Todeskalt - Nikolas Stoltz - E-Book
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Todeskalt E-Book

Nikolas Stoltz

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Beschreibung

Der Tod wird dich finden!

Kriminalpsychologin Caro Löwenstein erhält den verzweifelten Anruf einer alten Freundin: Die Psychotherapeutin Melanie Meissner fühlt sich verfolgt. Sofort eilt Caro in das verschneite Dorf im Taunus. Dort entdeckt sie die Leiche einer jungen Frau - Melanie hingegen ist verschwunden.

Noch mehr seltsame Dinge gehen in dem verschwiegenen Ort vor sich: Die Polizei arbeitet lieber mit einer Bürgerwehr als mit Caro zusammen. Um die Tote scheinen die Einwohner nicht im Geringsten zu trauern. Caro ermittelt mit Kommissar Simon Berger und seinem Team. Was sie entdecken, bringt die Ermittler in tödliche Gefahr ...

Ein spannender Psychothriller vom Autor von "Die Patienten" - der zweite Fall für Löwenstein und Berger.

DAS SAGEN UNSERE LESERINNEN UND LESER:

"Todeskalt hat mich von der Eingangsszene bis zum Showdown begeistert. Der Thriller liest sich so weg. Ich habe wirklich nichts zu kritisieren. Tempo, Wendungen, Atmo, Figuren - alles passt!" (Ask_1212, Lesejury)

"Nikolas Stoltz hat hier einen lebendigen und äußerst spannenden Thriller für einige gruselige Stunden zum Rätseln geschaffen und zeigt uns die tiefen Abgründe der menschlichen Gesellschaft. Dieses Buch ist wärmstens zu empfehlen." (Chris-Drache, Lesejury)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Dienstag, 25. Februar

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Mittwoch, 26. Februar

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Samstag, 7. März

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Leseprobe

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Die Patienten

Über dieses Buch

Der Tod wird dich finden!

Kriminalpsychologin Caro Löwenstein erhält den verzweifelten Anruf einer alten Freundin: Die Psychotherapeutin Melanie Meissner fühlt sich verfolgt. Sofort eilt Caro in das verschneite Dorf im Taunus. Dort entdeckt sie die Leiche einer jungen Frau – Melanie hingegen ist verschwunden.

Noch mehr seltsame Dinge gehen in dem verschwiegenen Ort vor sich: Die Polizei arbeitet lieber mit einer Bürgerwehr als mit Caro zusammen. Um die Tote scheinen die Einwohner nicht im Geringsten zu trauern. Caro ermittelt mit Kommissar Simon Berger und seinem Team. Was sie entdecken, bringt die Ermittler in tödliche Gefahr ...

Über den Autor

Nikolas Stoltz schreibt und liest am liebsten spannende Krimis und Thriller. Ihn fasziniert die menschliche Psyche in all ihren Facetten – vor allem die Abgründe. In seinen Romanen lebt er außerdem seine Vorliebe für ungewöhnliche Orte, sogenannte »Lost Places« aus. Nikolas Stoltz wurde 1973 in Lübeck geboren und lebt heute in der Nähe von Bonn.

Nikolas Stoltz

Todeskalt

Thriller

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © jolly_photo/shutterstock, © Somchai Som/shutterstock, © Yeti studio/shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0145-7

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Blutzeit« von Doris Litz.

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Dienstag, 25. Februar

1

Vereinzelte Schneeflocken stoben durch die Dunkelheit, während der eisige Wind über den Berghang fegte. Obwohl es bereits Ende Februar war, hielt die vorherrschende Kältewelle den Taunus fest im Griff und machte jegliche Frühlingshoffnung zunichte.

Carolin Löwenstein stieg aus dem Wagen. Sie band den roten Haarschopf zusammen und zog die Kapuze ihres Mantels über den Kopf, um sich vor der Kälte zu schützen. Vor ihr reckten sich die Umrisse einer Burgruine in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel.

Was zum Teufel machst du hier?

Vor etwas mehr als einer Stunde hatte Caro einen sonderbaren Anruf erhalten. Sie hatte gerade das Landeskriminalamt verlassen und sich auf einen gemütlichen Abend auf dem Sofa ihrer Wiesbadener Wohnung gefreut, als ihr Handy geklingelt hatte.

»Ich brauche deine Hilfe!«, flüsterte eine verzweifelte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Die Verbindung war von Rauschen durchdrungen.

»Mit wem spreche ich denn?«

»Ich bin’s. Melanie.«

Melanie Meissner!, schoss es Caro durch den Kopf. Ihre ehemalige Kommilitonin und Mitbewohnerin. Caro hatte die alte Freundin schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums hatten sich ihre Wege getrennt, und nur die obligatorischen Geburtstagsanrufe waren geblieben.

»Melanie? Was ist passiert?«

Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, dann flüsterte die Stimme eindringlich: »Jemand ... jemand ist hinter mir her!«

»Melanie, beruhige dich! Wer ist hinter dir her? Und wo bist du?«

»In Oberweildorf. Bei der alten Burgruine.«

Caros Blick glitt den Berg hinauf, auf dem der Burgturm gespenstisch aus Nebel und Dunkelheit hervortrat und das darunter liegende Dorf zu bewachen schien. Die düstere Erscheinung des mittelalterlichen Gemäuers wirkte derart unheimlich, dass Caro kurz zögerte, bevor sie weiterging.

Ein unregelmäßiges Klappern hallte durch die Nacht, vermutlich von einer Tür oder einem Fensterladen, mit dem der Wind spielte.

Wieder schwirrten die angsterfüllten Worte des Telefongespräches durch Caros Kopf.

»Sie ... sie ist hinter mir her!«, stammelte Melanie.

»Wer ist hinter dir her? Und was zur Hölle machst du in dem Dorf?«

»Ich habe etwas Schreckliches herausgefunden. Kannst du bitte herkommen?«

»Soll ich nicht lieber die örtliche Polizei informieren?«, fragte Caro besorgt. »Die Kollegen werden deutlich schneller bei dir sein.«

»Nein!« Melanies Stimme überschlug sich fast. »Keine Polizei. Bitte.«

»Aber ...«

»Ich brauche deine Hilfe! Ich ...«

Die Verbindung brach abrupt ab.

Caro versuchte, die angezeigte Nummer zurückzurufen. Ohne Erfolg.

Wer war hinter Melanie her? Und warum hatte sie Angst vor der Polizei?

Ihre ehemalige Mitbewohnerin brauchte Hilfe, so viel war klar. Anstatt nach Hause zu fahren, schlug Caro den Weg in den Taunus ein. Nach Oberweildorf.

Ein schmiedeeisernes Tor versperrte den Aufstieg zur Burgruine, und auf einem Schild prangten fette Buchstaben: ›ZUTRITT VERBOTEN!‹.

Caro schaltete ihre Taschenlampe ein und leuchtete durch das Gitter. Eine Felssteintreppe führte zu den Überresten der Burg hinauf. Auf dem mit Schnee gepuderten Boden hatten sich schemenhafte Fußspuren eingedrückt, der Größe nach von einer Frau. Handelte es sich um Melanies Abdrücke?

Caro stieß gegen das Gittertor, das mit einem Knarren nachgab. Im Schein der Taschenlampe tauchten weitere Details der Ruine auf. Am Fuß des Turmes grub sich eine Öffnung in die Felsenwand, nicht mehr als ein schwarzes Loch. Darüber klafften Schießscharten, und am oberen Rand des Gemäuers saßen Burgzinnen, wie die Zacken einer Krone. Überreste der Burgmauer schlossen sich an den Bergfried an und grenzten die ehemalige Festung ein. Die kahlen Äste mehrerer Bäume tanzten gespenstisch im Wind, als wollten sie Caro davon abhalten, weiterzugehen.

Wo steckst du, Melanie?

»Melanie?« Caros Stimme wurde vom Nebel verschluckt und hörte sich unwirklich an, fast wie in einem Traum.

Sie schwenkte die Taschenlampe über die Mauern.

