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Ein unglaublicher antiker Fund, ein altes Mysterium und ein Archäologe, der zwischen die Fronten gerät Bei Ausgrabungen in der Nähe von Leiden wird eine römische Kriegsmaske gefunden. Schon bald verbreitet sich das Gerücht, nicht nur die Maske sei ans Licht gekommen, sondern noch weitaus mehr. Etwas, das unbedingt geheim gehalten werden muss, denn es bedroht nicht nur die Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen, sondern auch die gesamte Katholische Kirche. Durch Zufall wird auch der Archäologe Peter de Haan hinzugezogen - er soll ein Dokument aus dem Fund begutachten. Doch viele sind auf der Suche danach, und Peter erkennt: Einige Geheimnisse bleiben besser vergraben … Der erste Fall für Peter de Haan, einige Jahre vor "Das Paulus-Labyrinth".
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Seitenzahl: 456
Lieferbare Titel
Das Paulus-Labyrinth (Ein Peter-de-Haan-Thriller 2)
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelDe bekentenissen van Petrus bei Primavera Pers, Leiden.
© by Jeroen Windmeijer Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HarperCollins an Imprint of Uitgeverij HarperCollins Holland, Amsterdam
Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie Werbeagnetur, Zürich Coverabbildung von Slava Gerj, Melkor3D / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749951017
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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.
Für Dünya
Er rief dann seine zwölf Jünger herbei und verlieh ihnen Macht über die unreinen Geister, sodass sie diese auszutreiben und alle Krankheiten und jedes Gebrechen zu heilen vermochten. […]
Diese Zwölf sandte Jesus aus, nachdem er ihnen folgende Weisungen gegeben hatte: »Den Weg zu den Heidenvölkern schlagt nicht ein und tretet auch in keine Samariterstadt ein, geht vielmehr nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.«
– Matthäus 10,1;5-6
Lugdunum,72n. Chr.
Der alte Mann starrte in die Ferne, über die endlose Weite des Wassers vor ihm, während der Wind mit seinem Bart spielte. In ruhigen Wellen schwappte das Wasser über seine nackten Füße und benetzte den Saum seines wollenen Gewandes. Er stand da, als erwarte er, dass sich das Meer vor ihm auftun würde, so wie der Ewige einst das Schilfmeer vor Mose geteilt hatte, als er vom Pharao und seinen Männern verfolgt wurde.
Niemand verfolgte ihn jetzt; sie hatten noch rechtzeitig vor der schrecklichen Zerstörung aus der Stadt des Herrn fliehen können. Jeschua hatte es vorausgesehen. Hatte Er nicht prophezeit, dass kein Stein auf dem anderen bleiben und alles niedergerissen werden würde? Wer hätte gedacht, dass sich Seine Prophezeiungen so bald erfüllen würden? Doch wo blieb Er nun? Sollte nicht auch noch diese Generation Seine glorreiche Rückkehr erleben?
»Oh Herr, hilf mir in meinem Unglauben«, murmelte er vor sich hin.
Sollte Judas am Ende doch recht gehabt haben?
An seine Brust gepresst hielt er das Elfenbeinkästchen; er hatte es nicht übers Herz gebracht, es wegzuwerfen.
Das Ende war nahe. Hatten sie nicht von einem Hügel aus den Tempel in Flammen gesehen, nachdem sie mit knapper Not dem Massaker in der Stadt entronnen waren? Hatte es nicht Berichte über Kriege und Kriegsdrohungen gegeben, ein Volk gegen das andere, ein Königreich gegen das andere? Es gab Erdbeben, Hungersnöte – der Beginn des Unheils, wie vorhergesagt. Waren nicht zahlreiche Anhänger des Weges vor die Gerichte gezerrt und in den Synagogen gegeißelt worden und vor Statthaltern und Königen erschienen, um von Ihm zu zeugen?
Er hörte, wie sein Pferd hinter ihm schnaubte. Er blickte sich um und sah Dampfwolken aus seinen Nüstern steigen. Archippus, sein Begleiter, hielt die Zügel in der Hand – als ob es dem Tier jemals eingefallen wäre, seinem Herrn davonzulaufen. Nein, dieses Ross war ihm immer treu gewesen und würde ihm immer treu bleiben. Ein Tier wird einen niemals verraten …
Archippus winkte ihm zu. Er hatte recht, es war geschafft.
Nach der Katastrophe galt es, so weit wie möglich vom Ort des Geschehens zu fliehen. Taddäus und Bartholomäus nach Armenien, Matthäus nach Äthiopien, Lazarus, Martha und Maria mit Jeschuas Kindern nach Gallien, Josef von Arimatea nach Britannien … Paulus war schon viele Jahre zuvor, nach seinem Freispruch im Prozess von Rom, nach Hispanien gegangen und dort gestorben.
Ein letztes Mal blickte er auf das Meer.
Vielleicht war das alles Teil eines göttlichen Plans, um die gute Nachricht bis in alle Ecken der Welt zu verbreiten. Dann endete seine und Archippus’ Reise womöglich in Brittenburg, einem der hintersten Winkel des römischen Reiches. Welche Schrecken sie auf dem Weg erlebt hatten! Die Entbehrungen, die sie erlitten hatten, die Überquerung der Alpen, mehr zu Fuß als zu Pferd … Und immer die Angst vor Entdeckung.
Sie hatten zusammen gesungen, um den Mut nicht zu verlieren: »Die Bande des Todes umgaben mich, der tosende Abgrund erschreckte mich, die Fesseln des Totenreiches umfingen mich, auf meinem Weg lagen die Schlingen des Todes.«
Aber der Herr war gnädig und beschützte sie.
Auch hier hatte es Aufruhr gegeben: ein großer Aufstand der Bataver und Cananefaten gegen die römischen Unterdrücker. Ein erbitterter, aber zum Scheitern verurteilter Widerstand, ein Strohfeuer, das durch das Blut vieler junger Männer gelöscht worden war. Die Aufbauarbeiten waren in vollem Gange, und in kurzer Zeit würde alles wieder so sein wie vorher.
»Kephas!«
Jemand rief nach ihm. Noch immer reagierte er nicht immer sofort auf diesen Namen, obwohl er ihn vor mehr als vierzig Jahren vom Meister erhalten hatte. Er war jung gewesen, etwas über zwanzig, in der Blüte seiner Jahre. Seine Muskeln spannten sich wie Taue an seinen Armen, während er von früh bis spät mit seinen Netzen beschäftigt war.
Simon, so hatten ihn seine Eltern genannt; Kephas war ein schöner Name, ein Name mit einer Verheißung. »Auf dich will ich meine Kirche bauen«, hatte Er gesagt.
Doch was war daraus geworden?
An der Gezeitenlinie lagen, genau wie zu Hause, einige Boote, die auf einen neuen Morgen mit dem Versprechen eines guten Fangs warteten. Er schaute sich noch einmal um und gab mit einem Wink zu verstehen, dass er kommen würde.
Er ging zurück und sank dabei gelegentlich in den losen Sand ein. Mit einiger Mühe bestieg er das Pferd und klopfte dem Tier beruhigend auf den Hals. Wie vereinbart wollten sie zu der Siedlung bei Matilo zurückreiten und dort um Herberge bitten. Er spürte, dass sein Ende nahte und wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Hatte er hoffnungslos versagt, oder hatte er einen wichtigen Schritt getan, um die Erinnerung an den Meister lebendig zu halten?
Er hatte seinem treuen Reisebegleiter genaue Anweisungen für den Fall seines Todes gegeben. Er sollte die Bestattungsriten einhalten, wie die Väter sie vorgeschrieben hatten. Aber es war nicht seine irdische Hülle, die ihn im Moment am meisten beunruhigte, und auch nicht so sehr sein Seelenheil, da er von Ihm persönlich die Schlüssel zum Himmelreich erhalten hatte; nein, was ihn beunruhigte, waren die Briefe, die er bei sich trug und die Archippus ins Reine geschrieben und ins Griechische übersetzt hatte.
Die ausgeklügelte Konstruktion des Elfenbeinkästchens würde sicherstellen, dass weder Wasser noch Wind, weder Erde noch Feuer seinem kostbaren Inhalt jemals etwas anhaben könnten. Seine andere Schrift, genannt die Quelle, hatte er in Jerusalem zurückgelassen, damit andere ihre Version der Frohen Botschaft darauf aufbauen konnten. Aber das hier war etwas anderes, nicht für die Allgemeinheit bestimmt. Er würde es dem Ewigen überlassen, ob es jemals gefunden werden würde. Dann sollten diese Menschen beurteilen, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Während die Sonne hinter den Reisenden langsam im Meer versank, stapften die Pferde mühsam über den lockeren Sand zu den Dünen. Vor ihnen lag eine gelbgrüne Landschaft mit niedrigen Büschen, und in der Ferne sahen sie das Glitzern zahlreicher Seen.
