Die Pestinsel - Marie Hermanson - E-Book
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Die Pestinsel E-Book

Marie Hermanson

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  • Herausgeber: Insel Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Göteborg, 1925: Kommissar Nils Gunnarson untersucht einen Mord, der starke Parallelen zu einem bekannten Krimi aufweist. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Autor des Krimis stößt er auf die Insel Bronsholmen, die nur einem einzigen Zweck zu dienen scheint: den Mörder Arnold Hoffmann zu beherbergen. Um herauszufinden, was wirklich auf der Insel gespielt wird, braucht Gunnarson die Hilfe der Reporterin Ellen Grönblad, die sich inkognito auf Bronsholmen begibt …

Marie Hermanson at her best – ihr neuer Roman ist ein historischer Krimi voll subtiler, kriechender Spannung, die bis zum spektakulären Finale fesselt. Wer Himmelstal mochte, wird Die Pestinsel lieben!

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Seitenzahl: 422

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Titel

Marie Hermanson

Die Pestinsel

Roman

Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer

Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2022

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Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Sara Rapp Acedo, Stockholm

eISBN 978-3-458-77499-0

www.suhrkamp.de

Die Pestinsel

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Kommentar der Autorin

Informationen zum Buch

1

Es war im August 1925. Fräulein Brickman saß auf ihrem Platz hinter dem Empfangstresen im Polizeirevier in der Spannmålsgatan, sie war in einen Kriminalroman mit flexiblem Umschlag und einem bunten, aufregenden Titelbild vertieft. Es war schon fast sieben Uhr abends, jedoch noch warm, die Bluse klebte ihr am Rücken, weil es im Polizeirevier so stickig war.

Mitten in einem Satz musste sie das Buch weglegen, sie nickte zwei Polizisten, deren Schicht zu Ende war, zum Abschied zu. Sobald die Tür hinter ihnen zuschlug, holte sie ihr Buch wieder hervor. Sie wurde immer tiefer in die Geschichte hineingezogen.

Auf einmal glaubte sie einen Geruch zu vernehmen, der überhaupt nicht zu der Handlung passte und der ihr Leseerlebnis empfindlich störte: einen kalten Gestank nach Fisch, Morast und trübem, stillstehendem Wasser.

Mit leicht geöffneten Nasenflügeln sah sie sich im Eingangsbereich des Polizeireviers um. Hier gab es nichts Besonderes zu sehen. Der Geruch stammte vermutlich aus dem sogenannten Affenkäfig, einem vergitterten Raum in der Rezeption, in dem Personen untergebracht wurden, die wegen einfacher Vergehen verhört werden sollten. Das waren oft Landstreicher und Betrunkene, der Gestank und der Lärm von dort war bisweilen unerträglich. Heute war es in diesem Teil des Polizeigebäudes allerdings ganz still, im Raum lag wohl ein Landstreicher und schlief seinen Rausch aus, dachte Fräulein Brickman und kehrte zu ihrem Roman zurück.

Im ersten Stock des Polizeireviers arbeitete Hauptkommissar Nils Gunnarsson an seinem Schreibtisch. Das Zimmer war klein, die Wände waren, wie im ganzen Polizeigebäude, braun gestrichen, wodurch es noch kleiner wirkte.

Nils war einunddreißig Jahre alt, groß und breitschultrig, er hatte strohblonde Haare, hellblaue Augen und eine große Nase. Seine Haut war vom Wetter gegerbt, ein Ergebnis der vielen Jahre als Streifenpolizist oder vielleicht auch das Erbe seiner Vorfahren aus dem windigen Bohuslän. Mit den Zeigefingern und in aller Ruhe tippte er die Berichte der Vorfälle des Tages in die Schreibmaschine: ein Fall von Landstreicherei, der Diebstahl von drei Leintüchern von einer Wäscheleine, ein entlaufener, vielleicht gestohlener Rassehund.

Plötzlich spürte er, dass etwas Fremdes im Raum war. Er schaute auf und zuckte vor Überraschung zusammen.

Der Junge stand mitten im Zimmer, mager und sehnig, er hatte ein lustiges Gesicht. Wie ein kleiner Frosch. Nils hatte ihn nicht kommen gehört. Warum hatte Fräulein Brickman ihn zu ihm hinaufgeschickt und nicht zu einem der Polizisten im Erdgeschoss?

Er räusperte sich und sagte streng:

»Hat man dir nicht beigebracht zu klopfen?«

Der Junge stand einfach nur da, die Schirmmütze hielt er wie einen Schild an die Brust gedrückt, und er schaute Gunnarsson geradewegs in die Augen. Die viel zu großen Hosen waren an den Knien abgeschnitten und wurden mit einer Schnur als Gürtel notdürftig hochgehalten, das Hemd war so schmutzig, dass die ehemalige Farbe nicht mehr zu erkennen war. Er war barfüßig. Der Junge machte eine Geste zur Tür.

»Komm!«, sagte er in fast befehlendem Ton.

Nils unterdrückte ein Lachen.

»Von wo bist du denn ausgerissen? Aus Gibraltar?«

In der Armenpflegeanstalt Gibraltar landeten Geisteskranke und Zurückgebliebene, deren Angehörige es sich nicht leisten konnten, sie an einem besseren Ort unterzubringen. Personal war kaum zu bekommen, deshalb fehlte es ständig an Leuten, und immer wieder gelang es einem der Verrückten, auszubrechen und in der Stadt umherzuirren.

Nils nahm den Hörer des Haustelefons ab und wollte den wachhabenden Polizisten fragen, ob sie eine Vermisstenmeldung bekommen hatten. Er konnte das Klingeln aus dem Erdgeschoss hören, es nahm jedoch niemand ab. Pettersson war wohl in der Küche und machte sich den Berg von belegten Broten, die er für die Nachtschicht brauchte.

Mit einem ärgerlichen Grunzen legte er wieder auf. Noch bevor er hochschauen konnte, war der Junge schnell und lautlos an seinem Stuhl angekommen. Zu seinem unglaublichen Erstaunen legte der Junge seine schmutzige Hand auf seine Schulter, beugte sich so weit vor, dass das froschähnliche Gesicht nur noch wenige Zentimeter von dem des Kommissars entfernt war, und sagte erneut:

»Komm, komm!«

Die Dreistigkeit des Jungen ließ Nils die Beherrschung verlieren. Er stand vom Stuhl auf brüllte:

»Jetzt reicht es aber! Raus, und zwar sofort!«

Der Junge ließ sich jedoch nicht erschrecken. Er stampfte immer schneller auf der Stelle.

»Komm, komm«, fuhr er atemlos fort und zeigte zur Tür, »musst kommen. Er ist tot. Ja.« Er nickte heftig mit dem Kopf »Musst kommen.«

»Wer ist tot?«

»Komm!«

Der Junge schien fast zu platzen vor Ungeduld, er stampfte mit den Fersen auf den Boden, als wäre Kommissar Gunnarsson eine sture Kuh, die man aus dem Stall treiben wollte.

Nils schaute ihn mit erwachtem Interesse an. Trotz aller Verrücktheit ahnte er etwas, was ernst genommen werden sollte. Er streckte sich nach dem Hörer, um einen erneuten Versuch mit dem Wachhabenden zu machen, entschied sich dann jedoch anders und nahm seinen Hut vom Haken an der Wand.

»Immer mit der Ruhe, du Narr«, sagte er. »Ich komme.«

Zusammen gingen sie ins Erdgeschoss, vorbei an einem erstaunten Fräulein Brickman, und traten ins Freie.

Der Junge lief am östlichen Hafenkanal entlang zu einer der Steintreppen, die von der Straße zum Wasser führten.

Ein kleines Ruderboot war an einem Eisenring in der Kanalmauer vertäut. Mit einem kühnen Sprung hüpfte der Junge von der obersten Treppenstufe ins Boot und wartete darauf, dass Nils hineinklettern würde.

»Wohin soll es gehen?«, fragte Nils.

Er bekam keine Antwort. Nach kurzem Zögern kletterte er ins Boot und setzte sich ins Heck. Der Junge machte das Boot los und begann, mit festen Schlägen zu rudern.