»Melanie?«

Keine Reaktion.

Die Fußspuren führen auf direktem Weg zum Burgturm und verschwanden in dessen Eingang. Alles in Caro sträubte sich, den Abdrücken zu folgen. Sie blieb vor dem dunklen Loch stehen und leuchtete mit pochendem Herzen hinein.

Im Lichtkegel zeichnete sich ein kahler Raum ab, umgeben von meterdicken Felswänden. Eine vergitterte Luke war in den Boden eingelassen.

Wie in einem Folterkeller!

Caro rang mit sich, weiterzugehen oder umzukehren. Was hatte sie sich dabei gedacht, alleine herzukommen? Warum hatte sie nicht ihren Kollegen, Kommissar Simon Berger, gebeten, sie zu begleiten? Oder jemand anders? Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Als Profilerin trug sie keine Dienstwaffe. In diesem Moment wünschte sie sich jedoch, eine Pistole in den Händen zu halten.

Caro biss die Zähne zusammen und betrat den Turm. Ein muffiger Geruch stieg ihr in die Nase. Auf der rechten Seite führte eine steile Felsentreppe nach oben. Caro schloss die Augen, um ihre wachsende Furcht zu bekämpfen, dann erklomm sie die Stufen. Der Gang war so eng, dass sie sich kaum umdrehen konnte. Immer wieder hielt sie inne, um zu horchen. Es herrschte eine Totenstille.

Endlich endete die Treppe. Caro erreichte ein nach oben offenes Plateau, etwa vier bis fünf Meter unterhalb der Turmspitze. Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Eine stählerne Wendeltreppe führte hinauf zu einer rundumlaufenden Aussichtsplattform.

Als Caro mit der Taschenlampe in die Höhe strahlte, erstarrte sie.

Über ihr hing der Körper einer blonden Frau in einer Seilschlinge. Das Gesicht war blass, fast schon weiß, und der Kopf zur Seite gefallen, so weit es der Galgen zuließ. Die Augen standen weit offen und drückten sich aus den Augenhöhlen heraus. Arme und Beine hingen leblos herab. Das Seil war an der Metallbrüstung der Aussichtsplattform angeknotet.

Caro starrte auf das bizarre Bild. Für einen kurzen Moment bildete sie sich ein, dass die Szene nicht real war. Wie in einem Spielfilm, der in der nächsten Sekunde den erlösenden Szenenwechsel brachte.

Caros Gedanken begannen, sich zu überschlagen. Handelte es sich um Melanie? Nein! Unsinn. Die Frau war zu jung, vielleicht Anfang zwanzig. Melanie war, ebenso wie Caro, Ende dreißig.

Hastig stieg Caro die Wendeltreppe hinauf. Möglicherweise lebte das Opfer noch, oder es konnte wiederbelebt werden.

Die Aussichtsplattform war verlassen. Caro lehnte sich über die Balustrade und zog von oben am Seil, doch ihre Kraft reichte nicht aus, den leblosen Körper heraufzuziehen. Sie versuchte es erneut. Vergeblich.

Wie in Trance rief sie den Polizeinotruf an und meldete den Vorfall. Dabei konnte sie den Blick kaum von der gespenstischen Leiche abwenden. Hatte sich die Frau selbst erhängt? Und wo steckte Melanie?

Als Caro das Smartphone wieder weggesteckt hatte, holte sie der eiskalte Wind nach und nach zurück in die Realität. Sie schaute über die Brüstung auf die verschneiten Ruinen der Festungsanlage. Plötzlich sah sie den Schatten. Neben dem Stamm eines Baumgerippes stand eine dunkle Gestalt und starrte zu ihr hoch. Das Gesicht lag verborgen unter der weiten Kapuze eines schwarzen Umhangs.

Caro kniff die Augen zusammen, doch es war zu dunkel, um mehr zu erkennen. Handelte es sich um Melanie?

Sie richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Gestalt. Im selben Moment verschwand der Schatten hinter dem Baumstamm.

Caro hastete die Wendeltreppe hinab, dann den engen Abstieg hinunter, bis sie den Ausgang des Turmes erreichte. Sie lief die Burgmauer entlang bis zu jenem Baum, an dem die unheimliche Gestalt gestanden hatte. Caro leuchtete hinter den Stamm. Niemand war dort.

»Melanie?«

Sie betrachtete den Boden. Im Schutz der Mauer lag kaum Schnee, sodass sich keine Spuren abdrückten.

Wer hatte sie beobachtet?

Als sich ihr Atem wieder beruhigt hatte, rief Caro ihren Kollegen Simon Berger an.

2

Das blaue Blinklicht am Fuß der Burgruine kündigte die Ankunft der Polizeistreife an. Caro hatte im Turminneren Schutz gesucht und beobachtete durch den Eingang, wie die Lichtkegel zweier Taschenlampen auf sie zukamen. Vermutlich handelte es sich um die Beamten der örtlichen Dienststelle in Usingen. Caro machte sich frühzeitig bemerkbar, um die Kollegen nicht zu einer Kurzschlussreaktion zu verleiten. Sie zeigte ihren Dienstausweis und stellte sich vor.

Der größere der beiden Männer zog eine Wollmütze vom Kopf, unter der ein kahler Schädel zum Vorschein kam. Er hatte ein rundliches Gesicht mit einem schwarzen Schnauzbart.

»Kommissar Theo Schilling.« Er zeigte auf den blonden Polizisten neben sich. »Und das ist mein Partner Jörn Dietrich.« Mit seiner hageren Statur und der blassen Haut wirkte der Kollege unscheinbar, fast schon scheu.

»Was machen Sie denn beim LKA?«, fragte Schilling in einem herablassenden Tonfall.

»Ich bin als Fallanalytikerin tätig«, erwiderte Caro.

Nach Jahren im polizeipsychologischen Dienst hatte Caro vor zwei Monaten endlich eine begehrte Stelle in der Abteilung für Gewaltverbrechen im Team von Kommissar Simon Berger erhalten.

»Eine Profilerin?« Schilling verzog das Gesicht. »Das sind doch die Leute, die an Tatorten immer alles besser wissen.«

Was für ein Arschloch!

»Ich halte mich an Fakten«, gab Caro diplomatisch zurück.

»Aha. Und warum sind Sie hergekommen?«

»Ich bin privat hier. Eine alte Freundin hat mich angerufen und um Hilfe gebeten. Als ich vor etwa einer Stunde eingetroffen bin, habe ich auf dem Turm eine Leiche entdeckt.«

Schilling zog die linke Augenbraue hoch. »Die Leiche ihrer Freundin?«

»Nein. Dort oben hängt eine Frau an einem Strick. Sie ist deutlich jünger als meine Freundin.«

»Dann zeigen Sie uns mal die Tote.«

Caro führte die Polizisten die steile Treppe hinauf, bis sie die obere Plattform erreichten. Mit der Taschenlampe leuchtete sie die Leiche über ihnen an.

Kommissar Schilling betrachtete das Szenario mit angespannter Körperhaltung, während sein Partner noch blasser wurde.

»Das ist Johanna Maiwald«, sagte Jörn Dietrich mit dünner Stimme.

»Sie kennen die Frau?«, fragte Caro erstaunt.

Schilling nickte. »Sie ist uns bestens bekannt.«

»Das müssen Sie mir genauer erklären.«

»Ich muss gar nichts«, knurrte Schilling. »Sagen wir, sie war eine Unruhestifterin.«

»Es war wohl ein Selbstmord«, ergänzte sein Partner schnell.

Caro dachte an die unheimliche Gestalt, behielt die Information jedoch vorerst für sich. Hatte die Erscheinung etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun? Allerdings gab es keine Kampfspuren. Nichts deutete darauf hin, dass sich das Opfer gewehrt hatte.

