Die Pforte der Schatten - Harry Connolly - E-Book

Die Pforte der Schatten E-Book

Harry Connolly

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Beschreibung

Es sollte ein Tag der Hoffnung werden – es wurde ein Tag der Vernichtung

Das Reich von Peredain verdankt seine Macht dem mystischen Abendvolk. Alle 23 Jahre öffnet sich ein Tor, und der Imperator von Peredain lädt die Gesandten des Abendvolks zu einem Fest ein. Als Dank erhält er eine Gabe der Magie oder überlegenes Wissen, mit dessen Hilfe die Familie des Imperators ihr Reich errichtet hat. Doch dieses Jahr tritt nicht das elfengleiche Abendvolk aus dem Tor, sondern riesige Bestien, die sich sofort auf die Anwesenden stürzen. Nur Kronprinz Lar und einige seiner Freunde können dem Gemetzel entkommen. Können sie verhindern, dass das Imperium zerbricht, und die Invasion aufhalten?

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Buch

Das Reich von Peredain verdankt seine Macht dem mystischen Abendvolk. Alle 23 Jahre öffnet sich ein Tor, und Peredain lädt die Gesandten des Abendvolks zu einem Fest ein. Als Dank erhält der Imperator eine Gabe. Dabei kann es sich um Magie oder überlegenes Wissen handeln, mit dessen Hilfe das Volk von Peredain ein Imperium errichtet hat.

Dieses Jahr ist es wieder so weit. Die kaiserliche Familie und ihr Gefolge bereiten sich darauf vor, die Gäste zu empfangen. Das Tor öffnet sich. Doch heraus kommt nicht das elfengleiche Abendvolk, sondern riesige Bestien, die sich sofort auf die Anwesenden stürzen. Nur Kronprinz Lar und einige seiner Freunde können dem Gemetzel entkommen. Für Lar ist es nun die dringlichste Aufgabe, das Reich und die Bewohner zu retten. Doch viele der Mächtigen sehen die Invasion der Bestien als Chance, die Herrschaft von Peredain abzuschütteln. Plötzlich sieht sich Lar nicht nur der Bedrohung durch die Ungeheuer gegenüber, sondern Verrat aus den eigenen Reihen. Kann er seinen Freunden – den Söhnen und Töchtern der mächtigsten Fürsten – noch trauen?

HARRY CONNOLLY

DIE PFORTE DER

SCHATEN

BANDEINSDER TRILOGIE

DER STRAHLENDE WEG

Aus dem Englischen

von Michaela Link

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Way into Chaos (The Great Way 1)« im Selbstverlag.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2016

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Harry Connolly

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft

Redaktion: Alexander Groß

HK · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-18033-1V001

www.blanvalet.de

Karte: Kontinent Karl-Maddum

Für Lloyd Alexander,

der mich erst zu einem Fantasyleser gemacht hat.

KAPITEL 1

Ohne seine Rüstung kam sich Tyr Tejohn Treygar vor, als sei er in Ungnade gefallen. Ein lächerlicher Gedanke natürlich – zur Festspielzeit war durch königlichen Erlass das Anlegen von Rüstungen verboten, selbst für die Wachen an den Toren. Trotzdem war es für ihn ein eigenartiges Gefühl, als er nun in den weichen, pantoffelähnlichen Schuhen, die Laoni ihm gekauft hatte, in der morgendlichen Kühle auf die Promenade vor dem Palast von Sang und Morgen hinaustrat. Mit Schritten so leise wie die eines Taschendiebs.

Die Königin wollte ihn sprechen. Wieder einmal. Tejohn war nicht offiziell zu einer Audienz vor den Thron geladen worden, und das würde er auch nicht. Doch die Königin war keine Frau, die je irgendetwas auf sich beruhen ließ. Und er würde sich auch nicht vor ihr verstecken – niemals.

Das hieß jedoch nicht, dass er in seinen Gemächern auf sie warten müsste. Und man würde ihren Dienern wohl kaum einen Vorwurf machen können, wenn sie nicht auf die Idee kamen, zu dieser frühen Stunde ausgerechnet am einsamen Nordende der Promenade nach ihm zu suchen.

Sie fand ihn natürlich trotzdem.

»Mein Tyr Treygar«, begrüßte sie ihn schon von Weitem, ihre Gefolgsleute wie eine keilförmige Schleppe im Kielwasser. »Nur in Hemd und Wams – Ihr müsst gewiss frieren hier draußen.«

Er verneigte sich. »Ich bin keine andere als die militärische Tracht gewohnt, meine Königin, geschweige denn Festspielkleider. Also werde ich mich mit Sicherheit wohler fühlen, wenn die Sonne für ein Weilchen am Himmel gestanden hat.«

Sie sah missbilligend zu den grauen Wolken empor. Es hatte während der Nacht genieselt, und bald würde es wieder richtig regnen. »Der Morgen in der Morgenstadt. Beim Großen Weg, was freue ich mich auf den Sommer.« Sie trat neben ihn an die Mauer und sah in die Ferne hinaus, genau wie er es eben getan hatte. Ihr eigenes Wams bestand aus tiefrotem Tuch, das mit goldenen Fäden durchwirkt war. Nicht die neueste Mode, so sein Eindruck, aber trotzdem wunderschön. Während der Festspiele trug selbst die Königin Gewänder mit Taschen. »Es wird wunderbar sein, ein paar Tage Sonnenschein zu haben. Die Berge sind am Morgen so herrlich, wenn wir sie sehen können.«

Die Südliche Barriere – die nördlich der Stadt lag, diesen Namen jedoch trug, weil es einen zweiten Gebirgszug gab, der sich noch weiter im Norden befand – war manchmal im Morgennebel sichtbar. Zumindest hatte man das Tejohn erzählt. Er war zu kurzsichtig, um auch nur die strohgedeckten Dächer der Stadt jenseits der Mauern unterscheiden zu können. Nicht, dass derlei Dinge für ihn von Belang gewesen wären.

Die Königin sah ihn von der Seite mit einem durchtriebenen Lächeln an. Königin Amlian Italga war keine schöne Frau, aber sie war intelligent, schlau (was nicht das Gleiche war, wie Tejohn vor langer Zeit begriffen hatte) und unnachgiebig. Wenn sie etwas haben wollte, gab sie nicht auf, bis es ihr gehörte. Der König mochte sich in so mancher Hinsicht eher als ein Dummkopf erwiesen haben, aber er hatte die schönsten Frauen des Reiches übergangen, um sie zu seiner zweiten Königin zu erwählen. Es war die weiseste Entscheidung, die er je getroffen hatte.