Wie verabredet stimmten die Reisegefährten gleichzeitig dasselbe Lied an: »Dir, Herr, gilt meine Sehnsucht, mein Gott, auf dich vertraue ich, lass mich nicht versagen, lass meine Feinde nicht triumphieren. Mach mich, oh Herr, vertraut mit deinen Wegen, lehre mich, auf deinen Pfaden zu wandeln.«
Leiden,1996
Dies war für ihn der schönste Moment des Tages. Peter de Haan saß auf dem Sofa in seinem Büro, legte die Füße auf den Couchtisch und zündete sich einen Zigarillo an. Er blickte auf das Wasser des Witte Singels, hinter dem sich die Universitätsbibliothek befand. Es war halb sechs und die archäologische Fakultät so gut wie verlassen.
Obwohl es nicht verboten war, im Büro zu rauchen, hatte er das Fenster gekippt, damit der Rauch abziehen konnte. Nicht jeder wusste den Duft eines Zigarillos zu schätzen, den er persönlich schon immer als beruhigend empfunden hatte. Um diese Uhrzeit konnte man das Fenster noch öffnen; ab sechs Uhr schaltete sich automatisch der Alarm ein.
Viele seiner Studenten und wahrscheinlich auch einige seiner Kollegen saßen gerade beim Essen an den langen Tischen der Mensa, die im LAK-Gebäude neben der Fakultät untergebracht war. Doch Peter schätzte Momente wie diese, in denen er den Tag ungestört Revue passieren lassen konnte, während er dem Rauch nachblickte, der sich zur Decke kräuselte und manchmal plötzlich von einem Luftzug auseinandergeweht wurde.
Es war ein ruhiger Tag gewesen. Zwei Vorlesungen, am Vormittag Einführung in die Archäologie für Studenten des ersten Studienjahres und am späten Nachmittag die Arbeitsgruppe für Geschichtsstudenten über die Geschichte von Leiden.
Als Historiker war er so etwas wie ein Exot in der Fakultät, aber als Autor mehrerer Bücher über die Geschichte Leidens, der »Schlüsselstadt«, hatte er sich zunehmend mit den archäologischen Ausgrabungen beschäftigt, die in der Umgebung durchgeführt wurden. Als man ihm als Quereinsteiger die Stelle für Landesarchäologie angeboten hatte, hatte es innerhalb der Abteilung Neider gegeben, und mancher hatte seinen Widerstand immer noch nicht aufgegeben. Peter pendelte seitdem zwischen diesem Gebäude und dem Institut für Geschichte hin und her, zu dem er allerdings auch nicht ganz gehörte. Seit jeher konfliktscheu, fiel es ihm schwer, sich innerhalb der Universität mit all den verschiedenen Gruppen, Interessenskonflikten und Kollegen, die anderen ihren Erfolg neideten, zurechtzufinden.
Peter sah sich in seinem Zimmer um. Eine Wand war komplett mit Bücherregalen vollgestellt. Davor lagen Stapel ungelesener Fachliteratur und zahlreiche Arbeiten, die er noch korrigieren musste. An die Wand neben seinem Schreibtisch hatte er große Blätter gepinnt, auf denen er seine Ideen, Vorstellungen und Assoziationen festhielt. Viel Gekritzel, große Pfeile in verschiedenen Farben, Diagramme und Übersichten liefen kreuz und quer durcheinander. So brachte er Ordnung ins Chaos.
Über dem Sofa hingen drei gerahmte Poster. Auf der linken Seite befand sich eine gemalte Reproduktion von Gustaaf Wappers berühmtem Gemälde von Pieter van der Werff, dem Bürgermeister von Leiden, der während der spanischen Belagerung der Stadt wenige Wochen vor ihrer Befreiung seinen Körper der hungernden Bevölkerung zum Verzehr angeboten haben sollte. Peter hatte die Reproduktion von der Stadt Leiden als Dank für seine Dienste erhalten. Darunter standen die Worte, die alle echten Leidener kannten: »Essen habe ich nicht, aber ich weiß, dass ich dereinst sterben muss. Wenn euch also mein Tod hilft, dann legt Hand an diesen Körper, schneidet ihn in Stücke und verteilet ihn so weit wie möglich. Das wird mir ein Trost sein.«
In der Mitte hing Das letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci, mit der dramatischen Szene, in der Jesus und Judas, Letzterer mit dem Geldbeutel in den Händen, gemeinsam das Brot halten. Peter hatte das Bild 1978 in Mailand gekauft, als er im Sommer nach seinem Abitur zum ersten Mal ohne seine Eltern verreist war, kurz bevor die Restaurierung des Freskos begann.
Rechts befand sich ein großes Schwarz-Weiß-Foto von Papst Johannes Paul II. bei seiner ersten Fahrt im Papamobil mit dem kugelsicheren Glas.
Im Korridor ertönten Schritte; dem Klappern nach zu urteilen waren es die Absätze von Damenschuhen. Sie hielten alle paar Sekunden inne, wahrscheinlich, weil die Frau vor jeder Tür stehen blieb, um das Namensschild zu lesen. Sie kannte sich hier offenbar nicht aus. Die Schritte kamen näher, und durch die milchige Glasscheibe der Tür konnte er sie sehen. Sie schien einen Moment zu zögern und klopfte dann an, leise, als rechne sie im Grunde nicht damit, um diese Uhrzeit noch jemanden anzutreffen.
»Herein!«, rief er.
Die Tür wurde geöffnet, und eine junge Frau trat ein. Sie hatte halblanges, dunkelblondes, gelocktes Haar, und ihre Wangen waren gerötet. Sie trug eine adrette Schluppenbluse, enge Jeans und Pumps mit – ja, tatsächlich – ziemlich hohen Absätzen und hielt eine große Umhängetasche in der Hand, die eher praktisch als elegant aussah.
Peter kannte sie: Sie war in seiner Arbeitsgruppe über die Geschichte von Leiden. Während der Treffen machte sie sich immer fleißig Notizen, sagte aber nicht viel. Das galt im Übrigen für die meisten Studierenden: Sie waren zu schüchtern, um etwas zu sagen, oder zu schlecht vorbereitet, um etwas Sinnvolles beizutragen.
Wie war noch mal ihr Name? Ach ja, Judith. Judith Cherev.
»Guten Abend, Judith«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«
Er setzte sich aufrecht hin und fuchtelte ein wenig mit der Hand, um den Qualm zu vertreiben, wie ein Schuljunge, der im Fahrradschuppen beim Rauchen erwischt worden war.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte Sie nach der Veranstaltung ansprechen, aber Sie waren so schnell weg. Ich habe Ihnen letzte Woche eine E-Mail geschickt. Erinnern Sie sich? Aber bestimmt bekommen Sie viele Mails. Es ging um meine Abschlussarbeit; ich hatte einen ersten Entwurf angehängt.« Sie war in der Tür stehen geblieben, bescheiden, aber gleichzeitig mit einer gewissen Entschlossenheit.
Seit Kurzem gab es an der Universität die Möglichkeit, Nachrichten über das Internet zu versenden und zu erhalten.
E-Mail nannte man das. Peter fand diese moderne Methode überflüssig, aber die Zeit würde erweisen, ob sich das durchsetzte.
»Ja, ich habe Ihre Nachricht gesehen«, log er. »Worum ging es noch einmal?«
Er forderte sie auf, sich zu setzen.
»Ich studiere Geschichte im letzten Jahr und möchte meine Abschlussarbeit über die Geschichte des Judentums in Leiden schreiben. Dabei wollte ich mich besonders auf einen bestimmten jüdischen Kaufmann konzentrieren, der in den Bann von Rabbi Tsvi geriet.«
»Aha, Shabtai Tsvi, der Messias.«
»Nein, das war er nicht!«, erwiderte sie, offensichtlich heftiger, als sie beabsichtigt hatte, denn sie entschuldigte sich sofort. »Obwohl viele ihn dafür hielten. Ich möchte ein Bild des frühen Judentums in den Niederlanden zeichnen, in dem ich mich auf Leiden und diesen Kaufmann konzentriere.«
»Sind Sie selbst jüdischen Glaubens?«
»Ja, das bin ich. Schon der Name Judith verrät es ja fast.« Sie lächelte kurz.
»Ein biblischer Name. Hat Judith nicht jemanden enthauptet? Gefährliche Frau. Wie hieß er gleich noch …«
Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Überlegungen.