Er ruderte schnell und hielt Kurs, sogar unter den schmalen Brücken, ohne auch nur einen Blick über die Schulter zu werfen. Sie fuhren aus der blendenden Sonne in das feuchte, hallende Eisengewölbe der Brücke und wieder in die Sonne, bis sie die letzte Brücke passiert hatten und auf dem offenen Wasser des Flusses waren. Sie waren von allen möglichen Booten und Schiffen umgeben, vom Meer her wehte eine kühle Brise.

Nils vermutete, dass sie auf dem Weg zu einem der Hafenkais waren, die Polizei hatte dort oft zu tun. Vielleicht ging es um eine Schlägerei, die aus dem Ruder gelaufen war, oder ein Betrunkener war ins Wasser gefallen und ertrunken.

Aber der Junge ruderte stattdessen ostwärts, vorbei an der Kläranlage, dem Gaswerk und den Kokshalden.

Wieder fragte Nils, wohin die Reise gehen sollte. Der Junge schaute geradeaus, als würde er nichts hören. Er ruderte immer noch im gleichen Tempo und hatte, seit sie losgefahren waren, nicht einmal eine Pause gemacht. Nils erbot sich, auch ein Stück zu rudern, aber er bekam keine Antwort. Der Junge ist vielleicht taub, dachte Nils, das würde erklären, warum er so abgehackt sprach. Stark war er ohne Zweifel. Nils fragte sich, ob es wirklich gescheit war, mitzukommen.

An einer Landzunge teilte sich der Fluss, Treibholz hatte sich dort wie zu einem riesigen Mikado angesammelt. Als sie sich der Landzunge näherten, verlangsamte der Junge zum ersten Mal das Tempo, sein Blick wanderte nach rechts zu dem Berg von Treibholz, er studierte ihn genau.

Nils ahnte jetzt, wohin sie unterwegs waren.

Wie zur Bestätigung verließ der Junge nun den Fluss und steuerte durch Berge von Seerosenblättern in den Nebenfluss Säve.

»Du bist also Treibgutsammler?«, sagte Nils.

Der Junge warf ihm unter dem Schirm seiner Mütze einen Blick zu. Er war vielleicht doch nicht taub.

Dass ein Treibgutsammler freiwillig die Polizei rief, das allein war schon bemerkenswert. Nils konnte sich nicht erinnern, jemals davon gehört zu haben.

Sie ruderten den Fluss hinauf, vorbei an Magazingebäuden, Bootswerften, unter der Eisenbahnbrücke hindurch und an der Kugellagerfabrik vorbei. Erlen und Weiden wuchsen an den Ufern. Der Junge ruderte jetzt langsamer, als ob er es nicht mehr eilig hätte, nach jedem Ruderzug ließ er das Boot gleiten, bis es fast zum Stillstand kam.

Es war schon früher Abend, aber immer noch sehr heiß. Nils warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Eigentlich wäre seine Schicht schon zu Ende. Aber nun saß er im Heck eines Ruderboots, die Flussufer glitten gemächlich an seinen Augen vorbei. Die Wurzeln der Erlen waren ineinander verschlungen wie in einem Mangrovensumpf. Das Wasser war braun und trübe.

Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was er über die Treibgutsammler wusste:

Sie lebten besitzlos, aber stolz von dem, was andere weggeworfen oder verloren hatten. Alles, was im Wasser schwamm, im Hafen, in den Flüssen oder Bächen, all das betrachteten sie als ihr Eigentum. Und das war nicht wenig. Ein großer Hafen wie der von Göteborg produzierte eine unglaubliche Menge von Abfall. Das meiste war wertloser Müll, aber ein geschultes Auge fand schnell die Dinge, die noch brauchbar waren.

Eines war jedenfalls sicher: Kein Bewohner von Göteborg, der bei Verstand war, würde auf die Idee kommen, etwas von dem, was hier umherschwamm, zu bergen. Stillschweigend akzeptierte man die ungeschriebene Regel, wonach alles, was einmal ins Wasser gefallen war, den Treibgutsammlern gehörte.

Manchmal kam es vor, dass jemand der Versuchung nicht widerstehen konnte, spät am Abend hinauszurudern, um ein paar frisch gesägte, einwandfreie Bretter zu bergen, die ein Holzfrachter verloren hatte. Aber hier gab es überall Augen, und statt der Bretter war das Resultat der gefährlichen Unternehmung eine blutige Nase und aufgeplatzte Lippen. Wenn man Glück hatte. Es ging das Gerücht, die Treibgutsammler besäßen übernatürliche Fähigkeiten und könnten mit einem Blick oder einem Fluch ewiges Unglück über denjenigen bringen, der ihre Rechte nicht respektierte.

Es hieß auch, sie könnten in die Zukunft sehen und sie hätten eine Haut zwischen den Fingern. Angeblich stammten sie von einem Sumpfvolk ab, das hier im Flussdelta gelebt hatte, als dieses noch voller Leben war – hier gab es Fische, Vögel, Frösche, Nager. Ein Volk von Leuten, die sich in schmalen kanuähnlichen Booten durch den Sumpf bewegten und die ebenso gut wie ihre Beutetiere schwimmen und waten konnten. Dann wurden die Sümpfe trockengelegt, die wachsende Stadt beraubte sie ihrer Jagdgebiete, und sie zogen sich immer weiter hinauf in die Wasserläufe zurück.

Diese Geschichte war selbstverständlich nur Unsinn, dachte Nils. Die Treibgutsammler waren ganz einfach nur arme Leute, die aus irgendwelchen Gründen aus der städtischen Gemeinschaft ausgestoßen worden waren. Aber die Mythen über das uralte Sumpfvolk hielten sich, nicht zuletzt durch die Treibgutsammler selbst. Und nun, wie er so in der feuchten Wärme saß und langsam von diesem schweigenden, eigenartigen Jungen den Fluss hinaufgerudert wurde, war er fast bereit, an sie zu glauben.

Der Bewuchs wurde immer dichter. Wenn es Spuren von menschlicher Tätigkeit gab, dann waren es zurückgelassene, kaputte Dinge: das halb versunkene Wrack eines Ruderboots, eine rostige Kette am Ufer, eine Steintreppe, die auf geheimnisvolle Weise aus einem undurchdringlichen Weidendickicht direkt in das braunschwarze Wasser führte. Reste aus einer Zeit, als dieser Fluss noch ein wichtiger Verkehrsweg war. Man hörte nur das Knirschen der Ruderdollen und das leise Plätschern, wenn die Ruder ins Wasser tauchten. Die Stadt schien sehr weit entfernt zu sein. Nils versuchte, sich anhand der Windungen des Flusses und der Zeit, die vergangenen war, seit sie den Fluss verlassen hatten, zu orientieren. Aber er hatte keine Ahnung, wo sie waren.

In der Dämmerung kamen sie in einen Abschnitt mit Weiden, deren lange Zweige sie umgaben wie ein grüner Tunnel. Es musste ein magischer Tunnel gewesen sein, denn als sie ihn verließen, waren sie in Afrika. Oder vielleicht in Südamerika oder Südostasien. Nils wusste nicht so recht, wo er den Anblick jenseits des Weidenvorhangs verorten sollte, aber er meinte ihn von den Skioptikonbildern zu kennen, die Forschungsreisende und Missionare bei ihren Vorträgen zeigten.

Auf Pfählen im Wasser erhob sich ein ganzes Dorf aus merkwürdigen kleinen Hütten, auch am Abhang oberhalb des Ufers standen solche Behausungen. Eine Frau hängte Wäsche auf, am Wasser spielten ein paar Kinder, ein räudiger Hund lief auf dem Steg hin und her bellte wie wild.

Der Junge machte einen letzten Schlag mit dem rechten Ruder, holte die Ruder ein und ließ das Boot an den Steg gleiten. Hinter einer Hütte tauchte ein Mann auf, genau im rechten Moment, um das Tau zum Festmachen entgegenzunehmen. Der Hund hörte auf zu bellen, und auf ein Zeichen des Mannes lief er davon. Der Junge hielt das Boot fest, damit Nils an Land gehen konnte, blieb jedoch selbst im Boot sitzen.