Schilling wandte sich an Caro. »Wo ist denn Ihre Freundin?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie nicht angetroffen.«

»Hmm. Finden Sie das nicht merkwürdig?«

»Ja.«

»Möglicherweise war sie am Tod der Frau beteiligt.« Er zeigte auf die Leiche.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Caro. »Ich habe vor etwa zwei Stunden mit ihr telefoniert. Ich befürchte eher, dass ihr etwas zugestoßen ist.«

Schilling kniff die Augen zusammen. »Wir werden sehen. Ich fordere jetzt die Spurensicherung an.«

Caro nickte. In ihrem Kopf rumorte es. Was war hier geschehen? Warum war Melanie verschwunden?

Eine halbe Stunde später traf auch LKA-Kriminalkommissar Simon Berger am Tatort ein. Caro fing ihren Kollegen am Eingang des Turmes ab. In seiner grauen Jeans und der olivfarbenen Winterjacke wirkte er leger, als wäre er vom heimischen Sofa verjagt worden. Er hatte eine athletische Statur und überragte Caro um einen halben Kopf. Berger schüttelte sich den Pulverschnee aus den dunklen Haaren. In seine Stirn gruben sich tiefe Falten, und die braunen Augen blickten Caro besorgt an.

Sie ging auf den Kommissar zu. »Danke, dass du gekommen bist.« Sie umarmte ihn flüchtig und genoss den Moment seiner Nähe.

»Ist doch selbstverständlich. Was genau ist denn passiert?«

Caro berichtete Berger von ihrem Telefonat mit Melanie, wie sie daraufhin nach Oberweildorf gefahren war und die Leiche in der Burgruine entdeckt hatte. Sie endete mit einer Zusammenfassung ihres Gespräches mit Kommissar Schilling.

»Merkwürdig, dass deine Freundin verschwunden ist.« Berger kratzte sich am Kopf. »Ist dir irgendetwas aufgefallen?«

Caro zeigte aus dem Eingang des Turmes heraus. »Ich habe da unten jemanden gesehen, kurz nachdem ich die Leiche entdeckt habe.«

»War es vielleicht deine Freundin?«

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Caro. »Neben dem Baum stand eine Gestalt. Mehr ein Schatten. Ich bin sofort runtergelaufen, aber es war zu spät.«

»Dann lassen wir mal die Spurensicherung ihren Job machen. Zeigst du mir mal die Leiche?«

Caro nickte. »Klar. Folg mir.«

Sie führte ihren Kollegen die enge Treppe hinauf. Auf der Plattform trafen sie Kommissar Schilling, der Berger kritisch beäugte.

»Wer sind Sie denn?«

Berger zückte seinen Ausweis.

Schilling stöhnte. »Seit wann interessiert sich das LKA für Selbstmorde?«

»Normalerweise nicht.« Berger warf einen Blick auf die tote Frau in der Seilschlinge.

»Und warum mischen Sie sich dann in meine Ermittlungen ein?«

Berger antwortete nicht und trat stattdessen einen Schritt vor, um das Szenario genauer betrachten zu können.

»Merkwürdig, dass das Seil an der untersten Strebe des Geländers angebracht wurde.« Berger leuchtete die Leiche mit seiner Taschenlampe an. »Dazu passen die Schmutzspuren auf ihrer Jacke. Ein möglicher Täter könnte sie unter der Balustrade hindurchgeschoben haben.«

Schilling lief rot an. »Ich warte auf die Spurensicherung. Außerdem verbitte ich mir, dass Sie mich belehren. Ich bin kein Anfänger.«

»So habe ich das nicht gemeint«, beschwichtigte Berger.

»Verlassen Sie jetzt den Tatort. Wir haben alles im Griff.«

»Regen Sie sich ab. Wir sind ja schon weg.« Berger nickte in Richtung Treppe.

Caro folgte ihm die Stufen hinab. »Ich befürchte, dass Melanie entführt wurde.«

»Danach sieht es nicht aus«, widersprach Berger. »Hier sind nirgendwo Kampfspuren. Kein Blut. Keine Spuren im Schnee. Nichts.«

»Sie hat am Telefon erwähnt, dass sie verfolgt wird. Vielleicht ist sie dem Täter oder der Täterin auf der Straße in die Arme gelaufen.«

Berger wirkte wenig überzeugt. »Wie gut kennst du sie eigentlich?«

»Sehr gut. Na ja, ich hatte in den letzten zehn Jahren kaum Kontakt zu ihr.«

»Aha.«

»Als ich mit Melanie telefoniert habe, hatte sie Angst. Das habe ich deutlich herausgehört.«

Berger schüttelte den Kopf. »Ich verstehe ja, dass dir die Sache nahegeht. Und offensichtlich ist hier etwas faul. Aber wir können auch nicht ausschließen, dass deine Freundin an dem Tod der Frau beteiligt war. Möglicherweise hat sie sich nicht getraut, dir am Telefon die Wahrheit zu sagen.«

Caro schüttelte den Kopf. »Sie ist der ehrlichste Mensch, den ich kenne. Das würde nicht zu ihr passen.«

»Erst mal brauchen wir mehr Informationen«, sagte Berger. »Es ist zu früh, um Schlüsse zu ziehen.«

Er hatte recht. Es fehlten zu viele Fakten. Leider reichte die Sachlage nicht für eine offizielle Ermittlung des Landeskriminalamtes aus. Die Abteilung für Gewaltverbrechen, in der Caro und Berger tätig waren, kümmerte sich nur um organisierte Kriminalität oder besonders schwere Verbrechen, wie zum Beispiel Serienmord. Ein Selbstmord und das Verschwinden einer Psychologin fielen in den Zuständigkeitsbereich der lokalen Polizeidienststelle. Allerdings würden die Kollegen mit einer Fahndung nach Melanie erst mal abwarten, denn der Großteil vermisster Personen tauchte innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder auf.

»Wir sollten uns den Tatort noch mal genauer anschauen«, sagte Caro.

»Auf keinen Fall!«, widersprach Berger. »Zurzeit können wir nichts unternehmen. Das LKA ist nicht zuständig!«

Caro senkte den Kopf. Sie wollte ihrer alten Freundin helfen.

Von der Treppe näherten sich Schritte. Kurz darauf erschien Kommissar Schilling im Abgang.

»Sie sind ja immer noch hier.« Sein Gesicht lief rot an. »Gehen Sie jetzt bitte! Ach, und Frau Löwenstein, ich erwarte morgen Vormittag eine schriftliche Aussage von Ihnen in meinem Postfach.«

Caro nickte. Sie hatte kein gutes Gefühl, was Kommissar Schilling anging.

Mittwoch, 26. Februar

3

Der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen durchzog die Küche. Die Espressomaschine schnaufte, während der Toaster die ersten Brotscheiben röstete.

Leider hatte Caro keine Zeit für ein ausgedehntes Frühstück. Es würde eher auf einen schnellen Snack hinauslaufen, denn sie musste ihre sechzehnjährige Tochter Jennifer antreiben, damit sie rechtzeitig zur Schule aufbrach.

Das Mädchen steckte mitten in der Pubertät und durchlebte eine schwierige Phase. Caro gelang es kaum, zu ihr durchzudringen. Seit Caros Scheidung vor anderthalb Jahren hatte sich Jennifer immer weiter abgekapselt und schwänzte häufig den Unterricht.

Sie ging ihre eigenen Wege. Wege, die Caro nicht nachvollziehen konnte. Im vergangenen Jahr hatte sie herausgefunden, dass sich Jennifer zu älteren Männern hingezogen fühlte. Zu deutlich älteren Männern. Obwohl das Mädchen mit seinem damaligen Freund – einem Münchner Geschäftsmann in den Vierzigern – Schluss gemacht hatte, wusste Caro, dass das Thema nicht ausgestanden war. Jedes Mal, wenn sie ihre Tochter alleine ließ, brodelte ein mulmiges Gefühl in ihrem Inneren.

Die Brotscheiben sprangen mit einem Klacken aus dem Toaster. »Willst du auch einen Toast?«, rief sie Jennifer zu, die sich im Badezimmer schminkte.

»Nein. Sind mir zu viele Kalorien.«

»Es ist besser, morgens ordentlich zu essen«, gab Caro zurück.