Peter signalisierte Judith, ruhig sitzen zu bleiben. Als er auf dem Weg zum Telefon an ihr vorbeiging, nahm er einen Hauch ihres Parfüms wahr, und für einen Moment stockte ihm der Atem. Der Duft war ihm vertraut, aber er konnte ihn nicht gleich zuordnen.
»Hi, Peter, du musst unbedingt herkommen, beeil dich!«, ertönte die aufgeregte Stimme von Thomas Konijnenberg. »Wir haben etwas Unglaubliches gefunden!«
Thomas leitete die Ausgrabungen des römischen Kastells Matilo, an der Grenze von Leiden und Zoeterwoude. Vor dem Bau des neuen Stadtteils Roomburg hatten die Leidener Stadtarchäologen Zeit, das Gebiet zu untersuchen. Da es an der Nordgrenze des Römischen Reiches lag, des Nordgermanischen Limes, hatte man in der Gegend schon häufig Überreste aus dieser Zeit gefunden. Die Überreste eines römischen castellum in Leiden, die mit den Ausgrabungen eines frührömischen Heerlagers in Nimwegen korrespondierten, waren jedoch einzigartig. Aber Peter hatte Thomas noch nie zuvor so aufgeregt erlebt.
»Ich bin schon unterwegs«, scherzte er. »Aber kannst du mir nicht wenigstens schon mal einen kleinen Hinweis auf euren Fund geben?«
»Eine Maske! Bronze, eine Visiermaske, und in sehr gutem Zustand, wahrscheinlich die schönste, die je in diesem Teil des Römischen Reiches, in Germania Inferior, gefunden wurde. Es ist verblüffend, als ob ein römischer Soldat aus dieser Zeit einen direkt anschaut. Von Angesicht zu Angesicht mit der Geschichte. Du solltest sie dir unbedingt ansehen. Da es ein Er ist, haben wir ihn Gordon getauft.« Er lachte.
»Gordon? Wie der Amsterdamer Schnulzensänger?« Peter begann, theatralisch zu singen: »Könnt’ ich nur einen Moment bei diiiir sein …«
»Genau, der. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Ich sag auch Hoogers Bescheid, der wird sich freuen, so kurz vor der Rente. Aber komm jetzt, dann kannst du dich selbst davon überzeugen! Außer mir sind alle schon nach Hause gegangen. Morgen haben die Mitarbeiter frei, du weißt schon, dritter Oktober, verkaufsoffenes Wochenende, Jubel, Trubel, Heiterkeit. Wenn du dich beeilst, warte ich noch. Und es gibt noch mehr, Peter! Deswegen rufe ich dich an. Ich habe es gefunden, und du bist der Erste, der es erfährt!«
»Was soll das heißen? Was hast du sonst noch gefunden? Doch nicht etwa …« Aber Thomas hatte schon wieder aufgelegt.
Sekunden später hörte er das Telefon im Nebenzimmer klingeln. Thomas hatte keine Zeit verloren.
Peter blieb einen Augenblick lang mit dem Hörer in der Hand stehen und spürte einen Stich der Eifersucht. Aber er durfte sich nicht beklagen. Er stand nun mal nicht knietief im Lehm, deshalb würde er solche Funde nie machen. Für ihn haftete dem Beruf des Archäologen noch immer die Romantik an, die er als Jugendlicher hineininterpretiert hatte. Er hatte sich Abenteuer wie bei Indiana Jones vorgestellt, immer mit der Aussicht, jeden Moment über einen spektakulären Schatz aus der Vergangenheit zu stolpern, der jahrhundertelang versteckt gewesen war.
Judith räusperte sich.
Peter hatte ihre Anwesenheit völlig vergessen. Wie sie dort auf der Sofakante saß und das Licht ihr Haar zum Glänzen brachte …
Plötzlich wusste er, an wen sie ihn erinnerte. Israel, 1978; nach dem Abitur hatte er einige Monate in einem Kibbuz gearbeitet. Sabrina. Oh Gott, er war so verliebt gewesen!
»Magie Noire?«, fragte er.
Sie sah ihn fragend an.
»Magie Noire, Ihr Parfüm. Von Lancôme. Das tragen Sie doch, oder?«
Sie lachte; ein entzückendes Lachen. »Ja, das stimmt. Gratuliere, das wissen nicht viele Männer. Sie sind ein Kenner?«
»Es erinnert mich an jemanden, den ich vor langer Zeit gekannt habe. Aber wie dem auch sei, bei dem Anruf eben habe ich erfahren, dass bei den Ausgrabungen auf der Roomburg-Baustelle etwas Interessantes gefunden wurde. Ich soll kommen und es mir ansehen.«
Sie sah enttäuscht aus.
»Kommen Sie doch mit«, schlug er vor. »Dann können Sie mir unterwegs von Ihrer Arbeit erzählen. Bestimmt dauert es nicht lang, und anschließend kann ich Sie in der Stadt absetzen.«
Sie zögerte einen Moment und sah ihn an, als wollte sie seine Absichten einschätzen. »Einverstanden«, sagte sie schließlich. »Ich habe sowieso nichts anderes vor. Wenn Sie mir ein paar Tipps geben könnten, kann ich vielleicht heute Abend weiter an meinem Entwurf arbeiten.«
Peter nahm seinen Autoschlüssel und zog seine Jacke an. Den Computer fuhr er nicht herunter, weil er später noch weiterarbeiten wollte. Als sie den Flur entlanggingen, sah er, dass das Licht bei Pieter Hoogers, seinem ehemaligen Dozenten, noch brannte. Normalerweise war er um diese Zeit schon zu Hause, aber vielleicht feilte er noch an seiner Abschiedsrede. Übermorgen ging er in den Ruhestand.
Peter klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten.
Hoogers blickte verstört auf und hielt den Hörer des Telefons an die Brust.
»Ich fahre raus nach Matilo«, sagte Peter. »Thomas Konijnenberg hat mich angerufen. Sie haben eine Visiermaske gefunden, in gutem Zustand.«
»Ja, ja, er hat mich auch angerufen … Alles klar, alles klar«, antwortete Pieter geistesabwesend. »Ich bin gespannt. Aber ich bin mitten in einem Telefonat. Du kannst gerne später wiederkommen und mir davon erzählen, nachdem du dort warst. Du kommst doch noch mal wieder, oder?«
Er schaute an Peter vorbei zu Judith und begrüßte sie mit einem kurzen Nicken. Dann drehte er sich um, um anzudeuten, dass ihr Gespräch beendet war.
»Er kam mir ein bisschen gereizt vor«, bemerkte Judith, nachdem Peter die Tür leise geschlossen hatte.
»Ich hätte vielleicht nicht einfach so reinplatzen sollen. Das war etwas unhöflich. Aber vielleicht ist es auch nur die Aufregung.«
Sie überquerten den Witte Singel hinüber zum Parkhaus unter dem Gebäude, in dem der Fachbereich Moderne Fremdsprachen untergebracht war, direkt neben der Universitätsbibliothek.
»Ist dieser Thomas ein guter Freund von Ihnen?«
»Thomas? Nein, als Freund würde ich ihn nicht bezeichnen. Eher als Kollegen, obwohl er nicht an der Uni ist. Wir sind nur ein paarmal etwas zusammen trinken gegangen, aber wir verstehen uns gut. Ich hatte früher an der Uni ein paar Veranstaltungen mit ihm gemeinsam. Wir haben beide viele Kontakte und dadurch zahlreiche gemeinsame Bekannte.«
Sie stiegen die Treppe zum Parkhaus hinunter.
Im Auto war der Duft von Judiths Parfüm noch stärker. Peter schloss für einen Moment die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie lächelnd.
»Ja, ja.« Er startete den Wagen. »Aber kommen wir noch einmal auf Ihre Examensarbeit zurück. Über das Judentum in Leiden gibt es noch nicht viel Literatur. Das könnte ein Problem sein.«
»Ich weiß, aber im Stadtarchiv bin ich auf einige Briefe und ein paar alte Rechnungen dieses Händlers gestoßen, auf den ich mich konzentrieren möchte. Sie wurden noch nie zuvor zitiert oder analysiert, also schien mir schon das an sich interessant.«
»Um welche Zeit war das?« Er bog auf den Witte Singel ab, die Straße entlang der gleichnamigen Gracht, die sich in zahlreichen Bögen um die Altstadt schlängelt. Schon passierten sie die Sternwarte mit ihrer charakteristischen Kuppel. Sie würden keine zehn Minuten brauchen.