»Habt Ihr über meinen Vorschlag nachgedacht, Tejohn?«

Er verneigte sich abermals. Es war immer gut, sich zu verneigen, wenn man im Begriff stand, ein Mitglied der königlichen Familie zu enttäuschen. »Ich habe über kaum etwas anderes nachgedacht, aber ich kann es nicht tun.« Ihr Blick verfinsterte sich, doch unterbrach sie ihn nicht. »Es ist nicht so, dass ich halsstarrig wäre, meine Königin. Ich habe mich über viele Stunden mit der Sache beschäftigt, aber es übersteigt einfach meine Möglichkeiten.«

Die Königin verzog den Mund, als richte sie das Wort an ein starrköpfiges Kind, ungeachtet der Tatsache, dass Tejohn drei Jahre älter war als sie. »Es übersteigt Eure Möglichkeiten? Ich glaube, wir wissen beide, dass das nicht wahr ist.« Mit einer trägen Drehung ihres Handgelenks deutete sie auf den Himmelswagen, der in westlicher Richtung über die Stadt flog und dabei Fähnchen hinter sich herwehen ließ.

Tejohn richtete seinen Blick auf den Wagen, als sei die Handbewegung der Königin ein Befehl gewesen. Es war ein großer, viereckiger Holzwagen mit Speichenrädern. Über dem Wagen waren die beiden obsidianschwarzen Scheiben angebracht, die ihn vom Boden hoben und in der Luft schweben ließen.

Der metallene Panzer der Unterseite war natürlich entfernt worden, ebenso wie die Reihen von Schilden an den Seiten. Die Halter für die Fässer, aus denen man brennendes Öl in die Festungen und Lager des Feindes gießen konnte, waren jetzt nur mit bunten Fähnchen bestückt. Auch dieser Wagen war seiner Waffen und seiner Rüstung beraubt worden und bot einen nicht weniger seltsamen Anblick als vermutlich Tejohn selbst.

Alles Kriegerische im Erscheinungsbild des Landes war während der Festspiele verboten. Das Abendvolk glaubte nicht an Eroberung und Unterwerfung.

Tejohn seufzte. Das Geschenk, dem das Reich die Wagen verdankte – und damit einen gewaltigen Vorteil bei den Kämpfen an den Grenzen –, gab es nur seinetwegen und wegen des Liedes, das er geschrieben hatte. Und niemand würde ihn das je vergessen lassen.

»Ich war damals noch ein junger Mann«, sagte Tejohn leise, »und meine Trauer war frisch. Nun bin ich alt. Ich habe wieder eine Frau und Kinder. Ich darf mein Heim wieder glücklich nennen.«

Die Königin rümpfte die Nase. »Nun ja, daraus lässt sich wohl kaum ein besonders bewegendes Lied machen.« Tejohn fühlte sich versucht, ihr zu widersprechen, aber natürlich tat er es nicht. »Aber so alt seid Ihr gar nicht. Die Leute vom Abendvolk werden zehn Tage lang hier sein. Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr wirklich keine Fortsetzung schreiben könnt? Oder wenigstens einfach dasselbe Lied noch einmal vortragen?«

Es waren Jahre vergangen, seit die Bilder der Leichen seiner ersten Frau und seines Sohnes Tejohn das letzte Mal heimgesucht hatten. Mit ihnen war damals der vertraute Drang in ihm aufgestiegen, nach seinem Speer zu greifen und zu töten. »Ich könnte mich diesem Schmerz nicht noch einmal stellen, und Ihr solltet es auch nicht von mir verlangen.«

Wenn die Abfuhr sie kränkte, ließ die Königin es sich nicht anmerken. Sie drückte kurz seine Hand, dann trat sie einen Schritt zurück. »Ihr müsst Euren Schmerz sehr tief empfinden, dass Ihr so zu mir sprecht. Tejohn, mein Freund, bitte, nehmt meine Entschuldigung an. Ihr seid, beim gütigen Sang, immer gut zu Ellifer und mir gewesen und auch zu Lar – nicht, dass er es verdient hätte. Wir haben noch andere Sänger und Dichter; der König und ich werden uns damit zufriedengeben müssen, dass auch weniger bedeutende magische Errungenschaften Teil unseres Vermächtnisses sein werden. Werden sich Laoni und die Kleinen zu uns gesellen?«

»Laoni hat Teberr und die Zwillinge mit nach Ostfurt genommen zu einem Besuch bei ihren Vettern und Cousinen. Sie sind noch so klein …«

Seine Worte konnten die Königin nicht täuschen, aber sie sagte nichts dazu. »Ich gehe jetzt besser wieder. Es gibt noch viel zu tun. Tejohn, nachdem das Abendvolk in seine Heimat zurückgekehrt ist, wird es in der Stadt mindestens einen Monat lang hoch hergehen, und wir erwarten, dass die Gelehrten sich dann über ein neues Geschenk die Köpfe heißreden können … Ich glaube, ich muss einige Nachrichten nach Ostfurt schicken. Wärt Ihr bereit, sie für mich zu überbringen? Und dort einen Monat auf die Antworten zu warten? Lar ist jetzt erwachsen; ich bin mir sicher, er kann in der Trainingshalle für eine Weile auch ohne Euch üben.«

Wenn er das nur machen würde. Aber es war nicht notwendig, es auszusprechen. Sowohl Tejohn als auch die Königin wollten, dass der Prinz seine Energien wieder mehr auf die Vervollkommnung seiner Kampfkünste konzentrierte statt auf seine … anderen Beschäftigungen. »Ich danke Euch, meine Königin«, erklärte Tejohn. »Das würde mir sehr zusagen. Vielen Dank.«

Königin Amlian lächelte und wandte sich zum Gehen. »Sorgt einfach dafür, dass Lar heute an seinem Platz ist. Und nüchtern. Er plant doch nicht etwa, ein zotiges Lied zu singen, oder? Irgendwer hat mir da was zugetragen.«

»Wenn dem so ist, werde ich mein Bestes tun, ihn davon abzubringen.« Tejohn empfahl sich. Der kühle Nieselregen machte sich immer unangenehmer bemerkbar, und Tejohn kehrte in sein Zimmer zurück, um den langen schwarzen Rock anzuziehen, den seine Frau für ihn genäht hatte. Die ganze Stadt würde heute leuchtende Rot- und Gelbtöne tragen – wer immer wohlhabend genug war, sogar Blautöne –, aber für den Mann, der »Ein Fluss tritt über die Ufer« geschrieben hatte, fand Laoni etwas Ernstes passender.

Danach legte er seine Armschienen aus polierter Bronze an. Das Gewicht des Metalls an seinen Unterarmen zu spüren war beruhigend.

Tejohn hatte soeben der Königin eine Bitte abgeschlagen. Sie hätte ihn auf hundert verschiedene Weisen bestrafen können, sie hätte ihm seinen Ehrentitel aberkennen können, aber sie hatte ihm stattdessen eine Freundlichkeit erwiesen. Sie verstand. Dankbar bin ich, dass ich den Weg beschreiten darf.