Jennifer erschien in der Küche. Ihre schlanke Figur war ein Abbild ihrer Mutter. Sie hatte es nicht nötig, Kalorien einzusparen, kämpfte aber trotzdem um jedes Gramm. Im Gegensatz zu Caro mit ihrem roten Schopf hatte Jennifer blonde Haare, die ihr bis auf die Hüften fielen. Das schmale Gesicht mit der feinen Nase und den hohen Wangenknochen hatte sie wiederum von ihrer Mutter geerbt.

»Ich trinke nur einen schnellen Espresso.« Das Mädchen trug ausnahmsweise keinen Minirock, sondern eine blaue Jeans mit Sneakers. Das gab Caro das beruhigende Gefühl, dass sie tatsächlich vorhatte, zur Schule zu gehen.

»Okay.« Caro reichte ihr die Tasse. »Ich bin heute unterwegs.«

Jennifer tippte auf ihrem Handy herum. »Ach ja?«

»Ich muss in den Taunus. Wir haben dort möglicherweise einen neuen Fall.« Caro dachte an die gespenstische Leiche in der Burgruine. Das schreckliche Bild der am Galgen hängenden Frau ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ihre Gedanken hielt sie jedoch für sich.

»Schön für dich«, erwiderte Jennifer. »Ich muss jetzt los.« Sie kippte ihren Espresso runter und griff nach ihrer Tasche. »Dann bis irgendwann.«

»Viel Spaß in der Schule.«

»Davon kann wohl keine Rede sein.«

Die Wohnungstür fiel hinter ihr ins Schloss.

Caros Gedanken schweiften zurück an den Tatort. Zurück zu der unheimlichen Gestalt, die sie in der Ruine beobachtet hatte.

Was war dort oben passiert? Ihre alte Freundin hatte verzweifelt gewirkt, als sie Caro angerufen hatte. Warum war sie verschwunden?

Caro hatte Melanie im ersten Semester ihres Psychologiestudiums in Frankfurt kennengelernt, als sie beide auf eine Vorlesung gewartet hatten.

Melanie saß auf einer Fensterbank im Forum vor den Hörsälen. Die dunkelbraunen Haare fielen mit einem auffällig gerade geschnittenen Pony bis auf die Augenbrauen. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit schwarzem Rand. Das schlanke Mädchen in seinem kurzen Sommerkleidchen war ein Blickfang für die vorbeigehenden Jungs, was sie selbst nicht zu interessieren schien.

Caro wurde Zeugin, wie sich zwei Studenten auf plumpe Weise an sie heranmachten. »Hey, Beauty! Wir brauchen noch ’ne scharfe Begleitung für die Medizinerparty heute Abend. Wie wär’s mit dir?«

Melanie sah verständnislos auf. »Was soll ich denn auf so ’ner Party?«

»Na, Spaß haben!«, antwortete der größere der beiden Studenten und fasste sich demonstrativ in den Schritt. »Ich gebe dir gerne einen Grundkurs.« Die beiden Typen lachten.

Sie verzog das Gesicht. »Kein Bedarf. Danke!«

»Was ist mit dir los? Bis du untervögelt? Mach dich mal locker.«

Caro ärgerte sich über den unverschämten Kerl und stellte sich dazu. Mit den langen, roten Haaren, den blauen Augen und der zierlichen Figur raubte sie den meisten Männern ebenfalls den Atem.

»Schwirrt ab! Ihr spielt nicht in ihrer Liga.«

Melanie lächelte dankbar.

Der Wortführer starrte Caro irritiert an. »Ich spiele in der Champions League. Ihr könnt froh sein, dass wir uns mit euch abgeben.«

Caro lachte auf und musterte den Kerl von oben bis unten. »Champions League? Vielleicht als Balljungen!«

Offensichtlich fiel ihrem Gegenüber keine spontane Antwort ein. »Ich ... äh ... Jetzt habt ihr keine Chance mehr bei mir.«

»Wirklich traurig«, erwiderte Melanie sarkastisch.

Als die Studenten abzogen, bedankte sie sich für Caros Hilfe. Ab dem Zeitpunkt waren sie an der Uni unzertrennlich und zogen im selben Monat in einer Wohngemeinschaft zusammen.

Melanie war eine angenehme Mitbewohnerin gewesen: ruhig und arbeitsam. Man sah sie weder auf Partys noch mit anderen Studenten, was ihr den Spitznamen ›Uni-Nonne‹ einbrachte.

Nach dem Studium hatten sich ihre Wege getrennt. Caro hatte bei der hessischen Polizei als Psychologin angeheuert und eine Familie gegründet, während Melanie ihre eigene Praxis in Frankfurt eröffnet hatte. Außer sporadischen Anrufen war von ihrer engen Freundschaft nicht viel geblieben, dennoch spürte Caro noch immer eine Verbindung zu Melanie.

Ihre verzweifelten Worte klangen ihr im Kopf nach.

Jemand ist hinter mir her!

Melanie war offensichtlich verfolgt und bedroht worden. Was war gestern geschehen, nachdem das Telefongespräch so abrupt abgebrochen war? Caro hatte mehrfach probiert, ihre alte Freundin anzurufen, auch an diesem Morgen. Doch jedes Mal war nur der Anrufbeantworter angesprungen. Berger hatte noch in der Nacht eine Streife zu Melanies Wohnung in Frankfurt geschickt, obwohl es streng genommen nicht in seine Zuständigkeit fiel. Die Kollegen hatten Melanie nicht angetroffen, und laut ihrer Nachbarn war sie schon seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Caro sorgte sich um ihre Freundin.

In den griesgrämigen Polizisten namens Schilling setzte sie wenig Vertrauen. Wahrscheinlich würde er die Akten so schnell wie möglich schließen. Natürlich konnte sie abwarten, um sich von dem Dorfpolizisten positiv überraschen zu lassen. Doch mit jeder Minute, die Melanie verschwunden war, sanken ihre Chancen, lebend gefunden zu werden. Caro konnte unmöglich ruhig dasitzen, bis die ersten Ermittlungsergebnisse aus Oberweildorf vorlagen.

Sie griff nach ihrem Handy und rief Berger an.

Nach einer knappen Begrüßung kam sie sofort auf den Punkt. »Ich nehme mir einen Tag Urlaub.«

»Was hast du denn vor?«, fragte der Kommissar entgeistert.

»Ich suche nach Melanie.«

»Wir sollten auf die örtliche Polizeidienststelle vertrauen. Die Kollegen kennen sich im Dorf aus. Sie können die Leute besser einschätzen.«

»Du hast doch diesen Schilling kennengelernt. Er ist ein Idiot.«

Berger seufzte. »Aber für die Ermittlungen braucht es Beamte aus der Region. Von außen ist es verdammt schwierig, die Bewohner zum Reden zu bewegen.«

»Ich weiß. Trotzdem möchte ich es versuchen. Ich befürchte, dass sich Melanie in großer Gefahr befindet.«

»Na gut, dann schau dich im Dorf um«, entgegnete er. »Ich halte dir den Rücken frei.«

»Danke, Berger.« Caro legte auf. Sie wusste, dass sich der Kommissar Sorgen um sie machte. Sorgen, die über eine kollegiale Beziehung hinausgingen. Caro teilte die Zuneigung, die er für sie empfand, und in seiner Nähe schlug ihr Herz einige Takte schneller. Doch ihre Beziehung war kompliziert. Zum einen wurden im LKA Liebschaften unter Kollegen nicht gerne gesehen. Außerdem lastete der Schatten seiner Vergangenheit auf Berger. Er litt unter Depressionen. Vor einigen Jahren war seine damalige Verlobte vor seinen Augen erschossen worden – ein erschütternder Moment, den er nie überwunden hatte. Trotzdem gab Caro die Hoffnung nicht auf, dass er es irgendwann schaffen würde.

Sie schaltete die Espressomaschine aus und griff nach ihrer Jacke. Ihr Ziel war der Taunus.