»Ich habe ein paar Dokumente von diesem Kaufmann gefunden, er hieß Moshe Levi. Das älteste stammt aus dem Jahr 1660, das jüngste von 1666. Das ist an sich schon ungewöhnlich, denn ab dem sechzehnten Jahrhundert gibt es fast keine Erwähnung von Juden in Leidener Archiven. Erst zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts begann sich in Leiden so etwas wie eine jüdische Gemeinde zu entwickeln.«
»Und warum sind Sie so an diesem Mann interessiert? Es könnte etwas wenig Material für eine Abschlussarbeit sein, wenn Sie sich nur auf ein paar Dokumente verlassen müssen.«
»Ich möchte nicht nur über ihn schreiben. Aber wie Sie eben schon gesagt haben, gibt es bisher nur wenig Literatur über das Judentum in Leiden. Ich möchte in meiner Arbeit einen Überblick über die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Leiden von ihren Anfängen im 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart geben.«
»Wohnen Sie eigentlich auch im jüdischen Studentenwohnheim am Levendaal?«
»Nein«, erwiderte sie. »Ich wohne im Groot-Sions-Hofje, wirklich wunderschön. Als mir ein Kommilitone erzählte, dass dort eine Wohnung frei sei, bin ich sofort hingegangen. Ich dachte, es wäre doch nett, ausgerechnet in einem Hofje zu wohnen, das Zion im Namen trägt. Und tatsächlich habe ich die Wohnung dann bekommen. Und es liegt so zentral.«
»Um noch einmal auf Ihre Arbeit zurückzukommen …«
»Genau, ›Die Geschichte des Judentums in Leiden – unter besonderer Berücksichtigung von Moshe Levi‹. Oder glauben Sie, ich habe mir da zu viel vorgenommen für eine Abschlussarbeit?«, fragte sie unsicher.
»Ich – wir können uns übrigens gerne duzen – befürchte tatsächlich, dass das Thema ein bisschen zu komplex ist. Du musst dir gut überlegen, was du willst. Eben sagtest du, dass dieser Moshe, dieser Kaufmann, in den Bann von Rabbi Tsvi geraten sei, stimmt’s?«
»Ja. Und deshalb reißt wohl seine Korrespondenz nach 1666 ab. Ich glaube, er hat seinen ganzen Besitz verkauft und ist in die Türkei übergesiedelt, weil er davon überzeugt war, dass Tsvi der Messias war.«
»Dann würde ich mich darauf konzentrieren. Du beginnst deine Arbeit mit einem Abriss über die Ankunft der Juden in den Niederlanden und ihre Ansiedelung in Leiden. Dann rückst du den Kaufmann in den Mittelpunkt. Dadurch kannst du die Stellung der Juden damals in der Gesellschaft aufzeigen. Handel, Kontakte zu Nicht-Juden und so weiter. Dann widmest du ein Kapitel Rabbi Tsvi, und danach erzählst du von deinem Kaufmann, der Hab und Gut verkauft hat, um diesem Mann zu folgen, wie so viele europäische Juden in der damaligen Zeit. Ich finde, das wäre ein schönes, klar umrissenes Thema, originell und mit dem passenden Umfang für eine Abschlussarbeit. Wenn du Dokumente zitierst, über die bisher noch nichts erschienen ist, könntest du versuchen, ein oder zwei Artikel darüber zu veröffentlichen. Wenn du weiterforschen möchtest, wäre das auch ein Thema für eine Promotion.«
Peter sah Judith von der Seite an. Ihre Wangen schienen leicht gerötet zu sein, aber er konnte sich auch täuschen, schließlich wurde es allmählich dunkel.
Es war viel los auf den Straßen. Auf dem Levendaal und dem Hoge Rijndijk staute sich der Verkehr. Schon zu normalen Zeiten kam man abends kaum durch, aber gerade war auch noch die Innenstadt wegen Leidens Ontzet, der jährlichen Feier zur Befreiung von den Spaniern im Jahr 1574, gesperrt.
Nach etwa zwanzig Minuten Stau und Stop-and-Go kamen sie endlich bei der Baustelle an, wo das Roomburg-Viertel entstehen sollte. Es war bereits halb sieben, und alles sah verlassen aus. Nur in einem großen Zelt brannte noch Licht. Peter wusste, dass dort die Fundstücke des Tages gereinigt, sortiert und in Kisten verpackt wurden.
Da das Gelände sehr matschig zu sein schien, parkte er das Auto an der Seite. Gemeinsam gingen sie zum Zelt, wobei sie immer wieder im nassen Gras einsanken. Judiths Schuhe waren alles andere als ideal, aber sie achtete nicht auf den Schlamm, der ihre Pumps beschmutzte.
Eine der beiden vorderen Klappen des Zeltes wurde beiseitegeschlagen, und eine Gestalt kam heraus. Peter konnte den Mann im Gegenlicht nicht richtig erkennen. Er winkte und rief Thomas’ Namen, in der Annahme, dass er es war. Der Mann erschrak und lief davon.
Peter lief ebenfalls los.
Peter erreichte das Zelt zuerst und schlug die Plane beiseite.
Thomas lag auf dem Boden; auf den ersten Blick schien er eine schwere Kopfwunde zu haben. Neben ihm hatte sich eine Blutlache gebildet. Auch das Feldtelefon war blutverschmiert; offenbar war es als Schlagwaffe benutzt worden. Das Kabel war herausgezogen worden, sodass man damit keine Hilfe rufen konnte.
Peter kniete sich neben Thomas auf die staubigen Holzdielen. Thomas atmete schwer und hatte offensichtlich starke Schmerzen.
»Was ist passiert? Thomas, kannst du sprechen?«
Judith war inzwischen auch hereingekommen und schlug vor Schreck eine Hand vor den Mund.
Thomas wollte etwas sagen, brachte aber nur ein undeutliches Stammeln hervor. Seine Wange war mit Blut und Speichel bedeckt, das Haar blutverklebt. Sie konnten ihn unmöglich transportieren, solange sie nicht wussten, ob er innere Verletzungen hatte.
»Judith, am besten nimmst du mein Auto, fährst zum nächstgelegenen Haus und sagst Bescheid, dass wir einen Krankenwagen brauchen. Und die Polizei!«
»Tut mir leid, aber ich habe keinen Führerschein.«
»Gut, dann bleibst du hier und passt auf Thomas auf. Ich bin gleich wieder da. Schaffst du das?«
»Aber was ist, wenn der Mann zurückkommt?«, fragte sie panisch. »Was soll ich denn dann machen? Du kannst mich hier nicht allein lassen!«
»Ich glaube nicht, dass er zurückkommt. Er wollte gerade flüchten, als wir ankamen. Ich bin nur für kurz weg. Wir haben keine Wahl!«
Judith nickte. Sie sah aschfahl aus.
»Na gut«, sagte sie schließlich, »aber bitte beeil dich!«
Auf dem Weg nach draußen sah Peter die Bronzemaske auf dem Boden liegen. Das musste die Visiermaske sein, deretwegen Thomas ihn angerufen hatte. Als er ihn auf dem Boden liegen sah, hatte er sofort vermutet, dass es sich um einen Raubüberfall im Zusammenhang mit dem spektakulären Fund handelte. Nun lag sie da, achtlos hingeworfen wie ein wertloses Ding, das man auf dem Jahrmarkt gewinnen konnte.
Peter hob die Maske auf; sie war überraschend schwer.
Das Licht verlieh ihr einen eigenartigen Glanz; zwei dunkle Löcher starrten ihn anstelle von Augen an.
Seltsam, sich vorzustellen, dass dieses Objekt vor zweitausend Jahren für einen Menschen maßangefertigt worden war. Dass ein Mann aus Fleisch und Blut es getragen hatte.
»Peter!«, rief Judith. »Was machst du denn da? Dieser Mann ist schwer verletzt, du musst dich beeilen! Los jetzt!«
Einen Moment lang starrte er Judith an, ohne sie wirklich zu sehen.
Dann legte er die Maske vorsichtig auf einen der Tische und ging nach draußen. Da er drinnen im vollen Licht gestanden hatte, wirkte die Dunkelheit draußen umso schwärzer, und einen Moment lang konnte er nichts sehen. Er blinzelte ein paarmal und machte sich auf den Weg durch das sumpfige Gras. Ab und zu trat er in eine Pfütze, und schlammiges Wasser drang in seine Schuhe ein.
Peter suchte in seinen Taschen nach dem Autoschlüssel, aber er musste ihn wohl stecken gelassen haben. An seinem Auto öffnete er die Tür und fluchte: Der Schlüssel war weg.