Nils betrachtete den Mann, der mit den Händen in den Taschen vor ihm auf dem Steg stand. Irgendwie glich er einer listigen alten Streunerkatze. Das Gesicht war flach und dreieckig, die Augen hellgrau mit kleinen stechenden Pupillen. Das eine Augenlid hing ein wenig herab. Ein rundlicher Hut saß schräg und kühn auf einer Augenbraue, in einem Ohr trug er einen Ring aus einem gelben Metall. Nils wollte sich vorstellen, aber der Mann kam ihm zuvor und streckte seine Hand hin, blitzschnell, als hätte er eine Waffe gezogen.

»Bengtsson«, sagte er und drückte sehr fest Nils' Hand, es war mehr eine Demonstration von Stärke als eine Begrüßung. Nils konnte seinerseits problemlos fest zudrücken, aber er wunderte sich doch über die Kraft in der Hand des Mannes, die erheblich kleiner und schmaler als seine eigene war.

»Sehr schön, dass Sie kommen konnten, Hauptkommissar Gunnarsson.«

Er weiß, wie ich heiße, dachte Nils.

Der Mann lächelte amüsiert über Nils' Erstaunen, ließ die Hand los und zeigte ihm den Weg zwischen den merkwürdigen kleinen Gebäuden an der Uferböschung.

Nils schaute fasziniert um sich. Auf den ersten Blick erinnerten die Schuppen an die einfachen, aber fantasievollen Hütten, die Kinder manchmal zusammenhämmern. Als er jedoch näherkam, bemerkte er, dass sie mit großem handwerklichem Geschick gebaut waren. Das Baumaterial war ungewöhnlich und hatte dem Zimmermann unkonventionelle Lösungen abverlangt. In dem Durcheinander aus Holzbrettern und verrostetem Blech konnte Nils das Steuerhäuschen eines Fischerboots erkennen, eine geschwungene Treppe aus Mahagoni, Teile von Masten, Pfählen und Details aus Messing. Als hätte ein betrunkener Riese einen ganzen Hafen zusammengeschlagen und die Einzelteile in einem misslungenen Versuch wieder zusammengefügt.

Bengtsson verschwand in einem der Schuppen, Nils folgte ihm. Im Innern konnte er kaum aufrecht stehen. Im flackernden Schein einer Lampe erkannte er hohläugige Schattengestalten, vermutlich eine Familie, die auf zusammengerollten Rosshaarmatratzen an den Wänden saß. In einer Ecke stand ein rostiger Eisenofen. Der Boden war mit Kuhhäuten (von einer schlecht vertäuten Schiffslast, vermutete Nils) ausgelegt. Es roch nach Schimmel und Fäulnis.

Haben diese Menschen nicht einmal Bänke oder Hocker zum Draufsitzen?, dachte er; es war wohl eine Frage des Platzes. Das fensterlose kleine Zimmer, aus dem das ganze Haus bestand, war eben auch ein Schlafzimmer. Nachts nahmen die Schlafstätten vermutlich den ganzen Platz ein, tagsüber rollte man die Matratzen zusammen, benutzte sie als Sitzplätze und hatte so etwas freien Platz in der Mitte.

Jetzt jedoch wurde dieser Platz von einem etwa 30-jährigen Mann eingenommen. Er lag ohne Matratze auf dem Rücken. Das zurückgekämmte Haar war braun und lockig, die Augen geschlossen, der Mund weit offen, die Zunge geschwollen, die Haut grauweiß wie Fischfleisch. Um ihn herum waren die Kuhhäute dunkel von Nässe.

»Wir haben ihn im Fluss gefunden«, erklärte Bengtsson ruhig. »Er war in den Zweigen hängen geblieben. Bei den Weiden da unten, an denen Sie vorbeigekommen sind«, fügte er hinzu und machte eine Geste mit dem Kopf in Richtung des Flusses.

»Da bleibt so alles Mögliche hängen, in den niedrigen Zweigen. War wohl betrunken und ist irgendwo ins Wasser gefallen. Es erschien mir ratsam, die Polizei zu rufen.«

Nils nahm die Lampe vom Boden und hielt sie über den Toten. Bengtsson stand dicht neben ihm, breitbeinig und mit gekreuzten Armen.

»Wann haben Sie ihn gefunden?«, fragte Nils.

»Heute Morgen.«

»Wissen Sie, wer es ist?«

»Keine Ahnung«, schnaubte Bengtsson, »es ist keiner der unsrigen.«

Das war eine überflüssige Bemerkung. Der Mann war sehr gut angezogen, hellgraues Jackett, zweireihige Weste und ein fliederfarbenes Halstuch anstelle einer Krawatte. Die Kleidung war nass, aber unversehrt. Er hatte nicht sehr lange im Wasser gelegen.

»So, jetzt haben wir Bescheid gegeben. Sie können ihn mitnehmen«, sagte Bengtsson.

Auf einmal stakste ein Huhn mit erhobenen Füßen um den Toten. Wie war es nur hereingekommen? Niemand nahm Notiz von dem Huhn, und dann war es ebenso unerklärlich, wie es gekommen war, auch wieder verschwunden.

»Gibt es eine Autostraße in der Nähe?«, fragte Nils.

»Eineinhalb Kilometer weit weg.«

»Dann schicken wir besser ein Boot. Die Hafenpolizei wird ihn morgen früh holen«, entschied Nils.

»Morgen?« Bengtssons Arm machte eine heftige Geste, die Schattenwesen entlang der Wand duckten sich instinktiv. »Können Sie ihn nicht jetzt mitnehmen? Wir legen ihn in den Bug. Der Junge ist stark. Er kann Ihnen helfen, wenn ihr wieder in der Stadt seid.«

Nils schüttelte den Kopf. In ungefähr einer Stunde würde es dunkel sein, und der Gedanke, mit einer Leiche im Boot und dem komischen Jungen an den Rudern auf dem Fluss unterwegs zu sein, ließ ihn schaudern.

»Die Hafenpolizei holt ihn morgen früh«, wiederholte er.

Er spürte die Blicke von der Familie an den Wänden und fügte hinzu:

»Gibt es hier keinen kühlen Ort, wo man ihn hinlegen kann? Einen Vorratskeller oder so?«

»Nein«, sagte Bengtsson.

In der Hütte hörte man jetzt ein leises Jammern, das bald darauf in lautes Schreien überging. Unter einem Schultertuch strampelte es, und die Mutter (die Nils im Licht der dunklen Laternen für ein kleines Mädchen gehalten hatte) schaute nach unten und legte das Kind an die Brust. Die Wand hinter ihr war mit einer festgenagelten Persenning isoliert, auf der die Schimmelflecken sich ausbreiteten wie die Länder auf einer Karte.

Wohnten diese Menschen wohl auch im Winter hier?, dachte Nils verwundert. Wie konnte man hier überleben? Im Stadtteil, in dem er wohnte, gab es Menschen, die in Kellerwohnungen lebten. Aber das hier war erheblich schlimmer.

Er wandte sich wieder an Bengtsson.

»Nun ja. Wie gesagt. Die Hafenpolizei kommt morgen früh.«

Er verließ rasch die Hütte und ging den Abhang hinunter. Es dämmerte nun, zwischen den Hütten bewegten sich undeutliche Gestalten im Schein von Laternen.

Der Junge saß immer noch im Ruderboot und wartete. Kaum bemerkte er Nils, zog er das Boot zum Steg und ließ ihn einsteigen.

Die Heimfahrt war wie ein Traum. Sie glitten durch das dschungelartige Grün, das Wasser des Flusses glitzerte im Mondschein. Der Junge ruderte mit ruhigen Schlägen. Er hatte kein Wort gesprochen, seit sie das Polizeirevier verlassen hatten. Wie lang mochte das her sein? Es kam ihm vor wie ein Jahr!

Am Ufer flatterte ein Reiher auf. Er flog geradewegs durch das Mondlicht, direkt vor dem Boot, das Wasser tropfte wie geschmolzenes Messing von seinen Federn.