Am Ende der letzten Festspiele hatte der Anführer des Abendvolks Tejohn mit seinen schrecklichen goldenen Augen angestarrt, als wolle er dessen Seele mit sich nach Hause nehmen. Als hätte er nicht ohnehin schon zu viel genommen. Wir werden uns wiedersehen, hatte Co gesagt. Seitdem graute Tejohn vor diesem Moment.

Tejohn eilte durch den Palast. Es spielte keine Rolle. Falls Co hoffte, sich weiter an Tejohns Trauer weiden zu können, stand ihm eine Enttäuschung bevor, wenn er von dem schlichten, anständigen Leben erfuhr, das der Soldat in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren geführt hatte. Und Tejohn war darauf eingestellt, sein Vergnügen über diese Enttäuschung sehr sorgfältig zu verbergen.

Lar sollte ihn zu seiner Übungsstunde in der Trainingshalle erwarten, glänzte aber wieder einmal durch Abwesenheit. Der Prinz fand immer häufiger Ausreden, um Tejohns Schwert- und Speerunterricht zu vermeiden, sodass es – nicht zum ersten Mal – an der Zeit war, die Angelegenheit vor den König zu bringen.

Ebenso vorhersehbar, wie Lar fehlte, war Colchua Freibrunn in der Trainingshalle zugegen – zusammen mit Timush, dem jungen Bendertuk. Tejohn hatte zwar nichts unversucht gelassen, die beiden aber dennoch nicht abhalten können, sich ständig heimlich Zugang zur Trainingshalle zu verschaffen. Und irgendwann hatte Lar seinen Vater dann überredet, ihnen auch offiziell Zutritt zu gewähren. Der erste Tag, an dem Tejohn gezwungen gewesen war, einen Freibrunn und einen Bendertuk im Waffengebrauch zu unterweisen, hatte ihn fast an den Rand des Hochverrats gebracht, aber er hatte seine Pflicht erfüllt.

Die jungen Burschen hielten in ihren Übungen inne, um sich förmlich vor ihm zu verneigen und ihm den Respekt zu erweisen, den jeder Schüler seinem Lehrer schuldete. Er erwiderte den Gruß mit einem gleichgültigen Nicken und ging wieder hinaus.

Wenn Lar nicht in der Trainingshalle war, war er entweder noch im Bett – und betrunken –, oder er spielte oben im Gelehrtenturm seine magischen Spielchen.

Tejohn schritt durch den winzigen Garten am Südtor zum Südturm hinüber. Nicht, dass der Garten wirklich noch ein Garten gewesen wäre. Es waren lange Zeit so viele Menschen hindurchgegangen, dass von dem früheren Gras nur noch ein paar hässliche Flecken hier und dort geblieben waren. Das wiederum hatte den alten König Ghrund so sehr gestört, dass er die ganze Fläche mit einem von seinen Gelehrten geschaffenen rosafarbenen Granit hatte bedecken lassen. Wohin auch immer Tejohn den Kopf wandte, sah er das gleiche fleckige Rosa, unterbrochen nur von der Dunkelheit der Fenster, der Karren und der Menschen.

Tejohn hatte die Treppe im Gelehrtenturm noch nicht zur Hälfte bewältigt, da schmerzten ihm schon die Knie. Zu viele Schlachten, zu viele Jahre auf der Straße, zu viele Übungskämpfe. Nicht, dass die Heilgelehrten ein Interesse daran zu haben schienen, ihm seine Schmerzen zu nehmen. Aber es sollte nicht mehr allzu lange dauern, bis die Zwillinge alt genug waren, um ihm in der Trainingshalle zur Hand zu gehen, und dann konnte Tejohn ihnen Aufgaben wie diese hier übertragen.

Bis es so weit sein würde, legte er die Hand auf die fleckigen rosa-schwarzen Steinquader – nur aus der Nähe konnte er derlei Details erkennen – und stapfte weiter hinauf.

Schon vom vorletzten Turmgeschoss aus konnte er Lar und seine Freunde durch die geschlossene Tür ihre Zaubersprüche sagen hören.

Tejohn klopfte vernehmlich an. Aus dem Raum ertönte zwei Mal ein Knall wie von einem Wurfspieß, der ein Ziel traf, gefolgt von schwachem Applaus. Ein Moment verstrich, dann erst rief der Prinz: »Herein!«

Tejohn trat ein. Prinz Lar stand in seinem langen Zaubergewand aus grobem weißem Tuch, das an der einen Seite mit einer Reihe seltsamer Symbolzeichen verziert war, mitten im Raum. Neben sich hatte er Cazia Freibrunn. Sie war eine talentierte Schülerin und hatte bereits so ziemlich jeden Zauber erlernt, den ihre Lehrmeister ihr mit ihren fünfzehn Jahren beizubringen gewillt waren. Sie war außerdem ein listiges und geheimnistuerisches Mädchen, das viel zu viel Zeit in der Bibliothek verbrachte. Colchua, ihr älterer Bruder, mochte ein stolzer und verwegener Draufgänger sein, aber nach Tejohns Ansicht war seine kleine Schwester, diese schleicherische Person, förmlich zum Verrat geboren.

Die kleine Jagia Italga, die neunjährige Nichte des Königs, trug ebenfalls ihr langes Gewand, aber sie stand ein ganzes Stück abseits an der Wand. Wahrscheinlich hatte sie diesen Zauber noch nicht gelernt – vermutlich kannte sie überhaupt noch keinen Zauber. Sie war ja noch so jung.

»Mein Tyr Treygar«, sagte der Prinz und strich sich sein langes schwarzes Haar aus dem Gesicht. »Ohne Eure Rüstung hätte ich Euch beinahe nicht erkannt. So seht Ihr ja fast … menschlich aus. Was Eure Größe betrifft, meine ich.«

Die kleine Freibrunn wandte sich ab, um ihr Lachen zu verbergen, aber Pagesh Simblin und Bittler Witt lachten unverhohlen. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie auch diejenigen gewesen, die eben den lauwarmen Applaus gespendet hatten. Beide hatte sie keine besondere Vorliebe für Magie oder überhaupt nur ein Interesse daran, und der junge Witt war in der Trainingshalle ein hoffnungsloser Versager, der kaum mehr tat, als sich über Bauchschmerzen zu beklagen – Schmerzen, die kein Gelehrter zu lindern vermochte.

Was er von dem anderen Mädchen, Pagesh Simblin, halten sollte, wusste Tejohn nicht. Man konnte sie inzwischen schon eine Frau nennen, da sie älter war als der Prinz. Sie hatte jedoch keinerlei Interesse an Magie oder an einer Heirat oder überhaupt an irgendetwas, von dem er wüsste.