4

Pulverschnee stob über die Straße, als Caros Fiat die Ortsgrenze von Oberweildorf passierte. Zäher Nebel hüllte das Dorf ein und schien die Häuser regelrecht zu verschlucken. Es war einer dieser Wintertage, deren Tristesse das menschliche Gemüt auf eine harte Probe stellte. Und es würde nicht besser werden. Der Wetterbericht sagte für die nächsten Tage weitere Schneefälle voraus und für das kommende Wochenende sogar einen Schneesturm.

Caro parkte den Wagen im Ortskern vor einem Tante-Emma-Laden, dessen Schaufenster mit regionalen Produkten wie Wurstwaren, Obstbränden und Käse dekoriert war.

Sie stieg aus und ließ den Blick über die Straße schweifen. Es gab viele Fachwerkhäuser, die sich unregelmäßig aneinanderreihten. Auf ihrer Linken stach die Silhouette eines schmalen Kirchturmes aus dem Nebel hervor. Auf der anderen Seite thronte die Burgruine herrschaftlich über dem Dorf.

Der Ort wirkte ausgestorben. Caro hörte weder Fahrzeuge, noch sah sie Menschen auf der Straße, nicht mal eine Katze. Offenbar hatten sich die Leute in ihren Häusern verbarrikadiert.

Sie lief den Bürgersteig entlang. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel ihr eine baufällige Villa ins Auge. Das Gebäude mit den beiden Türmen und der mit Wolfsköpfen verzierten Fassade bereitete ihr Unbehagen. Die Fenster waren zugenagelt und das verwilderte Grundstück von einem hohen Zaun umgeben. Offenbar wollte niemand in dem Spukhaus wohnen. Verständlich.

Als Caro weiterging, traf sie auf einen älteren Herrn mit weißen Haaren in einem Holzfällerhemd, der sie aus einer Einfahrt misstrauisch ansah. Mit seinen Filzhausschuhen war er für das Winterwetter unpassend gekleidet.

»Guten Morgen«, sagte Caro freundlich.

»Warum schnüffeln Sie hier herum?«

Caro zog ihren Polizeiausweis aus der Tasche. »Mein Name ist Carolin Löwenstein. Ich arbeite für das Landeskriminalamt.«

Der Blick des Mannes verfinsterte sich. »So einen Ausweis kann sich doch heutzutage jeder selbst drucken. Wo ist denn Kommissar Schilling?«

Caro dachte an Bergers Worte. Er hatte recht in der Annahme, dass sich die Dorfbewohner Fremden gegenüber wenig aufgeschlossen zeigten.

»Das weiß ich nicht«, gab sie wahrheitsgemäß zurück. »Kennen Sie Johanna Maiwald?«

Der Mann vollführte eine abfällige Handbewegung. »Natürlich. Sie und ihre Schwester sind Unruhestifter.«

Er benutzte die gleichen Worte wie Schilling am Vorabend.

»Warum das?«, erkundigte sich Caro.

»Wegen der Sache von damals.«

Caro sah ihn durchdringend an. »Welche Sache?«

Er drehte sich weg. »Ich muss wieder rein. Es wird kalt.«

»Warten Sie bitte«, bat Caro eindringlich. »Sagt Ihnen der Name Melanie Meissner etwas?«

»Nie gehört.«

Rufe hallten über die Straße. Der Mann sah überrascht auf, und Caro fuhr herum. Drei schwarz gekleidete Kerle kamen auf sie zu, alle mit Kampfstiefeln bekleidet, tief ins Gesicht gezogenen Mützen und Armbinden mit der Aufschrift ›Bürgerwehr‹. An ihren Gürteln hingen Schlagstöcke.

Der kleinste der drei Männer ergriff das Wort. »Was haben Sie hier zu suchen?« Seine nasale Stimme klang aggressiv.

Caro zog ihren Dienstausweis heraus. »Carolin Löwenstein. Landeskriminalamt. Und Sie sind ...?«

»Carl Sander. Wir sorgen hier für Recht und Ordnung.«

»Es hat einen Todesfall im Ort gegeben«, erklärte Caro.

»Keine Ahnung«, entgegnete Sander. »Aber wir kommen auch ohne Sie zurecht. Kommissar Schilling leitet die Ermittlungen.«

Der alte Mann schaute Caro mit einer Mischung aus Überraschung und Misstrauen an.

»Das stimmt«, gab Caro zurück. »Trotzdem kann ich hier so viele Fragen stellen, wie ich möchte.«

»Wir mögen es nicht, wenn Fremde den Dorffrieden stören.« Sander wandte sich an den Herrn. »Hat die Frau Sie belästigt?«

»Sie hat komische Fragen gestellt. Ist sie denn nicht von der Polizei?«

»Natürlich bin ich das!«, entgegnete Caro. Sie spürte, wie Wut in ihr hochstieg, beherrschte sich aber.

»Ich werde Sie bei Kommissar Schilling melden«, sagte Sander streng. »Wir sind gut befreundet, er wird auf mich hören.«

Seine Kumpane nickten zustimmend.

»Tun Sie das.« Sie zuckte mit den Schultern.

Sander fasste an seinen Schlagstock. »Verschwinden Sie aus unserem Dorf!«

Caro fürchtete sich weder vor Schilling noch vor dem aggressiven Möchtegernsheriff. Allerdings wollte sie kein Öl ins Feuer gießen, weil sie tatsächlich keinen offiziellen Auftrag hatte.

»Regen Sie sich ab, Herr Sander. Ich fahre wieder.«

Der selbsterklärte Chef der Bürgerwehr schien ein paar Zentimeter zu wachsen. »Wir behalten Sie im Auge.«

Caro kehrte zu ihrem Auto zurück und stieg ein. Sie hatte nicht vor, das Dorf zu verlassen, denn der alte Herr hatte ihr eine wichtige Information gegeben. Johanna Maiwald hatte eine Schwester, die ebenfalls im Ort wohnte. Und offenbar gab es einen Grund, warum die beiden Schwestern so unbeliebt waren. Die Sache von damals. Möglicherweise war das ein Motiv für Johannas Tod. Und damit auch eine Spur zu Melanie.

5

Simon Berger blickte nachdenklich aus dem Fenster seines Büros und verfolgte eine Schneeflocke, die langsam herabschwebte. Er dachte an Caro, die in Oberweildorf nach ihrer alten Freundin Melanie suchte. Er musste seinen Vorgesetzten, Jens Schröder, davon überzeugen, den Fall offiziell zu übernehmen. Doch dafür brauchte er schlagende Argumente.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches starrte Bergers Juniorpartner, Matthias Darlinger, mit halb zugekniffenen Augen auf den Monitor. Er war mit seinen vierundzwanzig Jahren das Nesthäkchen der Abteilung. Bei der weiblichen Belegschaft des LKA kam er mit seinen dunklen, gewellten Haaren und den leuchtend blauen Augen mehr als gut an. Das kantige Gesicht und der muskulöse Körperbau taten ihr Übriges. Aufgrund seines Nachnamens und seines attraktiven Äußeren nannten ihn alle nur Darling.

Er wandte sich an Berger. »Ich habe die sozialen Netzwerke von Johanna Maiwald durchforstet. Offenbar war sie eine Außenseiterin.«

»Wieso?«, hakte Berger nach.

»Sie wurde von anderen Jugendlichen aus dem Dorf gemobbt.«

»Von wem genau?«

»Eine junge Frau namens Michelle Sander. Sie hat Johanna mehrfach beleidigt.«

Berger stand auf und umrundete den Schreibtisch.

Darling zeigte auf einen Eintrag, der erst ein paar Tage alt war. »Bring es endlich zu Ende, Flechte! Niemand braucht dich! Du bist überflüssig!«

»Wow! Das ist harter Tobak«, murmelte Berger. »Hat sie darauf geantwortet?«

Darling kräuselte die Stirn. »Nein. Aber sie hat die Kommentare auch nicht gelöscht.«

»Komisch«, räumte Berger ein.