Das hier ist nicht wirklich. Ich schlafe, dachte Nils erstaunt.

Und so war es auch. Er schlief ein und wachte erst wieder auf, als ein frischer Wind vom Fluss ihm ins Gesicht blies und die Schiffe ihre Gegenwart durch lautes Tuten und blinkende Laternen markierten.

Kurz darauf waren sie wieder an der Steintreppe im östlichen Hafenkanal. Der Junge griff nach dem Eisenring in der Mauer, um das Boot festzuhalten, während Nils durchgefroren und müde an Land stieg.

Er kletterte über die Reling und stand auf der Treppe. Die Hand des Jungen war für einen Moment direkt neben seinem Gesicht. Die Finger hielten ausgestreckt den Eisenring fest. Eine Straßenlaterne leuchtete direkt über ihnen, in ihrem Schein konnte Nils deutlich die dünne, halb durchsichtige Haut erkennen, die zwischen Zeigefinger und Mittelfinger bis zum ersten Fingerglied wuchs.

2

»Doktor Hedman hat aus dem Leichenschauhaus angerufen. Es geht um diesen Mann, der in den Sävefluss gefallen ist. Sie, Gunnarsson, haben offenbar die Anzeige entgegengenommen?«, sagte Hauptkommissar Nordfeldt und schaute rasch in den Bericht, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

»Ganz richtig, Herr Kommissar.«

»Ich wurde mit einem Ruderboot in das sogenannte Treibgutsammlerdorf gebracht«, zitierte Nordfeldt aus Nils' Bericht.

»Ganz genau, Herr Kommissar. Ein eigenartiges Erlebnis, das muss ich schon sagen. Ein merkwürdiger Ort. Die Lebensverhältnisse dieser Menschen sind erbärmlich. Man möchte fast nicht glauben, dass es heute noch Leute gibt, die so leben.«

Nordfeldt verzog ärgerlich das Gesicht.

»Die Armenfürsorge hat ihnen Hilfe angeboten, aber sie wollen keine. Sie hetzen die Hunde auf jeden, der versucht, an Land zu gehen. Es wundert mich, dass man Sie hat kommen lassen.«

»Lassen?« Nils lachte trocken. »Ich wurde mehr oder weniger gezwungen, in das Ruderboot zu steigen. Ein ausgesprochen entschlossener junger Mann hat mich geholt. Er ist ein wenig zurückgeblieben, würde ich meinen. Im Dorf wurde ich von einem Mann empfangen. Elegant, mit Hut und einem Goldring im Ohr, wie ein Seeräuber. Keinen heilen Zahn im Mund, aber kräftige Hände. Und er wusste, wie ich heiße.«

»Das war Panama-Bengtsson. Er ist ihr Anführer. Es war bestimmt das erste Mal, dass er von sich aus die Polizei gerufen hat. Ich würde gerne wissen, warum.«

»Eine Leiche war gewissermaßen vor ihre Haustür geschwemmt worden. Sie wollten wohl keinerlei Verdacht auf sich ziehen.«

»Ja, es gibt ja immer Gründe, die Treibgutsammler zu verdächtigen. Haben Sie die Taschen des Toten durchsucht?«

»Nein«, gab Nils zu.

»Macht nichts. Sie hätten sowieso nichts gefunden. Alles, was schwimmt, gehört ihnen, so sehen sie das. Und dann liegt da ein feiner Herr im Wasser, mit einer dicken Brieftasche. Da braucht man den Fang nur noch zu bergen.«

Nils dachte an die Weidenzweige, die bis ins Wasser hingen und alles auffingen, was der Fluss mit sich brachte.

»Wenn sie dann die Brieftasche und die goldene Uhr an sich genommen haben, soll die Polizei sich um die Leiche kümmern«, fuhr Nordfeldt fort. »Schon ziemlich frech. Und wenn etwas nicht schwimmt, dann kann man es leicht schwimmend machen, nicht wahr? Hier ein kleiner Schubs, dort ein kleiner Stoß. Hoppla, wieder eine Ladung im Wasser gelandet. Das machen sie doch so im Hafen, oder? Schleichen sich an Bord und werfen Sachen ins Wasser, die sie dann bergen können.«

»Sie meinen also, dass der Tote vielleicht in den Fluss geschubst wurde?« Nils überlegt einen Moment. »Das wäre möglich. Aber schwer zu beweisen. Vermutlich war der Kerl einfach betrunken und ist irgendwo weiter oben am Fluss ins Wasser gefallen. Ein alkoholisierter Mann, der ertrinkt. Das passiert doch ständig. Nichts Besonderes.«

Nordfeldt nickte zustimmend.

»Ganz genau, Gunnarsson. Nichts Besonderes.« Er kratzte sich am kurz geschorenen Kopf. »Nur, er ist nicht ertrunken.«

»Was? Er ist nicht ertrunken?«

Der Kommissar schüttelte langsam den Kopf.

»Nein. Deshalb hat Doktor Hedman angerufen.«

Die nagelneue Leichenhalle des Sahlgren'schen Krankenhauses war in einem freistehenden Gebäude mit Obduktionsräumen und einer Kapelle untergebracht. Die Toten wurden hygienisch in gekühlten Fächern aufbewahrt, die Räume waren so frisch und modern, es war fast schade, dass die Bewohner keinen Sinneseindrücken mehr zugänglich waren.

Der Mann aus dem Treibgutdorf lag auf dem Rücken auf einem Metalltisch. Ein Laken bedeckte seinen nackten Körper bis zur Taille. Das starke Licht der Lampe zeigte Einzelheiten, die Nils im Dunkel der Hütte nicht hatte erkennen können. Dunkle, dichte Wimpern und ein Grübchen im kantigen Kinn. Die Zunge war schwärzer und geschwollener als in seiner Erinnerung.

Aber das Auffälligste war unter seinem Gesicht zu sehen: Um den ganzen Hals des Mannes herum verlief eine Furche geronnenen Bluts.

Kommissar Nordfeldt murmelte etwas zwischen den Zähnen, das wie ein Fluch klang. Nils vermutete, es galt ihm. Und auch wenn die Frage nicht ausgesprochen wurde, hörte er sie so deutlich, als hätte Nordfeldt sie ihm ins Ohr gebrüllt: Wie zum Teufel konnten Sie das übersehen, als Sie die Leiche am Fundplatz inspizierten!

»Er hatte einen Schal um den Hals, als ich ihn sah«, entschuldigte sich Nils. Er hörte selbst, wie dumm das klang.

Nordfeldt sagte nichts. Seine breiten Kiefer waren angespannt. Er ist vermutlich wütend, dachte Nils. Und das zu Recht, ausnahmsweise. Nils konnte selbst nicht verstehen, wie er sich eines solchen Versäumnisses hatte schuldig machen können.

Doktor Hedman hob das eine Augenlid des Mannes an. Der Augapfel trat hervor, dass Weiße war rot gesprenkelt von geplatzten Äderchen. Nils versuchte, sich zu erinnern, was er in der Ausbildung gelernt hatte.

»Erhängt?«, fragte er. Er warf dem Gerichtsmediziner einen Blick zu, es war ein älterer Mann mit langen, knochigen Fingern und farbloser Haut, als habe er sich zu lange in der Nähe des Todes aufgehalten.

»Eher erwürgt«, sagte Doktor Hedman und ließ das Augenlid los.

Nils beugte sich vor und untersuchte die Wunde um den Hals. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Von weitem sah es aus wie ein Hundehalsband. Er hatte so etwas noch nie gesehen, da war er sich ganz sicher. Und doch kam es ihm bekannt vor, als hätte er darüber gelesen oder gehört.

»Das sind keine normalen Würgemale«, bemerkte er. »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen, Herr Doktor?«

»Ja. Aber das ist lange her. Zehn oder zwölf Jahre. Als ich noch in Stockholm gearbeitet habe.«

Doktor Hedman tauschte einen Blick mit Kommissar Nordfeldt, der biss sich in die Unterlippe und sah sehr merkwürdig aus.

»Aber wenn er weder erhängt noch erwürgt wurde, was ist es dann?«, fragte Nils.