Was sollte er jetzt machen? In der Ferne sah er die Lichter der Häuser, die bisher noch den Stadtrand von Leiden bildeten.
Peter beschloss, geradewegs auf die Lichter zuzulaufen.
»Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege«, sagte er laut. Psalm 119, der längste Psalm von allen; er konnte alle 176 Verse auswendig. Er hatte sie schon ewig lange nicht mehr gesprochen, aber jetzt kamen sie ihm plötzlich in den Sinn.
Es war dunkel; er stolperte über den unebenen Boden. Sein Hemd klebte an seinem verschwitzten Rücken, und er versuchte, im Laufen seine Krawatte zu lösen. Sein offenes Jackett flatterte.
Als er die verlassene Straße mit den wenigen Häusern fast erreicht hatte, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass ein kleiner Graben zwischen der Baustelle und der Straße lag. Zu breit, um darüberzuspringen, aber es würde zu lange dauern, ihn zu umgehen.
Peter nahm halbherzig Anlauf und wagte den Sprung. Er hätte es fast geschafft, doch dann verlor er das Gleichgewicht und landete bis zu den Hüften im Wasser. Er spürte, wie etwas in sein Schienbein schnitt.
Er kletterte ans Ufer, krempelte das Hosenbein hoch und sah eine große klaffende Wunde; das Blut vermischte sich mit dem wässrigen Schlamm und färbte seine Socke rötlich braun.
Im ersten Haus brannte Licht, aber auf sein Klingeln öffnete niemand. Am nächsten Haus schellte er nicht nur lange, sondern hämmerte auch an die Tür und, als es ihm zu lange dauerte, auch ans Fenster. Im Flur ging das Licht an, und eine Männerstimme fragte, wer da sei.
»Ich … wir müssen die Polizei rufen …«, brachte Peter keuchend und atemlos hervor. »Einen Krankenwagen … Es ist ein Unfall passiert … Jemand ist verletzt, schnell!«
Er lehnte sich nach vorne und stützte sich mit beiden Händen auf den Oberschenkeln ab.
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Peter versuchte, sie weiter aufzudrücken, aber eine Kette hinderte ihn daran. Erschrocken schlug der Bewohner die Tür wieder zu.
Peter erkannte, dass er nicht gerade vertrauenerweckend aussah.
»Meneer«, wiederholte er fast schon verzweifelt, »es hat einen Unfall gegeben. Ich bin über das Feld gerannt und im Graben gelandet. Hinten auf der Baustelle ist jemand niedergeschlagen worden. Er braucht dringend medizinische Hilfe.«
Jetzt wurde die Tür wieder geöffnet, diesmal ganz. Der Mann, etwa Mitte fünfzig, Schnäuzer, trug ein Jackett und ein rot-weißes Halstuch der 3 October Vereeniging um den Hals. Er musterte Peter von Kopf bis Fuß und begriff, dass es ernst war.
»Kommen Sie rein. Sie können gerne das Telefon benutzen. Aber wie sehen Sie denn überhaupt aus!«
Der Mann zeigte auf das Telefon, das auf einem Beistelltisch im Flur stand.
Peter hinterließ schmutzige, nasse Spuren auf dem Holzfußboden.
Er wählte die Notrufnummer und wartete.
Thomas und er hatten sich kürzlich über Telefone unterhalten. Thomas hatte davon geschwärmt, wie praktisch das Feldtelefon war, das ihm auf der Ausgrabungsstätte zur Verfügung stand. Insgeheim nutzte er es auch, um gelegentlich zu Hause anzurufen, zum Beispiel, um Bescheid zu sagen, dass er etwas später nach Hause kam. Er war überzeugt, dass jeder innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre so ein Feldtelefon haben würde. Der große Akku in der Box, den man mit sich herumtragen musste, könnte wahrscheinlich verkleinert werden, und dann wäre er auch für die Allgemeinheit nutzbar.
Peter hatte ihn ausgelacht und gesagt, er könne sich nicht vorstellen, dass ein Gespräch so dringend sei, dass man es auf der Straße führen müsse, wo jeder mithören könne. Und überall auf der Straße gab es doch Telefonzellen, oder?
Aber jetzt musste er Thomas recht geben. Ein eigenes Telefon wäre in diesem Fall ein Geschenk des Himmels gewesen. Vielleicht sogar lebensrettend.
Eine Telefonistin fragte, ob er die Polizei, die Feuerwehr oder einen Krankenwagen benötige.
»Einen Krankenwagen«, rief Peter ins Telefon. »Und die Polizei. Jemand wurde niedergeschlagen, er stirbt vielleicht! Kommen Sie schnell, bitte!«
»Wie lautet die Adresse?«
»Die Adresse?« Peter dachte mit Schrecken, dass es natürlich überhaupt keine Adresse gab. »Es ist in Leiden, auf der Baustelle, wo der neue Stadtteil gebaut wird. Roomburg.«
»Können Sie genauere Angaben machen? Welche Baustelle ist es?«, fragte die Frau mit ruhiger Professionalität, als wäre es ein Rollenspiel, das sie bei einer Bewerbung spielen müsste.
»Sagen Sie Spaarnestraat«, riet der Mann Peter.
»Die Spaarnestraat in Leiden, in der Nähe des Hoge Rijndijk. Ich warte draußen auf der Straße und zeige den Weg.«
»Sehr gut, Meneer. Polizei und Krankenwagen wurden alarmiert. Sie sind auf dem Weg. Ist das Opfer schwer verletzt?«
»Ich weiß nicht, es sieht sehr ernst aus. Aber ich muss jetzt auflegen«, sagte Peter und warf den Hörer auf die Gabel.
Dort, wo er gestanden hatte, hatte sich eine Wasserpfütze gebildet. Der Bewohner starrte sie einen Moment lang an, dann schaute er wieder zu Peter.
»Ist schon gut. Gehen Sie ruhig raus, und warten Sie auf den Krankenwagen. Ich wollte gerade gehen, zur Kirmes.«
Peter sah ihn an und versuchte, freundlich zu lächeln.
»Tja, schade«, begann der Mann wieder.
»Wie bitte?«
»Dass da jetzt gebaut wird. Mir hat das freie Feld vor der Tür immer gefallen. Aber was soll man machen?«
»Ich muss jetzt gehen, danke für Ihre Hilfe.«
Der Mann nickte und ließ ihn raus.
Draußen war es kühl, zumal Peter bis zur Hüfte durchnässt und auch sein Hemd vom inzwischen kalten Schweiß durchfeuchtet war. Er zog seine Jacke enger um sich, aber das half kaum.
In der Ferne hörte er Sirenen. Das ging ja schnell! Die Dreifachsirene des Krankenwagens übertönte fast die Zweifachsirene der Polizei.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er keine Sekunde lang an Judith gedacht hatte.
Er musste sich zwingen, nicht noch einmal über den Graben zu springen und zu ihr zurückzulaufen. Was, wenn der Mann tatsächlich zurückgekommen war? Immerhin war er nicht sofort geflüchtet, sondern hatte sich die Zeit genommen, den Schlüssel aus seinem Auto zu entwenden. Seltsam, dass er es nicht gleich gestohlen hatte.
»Gib ihr Kraft, Gott Israels«, murmelte er.
Der Krankenwagen war inzwischen in die Straße eingebogen. Peter rannte auf die Fahrbahn und fuchtelte wild mit den Armen, bis das Auto direkt vor ihm anhielt. Zwei Streifenwagen waren ebenfalls eingetroffen.
Bevor ein Sanitäter die Tür hatte öffnen können, war Peter zur Seite des Beifahrers gelaufen, der gerade sein Fenster herunterließ.
»Es ist nicht hier!«, rief er. »Es ist auf der Baustelle, ich zeige Ihnen den Weg.«
Der Sanitäter sah ihn etwas irritiert an, stieg dann aber schnell aus. »Setzen Sie sich einfach auf meinen Platz und zeigen Sie meinem Kollegen, wie er fahren muss. Ich setze mich so lange hinten rein.«
Der Sanitäter zog die Seitentür des Krankenwagens auf und stieg ein, sodass Peter vorne seinen Platz einnehmen konnte. Der Fahrer schaltete das Blaulicht wieder ein.
Peter schilderte eilig die Situation.
Glücklicherweise kamen sie schnell voran. Am Rande der Baustelle hielt der Fahrer an, um zu prüfen, ob er über das Feld fahren konnte; er entschied schnell, dass dies offenbar möglich war. Die Streifenwagen folgten ihnen.
