. »Es gibt hier auch keine Straftäter!«

»Das glaube ich Ihnen ja. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin hier, um zu helfen.«

»Natürlich.« Evelyn lächelte aufgesetzt.

Caro strich sich die Haare hinter die Ohren. »Ich möchte noch einmal mit Wiebke Böhm sprechen.«

Evelyn hob ihren Blick. »Das kann ich leider nicht entscheiden. Sie müssen meinen Mann um Erlaubnis fragen. Und der ist gerade beschäftigt.«

Caro begann, innerlich zu brodeln. »Dann melden Sie mich bitte bei ihm an.«

Sie verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken und beeilte sich, aus dem Sichtfeld der Frau zu kommen, denn sie hatte nicht vor, auf Klingers Legitimation zu warten.

7

Als Caro an der Scheune vorbeiging, fragte sie sich, was Wiebke Böhm verborgen hatte. Sie war der Frage, ob das Mordopfer Feinde in der Kolonie gehabt hatte, eindeutig ausgewichen. Hatte der Doktor auf subtile Weise dafür gesorgt, dass sie den Mund gehalten hatte? War das womöglich der Grund, warum er bei allen Befragungen dabei sein wollte? Oder war er tatsächlich nur um das Wohl seiner Patienten besorgt?

Caro blickte sich um. Niemand war auf dem Hof. Niemand beobachtete sie. Oder doch? Sollte sie es wagen, die Frau ohne Erlaubnis aufzusuchen? Ohne Klingers Maulkorb?

Wieder sah Caro über die Schulter, dann betrat sie die Scheune und klopfte an Wiebke Böhms Zimmertür.

Die Frau mit den lockigen Haaren öffnete. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung zu Angst. Dann zu Panik.

»Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Frau Böhm. Ich möchte mich nur mit Ihnen unterhalten.«

»Ich … kann … nicht«, brachte sie mühsam hervor.

Caro änderte ihre Strategie. »Ich muss meine sechzehnjährige Tochter, Jennifer, für ein paar Tage alleine lassen, um hier in der Kolonie bleiben zu können.«

»S… Sie bleiben auf dem Hof?«, fragte Wiebke Böhm verwundert. Die Panik verschwand aus ihrem Gesicht.

»Ja, und ich habe es momentan echt nicht leicht mit meiner Tochter. Sie hängt ständig mit ihren Freunden ab und schwänzt die Schule. Daher fällt es mir wirklich schwer, sie alleine zu lassen. Warum sind Sie eigentlich hier?« Caro setzte den schnellen Themenwechsel bewusst ein.

Wiebke wirkte verwirrt, dennoch antwortete sie. »Ich konnte nicht mehr.«

»Wie meinen Sie das?«, hakte Caro nach.

»Ich war Investmentbankerin.«

Jetzt war Caro überrascht. »Investmentbankerin?« Sie stellte sich die zusammengefallene Frau im kurzen Businesskostüm vor, während sie in der oberen Etage eines Frankfurter Banktowers hektische Anweisungen ins Telefon brüllte.

»Ich hatte einen schlimmen Burn-out und wollte mir sogar das Leben nehmen. Doktor Klinger hat mich gerettet. Hier in der Kolonie geht es mir gut. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, woanders zu leben.«

»Wie ist Herr Klinger denn so?«

»Er ist wie ein Hirte, der mich durchs Leben leitet. Und er ist ein wundervoller Arzt.«

Caro nickte. Offenbar hatte der Doktor seine Patienten gut im Griff. »Aber er scheint auch ziemlich streng zu sein, oder?«

»Es gibt Regeln.«

»Zum Beispiel?«

»Abends um zehn Uhr ist Bettruhe. Außerdem müssen alle Patienten der Gemeinschaft dienen.«

»Mit Arbeit?«

»Ja. Ich habe gelernt, Haare zu schneiden. Und es erfreut mich, meinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu können.«

»Und wenn jemand gegen die Regeln verstößt? Oder nicht der Gemeinschaft dient?«

Wiebkes Hand zitterte. »Ich halte mich an die Regeln.«

»Gibt es denn Strafen?«, fragte Caro.

Die Frau starrte in die Luft, unsicher, ob sie antworten sollte. »Ich finde die Regeln gut. Sie beruhigen mich.«

Ihre Antwort klang einstudiert. Außerdem war Caro davon überzeugt, dass Angst in ihrer Stimme mitschwang. Sie verheimlichte etwas.

Caro beschloss, das Gespräch auf das Mordopfer zu lenken. »Wer hatte einen Grund, Nicole Bachmann zu töten?«

Die Augen der Frau weiteten sich. Das Zittern nahm zu. »Ich … ich weiß es nicht.«

»Doch, Sie wissen es.«

Sie schüttelte den Kopf, sprach aber trotzdem weiter. »Jemand hat sie beobachtet.«

»Beobachtet? Wer?«

Wiebke Böhm rollten Tränen aus den Augen. Sie zitterte noch stärker. »Nicole hatte große Angst. Sie hat sich in den letzten Tagen ständig umgeschaut, als sei sie auf der Flucht.«

»Auf der Flucht vor wem?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich …«

Die Tür wurde ruckartig aufgerissen, und Jonas Klinger platzte herein.

»Warum befragen Sie meine Patientin ohne meine Erlaubnis?«

Caro drehte sich um. »Ich habe Ihrer Frau Bescheid gesagt. Ich kann auch nichts dafür, wenn sie die Information nicht weitergibt.«

Der Doktor lief rot an. »Kommen Sie bitte mit mir hinaus, Frau Löwenstein. Ich möchte nicht, dass Wiebke unsere Diskussion mit anhören muss. Sie hat heute schon genug durchgemacht.«

Als beide vor der Wohnung standen und die Tür ins Schloss gefallen war, wandte sich Klinger mit zitternden Nasenflügeln an Caro. »Wir hatten eine klare Abmachung. Keine Befragungen ohne meine Zustimmung. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

Caro sah ihm fest in die Augen. »Ich erwarte von Ihnen mehr Unterstützung, Herr Klinger. Wir haben eine Menge Befragungen vor der Brust. Wenn Sie die Gespräche begleiten möchten, dann helfen Sie mir.«

»Natürlich unterstütze ich Sie. Das habe ich schon mehrfach deutlich gemacht. Allerdings erwarte ich mehr Geduld von Ihnen. Ich werde jetzt noch einmal mit Ihrem Vorgesetzten telefonieren, damit wir ein gemeinsames Verständnis von ihren Ermittlungsmethoden bekommen.«

»Von mir aus.« Nach außen wahrte Caro die Fassung, doch innerlich geriet sie in Panik. Wie würde Jens Schröder reagieren? Würde er auf ihrer Seite stehen oder sie stattdessen zusammenfalten?

Klinger stapfte davon, vermutlich zum nächsten Telefon. Bevor er aus dem Blickfeld verschwand, drehte er sich noch einmal um. »Ich halte sehr viel von Ihnen, Frau Löwenstein. Machen Sie diesen Eindruck nicht kaputt!«

Caro nickte. Dann ging sie langsam zu dem Ahornbaum hinüber, von wo aus sie Empfang hatte. Sie erwartete einen Anruf.

Etwa zehn Minuten später vibrierte ihr Handy.

8

Eine Kuhglocke läutete, als Zoé Weber die Tür des Krämerladens öffnete, der auf der Rückseite der umgebauten Scheune untergebracht war. Hier deckten sich die Bewohner der Kolonie mit Lebensmitteln ein, die der Hof erwirtschaftete.