Der Gerichtsmediziner zog das Laken über den Kopf des Toten.

»Garottiert«, sagte er.

»Das war vor Ihrer Zeit in der Kriminalabteilung, Gunnarsson. Es gab vier Fälle. Drei in Stockholm und einen hier in Göteborg. Genau die gleiche Vorgehensweise.«

»Ich glaube, ich habe in der Zeitung davon gelesen«, sagte Nils.

Sie waren auf dem Rückweg zum Polizeirevier und gerade am Schlosspark aus der Straßenbahnlinie sechs gestiegen, um in die Eins oder Zwei zum Brunnsparken umzusteigen. Um sie herum drängelten sich Kinder, die mit der Badebahn zur Askimbucht fahren wollten, wo sie gratis Schwimmunterricht und eine Milchmahlzeit bekamen. Zwei junge Frauen in hellen Sommerkleidern dirigierten sie zur Haltestelle der Söröbahn. Der grüne Park und die aufgeregten Kinder bildeten einen scharfen Kontrast zu den gekachelten Räumen, aus denen sie gerade kamen.

»Sie haben ganz bestimmt nicht darüber in der Zeitung gelesen«, sagte Nordfeldt und zündete sich eine Zigarre an. Zu seiner Verwunderung bemerkte Nils, dass die Hand des Kommissars ein klein wenig zitterte. »Die Polizei hat keinen Mucks an die Presse weitergegeben. Die Ermordeten waren allesamt Schurken schlimmster Sorte. Abrechnungen in der Unterwelt. Ehrlich gesagt, die Polizei war erleichtert, diese Typen loszuwerden. Und der Täter kein Mörder, den normale Leute fürchten mussten. Es war unnötig, Panik zu verursachen. Allerdings war seine Methode fürchterlich. Er hatte ein speziell angefertigtes Gerät mit Klaviersaiten. Sehr ungewöhnlich in unserem Land.«

»Aber Sie haben ihn doch gefasst?«

»Ja«, sagte Nordfeldt. »Wir haben ihn schließlich gefasst. Ein kleiner Kreis hat sich diesem Fall gewidmet. Göteborg und Stockholm haben gut zusammengearbeitet. Das Ganze klappte ausgezeichnet.«

»Was war das für ein Typ?«

»Eine richtige Bestie. Zwei Meter groß, stark wie ein Ochse. Er hatte ein paar Jahre drüben in Chicago gelebt. Da hatte er das mit den Klaviersaiten gelernt. Während des Prozesses schrie er und machte ständig Ärger. Man musste ihm Handschellen anlegen, vier Wachen mussten im Gerichtssaal auf ihn aufpassen. Das war ein richtiges Spektakel. Ein gefundenes Fressen für die Presse.«

»Aber die war nicht dabei?«

»Nein. Der Prozess wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten. Man war der Meinung, es würde aufgrund der Brutalität der Verbrechen gegen die Regeln des Anstands verstoßen. Psychisch labile Individuen könnten Schaden nehmen usw. Er bekam natürlich lebenslänglich.«

»Aber wenn es schon zehn Jahre her ist, seit er verurteilt wurde, besteht doch eine Möglichkeit, dass er wieder draußen ist, oder? Wenn er sich im Gefängnis gut geführt hat, könnte er doch begnadigt worden sein.«

Nordfeldt schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Auf keinen Fall. Das hätte in den Polizei-Nachrichten gestanden. Wenn ein Gefangener dieses Kalibers freigelassen wird, werden wir immer gewarnt. Und ihn werden sie nicht rauslassen. Ich habe auch nichts von einem Ausbruch gehört. Aber wir müssen natürlich eruieren, wo er sich befindet. Er wurde in Stockholm verurteilt, und ich glaube, er ist auf Långholmen inhaftiert, aber er kann natürlich verlegt worden sein. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.«

Nordfeldt paffte an seiner Zigarre und betrachtete nachdenklich die Turmspitze des Naturhistorischen Museums. Vom Vogelteich im Schlosspark wehte ein modriger Dunst herüber.

»Sie sagten, seine Mordopfer waren Schurken. Aber unser Opfer sah nicht aus wie ein Schurke. Er war sauber und ordentlich angezogen«, bemerkte Nils.

»Es gibt doch auch solche Schurken. Man sollte einen Hund nicht nach dem Fell beurteilen.«

»Das ist wahr. Ich frage mich, wo man ihn in den Fluss geworfen hat.«

»Er kann unmöglich das Kraftwerk der Fabrik in Jonsered passiert haben. Er muss irgendwo hinter Jonsered und vor dem Treibgutdorf, wo er gefunden wurde, hineingeworfen worden sein«, sagte Nordfeldt. »Aber der Mordplatz kann natürlich ganz woanders liegen. Da kommt unsere Straßenbahn!«

Laut quietschend bremste die Bahn vor ihnen, noch mehr Kinder purzelten heraus und wurden rasch von den Badefräuleins eingefangen. Nils und Nordfeldt warteten, bis alle heraus waren, und stiegen dann ganz hinten ein.

»Ich würde mich gerne noch einmal mit diesen Treibgutsammlern unterhalten«, sagte Nils, nachdem sie sich hingesetzt hatten. »Ich habe sie allzu leicht davonkommen lassen, als ich dort war. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass sie ein Mordopfer aus dem Wasser gefischt hatten.«

In Wahrheit hatte er dieses stinkende Rattenloch so schnell wie möglich verlassen wollen. Die Leiche auf dem Boden hatte ihn nicht weiter berührt, so etwas gehörte zum Alltag seines Berufs. Aber die Lebenden! Die starren, dunklen Blicke dieser elenden Gestalten, undeutbar wie die von Tieren. Blicke, denen man nicht den Rücken zuwenden wollte. Aber wie er sich da drinnen auch drehte und wendete, er war von ihnen umgeben gewesen.

»Aber dieses Mal fahre ich nicht allein hin«, fügte er hinzu.

»Natürlich nicht«, sagte Nordfeldt. »Sie können ein paar Leute von der Hafenpolizei mitnehmen. Die sind den Umgang mit den Treibgutsammlern gewohnt.«

3

Früh am nächsten Morgen erreichte Nils in einem Patrouillenboot und zusammen mit zwei starken Hafenpolizisten das Dorf der Treibgutsammler. Schon von weitem hörten sie Hundegebell. Als sie so langsam wie möglich durch die Weidenvorhänge glitten, sah Nils, dass dieses Mal nicht nur ein Hund, sondern ein ganzes Rudel auf einem Steg stand und bellte. Menschen sah er keine.

Sie steuerten auf einen leeren Steg zu. Als die Hunde bemerkten, welchen Anlegeplatz sie wählten, rannten sie alle dorthin. Einige weitere kamen hinzu, angelockt vom Bellen der anderen.

Die Polizisten blieben eine Weile im Boot sitzen und warteten darauf, dass einer der Treibgutsammler kommen würde. Aber es kam niemand.

»Das sind keine Frühaufsteher«, sagte einer der Hafenpolizisten und spuckte ins Wasser. Sein langer, blonder Schnurrbart ging wie zwei Strohbüschel über die Oberlippe.

»Die können bei diesem Lärm doch nicht mehr schlafen«, sagte Nils.

Er stellte sich im Boot auf, formte die Hände zu einem Trichter und versuchte, das Hundegebell zu übertönen:

»Bengtsson! Wir wollen mit Ihnen reden! Bengtsson!«

Die Hafenpolizisten schauten sich an und grinsten.

»Wenn wir schon mal hier sind, können wir auch gleich eine Hausdurchsuchung machen«, sagte der jüngere. »Am Gulbergskai wurde gestern Koks von einem Schlepper gestohlen. Vier Säcke.«

»Dafür habe ich keinen Auftrag«, sagte Nils. »Bengtsson!«, rief er erneut.

Nichts passierte.

»Wenn du glaubst, dass Bengtsson kommt, wenn man ihn ruft, dann irrst du dich«, sagte der ältere Hafenpolizist.

»Tja, dann müssen wir wohl hingehen und anklopfen«, sagte Nils.