Darling scrollte weiter runter und blieb an einem Schwarz-Weiß-Foto hängen, das Johanna vor zwei Wochen gepostet hatte. Es zeigte das Mädchen mit einem melancholischen Gesichtsausdruck auf einer Bahnschiene liegend. Darunter stand ein kurzer Text: ›Ich folge dir überall hin.‹

»An wen richtet sich das?«, fragte Berger.

»Das ist hier nicht vermerkt«, erwiderte Darling.

»Hmm. Es deutet einiges darauf hin, dass Johanna Selbstmord begangen hat«, schlussfolgerte Berger. »Sie wurde gemobbt und hat Fotos gepostet, die sie in eindeutigen Selbstmörderposen zeigen.«

»Wie passt das mit Caros Freundin Melanie zusammen?«, fragte Darling. »Als sie Caro gestern Abend angerufen hat, war sie am Tatort. Was hat sie dort gemacht?«

»Genau das müssen wir herausfinden. Wir sind zwar nicht für die Aufklärung des Falles zuständig, aber wir sollten Caro unterstützen.«

»Natürlich!«, bestätigte Darling.

Darling gab den Namen ›Melanie Meissner‹ in die Suchmaschine ein, die sofort mehrere Resultate auswarf.

»Sie wird als Therapeutin gelistet, die Praxis scheint aber dauerhaft geschlossen zu sein.« Darling sah über die Schulter zu Berger auf.

»Siehst du irgendwo, warum sie ihre Praxis dichtgemacht hat?«, fragte der Kommissar nach.

Darling öffnete weitere Seiten. »Nein. Im Internet gibt es dazu keine Hinweise. Ich jage sie mal durch unsere Systeme.«

Er startete das LKA-Recherchetool und suchte nach Caros alter Freundin. Sofort erschien eine Akte auf seinem Monitor. Als Darling die ersten Zeilen überflog, stutzte er.

6

Während Caro im Auto wartete, verharrten die Kerle der Bürgerwehr noch eine ganze Weile am Ende der Straße und beobachteten sie misstrauisch. Hatte Kommissar Schilling seinen Freund von der dörflichen Schutztruppe gebeten, Caro zu überwachen? Offensichtlich wusste Sander bestens über sie Bescheid. Aber wozu? Was hatten die Leute zu verbergen?

Ein kurzer Anruf in ihrer Dienststelle reichte aus, um die Adresse von Johannas Schwester Lisa herauszufinden. Obwohl sie nur zwei Straßen weiter wohnte, startete Caro den Motor. Sie wollte möglichst schnell aus der Sichtweite der Bürgerwehr kommen.

Drei Minuten später hielt sie vor einem zweigeschossigen Mehrfamilienhaus. Der graue Putz des Sechzigerjahrebaus hob sich kaum vom Himmel ab. Durch die kleinen Fenster fiel vermutlich nur wenig Licht, sodass im Inneren eine dunkle Tristesse vorherrschen musste. Die Haustür stand offen. Ungehindert konnte Caro den Flur betreten.

Lisa Maiwald wohnte im Erdschoss. Dem Namensschild zufolge hatten die beiden Schwestern zusammengelebt.

Vor Caros innerem Auge tauchte das Bild der blassen Leiche auf, die gespenstisch in der Seilschlinge baumelte. Hatte sie sich das Leben genommen, um ihrer persönlichen Dorfhölle zu entkommen? Oder hatte jemand nachgeholfen?

Kurz nachdem Caro geklingelt hatte, wurde die Wohnungstür einen Spalt geöffnet. Das blasse Gesicht einer schlanken Frau erschien im Zwischenraum. Die dunkelblonden Haare fielen glatt auf die Schultern und sahen aus, als benötigten sie dringend eine Wäsche. Ihre Augen standen ungewöhnlich weit auseinander, was dem Gesicht in Kombination mit der spitzen Nase eine außergewöhnliche Note verlieh. Ein Gesicht, nach dem Modellagenturen händeringend suchten. Selbst der graue Jogginganzug vermochte ihrem Aussehen nicht zu schaden. Caro schätzte ihr Gegenüber auf siebzehn oder achtzehn Jahre ein.

»Wer sind Sie?«, fragte Lisa Maiwald mit langsamen, gedehnten Worten.

»Carolin Löwenstein. Landeskriminalamt.« Caro zeigte ihren Ausweis. »Ich möchte mich kurz mit Ihnen unterhalten.«

Lisa Maiwald zuckte zusammen. »Warum denn?«

»Darf ich bitte hereinkommen?«

»Ich habe nicht aufgeräumt.« Ihre Sprechweise wirkte seltsam. Als stünde sie unter dem Einfluss eines Schlafmittels.

»Das stört mich nicht«, entgegnete Caro.

Sie nickte wie in Zeitlupe und öffnete die Tür. Dahinter kam ein spartanisch eingerichtetes Zimmer zum Vorschein. Es gab einen Tisch aus dunkler Eiche mit dazu unpassenden, weißen Stühlen, rechts davon eine aus mehreren Möbeln zusammengewürfelte Küchenzeile. Auf der anderen Seite stand ein grüner Sessel vor einem Röhrenfernseher. Die Wände waren kahl, ohne ein einziges Bild, und wirkten – genau wie Caro aufgrund der kleinen Fenster vermutetet hatte – dunkel und trist. Durch eine geöffnete Zimmertür erkannte Caro ein Bett, das wie ein Marienkäfer in Rot mit schwarzen Punkten bemalt war.

Warum hatte Lisa behauptet, dass ihre Wohnung nicht aufgeräumt war? Das genaue Gegenteil war der Fall. Nichts lag herum, weil es offensichtlich nichts gab, das hätte herumliegen können.

Die junge Frau ließ sich am Esszimmertisch nieder und bedeutete Caro, sich ebenfalls zu setzen.

»Es tut mir leid um Ihre Schwester, Frau Maiwald«, begann Caro.

»Bitte nennen Sie mich Lisa. Frau Maiwald nennt mich keiner.«

Caro nickte. »Okay, Lisa, erzählen Sie mir, was gestern passiert ist?«

Lisas Gesicht wirkte wie versteinert. Sie schluckte. »Johanna wurde geholt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Erlöserin hat sie sich genommen.«

Caro hob die Augenbrauen. »Die Erlöserin? Wer soll das sein?«

Lisa starrte Caro eindringlich, fast schon panisch an. Ihre Stimme glich einem Flüstern. »Sie ist ein Geist.«

Caro schauderte für einen kurzen Moment. »Ich glaube nicht, dass ein Geist Ihre Schwester getötet hat. Die Frage ist vielmehr, ob Johanna vorhatte, sich selbst zu töten.«

Lisa schüttelte heftig den Kopf. »Die Erlöserin hat sie geholt.«

Die Frau war offensichtlich verwirrt. Vermutlich hatten sich die Schwestern nahegestanden, und Johannas Tod setzte ihr stark zu.

»Vor knapp fünfhundert Jahren ...« Die Stimme versagte Lisa, und sie musste sich räuspern. »Vor fünfhundert Jahren ist eine Frau vom höchsten Turm der Burg gesprungen. Sie war von Dämonen besessen und wollte sich in den Tod flüchten. Aber sie kam nie auf der anderen Seite an. Seitdem geistert sie in einem dunklen Umhang durchs Dorf und verhilft Menschen zur Erlösung. Keiner hat jemals ihr Gesicht gesehen, es ist wie ein schwarzes Loch.«

Sie beschrieb exakt die unheimliche Gestalt, die Caro gestern Nacht auf der Burgruine beobachtet hatte.

»Johanna war von Dämonen besessen«, fuhr Lisa fort. »So wie ich.«

Caro schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum glauben Sie das?«

»Sie hat lange gegen die Mächte der Finsternis gekämpft. Aber ihre Dämonen haben sie weiter in die Tiefe gezogen. Und das passiert auch mit mir.«

»Sprechen Sie von Depressionen, Lisa?«

»Depressionen sind eine Erfindung von Ärzten.«

Caro verdrehte innerlich die Augen. »Hat Johanna schon mal versucht, sich das Leben zu nehmen?«

Lisa schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte nicht sterben. Die Erlöserin hat sie geholt.« Sie begann zu schluchzen.