Noch bevor der Krankenwagen anhielt, hatte Peter schon die Tür aufgestoßen und war herausgesprungen. Ein stechender Schmerz schoss ihm vom verletzten Schienbein aus durch den ganzen Körper.
Er rannte zum Zelt und öffnete die vordere Klappe, auf das Schlimmste gefasst.
Zum Glück war Judith noch da und anscheinend unverletzt. Sie saß auf dem Boden und hatte die Beine vor sich ausgestreckt. Thomas’ Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Eine moderne Pietà. Ein Fotograf hätte die Beleuchtung nicht dramatischer hinbekommen. Mit einer Hand strich Judith Thomas sanft übers Haar. Kurz verspürte Peter Eifersucht. Er kam sich lächerlich vor.
Sie schaute zu ihm auf, hilflos und mit verweinten Augen. »Seine Atmung ist sehr schwach. Ich weiß nicht, ob er es schafft.«
Die Sanitäter kamen herein und übernahmen.
Vorsichtig hoben sie Thomas’ Kopf an, damit Judith aufstehen konnte. Ein Sanitäter untersuchte den Verletzten, während sein Kollege eine Trage holte. Ganz vorsichtig hoben sie Thomas darauf. Er stöhnte leise.
Judith fiel Peter in die Arme, und er drückte sie fest an sich. So blieben sie einen Moment lang stehen. Er sog den Duft ihrer Haare ein und roch wieder das Parfüm, das ihn selbst in dieser Situation an Sabrina erinnerte. In der Abflughalle des Ben-Gurion-Flughafens hatten sie bestimmt eine Stunde lang eng umschlungen dagestanden, bis er wirklich gehen musste. Der letzte Aufruf zum Einsteigen war bereits erfolgt. Noch ein Kuss, der, wie sich im Nachhinein herausstellte, der allerletzte sein sollte.
Zwei Polizisten traten ein, begleitet von einem älteren Mann mit einem etwas müden Blick. Bemerkenswerterweise trug auch er das rot-weiße Halstuch der 3 October Vereeniging. Hinter ihnen folgte ein jüngerer Mann, der so gespannt um sich blickte, als stünde er auf einer Bühne.
Peter und Judith berichteten kurz, was vorgefallen war. Leider konnten sie den Mann nicht beschreiben, der vor ihren Augen geflüchtet war. Als der ältere Polizist immer wieder nachfragte, bezweifelten sie allmählich sogar, dass es sich tatsächlich um einen Mann gehandelt hatte.
Peter berichtete, dass sein Autoschlüssel gestohlen worden war, und Judith sah ihn erschrocken an.
»Und wie kommen wir dann nach Hause?«, fragte sie.
»Keine Sorge«, beruhigte sie der ältere Polizist. »Wir bringen Sie nach Hause. Aber erst müssen wir die Spurensicherung rufen, obwohl ich befürchte, dass sie nicht viel finden werden; wahrscheinlich sind hier heute zu viele Leute herumgetrampelt. Hoffentlich finden wir Fingerabdrücke auf dem Telefon.«
Er klappte sein Notizbuch zu und legte es beiseite. Sein Kollege war hinausgegangen.
Der Polizist wippte auf den Füßen auf und ab. Dann fiel sein Blick auf die Bronzemaske. Er nahm sie in die Hand, bedachte dann aber wohl, dass auch darauf Fingerabdrücke sein konnten, und legte sie schnell wieder hin. »Ein schönes Stück. Kaum zu glauben, dass der Eindringling es nicht mitgenommen hat!«
Sein Kollege kehrte zurück und sagte Bescheid, dass die SpuSi unterwegs sei. Peter und Judith baten die Kollegen im anderen Wagen, sie nach Hause zu bringen. Die Beamten würden hierbleiben und auf die Ankunft der Kollegen warten.
»Wohin können wir Sie denn bringen?«, fragte einer der Polizisten im Streifenwagen.
»Ich wohne im Groot Sions-Hofje«, sagte Judith, »aber dort kommt man gerade wegen des Stadtfests nicht mit dem Auto hin.« Sie dachte einen Moment nach und deutete auf Peter. »Ich fahre einfach mit zu ihm.« Leise, und nur für ihn hörbar, fügte sie hinzu: »Im Moment möchte ich auch lieber nicht allein sein.«
Er nickte.
»Ich wohne in der Boerhaavelaan«, sagte Peter, »in der Nähe des Leidse Hout. Ich glaube, da kommt man gut hin.«
Sie stiegen hinten in den Streifenwagen ein.
Als sie losfuhren, blickte sich Peter noch einmal um. Auf was für eine absurde Geschichte hatte er sich da eingelassen?
Sie holperten über das Gelände. Im Radio war ein Lokalsender eingestellt. Welche Station würde sonst den Song »3 October« von der Leidener Band Rubberen Robbie spielen?
Judith ließ sich tief in den Sitz sinken und lehnte sich an ihn. Peter dachte erst, es sei aus Müdigkeit, doch dann griff sie in ihre Tasche und holte etwas heraus.
»Außerdem will ich dir das hier zeigen«, flüsterte sie ihm zu. Die Röte war auf ihre Wangen zurückgekehrt.
Auf ihrem Schoß lag ein elfenbeinfarbenes Kästchen.
Fragmente aus dem Tagebuch von Thomas Konijnenberg
Montag,1. Juli1996
Es ist schön, wieder zurück zu sein an dem Ort, der mir so vertraut geworden ist. Ich wurde wie im letzten Jahr für drei Monate von jeglicher Bürokratie befreit, damit ich das tun kann, wofür ich Archäologe geworden bin: meine Füße in den feuchten Lehm stecken. Den Boden Schicht für Schicht abgraben …
Einem Außenstehenden kann man das kaum erklären: die fast zenartige Konzentration, die sich einstellt, wenn man behutsam die Erde oder den Sand abträgt, stets begleitet von der stillen Hoffnung auf einen spektakulären Fund – und die reale Möglichkeit, dass sie sich erfüllt. Die Vorstellung, nach und nach mehr Einblick in das Leben echter Menschen zu bekommen, Menschen aus Fleisch und Blut, die längst zu Staub zerfallen sind, aber einst hier gelebt haben, mit ihren Hoffnungen und Wünschen, ihren Rückschlägen und Sorgen. Werden andere in zweitausend Jahren auf unser Leben schauen und sich fragen, wie es ausgesehen hat?
Für mich ist diese Romantik nie ganz verblasst, obwohl es natürlich nicht besonders aufregend ist, wenn man am Abend nach getaner Arbeit in einem zugigen Zelt steht und mit klammen Händen die Fundstücke des Tages sichtet und bestenfalls einige größere Teile einer Amphore oder eines Tellers gefunden hat.
Aber es geht natürlich nicht nur darum, sondern wir wollen auch die Ausmaße des Castellums bestimmen und die Funktionen der verschiedenen Räume entschlüsseln.
Bald wird sich das diesjährige Team zum ersten Mal vollständig versammeln. Einige Mitarbeiter vom letzten Jahr werden wieder dabei sein, aber auch ein paar neue, hauptsächlich Studierende der Archäologie, die Grabungserfahrung sammeln und sich etwas dazuverdienen wollen.
Wir haben bis zur ersten Oktoberwoche Zeit, genauer gesagt bis Freitag, den 4. Oktober. Obwohl ich glaube, dass ich in der letzten Woche nicht mit allzu vielen Leuten rechnen kann. Die Studierenden haben bis dahin wieder Vorlesungen, und viele von ihnen werden lieber in die Stadt gehen, um die Befreiung von Leiden zu feiern. (Angenommen, irgendwann in der Zukunft würden Teile des Riesenrads von unseren Nachfahren gefunden werden, die so etwas nicht kennen. Wofür würden sie es halten? Eine große Maschine, die für Rituale verwendet wurde, bei denen die Eingeweihten auf Stühlen saßen, um den Kreislauf des Lebens zu erfahren?)
Freitag,5. Juli
Die erste Woche ist schon um. Natürlich habe ich im ganzen Körper Muskelkater. Das war zu erwarten. Bald fahre ich gemütlich mit dem Fahrrad nach Hause und dusche, obwohl ich es nie schaffe, den Staub vollständig aus den Poren zu waschen. Und Trauerränder unter den Fingernägeln werden in den nächsten Monaten unvermeidbar sein. Suus zieht mich damit immer auf.