Er klang mutiger, als er sich fühlte.

Er zog das Boot zum Steg, um an Land gehen zu können. Die Hunde verstanden sofort, was er vorhatte. Sie drängten sich zusammen und beugten sich über den Rand des Stegs. Als er aufblickte, schaute er in hochgezogene Lefzen und scharfe Reißzähne. Er dachte an seine Dienstwaffe, die er auf Nordfeldts Anraten mitgenommen hatte und die er in der Innentasche seines Jacketts trug.

Plötzlich verstummten die Hunde und schauten mit gespitzten Ohren zum Fluss. Kurz darauf hörte Nils das Geräusch eines Bootsmotors. Die Hunde rannten verwirrt hin und her, bellten mal in Richtung des Boots und mal in Richtung von Nils und der Hafenpolizei, als wüssten sie nicht, worauf sie sich konzentrieren sollten.

Das Motorengeräusch wurde immer lauter. Langsam glitt ein Spitzkahn aus dem Laubvorhang. Im Heck stand eine große, schlanke Frau. Mit der einen Hand hielt sie das Ruder und mit der anderen schob sie die Weidenzweige aus dem Weg, dabei blinzelte sie in die Morgensonne. Der Anblick war so unerwartet und schön, dass sogar die Hunde für einen Moment verstummten.

In einem weiten Bogen steuerte das Boot auf das Dorf zu. Blubbernde Wirbel rührten das stille Flusswasser auf und sie legte schließlich neben dem Boot der Hafenpolizei an. Die Hunde begannen wieder zu bellen.

Die Frau machte den Motor aus, beugte sich über die Reling und rief:

»Ist etwas Besonderes passiert?«

Nils stellt sich mit lauter Stimme vor:

»Kommissar Gunnarsson, Kriminalpolizei. Und das hier«, er macht eine Geste zum Heck, »sind meine Kollegen von der Hafenpolizei.«

Die Hafenpolizisten tippten an ihre Schirmmützen. Der Jüngere gähnte laut.

Nils konnte es nicht ausstehen, wenn Polizisten sich nicht korrekt benahmen. Allerdings waren Hafenpolizisten auch keine richtigen Polizisten, fand er, sie waren eher eine Art uniformierte Wachen.

»Wir sind hier, weil wir Bengtsson ein paar Fragen stellen wollen«, fuhr er fort. »Und wer sind Sie?«

Die Frau lächelte und streckte die Hand über die Reling.

»Schwester Klara«, sagte sie und schüttelte Nils die Hand. »Ein wunderbarer Morgen, nicht wahr?«

»Schwester? Sind Sie eine Slum-Schwester?«

Er konnte auch Frauen nicht ausstehen, die sich der Wohltätigkeit widmeten, sowohl die Vermögenden, die Essenskörbe ausgaben, als auch die Religiösen, die Broschüren mit altklugen Bibelzitaten verteilten.

»Wenn Sie wollen, können Sie mich so nennen«, rief die Frau und warf ein paar Fender über die Backbordseite. »Ich bin auch ausgebildete Krankenschwester. Ich schaue ab und zu mal nach den Leuten im Treibgutsammlerdorf. Vor allem nach den Frauen und Kindern. Ich versuche, meine Besuche früh am Morgen zu machen, wenn die Männer sich nach den nächtlichen Eskapaden ausschlafen.«

»Aber heute scheint niemand zu Hause zu sein«, sagte Nils und nickte Richtung Dorf, von wo aus die Hunde sie misstrauisch beobachteten. Sie hatten aufgehört zu bellen, aber sie folgten jeder Bewegung mit den Augen.

»Ach, das kommt darauf an, mit welchem Anliegen man kommt.« Schwester Klara bückte sich und hob eine große Segeltuchtasche hoch. »Ich möchte nach einem Kleinen schauen, der Probleme mit dem Magen hat. Als ich das letzte Mal hier war, war er blass und mager wie ein kleines Gespenst. Er hatte vier Tage lang Durchfall gehabt. Mal sehen, ob die Medizin, die ich ihm gegeben habe, gewirkt hat. Und dann möchte ich die Wunde einer alten Frau neu verbinden.«

»Die Magenmedizin wird wohl nicht viel helfen, wenn man sie mit dem Flusswasser hinunterschluckt«, sagte der jüngere Hafenpolizist. »Dieses Pack hier isst und trinkt doch alles. Sie können sich nicht vorstellen, was die unten im Hafen alles aufheben. Verdorbene Apfelsinen. Kartoffelschalen. Fischabfälle, die nicht einmal die Möwen haben wollen. Kein Wunder, dass die Kinder Durchfall bekommen. Aber mit der Zeit gewöhnen sie sich daran. Die älteren scheinen es ausgezeichnet zu vertragen. Die haben Mägen wie der Vogel Strauß.«

»Ja, ganz genau«, sagte Schwester Klara sanft. Und fuhr in etwas schärferem Ton fort: »Und sie haben Schwimmhäute zwischen den Fingern wie die Frösche, stehlen wie die Raben und können im Dunkeln sehen wie die Katzen. Nicht wahr? So redet man doch über die Treibgutsammler, oder? Aber es sind Menschen, keine Tiere. Menschen!«, zischte sie und schaute dem verblüfften Hafenpolizisten in die Augen.

»Aber sie haben Schwimmhäute zwischen den Fingern«, protestierte er. »Das stimmt wirklich, Fräulein.«

»Ja«, bestätigte Nils. »Ich habe es neulich selbst bei einem Jungen gesehen. Zwischen dem Zeigefinger und dem Mittelfinger.«

Schwester Klara nickte.

»Syndaktylie«, sagte sie. »Eine angeborene Fehlbildung. Ein oder zwei Finger oder Zehen sind durch eine dünne Haut miteinander verbunden. Die meisten Treibgutsammler haben es. Sie scheinen nicht darunter zu leiden. Und es bedeutet nicht, dass sie mit Ottern oder Fröschen verwandt sind. Oder gut schwimmen können. Die meisten Treibgutsammler können überhaupt nicht schwimmen, obwohl sie ihr ganzes Leben am Wasser verbringen. Unfälle, bei denen jemand ertrinkt, kommen hier häufig vor. Ob Sie es glauben oder nicht.«

»Ich glaube es Ihnen, Schwester Klara«, sagte Nils.

Allmählich gefiel ihm diese Slum-Schwester richtig gut. Sie schien weder Kaufmannsgattin noch von der Heilsarmee zu sein.

Schwester Klara stellte die Tasche auf dem Bootssteg ab und folgte mit dem Haltetau. Die Hunde versammelten sich bellend um sie herum. Sobald sie das Boot festgemacht hatte, ging sie in die Hocke und schüttelte etwas aus einer Tüte, die sie aus der Tasche geholt hatte. Es sah aus wie Schlachtabfall.

Nils ergriff die Gelegenheit und ging auch an Land. Die Hunde waren mit Fressen beschäftigt und kümmerten sich nicht um ihn. Die Hafenpolizisten folgten rasch seinem Beispiel, und alle drei gingen sie zur Hütte von Panama-Bengtsson.

Nils klopfte an die Tür.

»Bengtsson! Hier ist die Polizei. Wir wollen mit Ihnen reden.«

Er bekam keine Antwort. Ein Huhn betrachtete ihn mit schräggelegtem Kopf.

»Bengtsson!«, versuchte er erneut.

Er versuchte, die Tür zu öffnen, aber die Tür schien von innen mit einem Haken verschlossen zu sein.

»Dieses Schloss sollte kein Problem für uns sein«, sagte der ältere Polizist und wedelte mit einem Brecheisen, das er aus dem Boot mitgenommen hatte.

Ein leichtes Aufhebeln genügte, um die Tür zu überwinden.

In der Hütte fanden sie die junge Mutter mit dem Kleinkind, die Nils auch schon beim letzten Mal gesehen hatte. Das Kind lag nackt auf einer Matratze auf dem Boden, die Frau, die es offenbar gerade wickelte, nahm es rasch auf den Arm. Sie starrte die drei Polizisten erschrocken an und drückte das Kind an sich. Sonst war niemand in der Hütte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Nils. »Wir suchen Bengtsson. Wissen Sie, wo er ist?«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Sie verließen die Hütte. Keiner der Treibgutsammler war zu sehen. Das ganze Dorf schien geschlossen und verrammelt.