Nicht, dass Doktor Zweifloss nicht versucht hätte, sie alle zu unterrichten, wie es der Prinz wünschte und der nachsichtige König gestattete. Zweifloss war er ein besserer Lehrer als Tejohn – mehr als einmal hatte der Waffenmeister sich die Blöße gegeben, den alten Gelehrten um Rat in diesen Dingen zu bitten. Aber auch ein guter Lehrer kann mit einem unwilligen Schüler nicht mehr anfangen als ein Schmied mit einem gebrannten Tontopf.

Aus alter Gewohnheit überzeugte sich Tejohn davon, dass Doktor Zweifloss’ Wangen trocken waren. Natürlich waren sie das. Der alte Lehrer war der einzige Gelehrte, dem – in Maßen – zu vertrauen sich Tejohn hatte durchringen können.

»Bitte entschuldigt, mein Tyr Treygar«, sagte Lar sofort. Auf seinem Gesicht lag ein schelmisches Lächeln, das in einem Alter von zwölf bezaubernd gewesen war, aber bei einem Mann von siebzehn Jahren in Tejohn lediglich den Wunsch weckte, ihn zu Boden zu strecken. »Der Scherz ist mir nur so herausgerutscht.«

Der Prinz war ein schlechter Lügner. »Mein Prinz, Ihr versäumt Eure Übungsstunde in der Trainingshalle.«

»Seht Ihr?«, fragte ihn Lar und deutete mit der Hand. Ein Dutzend mit Tuch bespannter Reifen war mit eisernen Wurfspießen von fast dreißig Zentimetern Länge an die Wand geheftet worden. Es war der Lieblingszauber des Prinzen. »Ich finde, Caz und ich werden allmählich wirklich gefährlich.« Er wandte sich der kleinen Freibrunn zu. »Findest du nicht auch?«

Sie blickte strahlend zu ihm auf. »Wir gehen jetzt zumindest als Belästigung durch.«

»Oh, eine Belästigung bin ich schon seit Jahren«, erwiderte Lar, und die jungen Leute lachten abermals. Sie lachten immer, selbst wenn die Witze nicht komisch waren. Tejohn wünschte, er hätte selbst etwas von diesem unbefangenen Charme.

Er sah zu der Wand mit den Zielscheiben hinüber. Die Bänder am hinteren Ende eines jeden Wurfspießes waren leuchtend bunt, beinahe so, als seien sie speziell für die Festspiele angefertigt worden. Diese Wurfspieße, die der Prinz – und andere Gelehrte – einsetzten, waren schwerer als Pfeile und, je nach Talent und gesundem Verstand des Zauberers, tödlicher als alles, was sich von einem Bogen abfeuern ließ. Aber Pfeile hatten einen Vorteil, den kein Wurfspieß jemals haben würde: Es waren Soldaten, die mit ihnen schossen.

»Seht Ihr?« Der Prinz deutete auf die an die Wand gehefteten Reifen. »Warum sollte ich mich in der Trainingshalle im Duellieren üben, wenn …«

Ohne Vorwarnung stürmte Tejohn los und war mit wenigen langen Schritten bei ihm. Erschrocken hob Lar die Hände zu einem Feuerzauber.

Natürlich hatte der Prinz nicht die Zeit, um ihn zu Ende zu bringen. Tejohn rammte ihn mit der Schulter, warf ihn auf den Holzboden und kniete sich auf ihn. Dann packte er den mageren Hals des jungen Mannes.

Ein eiserner Wurfspieß flog zwischen sie und schlug hart auf dem Holzboden auf. Tejohn wirbelte zur Quelle des Angriffs herum und sah, wie die kleine Freibrunn ihn zornig anfunkelte und einen weiteren Zauber vorbereitete.

KAPITEL 2

»Jetzt reicht es aber!«, rief Doktor Zweifloss. Er kam auf Cazia zugeeilt, und sein zorniger Gesichtsausdruck ließ sie vor Angst erstarren. Sein scharfer Tonfall hatte sie bereits in ihren Zaubergesten innehalten lassen, dennoch umklammerte er sicherheitshalber noch ihre Hände. »Meine Liebe, Ihr braucht den Prinzen nicht vor seinem eigenen Waffenmeister und Leibwächter zu beschützen. Richtet nie wieder einen Zauber gegen diesen Mann! Habt Ihr mich verstanden?« Die Stimme des alten Lehrers wurde hoch und schrill.

Doktor Zweifloss besaß die Befugnis, Cazia im Gelehrtenturm Hausverbot zu erteilen, und das würde er gegebenenfalls auch tun. Allein beim Gedanken daran wurde ihr übel. Sie starrte auf ihre Füße und sagte mit betont kläglicher Stimme: »Ich verstehe. Es tut mir sehr leid, Tyr Treygar.«

Der Alte mit der Miene aus Stein stand reglos da, ohne zu antworten. Er warf ihr einen kalten Blick zu, aber daran war sie gewöhnt. Von all ihren Feinden im Palast war Alte Steinmiene einer der widerwärtigsten.

Lar versuchte aufzustehen, verhedderte sich aber in seinem langen Zaubergewand. Er fiel auf die Knie, woraufhin Jagia, Pagesh und Bittler in Gelächter ausbrachen. Ausnahmsweise war Cazia nicht in der Stimmung dazu. »Caz, du darfst ihn nicht töten, nachdem er mich ermordet hat«, bemerkte Lar. »Denn dann könnten Mutter und Vater ihn nicht mehr ins Verhör nehmen. Habe ich recht, Tyr Treygar?«

Steinmiene antwortete nicht, daher ergriff Doktor Zweifloss an seiner Stelle das Wort. »Das ist richtig! Habt Ihr Eure anderen Studien vernachlässigt, um hierherzukommen, mein Prinz? Wenn dem so ist, verbiete ich Euch bis auf Weiteres den Zutritt zur Bibliothek und zum Übungsraum.«

Lar erschrak. »Ihr könnt mich nicht aus Teilen meines eigenen Palastes verbannen. Ich bin der Prinz!«

Doktor Zweifloss war von vornehmer Herkunft; er war der sechste Sohn eines rangniederen Bergtyrs der fünften Festspiele, und es mit einem Mitglied der königlichen Familie zu tun zu haben schüchterte ihn weniger ein als die meisten anderen. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich gern auf die Probe stellen.«

Lar trat zurück und hob lachend die Hände, um den alten Lehrer zu beschwichtigen. »Ich verspreche, es nicht wieder zu tun! Drohungen sind nicht nötig.«

Aus dem Augenwinkel sah Cazia, wie Steinmiene die Stirn runzelte. Er fand wahrscheinlich, dass Lar seinem Lehrer besser die Stirn bieten oder ihm nun seinerseits drohen sollte – stattdessen spielte er diese Spielchen. Cazia wandte sich ab, um aus ihrem Zaubergewand zu schlüpfen, doch sie behielt Treygar am Rand ihres Gesichtsfeldes im Auge. Sie hatte jede Menge Übung darin, Feinde im Auge zu behalten, ohne dass man es ihr ansah.