Es ist wieder ein gutes Team, genau wie im letzten Jahr. Diszipliniert, aber nicht zu ernst. Konzentriert und ehrgeizig. Sie kommen sicher gut miteinander aus. Das Paar, das sich hier letztes Jahr kennengelernt hat, feiert diesen Sommer seinen Jahrestag. Freut mich! Wir haben auch einen jungen Deutschen dabei, Hermann. Er wirkt wie ein Einzelgänger. Er beteiligt sich zwar an Gesprächen, scheint aber keinen richtigen Anschluss zu finden. Nach dem Sieg der deutschen Mannschaft im Europapokalfinale am vergangenen Sonntag hat er ein bisschen angegeben, aber auch das wirkte irgendwie aufgesetzt.
Freitag,12. Juli
Ich habe gerade den Geschäftsbericht für diese Woche fertiggestellt; jetzt bleibt mir noch Zeit für ein paar persönliche Notizen, bevor wir unseren Freitagsumtrunk veranstalten und ich nach Hause fahre. Da wir uns dieses Jahr, wie auch schon im letzten, auf das Dorf neben dem Armeelager konzentrieren, finden wir auch Gebrauchsgegenstände von Nicht-Römern, die dort gelebt haben. Es muss eine bunte Mischung von Händlern und Handwerkern gewesen sein; wir finden auch Objekte, die eindeutig nicht aus dieser Gegend stammen, wie Glas, Haarnadeln und Perlen.
Donnerstag,25. Juli
Heute war ein ganz besonderer Tag: Wir sind auf einen Friedhof gestoßen, direkt vor dem Gebiet, auf dem das Dorf gelegen haben muss. Offiziell befinden sich die letzten Ruhestätten außerhalb des Bereichs, für den wir eine Grabungserlaubnis haben, aber ich glaube, ich kann das vor dem Komitee rechtfertigen.
Alle Klischees über die Aufregung, die man bei der Vorstellung, etwas Großes zu finden, empfindet, treffen zu: der trockene Mund, der Ton, der einem im Hals stecken bleibt, der angenehme Druck auf der Brust …
Bestimmt haben alle mir meine Aufregung angesehen, und doch hat niemand den wahren Grund für meine Begeisterung erahnt.
Mit Peter habe ich schon mehrmals über meine Theorien gesprochen, die ihn stets amüsieren. Wie ein echter Wissenschaftler kommt er dann mit sämtlichen Einwänden, die man dagegen vorbringen kann, aber selbst er musste irgendwann zugeben, dass da vielleicht doch etwas dran ist.
Ich werde das Gelände außerhalb der offiziellen Zeiten allein erkunden. Suus ist es gewohnt, ich weiß schon, wie sie mich anschauen wird, wenn ich ihr erzähle, dass ich auch die Wochenenden auf der Ausgrabungsstelle verbringen möchte: den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen ein wenig zusammengekniffen, lächelnd. Bis sie zwinkert, um mir zu bedeuten, dass sie einverstanden ist.
Sonntag,25. August
Hermann, der Deutsche, fängt an, mich zu nerven. Er ist mir inzwischen mehr im Weg, als dass er mir nützt. Heute hat er sich schon wieder unaufgefordert zu mir gesellt, deshalb musste ich verheimlichen, wonach ich wirklich suchte. Gemeinsam haben wir einige Routinearbeiten erledigt, die am Freitag liegen geblieben waren, wie das Abspülen der Fundstücke der letzten Woche. Natürlich hätte ich das lieber morgen gemacht. Ich habe schon häufiger durch seine spontane Hilfe wertvolle Zeit verloren.
Montag,2. September
Jetzt, wo die Studierenden alle in ihre Hörsäle zurückgekehrt sind, ist es viel ruhiger. Nur Jantien, Theo, Ronald und ich sind noch da – und Hermann, der offenbar keine anderen Verpflichtungen hat.
Nur noch ein Monat, dann ist Schluss für dieses Jahr. Nächstes Jahr bekommen wir noch einmal eine Grabungserlaubnis, aber ich habe das Gefühl, dass ich noch nie so nah dran war … Außerdem ist mir das Gerücht zu Ohren gekommen, dass unsere Arbeiten auf dem Friedhof dieses Jahr noch vom Komitee geduldet werden, nächstes Jahr aber nicht mehr. Also heißt es: Jetzt oder nie!
Angenommen, ich würde tatsächlich sein Grab finden! Ein Teil der biblischen Geschichte müsste neu geschrieben werden. Wie wird die katholische Kirche reagieren? Was bleibt vom Mandat des Papstes, das ihm der Überlieferung nach von Petrus erteilt wurde? Gilt nicht jeder Papst als direkter Nachfolger Petri, auf dessen Grab der Petersdom in Rom erbaut wurde?
Freitag,27. September
Meine Frustration und Unruhe nehmen allmählich epische Ausmaße an.
Noch eine Woche, dann schließen wir die Grabungssaison ab. In den letzten Tagen haben wir schon mit dem Abbau begonnen.
Genau wie an den beiden letzten Wochenenden werde ich hier übernachten. Wenn es sein muss, mit einer Taschenlampe, bis zur letzten Minute. Ist nicht auch Carter auf das Grab des Tutanchamun gestoßen, kurz bevor er nach England zurückkehren sollte?
Sonntag,29. September
Müdigkeit und Aufregung spielen meiner Fantasie manchmal Streiche, glaube ich. Ständig fühle ich mich beobachtet. Verliere ich etwa den Verstand? Letzte Nacht, als ich mich auf dem unbequemen Feldbett unruhig hin und her wälzte, träumte ich von einer christusähnlichen Gestalt, die zu mir sprach: »Thomas, Thomas, warum verfolgst du mich?«
Mittwoch,2. Oktober
Große Aufregung, Theo hat eine Visiermaske gefunden, in sehr gutem Zustand! Wirklich ein großartiger Fund! Dennoch konnte ich meine Enttäuschung kaum verbergen.
Wir haben den Champagner aufgemacht, den wir eigentlich erst am Freitag trinken wollten. Aber abgesehen von meinem Frust ist dies wahrscheinlich der schönste Fund von allen, die hier bei den Ausgrabungen in Roomburg gemacht wurden. Ein echtes Prunkstück für das Rijksmuseum van Oudheden; ich sehe die Maske schon hübsch angestrahlt in einer Vitrine stehen.
Heute Nachmittag, wenn alle nach Hause gegangen sind, werde ich einen letzten Versuch unternehmen.
17:30 Uhr – Ich könnte fast religiös werden … Mir fehlen die Worte! Am letzten Tag, ich allein bei der Ausgrabung. Ich bin zum Friedhof gegangen, wo wir wahllos Löcher ausgehoben haben, in der Hoffnung, etwas zu finden. Viele menschliche Knochenstücke, Keramikscherben – wahrscheinlich Grabbeigaben –, aber keine spektakulären Entdeckungen wie ein Schwert oder ein Helm. Wahrscheinlich wurde hier das einfache Volk begraben.
Wider besseres Wissen bin ich mit einem langen, spitzen Stock zur Baustelle zurückgekehrt, mit dem ich in den Boden stieß, um zu testen, ob ich irgendwo Widerstand spürte. Eine primitive, aber nachweislich effektive Methode.
Ich habe den größten Teil des Morgens damit verbracht, erfolglos in den Erdwänden der von uns ausgehobenen Gruben herumzustochern. Und gerade als ich aufgeben wollte und die Spitze des Stocks in die Erde stieß, traf er auf etwas Hartes. Ich stocherte noch etwas weiter: gleiches Ergebnis. Nun tastete ich mich höher und tiefer und konnte bald das Ausmaß dessen abschätzen, was da verborgen war.
Es könnte sich natürlich um einen großen Stein handeln, war aber nicht sehr wahrscheinlich. Dafür schienen die Abmessungen zu regelmäßig zu sein.
Ich versuchte, die Erde mit den Händen wegzuscharren, aber in dem lehmigen Boden hatte es keinen Sinn. Ich lief zurück zum großen Zelt, um eine Schaufel, einen kleinen Spaten und den Feldwagen zu holen. Plötzlich überkam mich die Angst, jemand anderes könnte mir zuvorkommen – was natürlich Unsinn war, denn außer mir war niemand mehr auf dem Gelände.
Nachdem ich die Sachen zusammengepackt hatte, eilte ich zurück und fand die Stelle unverändert vor: den Stock neben der Grube und die Löcher in der Wand, die darauf hinwiesen, dass das, was dort versteckt war, etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter lang und etwa vierzig Zentimeter hoch war.
Mit der Schaufel entfernte ich die oberste Erdschicht und fand tatsächlich ein rechteckiges Stück Stein, das wie ein Deckel aussah. Nachdem ich die genaue Größe bestimmt hatte, konnte ich mit einer kleinen Schaufel die Ränder freilegen. Schließlich hatte ich mich so weit vorgearbeitet, dass ich den Gegenstand als Ossuar erkannte, ein Knochenkasten; ein Steinsarg, in dem Angehörige ein Jahr nach der Bestattung die Knochen des Verstorbenen sammelten. Der hier Bestattete musste einen Begleiter gehabt haben, der sich darum gekümmert hatte.
