Die Perle - Rudolf G. Binding - E-Book

Die Perle E-Book

Rudolf G. Binding

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Beschreibung

Die Zusammenstellung dieses Bändchens ist vom Autor noch selbst so geplant gewesen. Als erste war im Frühjahr 1938 "Die Perle" fertig geworden. Eine Geschichte, die eine äußerst merkwürdige Begebenheit schildert, die ursprünglich auch titelgebend sein sollte. Es sind drei Erzählungen von ungeheurer Spannkraft, die wundersame Begegnungen bergen, die an kleinen Momenten die Kraft des Augenblicks und die fatalistischen Ausprägungen der Realität demonstrieren.Rudolf Georg Binding, meist Rudolf G. Binding (1867–1938), war ein deutscher Schriftsteller. Rudolf Binding wurde als Sohn wohlhabender Eltern in Basel geboren; nach Zwischenstationen in Freiburg im Breisgau und Straßburg siedelte Binding 1873 mit seiner Familie nach Leipzig über, wo er wohlbehütet aufwuchs. Nach dem Ersten Weltkrieg lebte er bis 1935 in Buchschlag bei Frankfurt am Main, danach bis zu seinem Tod in Starnberg. Binding studierte Rechtswissenschaften und Medizin in Tübingen, Heidelberg und Berlin. Im Ersten Weltkrieg wurde er Rittmeister und dann Stabsoffizier.Nach dem Krieg veröffentlichte Binding als freier Schriftsteller seine ersten Werke, die in erster Linie aus Kurzgeschichten, Novellen, autobiografischen Erzählungen und Legenden bestanden. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Autobiografie "Erlebtes Leben", die wie viele seiner Werke stark von seinen Kriegserlebnissen geprägt ist, sowie die Novelle "Moselfahrt aus Liebeskummer" und die philosophischen Dialoge "Die Spiegelgespräche", beide 1932 entstanden. Seine Werke waren in der Zeit der Weimarer Republik und auch in der Zeit des Nationalsozialismus populär und angesehen. Für das NS-Regime war Binding, der einer elitären und großbürgerlichen Autorenschicht angehörte, ein wichtiges Propagandainstrument. Binding selbst, im Grunde ein unpolitischer Autor, ließ sich als Aushängeschild einsetzen, obwohl er Vorbehalte gegenüber dem nationalsozialistischen "Radaupöbel" hegte. Der Schweizer Publizist Armin Mohler zählt Binding zu den Autoren der sogenannten Konservativen Revolution. Am 4. August 1938 starb Binding im Alter von 70 Jahren in Starnberg an Tuberkulose.-

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Rudolf G. Binding

Die Perle

und andere Erzählungen

Saga

Die Perle

German

© 1938 Rudolf G. Binding

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517772

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Die Perle

In den letzten Jahren vor dem grossen Kriege konnte man in Paris immer während der gleichen Stunden des Nachmittags an einem der schmalen dunklen Marmortischchen des Café de la Paix einen älteren Mann antreffen der jedem unvergesslich bleiben musste der ihm je dort gegenübergesessen hat. An sich freilich hatte er wenig Auffälliges, er blieb daher, und da der von ihm gewählte Tisch ziemlich im Hintergrunde eines der Innenräume im Halbdunkel und keineswegs im hellen Licht des Boulevard stand, für gewöhnlich ganz unbeachtet. Nur wenn das Café sehr besucht war oder plötzlich ein starker Regen die Gäste an den Tischen auf der offenen Strasse ins Innere scheuchte, setzte sich wohl einmal einer ihm gegenüber auf einen herangezogenen Stuhl. Dann wurde das Unauffällige an ihm auffällig oder bemerkenswert, ein plötzlich von ihm hervorgestossenes Wort erregte Aufmerksamkeit und Anteilnahme, sein Gebaren heischte gleichsam von selbst eine Erklärung die man erwartete, bald liess der zufällig ihm gegenüber Geratene kein Auge mehr von dem Mann und einer schweigsamen Frau, die neben ihm auf der gepolsterten Bank hinter dem Tische sass und deren grosse Schönheit er jetzt erst bemerkte.

Die Frau stand an der Schwelle des Greisenalters. Obgleich sie noch immer sehr schön war und die bewundernden Blicke aller Menschen verdient hätte, fesselte der Mann doch vornehmlich allein und unmittelbar die Aufmerksamkeit. Die Frau war wie in seinen Schatten getaucht. Wenn ihre Schönheit früher bezaubernd, heiter und unbefangen gewesen sein musste, so war sie nun von einer stillen Güte und Bescheidung, fast heilig in dem Schwarz ihrer Kleidung und in den sanften sorgenden Bewegungen, mit denen sie ab und zu unmerklich aufsteigende Erregungen des Mannes neben ihr beschwichtigte, indem sie etwa sehr ruhig ihre Hand auf seinen Unterarm legte.

Sie trug zwei kleine unscheinbare Goldringe in den Ohren, sie wirkten wie eine zurückgebliebene Spur oder die Erinnerung wunderbarer Ohrgehänge, die sie vielleicht früher getragen hatte und die ihrer Schönheit sehr wohl angestanden hätten.

Dies war ihr einziger Schmuck — wenn es überhaupt ein Schmuck zu nennen war.