Doktor Zweifloss hob drohend den Finger. Immer musste er mit seinem Finger drohen. »Ihr habt für heute bereits genug geübt. Und vergesst nicht, ihr dürft euch niemals in Magie üben, es sei denn …«

Lar stimmte mit ein und beendete den Satz gemeinsam mit ihm: »… es sei denn, wir befinden uns zusammen mit Euch in diesem Raum. Das haben wir schon tausend Mal gehört, Doktor.«

»Ihr werdet es noch weitere tausend Mal hören, mein Prinz. Solange Ihr unter meiner Anleitung steht, werde ich nicht zulassen, dass Ihr hohl werdet. Denkt nur an die Folgen!«

Cazia dachte jeden Tag an diese Folgen: Lar würde dann niemals König werden. Zweifloss würde den Kopf verlieren. Cazia würde ihre Finger verlieren, so wie Doktor Weißhalm – zumindest, wenn sie Glück hatte, und es war fast sicher, dass sie keines haben würde. Und dann war da der Schaden, den diese ausgehöhlten Gelehrten anrichten mochten …

Die Gedanken des Prinzen widmeten sich bereits anderen Themen. Er wandte sich an Treygar. »Verratet mir eins, mein Tyr: Habt Ihr auf diese Weise Doktor Rexler erschlagen?«

Steinmienes Blick fand Cazia sofort. Anscheinend hatte dieser Doktor Rexler etwas mit ihr zu tun … oder mit ihrem Vater. Treygar ging nicht auf die Frage des Prinzen ein: »Eure Mutter, die Königin, hat mich gebeten, Euch heute zu den Festspielen zu begleiten, mein Prinz.«

»Ich glaube kaum, dass ich einen Leibwächter brauche, um mich mit dem Abendvolk zu treffen. Nach den Geschichten, die alle erzählen, sind spitze Bemerkungen so ziemlich das Schlimmste, was sie zu bieten haben.«

»Das stimmt«, bestätigte Treygar. »Aber nichtsdestoweniger …«

»Nichtsdestotrotz will sie, dass ich nüchtern bin.«

»So ist es, mein Prinz. Ist es wahr, dass Ihr vorhabt, etwas Komödiantisches zu singen?«

»Ja!«, rief Lar, als habe man ihm diese Frage bereits hundertmal gestellt. »Aber es ist nichts Unzüchtiges, das verspreche ich Euch. Es kommen weiß Sang keine mächtigen Krieger darin vor, auch keine Hexenmeister und keine übertrieben schwärmerisch Liebenden.«

Von der Bank an der Wand erhob Pagesh ihre Stimme. »Das Abendvolk macht sich nichts aus lustigen Liedern, ist es nicht so? Ich habe immer geglaubt, sie mögen traurige Lieder.«

Alle richteten ihren Blick auf Steinmiene, und Cazia bemerkte, wie unangenehm ihm das zu sein schien. Interessant.

»Das stimmt«, bestätigte Doktor Zweifloss. »Je mehr sie unsere Darbietungen zu schätzen wissen, desto mächtiger ist der Zauber, den sie uns schenken. Das Geschenk zum Nageleinschlagen, das sie uns nach den zehnten Festspielen dargeboten haben, wurde allgemein als eine tadelnde Abfuhr betrachtet, da jenes Fest den Akzent zu sehr auf billige Komik und Possenspiel gelegt habe.«

Eine Woge des Ärgers durchströmte Cazia. »Und trotzdem – seht Euch nur an, was wir daraus zu machen gewusst haben.« Sie deutete auf die Wurfspieße und die Reifen an der Wand. Sie hatten die ganze Unterrichtseinheit auf genau jenen Zauber verwandt – nun ja, jedenfalls auf den in dem einen oder anderen Punkt veränderten Zauber, den die Menschen daraus geschaffen hatten. Zugegeben, er war nicht so nützlich wie die anderen Geschenke, aber er machte am meisten Spaß von allen. Wie konnte jemand so etwas als tadelnde Abfuhr bezeichnen?

»Ganz recht«, bemerkte der Doktor mit seiner hohen, zitternden Stimme auf eine Weise, als begreife sie nicht, worum es ging. »Doch der Zauber des Steineklopfens nach den elften Festspielen hat dafür gesorgt, dass sich Kupfer und Eisen im ganzen Reich verbreitet haben und zu etwas Alltäglichem geworden sind. Noch vor nicht einmal fünfzig Jahren waren die einzigen Soldaten mit Eisenrüstung die Generäle. Habe ich recht, Tyr Treygar? Jetzt tragen sie alle Soldaten außer den Bogenschützen.«

»Alle Soldaten außer den Bogenschützen und den Eiltrupps«, zählte Treygar monoton auf. »Und den Scharmützlern. Außerdem ist das Eisen inzwischen größtenteils durch den Stahl aus den Weiten Landen ersetzt worden. Aber Ihr habt recht, Doktor. Diese Tatsache hat damals an den Kaltwasserfällen eine große Rolle gespielt.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls, wenn man den Berichten Glauben schenken darf.«

Doktor Zweifloss schien aus irgendeinem Grund, den Cazia nicht erkennen konnte, stolz darauf, Treygars Zustimmung zu finden. Sie selbst hatte noch nie etwas von den Kaltwasserfällen gehört.

»Ich verstehe nicht«, warf Jagia ein und schaute sie alle einen nach dem anderen an. »Ich habe immer gedacht, das Abendvolk hätte uns Geschenke gemacht.«

Pagesh griff nach dem Zopf des kleinen Mädchens und kitzelte es mit seinem Ende am Kinn. Sie lächelte die Kleine an; die junge Frau war immer freundlich und ausgeglichen, aber sie lächelte nur für Jagia. »Wir nennen es einfach so, Kleine. Geschenke. Aber in Wahrheit ist es mehr, wie wenn man nach einem Lied einen Heller in die Holzschale des Vortragenden wirft. Eine Münze ohne großen Wert, um seine Anerkennung zu zeigen.«

»Ich finde, das ist nicht gerecht«, warf Bittler ein. Er richtete den Blick seiner wässrigen Augen nacheinander auf jeden Einzelnen von ihnen, in der Hoffnung, dass sich irgendwer auf seine Seite schlagen würde. »Es ist mehr eine Art Handel, nicht wahr? Wir richten für sie Festspiele in Kunst und Athletik aus, und im Gegenzug bringen sie uns einen neuen Zauber bei.«

Pagesh ließ Jagias Zopf fallen und sah Bitt ruhig und gelassen an. »Etwas ist nur dann ein Handel, wenn beide Seiten auch miteinander handeln können.«

»Sie hat recht«, schaltete sich Lar ein. »Wie üblich.« Pagesh verneigte sich vor dem Prinzen. Grinsend nickte er zurück. »Über die nächsten zehn Tage hinweg werden wir alle Anstrengungen unternehmen, um das Gefallen des Abendvolks zu finden, sodass es uns die Gegenleistung gewährt, die es für angemessen hält.«

»Aber warum?«, fragte Jagia. »Warum kommen sie überhaupt her?«

Es war eine Frage, auf die Cazia selbst nie gekommen wäre. Sie wandte sich zu dem Doktor um und wartete auf seine Antwort.