Caro fühlte sich furchtbar. »Es tut mir leid.«

Nachdem sich Lisa gefasst hatte, fuhr sie fort. »Als Johanna gestern Abend das Haus verlassen hat, habe ich sofort gewusst, dass etwas nicht stimmt. Ich habe aus dem Fenster gesehen. Und da war sie. Die Erlöserin.« Tränen rannen ihr die Wangen herab.

»Was genau haben Sie beobachtet?«, hakte Caro nach. »Haben Sie Details erkannt?«

»Ich habe nur den dunklen Umhang gesehen. Der Statur nach war es eine Frau.«

»Hat die Gestalt Johanna verfolgt?«

»Ja. Ich wollte ihr hinterherlaufen, um sie zu warnen. Aber ich konnte nicht. Meine Beine waren wie festgeklebt. Ich habe mich ins Bett verkrochen und unter der Decke versteckt. Als Johanna nicht wiederkam, wurde mir nach und nach klar, dass die Erlöserin sie mitgenommen hat.«

»Das muss schrecklich für Sie gewesen sein.«

Lisa nickte.

Einen Moment lang schwiegen beide, dann fuhr Caro fort. »Kennen Sie Melanie Meissner?« Sie hätte ihr gerne ein Bild ihrer alten Freundin gezeigt, doch sie hatte keines.

Lisa schüttelte den Kopf. »Nein. Wer ist das?«

»Eine Therapeutin. Möglicherweise hat sich Johanna gestern mit ihr getroffen.«

»Glaub ich nicht. Meine Schwester war doch bei Frau Doktor Langenfeld in Behandlung.«

»Ist das eine örtliche Therapeutin?«, fragte Caro.

»Eine Psychiaterin. Die einzige hier im Dorf. Und nicht gerade die beste.«

»Gehen Sie auch zu ihr?«

Lisa nickte.

»Aber Sie mögen sie nicht?«, erkundigte sich Caro weiter.

»Sie ist eine merkwürdige Frau.«

»Warum?«

»Weiß auch nicht. Sie ist irgendwie ... kalt.«

»Verstehe.« Caro nahm sich vor, die Ärztin zu befragen. »Ich habe gehört, dass Johanna Probleme im Ort hatte. Angeblich ist sie immer wieder mit den Leuten aneinandergeraten.«

Lisa schaute zu Boden. »Ja, man hat sie bis zuletzt gemobbt. Genau wie mich.«

»Das klingt furchtbar.« Caro fühlte mit der jungen Frau mit. Es musste grausam sein, in einem so kleinen Dorf unbeliebt zu sein.

»Ist es auch. Vorgestern hat Johanna wieder geheult, als sie nach Hause kam.«

»Was war denn passiert?«, fragte Caro.

Lisa blickte Caro an, als suche sie nach den richtigen Worten für das, was sie erzählen wollte.

7

Darlings Augen flogen über die elektronische Akte, in der Melanie Meissners Name auftauchte. Berger spähte ihm neugierig über die Schulter. Was hatte sein Partner ausgegraben?

Es ging um den Tod einer dreißigjährigen Frau namens Verena Traunstein, die vor knapp einem Jahr in Frankfurt gestorben war. Zunächst wurde eine Morduntersuchung eingeleitet, weil das Opfer im Weiher des Rebstockparks ertrunken aufgefunden wurde. Ihre Füße waren gefesselt und die Hände mit Kabelbindern hinter dem Rücken fixiert. Melanie Meissner wurde als Zeugin befragt und galt eine Zeit lang als Hauptverdächtige.

»Verena Traunstein war bei Melanie Meissner in Behandlung«, sagte Darling.

»Das macht sie noch nicht verdächtig«, erwiderte Berger, während er weiterlas. »Ah, da steht es. Ihre Beziehung ging über die therapeutische Ebene hinaus. Weit hinaus.«

»Sie waren also ein Paar«, folgerte Darling.

Berger nickte. »Damit ist sie in den Fokus der Ermittler geraten.«

Darling zeigte auf den Bildschirm. »Man hat in Melanie Meissners Wohnung die Packung Kabelbinder gefunden, mit denen das Opfer gefesselt war. Das hat sie zur Hauptverdächtigen gemacht.«

Berger überflog den nächsten Abschnitt des Berichtes. »Aber dann hat sich herausgestellt, dass Melanie zur Tatzeit ein Alibi hatte.«

»Ein wackeliges Alibi«, ergänzte Darling. »Sie hatte eine Therapiestunde mit einer dementen Patientin, die ihre Anwesenheit bestätigt hat.«

»Hmm. Es wurde kein Motiv unterstellt, weil die beiden Frauen als frisch verliebt galten.« Berger kräuselte die Stirn. »Aus Erfahrung kann ich nur sagen, dass das Eis unter dieser Einschätzung brüchig ist. Eifersucht oder Trennungsängste sind neben Habgier und der Vertuschung einer anderen Straftat die häufigsten Mordmotive.«

»Obwohl sie gerade erst zusammengekommen waren?«, gab Darling zu bedenken.

»Wer weiß? Vielleicht hat es sich Verena anders überlegt und wollte Schluss machen. Melanie hat daraufhin Rot gesehen.«

»Schon möglich.« Darling scrollte weiter. »Aber sie wurde letztlich entlastet und der Tod von Verena Traunstein als Selbstmord deklariert.«

Als Darling weiterlas, weiteten sich seine Augen. »Du glaubst nicht, woher Verena Traunstein kommt.«

»Lass mich raten, Oberweildorf?«

»Stimmt!« Darling sah enttäuscht aus, weil sein Kollege die Frage wie aus der Pistole geschossen richtig beantwortet hatte.

Berger kratzte sich am rechten Ohr. »Jetzt wird der Fall langsam spannend.«

Darling nickte. »Mehr steht nicht in der Akte.«

»Wir sollten die Sache weiterverfolgen. Kannst du bitte herausfinden, ob es in der Region ähnlich gelagerte Fälle gegeben hat?«

»Klar. Glaubst du, Caros Freundin hat etwas mit den Morden zu tun?«

»Sie steht jetzt mit zwei Todesfällen aus Oberweildorf in Verbindung. Das kann kein Zufall sein.«

8

Drei Tage zuvor ...

Johanna Maiwald stand auf dem Turm der Burgruine Oberweildorf und blickte starr über das schneebedeckte Weiltal. Im Winter war die Aussichtsplattform gesperrt, aber Johanna kannte – genau wie die meisten Dorfjugendlichen – einen Weg am Tor vorbei.

Sie kam häufig hier hinauf, um nachzudenken. Über die Welt, über ihr Leben und über den größten Verlust, den sie an diesem Ort erlitten hatte.

Johanna schaute auf den schneebedeckten Boden hinab. Sollte sie springen? Es gab ohnehin keine Freude mehr – ohne ihn. Nur Dunkelheit und Leid.

Da hörte sie Schritte auf der stählernen Wendeltreppe, die zur Aussichtsplattform hinaufführte. Kurz darauf erschien der blonde Haarschopf von Michelle Sander, der miesesten Schlampe im Dorf.

Sie hatte es schon seit der Grundschule auf Johanna abgesehen, aber erst recht nach dem furchtbaren Vorfall vor zwei Jahren.

Hinter Michelle stieg Diana Theissen, ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen, die Treppenstufen hinauf.

Die beiden Bitches waren das Letzte, was Johanna ertragen konnte. Sie stieß verzweifelt Luft aus.

»Sieh mal an, wer hier ist. Flechte!« Michelle spuckte auf den Boden.

Die Mädchen aus dem Dorf hatten Johanna den herabwürdigenden Spitznamen Flechte gegeben, weil sie früher unter Neurodermitis gelitten hatte. Die roten Schuppenflechten auf Armen, Rücken und im Gesicht hatten nicht nur schrecklich gejuckt, sondern auch für reichlich Spott und Verachtung unter den Gleichaltrigen gesorgt.