Unten am Bootssteg fütterte Schwester Klara immer noch die Hunde. Nils hatte noch nie eine Slum-Schwester getroffen, die Hundefutter dabeihatte. Aber es war offensichtlich effektiv. Die Hunde schienen satt und träge zu sein. Sie schüttelte die leere Tüte aus und steckte sie in die Tasche zurück.

»Kommen Sie öfter hierher ins Dorf?«, fragte Nils.

»Hin und wieder.«

Einer der Hunde leckte ihre Hand. Schwester Klara lachte und kraulte ihn hinter dem Ohr.

»Haben Sie hier schon mal einen gut angezogenen Herrn gesehen? In einem hellen Anzug und mit einem Seidenschal? Um die dreißig. Braune, lockige Haare, glattrasiert.«

Sie wandte sich vom Hund ab und schaute Nils an.

»Das klingt nach dem Mann im Rennboot.«

»Wer ist das?«

»Ich weiß nicht, wer er ist. Er kam mit wahnsinniger Geschwindigkeit. Beinahe hätte er meinen Kahn gerammt, als er anlegte. Hier bist du aber gründlich am falschen Ort, mein Guter, habe ich gedacht. Bengtsson kam mit dem Gewehr über der Schulter aus der Hütte und ich dachte, er würde ihm eine Ladung Schrot verpassen. Aber er schien erwartet zu werden. Ich ging zu einer der Frauen in die Hütte, und als ich etwas später wieder herauskam, waren der Mann und das Boot verschwunden. Es scheint ein kurzer Besuch gewesen zu sein.«

»Wann war das?«

Schwester Klara überlegte.

»Irgendwann im Frühjahr. Ich hatte gerade den Kahn ins Wasser gebracht. Die Bäume hatten noch nicht ausgeschlagen.«

»April?«

»Ende April, Anfang Mai. Aber jetzt muss ich mich um meine Angelegenheiten kümmern, solange die Hunde satt und dankbar sind und mich liebhaben. Wenn Sie also hier fertig sind, wäre es mir recht, wenn Sie gehen würden. Ich werde nicht reingelassen, wenn ich drei Polizisten im Schlepptau habe, verstehen Sie. Und ich würde wirklich gerne nach dem kranken kleinen Jungen schauen.«

»Wir wollten gerade gehen«, sagte Nils und kletterte an Bord. »Es freut mich, Sie getroffen zu haben, Schwester Klara. Ich hoffe, dem Kind geht es besser.«

Er hob die Hand zum Abschied. Aber sie hatte sich bereits umgedreht und war mit der Segeltuchtasche über der Schulter unterwegs zu den Hütten.

4

»Bengtsson hat also gelogen«, sagte Nordfeldt. »Ich würde zu gern wissen, was unser gut angezogener Herr im Treibgutsammlerdorf zu erledigen hatte. Wie gesagt, man soll den Hund nicht nach dem Fell beurteilen, aber hier ist das Fell das Einzige, wovon wir ausgehen können.«

Nordfeldt wickelte ein großes Paket in dickem Papier, das auf seinem Schreibtisch lag, auf. Er holte das Jackett des Toten hervor, das jetzt ganz trocken, aber verschmutzt vom braunen Schlamm des Flusses war, er hielt es hoch, damit Nils es richtig sehen konnte.

»Gute Qualität«, sagte er.

Er faltete das Jackett zusammen, legte es auf den Schreibtisch und holte nacheinander eine doppelreihige Weste aus dem gleichen Stoff wie das Jackett, eine kleinkarierte Hose, ein Hemd, den mit getrocknetem Blut befleckten fliederfarbenen Seidenschal und schließlich einen einzelnen Schuh hervor, weinrot, mit einem Lochmuster auf der Vorderkappe.

»Sehr feine Sachen. So etwas können wir beide uns nicht leisten.«

»Und in den Taschen war nichts, was einen Hinweis geben könnte, wer es ist?«, fragte Nils.

»Alle Taschen waren leer. Kein Kleingeld, Kinokarten oder Ähnliches. Das ist ziemlich ungewöhnlich.«

Nordfeldt packte die Kleider wieder in das Packpapier, band eine Schnur darum und überreichte Nils das Paket.

»Gehen Sie damit zu einem Schneider und fragen Sie, ob ihm die Kleider etwas sagen. Wo sie gekauft worden sein könnten, ob es eine Maßanfertigung oder Fabrikware ist und so weiter. Ich könnte natürlich einen Wachtmeister schicken, aber ich meine, es ist besser, wenn Sie das machen, Gunnarsson. Ich habe das Gefühl, wir haben es hier mit einem speziellen Fall zu tun, und ich möchte noch nicht allzu viele einbeziehen.«

»Ich verstehe. Haben Sie inzwischen herausgefunden, wo der Klaviersaitenmörder sich aufhält?«

»Noch nicht genau. Arnold Hoffman, so heißt der Mann, ist offenbar ein richtiges Monster. Man kann ihn nicht mit anderen Gefangenen unterbringen, die Wächter haben alle schreckliche Angst vor ihm. Er ist im Lauf der Jahre zwischen allen möglichen Gefängnissen und Nervenkliniken hin und her geschickt worden. Die Gefängnisleiter sagen, er ist verrückt und muss ins Irrenhaus. Und die Chefs im Irrenhaus sagen, er ist klar in der Birne und muss ins Gefängnis. Wo er im Moment ist, habe ich noch nicht herausbekommen. Aber wenn er ausgebrochen wäre, dann hätten wir das erfahren, ganz sicher.«

Nils machte sich mit dem großen Paket auf dem Gepäckträger des Fahrrads auf den Weg. Er begann mit den einfacheren Herrenausstattern, die fast alle nur noch Konfektionsware verkauften, und machte dann weiter bei den Maßschneidern. Beim siebten Versuch – einem alteingesessenen Familienunternehmen, das seit einem halben Jahrhundert die Kundschaft aus der Großhändler- und Reedergesellschaft bediente – wurden seine Bemühungen mit Erfolg belohnt.

Als er das Paket auf dem Tresen auspackte, wich der zierliche Schneidermeister vor Schreck einen Schritt zurück, die Frisur mit dem schnurgeraden Seitenscheitel geriet ein wenig in Unordnung.

»Aber … die sind ja ganz ruiniert!«, rief er aus.

»Die Kleider gehören zu einem toten Mann, der im Sävefluss gefunden wurde«, erklärte Nils. »Wir versuchen herauszubekommen, wer es war. Vielleicht können Sie uns einen Hinweis geben.«

»Hat man ihn im Sävefluss gefunden? Das ist ja fürchterlich!«

Nils nickte ernst.

»Ich würde nicht mal ein Taschentuch in den Sävefluss tunken«, sagte der Schneider und verzog das Gesicht vor Ekel. »Das Wasser ist unglaublich schmutzig. Die Fabriken leiten alles Mögliche hinein. Die reinste Schmutzbrühe.«

»Es geschah ein Stück flussaufwärts. Nicht in der Nähe der Fabriken.«

»Aha? Nun ja, vielleicht ist es da ein bisschen sauberer. Aber trotzdem.« Er betrachtete das Jackett und schüttelte den Kopf. »Was für ein Jammer. Diesen Cheviotstoff bekommt man nur, wenn man die richtigen Beziehungen hat. Ich bestelle den Stoff in London.« Er senkte die Stimme und fügte, gleichsam in Vertrauen, hinzu: »Kontakte meines Vaters aus seiner Zeit bei Savile Row.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Jackett genäht haben?«, fragte Nils.

Der Schneider schaute ihn an, verwirrt und verletzt.