»Nun ja, äh, wisst ihr …« Doktor Zweifloss wirkte ein wenig verwirrt. »Das Abendvolk ist ein stolzes Volk – und mächtig –, aber auch ihm sind Grenzen gesetzt. Ähm …« Der alte Gelehrte sah aus, als versuche er, einem heiklen Thema aus dem Weg zu gehen.

»Die Wirkung von Magie ist etwas Stoffliches«, ergriff Steinmiene das Wort, und Cazia fand, dass der Alte seinen Spitznamen nie mehr verdient hatte als in dem Moment, da diese Worte nun seinen Mund verließen. »Steine zerschlagen, Feuer entfachen, Feuer löschen – all das sind Möglichkeiten, um der normalen Alltagswelt auf magische Weise seinen Willen aufzuzwingen. Aber ein Zauber kann jemanden nicht dazu bringen, sich zu verlieben. Magie kann einen Menschen nicht veranlassen, um den Feind zu weinen, den er erschlagen hat. Sie kann einen Menschen nicht umstimmen oder ihn etwa dazu bewegen, mit dem Speer für sein Heimatland zu kämpfen, sie kann die Köpfe der Menschen nicht mit Träumen von dem in fernen Ländern zu erringenden Ruhm und Reichtum erfüllen. All dies jedoch können Lieder, Theaterstücke, selbst athletische Spiele bewirken. Für das Abendvolk ist das in sich schon eine eigene Form der Magie. Eine, für die ihnen das Talent fehlt.«

»Ganz recht«, pflichtete Doktor Zweifloss bei, ein wenig nervös.

Treygar blickte Jagia unverwandt an, als seien sie die beiden einzigen Personen im Raum. Kein Ehrentitel und keine vornehme Kleidung würden jemals die Tatsache verbergen, dass er im Herzen ein Mann aus dem einfachen Volk war. »Das ist alles, was ich darüber weiß, Fräulein.«

»Macht Euch das nicht ebenfalls zu einer Art von Gelehrtem?«, fragte das kleine Mädchen. »Euer Lied bedeutete für sie eine Art Magie. Das sollte Euch für das Abendvolk zu einem Gelehrten machen, ist es nicht so?«

Ein angespanntes Schweigen erfüllte den Raum. Nur ein neunjähriges Mädchen – und die Nichte des Königs – würde es wagen, die Sache mit Steinmienes schrecklichem Lied anzusprechen. Doch der alte Soldat verlor in keiner Weise die Fassung. Er schüttelte nur ernst den Kopf.

»Oh. Aber danke, dass Ihr meine Frage beantwortet habt«, antwortete Jagia höflich.

»Es ist mir eine Freude, der Cousine des Prinzen mit allem zu dienen, was immer ich an Wissen besitze.«

Ach ja? Auch Cazia war eine Cousine des Prinzen, aber sie hatte keinerlei Unterricht von dem alten Menschenschinder erhalten. Doch andererseits: Jagias Vater hatte auch niemals versucht, die Krone an sich zu reißen.

Bitt öffnete den Mund, als wolle er noch weiter auf der Sache herumreiten, aber dann schloss er ihn wieder. Entweder fühlte er sich heute Morgen ausgesprochen unwohl, oder er wusste, dass es keinen Sinn hatte, über diesen Punkt zu streiten. Die kleine Jagia beugte sich zu ihm, griff nach seiner zitternden Hand, und sie lächelten einander an.

Lar hängte sein langes Gewand an einen Haken. »Sagt mir, mein Tyr, glaubt Ihr, das Abendvolk wäre beeindruckt, wenn ich den Schlachtenhelm und den mit spitzen Eisennägeln besetzten Schild tragen würde, den ich von meinem Vater bekommen habe?«

Steinmienes Antwort klang unwirsch. »Schild und Helm vermögen Euch nicht vor der Missbilligung des Abendvolks zu schützen.«

Cazia gefiel die Pointe dieser Bemerkung nicht, daher lieferte sie eine andere. »Und vor der Missbilligung deiner Mutter könnte dich keine Rüstung der Welt schützen.«

Selbst Doktor Zweifloss lachte darüber – nur Steinmiene nicht. Als Cazia den Blick bemerkte, den er ihr zuwarf, wurde ihr ein wenig übel. Die Königin war ihr gegenüber immer distanziert, aber respektvoll gewesen; und auch wenn Treygar wohl nicht gleich persönlich in den Thronsaal stürmen würde, um sie zu verpetzen, würde er wahrscheinlich doch dafür sorgen, dass die Königin irgendwie von dem Scherz erfuhr.

Cazia biss sich auf die Unterlippe. Ganz gleich, wie vorsichtig sie ihre Worte wählte, wenn sie im Palast war, sie war niemals vorsichtig genug.

»Ich muss in meine Gemächer zurückkehren, damit Quallis meine Kleider wechseln kann«, erklärte Lar. »Habt Ihr vor, mich zu begleiten, Tyr Treygar?«

Steinmienes Tonfall war eisig. »Ja, mein Prinz.«

»Hervorragend. Wenn mir ein Weinkrug zu nahe kommen sollte, dürft Ihr Euch gerne selbst darüber hermachen.«

»Das würde schon Colchua für Euch tun«, bemerkte Pagesh von der Bank.

Aber niemand lachte. Steinmiene hatte ihnen die Stimmung verdorben.

Lar berührte Cazia sachte an der Schulter. »Caz, danke, dass du heute mit mir geübt hast. Bring bitte Pagesh in ihre Räume und hilf ihr, für die Festspiele ein Kleid ohne Grasflecken zu finden. Bittler, geh Col und Timu suchen. Sie duellieren sich wahrscheinlich in der Trainingshalle, und sie werden sich wohl erst noch frisch machen müssen, bevor sie sich ankleiden. Und sieh zu, dass du etwas zu essen bekommst.«

Bittler legte sich eine Hand auf den halb verhungerten Magen und nickte.

Treygar öffnete die Tür des Übungsraumes und folgte dem Prinzen zur Treppe.

Als die Tür hinter ihnen zufiel, lief es Cazia kalt den Rücken hinunter. Alte Steinmiene mochte der Leibwächter des Prinzen und sein Ausbilder im Umgang mit Waffen sein, aber er war ein Mann des Königs. Es war kein Geheimnis, dass Lars Eltern Angst hatten, dass ihr Sohn während der Festspiele irgendeinen Streich aushecken könnte. Das Abendvolk war leicht zu kränken, und die Festspiele selbst waren nur eine Art Mummenschanz, den die ganze Stadt Peradain vor den Abendleuten aufführte, um ihnen zu gefallen. Und Lar … er war immer noch wie ein Junge, der den Drang hatte, Scheinheiligkeit beim Namen zu nennen, wann immer sie ihm über den Weg lief.