Mit einiger Mühe gelang es mir, den Kasten aus der Erde zu ziehen, die ihn nicht freigeben wollte, nachdem sie ihn fast zweitausend Jahre lang bewahrt hatte. Ich konnte keine Inschriften entdecken, aber natürlich waren die Seiten noch schmutzig. Als ich meinen Fund auf den Feldwagen legte, bekam ich plötzlich einen Weinkrampf. Ob aus Erleichterung oder Nervosität, weiß ich nicht.
Es war ziemlich mühsam, den Wagen mit dem Kasten über das unebene Gelände zurück zum Zelt zu schieben. Es war helllichter Tag, jeder hätte mich sehen können! Ich betete und hoffte, dass niemand vorbeikam. Es kann nicht länger als zehn oder fünfzehn Minuten gedauert haben, bis ich den sicheren Schutz des Zeltes erreicht hatte, aber es fühlte sich an, als wäre ich stundenlang unterwegs gewesen. Mein Rücken war schweißnass, und ich keuchte vor Anstrengung.
Ich schnappte mir einen Eimer Wasser und begann, den Knochenkasten zu schrubben, erst mit einer harten, dann mit einer weicheren Bürste. Ich arbeitete langsam und versuchte, mich zu beruhigen und auf eine mögliche Enttäuschung vorzubereiten. Nachdem ich eine Längsseite des Kastens so gut wie möglich gereinigt hatte, begann ich auf der anderen Seite und entdeckte bald etwas, das wie eine Inschrift aussah. Nun ließ ich alle Vorsicht fahren und entfernte eiligst den Schmutz, der sich im Laufe der Jahrhunderte darauf festgesetzt hatte.
Ich glaube nicht, dass ich jemals meine Gefühle beschreiben kann, als ich die ersten Buchstaben der Inschrift sah, offenbar von einer ungeübten Hand gemeißelt. Plötzlich bedauerte ich, dass niemand sonst Zeuge dieses Moments wurde. What do you see, Mr Konijnenberg?, hätte diese Person gefragt, als sie mein erstauntes Gesicht sah. Wonderful things, hätte ich gestammelt – genau wie Carter damals.
Der Kasten stand vor mir, teils noch voller Erde, aber an der Stelle der Inschrift sauber geschrubbt, sodass der Effekt besonders dramatisch war. Es war, als ob dieser Teil besonders hervorgehoben würde. Sogar ein Griechisch-Schüler, der gerade das griechische Alphabet beherrschte, hätte die Buchstaben mit Leichtigkeit entziffern können:
ΠΕΤΡΟΣΚΕΦΑΣ
Petros Kephas!
Ich werde Peter anrufen. Und auch Hoogers. Ihm erzähle ich von der Visiermaske. Er wäre beleidigt, wenn er später erfahren würde, dass er nicht zu den Ersten gehörte, die informiert wurden, und ich möchte mein gutes Verhältnis zu ihm nicht gefährden.
Ungläubig starrte Peter das Kästchen und dann Judith an. Sie steckte es in ihre Tasche und schaute geradeaus, entweder vor Scham oder vor Aufregung, er konnte es nicht sagen.
Das Kästchen war etwa fünfundzwanzig mal zwanzig Zentimeter groß und ungefähr fünf Zentimeter hoch. Peter konnte nicht gleich ein Ober- oder Unterteil erkennen, und auf den ersten Blick fiel ihm auch keine Naht auf. Es schien hermetisch versiegelt zu sein und glich einer auf Hochglanz polierten, rechteckigen dicken Fliese.
Er unterdrückte einen plötzlichen Anflug von Ärger. Unmöglich, einfach ein Artefakt zu entwenden, das bei einer Ausgrabung gefunden worden war! Das verstieß gegen sämtliche Regeln der Archäologie und des Anstands. Wie viele wertvolle Funde waren bereits verloren gegangen, weil sie unterschlagen und auf dem Schwarzmarkt zum Kauf angeboten worden waren?
Sie sprachen kein Wort während der Fahrt. Sie kamen schnell voran, weil die Beamten auf einem großen Teil der Strecke die Busspur benutzten. So umgingen sie den langen Stau der Autos, die in die Stadt drängten, und erreichten nach kurzer Zeit die Boerhaavelaan. Der Streifenwagen hielt vor dem Haus, in dem sich Peters Wohnung befand, einem niedrigen, dreistöckigen Wohnhaus, das ein Viertel der Boerhaavelaan einnahm. Der gesamte Komplex gehörte der Universität; von daher waren alle Bewohner auf die eine oder andere Weise mit der Universität verbunden.
Peter wollte aussteigen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Einer der Beamten schaute nach hinten und sagte: »Kindersicherung.«
Der Beamte stieg aus und öffnete erst für Judith, dann für Peter die Tür. Peter entschuldigte sich für den nassen Fleck, den er auf dem Sitz hinterlassen hatte, doch der Beamte winkte ab.
»Mein Kollege hat Ihre Personalien bereits aufgenommen, oder?«
»Ja«, antwortete Peter. Er war plötzlich furchtbar müde. »Morgen muss ich sowieso aufs Revier, um den Diebstahl meines Autoschlüssels zu melden. Aber um ehrlich zu sein, habe ich dafür gerade keinen Kopf.«
»Das kann ich mir vorstellen. Heute Abend ist die Wache auch nur minimal besetzt, wir brauchen alle Einsatzkräfte in der Stadt. Am 2. Oktober geht’s manchmal heiß her.« Es klang fast so, als freute er sich darauf. Dann stieg er wieder ins Auto, und sie fuhren los.
Man hörte den Lärm vom Festplatz aus bis hierher; sie waren nur drei- oder vierhundert Meter Luftlinie davon entfernt. Peter sah auf; in keiner der Wohnungen brannte Licht. Offenbar waren alle ausgegangen.
Etwas unbeholfen fischte Peter den Hausschlüssel aus seiner nassen Hose und schloss die Haustür auf. Im Flur sah er aus Gewohnheit in den Briefkasten und holte das NRCHandelsblad und die Post heraus. Kurz vor der Treppe blieb er abrupt stehen, sodass Judith fast gegen ihn stieß. Er drehte sich um.
»Du hättest das Kästchen nicht mitnehmen dürfen, Judith. Man darf sowieso keine Ausgrabungsgegenstände an sich nehmen, aber in diesem Fall wurde auch noch ein Verbrechen begangen, und es könnte ein Beweismittel sein. Ich wollte eben im Streifenwagen nicht mit dir diskutieren, aber gleich gehen wir zusammen zur Polizeiwache und bringen es zurück.«
Judith seufzte und versuchte ein Lächeln.
»Ich verstehe, dass du sauer bist, Peter, aber ich war nicht ganz ehrlich zu dir. Ich konnte es eben nur nicht sagen, weil ich Angst hatte, dass die Beamten es hören würden.«
»Was ist denn?«
»Kurz bevor du zurückgekehrt bist, ist Thomas für kurze Zeit zu sich gekommen. Er hat den Arm gehoben, obwohl es schrecklich anstrengend für ihn zu sein schien, und nach oben auf das Zeltdach gedeutet. Dabei hat er die ganze Zeit auf einen bestimmten Punkt gestarrt. Als ich auf einen Tisch geklettert bin, um nachzusehen, was dort sein könnte, hat er die Augen wieder zugemacht und den Arm abgelegt. Es sah ganz so aus, als hätte es ihn beruhigt, dass ich seine Zeichen richtig gedeutet hatte. Ich habe auf dem Zeltgestänge herumgetastet und dieses Kästchen gefunden, Peter. Es lag auf der Latte unter dem Zeltdach. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte sofort den Verdacht, dass es etwas mit dem Überfall zu tun haben könnte. Dass Thomas es gerade noch geschafft hatte, es vor dem Einbrecher zu verstecken. Als ich den Krankenwagen kommen hörte, habe ich mich erschrocken und das Kästchen ohne lange zu überlegen in meine Tasche gesteckt. Dann habe ich gehört, wie du mich gerufen hast, und war sehr erleichtert. Ich habe mich wieder auf den Boden gesetzt und Thomas’ Kopf auf meinen Schoß gelegt. Dann bist du auch schon mit den Sanitätern und der Polizei hereingekommen. Ich fand es besser, dir erst später von dem Kästchen zu erzählen.«