Michelle kam bedrohlich auf Johanna zu. »Na, willst du springen? Wäre kein großer Verlust!«

Diana folgte ihrer Freundin und baute sich neben ihr auf. »Na los. Trau dich!«

Johanna spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie wollte vermeiden, vor den blöden Gänsen zu heulen, aber es gelang ihr nicht.

Michelle lachte auf. »Pah. Jetzt flennt die auch noch.«

Johanna schüttelte hektisch den Kopf. »Lasst mich in Ruhe!«

»Warum denn?«, fragte Michelle mit aggressivem Unterton. »Ist das etwa dein Burgturm, Flechte?«

Diana zeigte mit dem Finger nach unten. »Vielleicht wartet sie auf einen edlen Prinzen, der sie auf seinem Pferd abholt.«

Beide Mädchen lachten.

»Das kannst du vergessen, Flechte«, blaffte Michelle. »Welcher Prinz will sich denn mit dir abgeben? Bei dir kriegt ja nicht mal der Stallbursche einen hoch.«

Diana grinste. »Sie ist bestimmt noch Jungfrau!«

Johanna hielt die Demütigungen nicht mehr aus. Die Tränen flossen ihr übers Gesicht. Sie versuchte, an den Mädchen vorbeizukommen, um die Wendeltreppe zu erreichen. Doch Michelle versperrte ihr den Weg und schubste sie kräftig zurück. Johanna verlor den Halt und fiel nach hinten auf den Rücken. Ein starker Schmerz durchzuckte ihre Schulter.

»Bitte, lasst mich in Ruhe!«, wimmerte sie.

Michelle hob etwas Schnee vom Boden auf, formte ihn zu einem Ball und warf ihn auf ihr Opfer.

Der Schneeball traf Johanna mitten auf der Stirn. Sie hatte das Gefühl, von einer Kanonenkugel erwischt zu werden.

»Volltreffer!«, jubelte Diana.

»Wenn du runter willst, dann spring doch!«, schlug Michelle vor.

Johanna hielt sich die Stirn und schluchzte. Konnte die Qual nicht einfach enden?

Diana nahm so viel Schnee vom Boden auf, wie sie tragen konnte. Dann schüttete sie alles über Johannas Kopf. »Es schneit!«

Das nasskalte Pulver drang in ihren Kragen ein und verteilte sich unter ihrer Jacke.

Heulend rappelte sich Johanna auf und stieß Michelle zur Seite. Dann rannte sie zur Treppe und stürmte die vereisten Stufen hinab, begleitet von dem gehässigen Lachen der beiden Mädchen. Fast wäre sie ausgerutscht, konnte sich aber rechtzeitig abfangen. Sie wollte nur weg.

Erst als sie die Straße unterhalb des Burggeländes erreichte, wurden ihre Schritte langsamer. Ein heftiges Seitenstechen zwang sie dazu, flacher zu atmen.

Es dämmerte bereits, und die spärliche Beleuchtung der Straßenlaternen sprang an. Schneeflocken tanzten gespenstisch unter den Lampen. Wie ein Totentanz, dachte Johanna.

Sie spürte, dass sie dringend ihre Tabletten benötigte. Die Straßen, die Häuser, die Burg: Alles zeigte sich farblos und kalt. Und das lag nicht am Wetter. Wäre es Hochsommer, hätte sie die gleiche Eiseskälte empfunden.

Unvermittelt sank die Temperatur weiter. Johanna überkam das Gefühl, beobachtet zu werden. Waren ihr Michelle und Diana gefolgt? Sie blieb stehen und sah sich um, doch die Straße war leer.

Sie fröstelte. Am liebsten hätte sie sich unter ihrer Bettdecke versteckt, um einen Hauch von Geborgenheit zu erfahren. Aber ein paar Hundert Meter trennten sie noch von der sicheren Wohnung.

Mit pochendem Herz setzte Johanna ihren Heimweg fort. Plötzlich nahm sie eine Bewegung in einer Hauseinfahrt wahr. Sie kniff die Augen zusammen. Im Schatten einer Hauswand stand eine dunkel gekleidete Gestalt, die zu ihr herüberstarrte. Die Erlöserin! Ihr Gesicht glich einem schwarzen Loch, aus dem eiskalter Atem die Gassen einfror.

Johanna ging schneller, um rasch an der Einfahrt vorbeizukommen. Hektisch sah sie über die Schulter. Die Gestalt folgte ihr nicht. Dennoch begann sie zu laufen.

Endlich schloss sie die Haustür auf und verschwand im Schutz ihrer vier Wände.

Das miese Gefühl blieb.

9

Lisa fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wischte die Tränen fort. Dann sah sie Caro mit einem seltsam klaren Blick an. »Die Gestalt war hinter Johanna her. Sie hat sie beobachtet und verfolgt.«

»Vielleicht war es eines der beiden Mädchen, das sie nur erschrecken wollte«, mutmaßte Caro.

»Nein.« Lisa schüttelte energisch den Kopf. »Es war die Erlöserin! Sie hat Johanna geholt!«

Caro hegte starke Zweifel an dieser Geschichte. Sie vermutete eher, dass sich jemand als Erlöserin ausgab.

»Von welchem großen Verlust hat Ihre Schwester gesprochen?«, fragte sie.

»Es ging um Sebastian Sander«, sagte Lisa. »Er hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen.«

Sebastian Sander? Dann ist der Anführer der Bürgerwehr vielleicht sein Vater gewesen ...

»In der Burgruine?«

»Er ist vom Turm gesprungen.«

Grausame Bilder, in denen ein Junge mit dem Kopf auf den Felsen aufschlug, streiften Caros Geist. Sie wischte die Gedanken schnell beiseite. »War er denn ein Freund von Johanna?«

»Sie waren ein Paar.« Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über Lisas Gesicht, das aber sofort wieder verschwand.

»Wissen Sie, warum er gesprungen ist?«, fragte Caro.

Lisa flüsterte eindringlich: »Er ist auch von der Erlöserin geholt worden.«

Caro startete einen erneuten Versuch, auf die sachliche Ebene zurückzufinden. »Hat Sebastian unter Depressionen gelitten?«

»Die Erlöserin hat ihn geholt, weil er sich nicht in die Welt einfügen konnte.«

Caro interpretierte das als ein ›Ja‹. »Und die beiden Mädchen? Kennen Sie die?«

»Ja, sie sind mit Johanna zur Schule gegangen. Sebastian war Michelles Bruder.«

»Aha! Das erklärt ihren Hass auf Johanna. Ich werde mit ihr sprechen.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit«. Lisa vergrub den Kopf in den Händen. »Die Erlöserin hat im Lauf der Jahrhunderte viele Menschen in den Tod getrieben. Sie existiert wirklich.« In ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit.

»Ich setze mich mit der Legende auseinander. Versprochen!«, versuchte Caro die junge Frau zu beruhigen. Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wohnen Sie beide hier schon lange zusammen?«

»Seit knapp drei Jahren. Unsere Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Johanna hat sich um mich gekümmert.«

»Wenn Sie Hilfe brauchen, bin ich gerne für Sie da«, bot Caro an.

»Ich komme schon zurecht«, gab Lisa zurück.

Caro war sich dessen nicht so sicher. Sie nahm sich vor, erneut nach der jungen Frau zu schauen.

Nachdem sich Caro verabschiedet hatte, verließ sie das Mehrfamilienhaus. Als sie auf die Straße trat, bemerkte sie einen Mann, der ein paar Häuser weiter in einer Einfahrt rauchte. War das einer der Bürgerwehr-Spinner? Caro konnte sein Gesicht nicht erkennen, möglich wäre es aber.

Der Kerl machte keine Anstalten, sie aufzuhalten oder anzusprechen. Trotzdem wirkte seine Anwesenheit bedrohlich. Caro spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Was für ein unheimlicher Ort!