Sie liebte ihn. Nicht, dass sie seine Hand halten oder seinen Kuss fühlen wollte, nein. Sie war jetzt ein fünfzehnjähriges Mädchen und hatte das Alter erreicht, in dem eine junge Frau bemerkt, wie gut so manche der Palastwachen in ihren schneidigen Uniformen aussehen. Sie konnte gar nicht umhin, dass ihr das auffiel.

Doch da sie die Tochter von Tyr Freibrunn war, würden die Wachen wohl eher vor ihr auf den Boden spucken, wenn sie ihnen zu nahe kam, als sie mit einem freundlichen Wort bedenken. Alles andere, als sie von Ferne zu betrachten, war einfach zu gefährlich. Junge Dienerinnen, denen die Höhe ihrer Schulden auf die Handgelenke tätowiert worden war, konnten sich viel eher als sie die Freiheit herausnehmen, mit den Jungen zu reden und zu lachen.

Nein, sie liebte Lar, so, wie sie einen zweiten älteren Bruder lieben würde; liebte ihn wie einen Freund, wie ihren Prinzen. Sie war schon als Säugling in den Palast von Sang und Morgen gebracht worden und an seiner Seite aufgewachsen. Der ganze Kreis, mit dem er sich umgab – mit der Ausnahme der kleinen Jagia –, bestand aus den Kindern von Verrätern, und der einzige sichere Ort für sie war der Platz an der Seite des Prinzen. Sie liebte ihn, weil er im Rang weit über ihr stand und sie dennoch mit Freundlichkeit behandelte und vor den schlimmsten Schikanen beschützte. Eines Tages, wenn die Generation ihrer Väter den Weg verlassen haben würde, würde Colchua, ihr älterer Bruder, der neue Tyr Freibrunn sein, und sie wäre für den Gelehrtenturm und alles, was sich dort abspielte, verantwortlich. König Lar Italga würde nirgendwo im Reich einen treueren Untertanen haben als sie.

Doch heute konnte sie nicht umhin, sich Sorgen zu machen. Würden seine Eltern ihn daran hindern, das Lied zu singen, das er heimlich vorbereitet hatte? König Ellifer war ein anständiger Mann – zumindest für einen König –, daher glaubte sie nicht, dass er seinen eigenen Sohn umbringen würde. Nicht wie die Italgas früherer Jahre. Trotzdem stand viel auf dem Spiel. Vielleicht würde er Lar wegsperren lassen?

Und wer wäre besser geeignet, den Prinzen unter Arrest zu stellen, als sein eigener Leibwächter?

Nein. Cazia konnte den Prinzen nicht mit Steinmiene allein lassen. Nicht heute. Sie legte die Hand auf den verborgenen Riegel.

Pagesh bemerkte es und erkannte sofort, was sie vorhatte. Das ältere Mädchen stand auf. »Gut, es wird Zeit, dass wir uns fertig machen«, sagte sie und stieß dann gegen einen Köcher mit eisernen Wurfspießen, was zur Folge hatte, dass sich dessen Inhalt auf dem Holzboden verteilte.

Der schreckliche Lärm ließ Doktor Zweifloss aufschreien. Er sprang sogleich zu Pagesh hinüber. Im selben Moment zog Cazia am Riegel, öffnete die geheime Klappe und schlüpfte hindurch, wobei sie darauf achtgab, dass ihre Röcke nicht irgendwo hängen blieben.

Die Klappe schloss sich hinter ihr und nahm ihr alles Licht. Sie fand die Leiter genau dort, wo sie sein sollte, dann kletterte sie hinab.

Es war keine richtige Leiter – für die Erbauer des Gelehrtenturms, die diesen Geheimgang hinter der Treppe angelegt hatten, war es offenbar leichter gewesen, Haltegriffe für Hände und Füße tief in den Stein zu schlagen, als eine richtige Leiter aufzustellen.

Sie kletterte sicher hinunter, obwohl sie den Geheimgang seit Monaten nicht mehr benutzt hatte. Als sie so alt gewesen war wie jetzt Jagia, war sie oft hergekommen, einfach um fernab der kleinen Grausamkeiten des Küchenpersonals oder der höhnischen Provokationen der Palastwachen in der Dunkelheit zu sitzen. Es gab nur wenige Orte, wo sie sich vor ihren Feinden verstecken konnte, und von diesem hier schien niemand auch nur zu wissen, dass es ihn gab.

Mit dreizehn war sie allerdings beinahe dabei erwischt worden, wie sie aus der unteren Ausstiegsluke herauskletterte, und jetzt nahm sie diesen Weg nur noch, wenn es nötig war.

Nachdem sie für eine Weile hinabgeklettert war, erreichte sie die Treppe. Der Gang war so schmal, dass sie sich nicht ohne Weiteres umdrehen konnte, aber sie kannte den Weg. Die geheime Treppe nahm genau den gleichen Verlauf wie die breitere öffentliche Treppe auf der anderen Seite der Mauer, und schließlich …

Sie hörte Lars Stimme direkt gegenüber auf der anderen Seite der Mauer. Perfekt. Sie blieb stehen, um zu lauschen, und wie sie da stumm in der Dunkelheit verharrte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie liebte es, andere auszuspionieren. Das fand sie einfach großartig. Das Einzige, wobei sie sich noch mächtiger fühlte, war das Wirken von Zaubern.

»Tyr Treygar, ich wünschte, Ihr könntet netter zu meinen Freunden sein.«

Treygars Antwort blieb unverbindlich. »Ja, mein Prinz.«

Cazia stieg leise weiter abwärts, um mit ihnen Schritt zu halten. Sie hörte Lar seufzen. »Ich würde Euch ja empfehlen, ihnen ab und zu zuzulächeln, aber ich befürchte, das würde Euer steinernes Gesicht zertrümmern.«

»So zerbrechlich bin ich nun auch wieder nicht, mein Prinz.«

Sie hörte, dass die beiden Männer stehen blieben, daher tat sie es ebenfalls.