»Wer sonst könnte es gewesen sein? Mein Vater lebt nicht mehr. Meinen Sie, irgendwer in dieser Stadt außer mir wäre zu diesem Handwerk fähig? Natürlich habe ich das genäht.«

»Erinnern Sie sich, wer es bestellt hat?«

»Wenn ich mich nicht täusche, dann war es Direktor Viktorsson.«

Mit so wenig Hautkontakt wie möglich durchsuchte der Schneider die schmutzigen Kleidungsstücke. Er hob den fliederfarbenen Seidenschal in einem Pinzettengriff an und betrachtete ihn gründlich, ehe er ihn mit einem bedauernden Seufzer wieder auf den Kleiderberg segeln ließ.

»Ja, das war er ganz bestimmt.«

»Viktorsson?«, sagte Nils interessiert. »Wissen Sie auch den Vornamen?«

»Wir sprechen unsere Kunden nicht mit Vornamen an. Wir verwenden Titel und Nachnamen.«

»Oder haben Sie vielleicht eine Adresse oder Telefonnummer?«

»Das war nicht nötig. Direktor Viktorsson kam immer her und holte seine Kleidung selbst ab.«

»Wissen Sie sonst etwas über ihn? Zum Beispiel, in welcher Firma er Direktor war? In welcher Branche?«, versuchte Nils.

Der Schneider dachte ein paar Sekunden nach und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, das weiß ich tatsächlich nicht. Er war Geschäftsmann, mehr weiß ich nicht. Ein Selfmademan. Offenbar erfolgreich. Er ist also verstorben? Im Sävefluss? Sehr traurig. Es war ihm sehr wichtig, proper auszusehen. Wollte immer das Allerbeste haben. Seine Hemden brachte er zu Nimbus. Auf meine Empfehlung. Die einzige Wäscherei, der man vertrauen kann, wenn es um Hemden dieser Qualität geht. Allerdings«, fügte er mit einem bedauernden Blick auf das Hemd des Toten hinzu, »das hier wird man nie wieder sauber bekommen.«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Nils und schlug die Kleidung wieder in das Packpapier ein.

»Ach, ich konnte Ihnen ja keine große Hilfe sein«, sagte der Schneider betrübt. »Aber das Jackett, das Sie tragen.« Seine Augen blitzten plötzlich auf. »Mit dem könnte ich Ihnen vermutlich helfen. Wir haben wunderbare Gabardinejacketts dieses Typs hereinbekommen. Ich könnte Ihnen einige zeigen.«

»Sehr freundlich«, sagte Nils lächelnd. »Ich glaube jedoch nicht, dass die etwas für meine Brieftasche sind.«

»Verstehe, verstehe«, sagte der Schneider. »Nun ja, mit diesem schicken Fedora«, er machte eine graziöse Bewegung in Richtung von Nils' Hut, »da fällt gar nicht auf, dass das Jackett ein wenig abgetragen ist. Braun steht Ihnen wirklich.«

Auf dem Schild der Wäscherei Nimbus prangte ein weißer struppiger Hund mit einem gefalteten Hemd im Maul und der witzigen Zeile: HUNDerte, ja tausende sind zufrieden mit unserer Wäscherei und Bügelei. Nimbus – für ein überragendes Ergebnis!

Das Unternehmen hatte sich offenbar einer Werbefirma anvertraut.

Und das Ergebnis war tatsächlich überragend.

Kaum hatte Nils seine Frage gestellt, da hatte die effiziente Dame am Tresen schon das Kundenverzeichnis der Firma durchgeblättert, gleichzeitig rief sie laute Befehle in die dampfenden Hinterräume und nahm per Telefon eine Kundenbestellung entgegen. Mit dem Telefonhörer an die Schulter gedrückt schrieb sie schnell etwas auf einen Zettel und reichte ihn Nils.

Kurz darauf radelte er zu der Adresse, an die Direktor Viktorsson sich seine Hemden liefern ließ. Eine recht bescheidene Adresse für einen Direktor.

Niemand öffnete, als Nils an die Wohnungstür klopfte.

»Wollen Sie das abgeben?«, fragte eine Frau in Strickjacke und Pantoffeln, die hinter ihm im Treppenhaus auftauchte. Sie deutete auf das Kleiderpaket, das Nils auf dem Arm hatte, er hatte es nicht auf dem Gepäckträger lassen wollen.

»Direktor Viktorsson ist auf Geschäftsreise«, verkündete sie, ehe er antworten konnte. »Ich kann es so lange aufbewahren, ich bin seine Vermieterin.«

»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Nils. »Noch besser wäre es, wenn Sie mir die Tür aufschließen könnten. Ich bin von der Polizei. Wir haben Grund zur Vermutung, dass Direktor Viktorsson etwas zugestoßen ist, und ich muss in seine Wohnung.«

Die Vermieterin betrachtete bestürzt seine Polizeimarke. Sie nickte, ging schnell den Schlüssel holen und ließ ihn in die Wohnung.

Viktorssons Geschmack, »nur das Allerbeste«, galt offenbar nicht für die Wohnungseinrichtung. Außer den notwendigsten Möbeln gab es nichts. Zusammen mit der Vermieterin als neugieriger Zuschauerin verschaffte Nils sich rasch einen Überblick.

Im Schrank hingen mehrere gut geschnittene Anzüge und Hemden. Aber die Unterwäsche in der Kommode war abgetragen und hatte Löcher. Im Vorratsschrank gab es eine Tüte Haferflocken, eine Dose Hering und etwas Knäckebrot.

»Er isst meistens im Restaurant«, erklärte die Vermieterin, sie stand mit verschränkten Armen am Türpfosten und folgte Nils mit den Augen.

»Sie sprachen von einer Geschäftsreise«, sagte er und schloss die Tür des Vorratsschranks. »Wissen Sie, wohin er reisen wollte?«

»Keine Ahnung. Er fuhr in alle möglichen Städte. Er ist ein viel beschäftigter Mann.«

»Hat er ein eigenes Auto?«

»Ja, sicher. Ein sehr elegantes Auto. Normalerweise parkt er es auf dem Hof. Aber jetzt ist es nicht da. Deshalb nehme ich an, dass er auf Geschäftsreise ist.«

Ihr kam ein Gedanke. »Hatte er einen Autounfall?«

»Nein, es handelt sich um einen anderen Unfall«, sagte Nils.

»Ach ja, es passieren so viele schreckliche Dinge«, seufzte sie. »Daran sind die Maschinen schuld. Autounfälle, Eisenbahnunfälle, Unfälle mit der Elektrizität. Früher war es ruhiger.«

Nils antwortete nicht. Er durchsuchte die Schubladen. Es gab so gut wie keine Küchenutensilien. Er verließ den Raum und ging wieder ins Schlafzimmer, gefolgt von der Vermieterin.

In der Schublade des Nachttischs fand er einen Eintrittspass für die Jubiläumsausstellung von 1923. Wie viele andere hatte Viktorsson ihn als Souvenir aufgehoben. Nils erinnerte sich, wie aufregend dieser Jubiläumssommer für ihn selbst gewesen war. Die Eintrittskarte war als Pass gestaltet – die Ausstellung war wie ein fremdes Land, und der Aufenthalt dort kam einem vor, als wäre man im Ausland. Jetzt war alles wieder verschwunden.

Der Pass war ausgestellt auf Edvard Viktorsson. Das Foto zeigte einen jungen Mann mit zielbewusstem Blick, kantigem Kinn und wilden Locken unter der Hutkrempe. Nils war ziemlich sicher, dies war der Mann, den er im Treibgutsammlerdorf und im Leichenschauhaus gesehen hatte.

»Ein gutaussehender junger Mann, nicht wahr?«, sagte die Vermieterin über seine Schulter.

Nils steckte den Pass in die Tasche.

»Ja, dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Vielen Dank, dass Sie mich eingelassen haben«, sagte er und ging zur Haustür.

»Haben Sie gefunden, wonach Sie suchten?«

»Ja, für den Moment reicht es. Ich werde vielleicht später noch einmal wiederkommen.«

»Und der Herr Direktor? Glauben Sie, dass er wiederkommt?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

Er nahm das Paket, das er auf einen Stuhl neben der Tür gelegt hatte. Die Vermieterin sah aus, als würde sie ihre rechte Hand dafür geben, zu erfahren, was in dem braunen Packpapier war.