„Unbegreiflich! Unbegreiflich!“ stiess der Mann leidenschaftlich und erschüttert aus einem regungslosen langen In-die-Luft-Starren unvermittelt halblaut vor sich hin und versank darauf wieder in ein völlig abwesendes, an allen Vorgängen um ihn unbeteiligtes Schweigen, als starre er in solchem Zustand nicht in die Ferne sondern in sich hinein und seine Blicke gingen, immer von neuem erstaunt, einen Weg nach innen. Aber es war nur die Wiederholung einer Aufwallung, ein Vulkanstoss seines Innern, die der Fremde ihm gegenüber vor einer guten Weile ebenso hätte erleben können, wenn er schon dort gesessen hätte, und nach einer gleichen Weile wieder erleben würde, wenn er sitzenblieb. Vor den beiden standen zwei geleerte Likörgläser bei zwei ebenso leeren Kaffeetassen. Sie mussten schon eine ganze Weile da sitzen.

Der Fremde betrachtete jetzt den in sich Zurückgesunkenen genauer. Die Frau neben ihm legte behutsam ihre Hand auf seinen Arm. Das Wort des Mannes war sicher nicht auf ihn, den ungewollten Zuhörer, gemünzt noch hatte es einen Zusammenhang mit irgend etwas Vorstellbarem oder Erratbarem.

Man starrte diesem Mann, ohne es sich zu wehren, unverwandt ins Gesicht.

Dieses war freilich eindrucksvoll genug. Starke energische Züge, geprägt von grossen Kenntnissen und sicherem Wissen, eine grosse Klarheit die über es hingebreitet war, machten den merkwürdigen Ausruf des Erstaunens über einen ihm unbegreiflichen Vorgang nur noch merkwürdiger. Dieser Mann vermochte scharf nachzudenken. Er wusste über seine Handlungen, seine Regungen, seine Beweggründe, seine Gefühle genau Bescheid, und doch schien ihm etwas unbegreiflich was ihn offenbar sehr nahe anging und ihm unaufhörlich zusetzte.

Der schöne Kopf ragte nur wenig über die Tischplatte hervor, hinter der er sass. Sein Auge war fest und klug, wenn er es aus dieser Stellung, sobald seine Gedanken ihn losliessen, forschend wie es schien auf Menschen und Dinge richtete. Und jetzt bemerkte der Beschauer, dass er zwar von kräftiger aber kleiner fast zierlicher Gestalt war und dass eine Rückenverkrümmung, die unter den Halswirbeln begann, die forschende Stellung vortäuschte, die ihm übrigens von einer unbestreitbaren Grazie und Sicherheit nichts nahm.

Während sein Gegenüber ihn noch unauffällig betrachtete, ging eine vornehme Frau mit einer schweren doppelten Perlenkette vorüber. Der Mann streifte das Schmuckstück nur mit einem einzigen scheuen Blick und errötete dann, die Augen wie vor einem tiefen Schmerz niederschlagend, so heftig dass der Fremde sich betroffen halb erhob um über den Tisch herüber zuzugreifen und ihm beizuspringen weil er ihn von einer plötzlichen Anwandlung oder einem Unwohlsein befallen glaubte. Da hatte schon die Frau neben ihm in ihrer stillen Art ihre Hand wieder auf des Mannes Arm gelegt, als ob sie auch diesmal darauf vorbereitet gewesen sei.

In diesem Augenblick war er wie hilflos und doch seiner selbst ganz bewusst. Als die Röte vergangen war, schien er das Verlangen zu haben dem Fremden, der ihm hatte zu Hilfe kommen wollen, für seine Bereitwilligkeit zu danken. Er sah ihn an, denn er sah die Besorgnis des andern.

„Sie müssen denken“, sagte er in einer freimütigen und höflichen Art über den Tisch hinüber, „ich hätte einen Grund gehabt, vor der Dame zu erröten. Vielleicht halten Sie mich auch für närrisch oder verliebt. Aber Sie irren sich. Ich kenne die Dame gar nicht und mein Erröten galt nicht ihr. Mein Erröten galt ihrem Schmuck. Ich schämte mich. Ich muss mich schämen, wenn ich Perlen sehe. — Ist das kein Grund zu erröten?“

Der Mann fragte das mit einer forschenden Bitterkeit, als ob jedermann diesen Grund seines Errötens anerkennen müsse.

„Aber ich habe Ihnen zu danken“, fuhr er dann in fast innigem Tone fort. „Ich bin zur Erklärung meines Verhaltens, dessen Zeuge Sie hier nun einmal gewesen sind, auch Ihnen auf einmal ohne es zu wollen die Geschichte schuldig geworden die mich so sehr beschämt dass sie mich nie mehr loslässt und mir das ganze Recht meines Daseins, meine Ehre vor mir selbst und die Ruhe meines Lebens geraubt hat.“

Er zögerte als ob er mit sich zu Rate ginge. Vor dem Café trommelte einer der mehrstündigen Gewittergüsse, wie man sie in den Sommermonaten in Paris häufig erleben kann, auf das längs den Boulevards ausgespannte Plandach. Keiner der Gäste, die ins Innere gedrängt hatten, verliess seinen Platz.

„Draussen regnet es“, sagte der Mann mit einem Blick hinaus; „man kann jetzt doch nicht gehen. Ich werde zwar zum tausendsten Male versuchen, das Unbegreifliche an mir zu begreifen. Aber es soll mich nicht reuen, mich wieder einmal zu bemühen. Und wenn ich mich nicht verstehen werde: vielleicht werden Sie mich dann verstehn.“