»Mein Tyr Treygar«, sagte der Prinz. Er klang ernsthaft verärgert. »Ich habe mein ganzes Leben mit diesen Menschen verbracht, und keiner von ihnen war auf der Welt, als sich Tyr Freibrunn und seine Verbündeten gegen meinen Vater erhoben haben. Meine königlichen Eltern sind respektvoll mit dieser neuen Generation umgegangen, und ich bin ihnen in Freundlichkeit gewogen. Welche Verbrechen die Witts, die Simblins, die Bendertuks und die Freibrunns auch begangen haben mögen – meine Freunde sind ohne Schuld. Ich würde es vorziehen, wenn Ihr sie auch entsprechend behandeln würdet.«

»Das tue ich, mein Prinz.«

»Ach ja? Mir scheint, dass Ihr ihnen gegenüber bei jeder sich bietenden Gelegenheit barsch und kurz angebunden seid.«

»Mein Prinz, wenn ich sie solcher Verbrechen für schuldig hielte, wie ihre Väter sie begangen haben, hätte ich ihnen bereits die Hälse durchtrennt, ihre Köpfe über die Festungsmauern ihrer Familien geworfen und ihre Körper als Futter für die Alligaunten in den Weiten Landen verteilt.«

Cazia grinste nun nicht mehr, aber sie war trotzdem froh, sich an Ort und Stelle zu befinden und ihren besten Freund sowie den Unhold, der ihn in der Waffenkunst unterwies, auszuspionieren. Ich kenne dich besser, als du mich kennst.

»Diese Worte gefallen mir nicht«, erwiderte Lar. Ein König hätte das mit Zorn gesagt oder es wie eine Drohung klingen lassen, aber Lar hörte sich traurig und hilflos an. Unwillkürlich durchzuckte sie ein vertrauter Stich des Kummers um seinetwillen; er war ein zu guter Mensch, um mit brutalen Kerlen wie Treygar und der Welt, die sie geschaffen hatten, zurechtkommen zu müssen.

Treygar erwiderte: »Ich habe Euren königlichen Eltern Treue geschworen. Ihnen gehören mein Leben, meine Ehre und meine Pflicht. Das Gleiche gilt für Euch, mein Prinz. Doch meine Gedanken und das wenige an Verstand, das Zorn mir gewährt hat, bleiben mein Eigen. Eure Vettern und Cousinen mögen im Palast gute Spielkameraden abgeben, aber der Ruf ihrer Familien – ihrer Namen – wird nicht an ihnen vorbeigehen. Sie leben hier als Geiseln, nicht als Gäste. Und das werden sie nicht vergessen, selbst wenn Ihr es getan habt. Wenn für sie die Zeit kommt, ihre Wahl zu treffen, könnt Ihr Euch womöglich dennoch ihrer Treue sicher sein, aber meine Pflicht verlangt von mir, wachsam zu bleiben.«

»Ich habe nicht vergessen, warum sie hier sind. Ich werde mir kein Vergessen erlauben.«

»Dann denkt auch daran: Wenn ich nicht Doktor Rexler getötet und in Klemmhall nicht die Verteidigungslinien durchbrochen hätte, dann hättet Ihr gar nicht gewagt, Euch auf den Großen Weg zu begeben, mit all seinen Federbetten und Weinkrügen, und dann wäre Colchua Freibrunn jetzt Prinz.«

Aus irgendeinem Grund lachte Lar auf. »Col hätte einen viel besseren Prinzen abgegeben, als ich es je sein werde – und einen besseren König.«

Schockiert blieb Cazia völlig regungslos stehen, während die Schritte auf der Treppe verhallten. Glaubte der Prinz wirklich, dass ihr Bruder ein besserer König wäre? Plötzlich war sie so sehr von Traurigkeit erfüllt, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Lar sollte so etwas niemals laut aussprechen, vor allem nicht gegenüber einem Mörder wie Tyr Treygar.

Feuer und Zorn, Lar brauchte einen Leibwächter, der ihn vor sich selbst beschützte.

Cazia stieg nun langsamer die Treppe hinab. Sie wollte nicht noch mehr hören. Außerdem war sie sich nur zu bewusst, was mit ihr geschehen würde, falls sie mit Tränen auf dem Gesicht aus dem Geheimgang auftauchte. Pageshs, Bittlers und Jagias Schritte überholten sie und verhallten. Am Fuße der Treppe schlüpfte sie durch eine andere verborgene Klappe und trat in einen nur selten benutzten Kartenraum.

Er war leer. Sehr gut. Sie kroch hinter dem Regal mit den Kartenrollen hervor und ging leise zu der Tür am Eingang hinüber, die einen Spaltbreit offen stand. Sie spähte hindurch.

Doktor Weißhalm saß an einem Schreibtisch am Fenster und blickte sie unbeteiligt an. Vor der Gelehrten lag ein Spatz, den sie aufgeschnitten hatte, um seine Innereien offenzulegen. Cazia beobachtete, wie sie mit beiden Daumen und Zeigefingern etwas aus dem Kadaver herausnahm – offensichtlich ein winziges Organ. Daumen und Zeigefinger waren die einzigen Finger, die ihr geblieben waren. Sie war vor Jahren hohl geworden, als sie kaum älter gewesen war als Cazia jetzt, aber ohne ihre Finger konnte sie keine Zauber mehr wirken. Sie konnte sich nur noch mit anderen Gelehrten beraten, wenn ihr nach Unterhaltung zumute war.

Den Gerüchten zufolge war sie eine Gelehrte der Heilkunst gewesen, aber dann eine Hexenmeisterin geworden, die ihre heilende Magie eingesetzt habe, um schreckliche Dinge zu schaffen. Niemand wollte sich genauer darüber auslassen, was das für Dinge gewesen waren, aber in ihrer Fantasie malte sich Cazia das Schlimmste aus.

Eine junge Frau in einem hellen Gewand näherte sich Doktor Weißhalm. Ihre Haltung signalisierte Unterwürfigkeit. Doktor Zweifloss hatte ihnen zwar niemals den Grund dafür erklärt, aber Gelehrte, die hohl geworden waren, verfügten über ein vertieftes Verständnis, was Zaubersprüche und das Wirken von Zaubern anging, und bei seltenen Gelegenheiten vertrauten sie dem Turm ihre besonderen Wissensschätze an. Das reichte aus, um ihnen den Galgen zu ersparen, was immer ihre Verbrechen sein mochten.

Statt auf die Frage der jungen Frau zu antworten, hob Doktor Weißhalm das Organ des Vogels an den Mund und berührte es mit der Zunge. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ohne jede menschliche Regung. Ihre Wangen waren tränenüberströmt.

Solange Ihr unter meiner Anleitung steht, werde ich nicht zulassen, dass Ihr hohl werdet. Denkt nur an die Folgen!

Erschaudernd trat Cazia durch die Tür – und wurde prompt von jemandem am Ohr gepackt. Es war Doktor Winterhügel.

»Was habe ich dir gesagt?«, fragte er mit seiner dumpfen, weinerlichen Stimme. »Habe ich dir nicht verboten, in meinem Kartenzimmer herumzuschleichen? Ich lasse mir von dir doch nicht meine Arbeit schmutzig machen, du kleine Herumschleicherin!«

»Der Prinz hat mir die Erlaubnis dazu gegeben«, verteidigte sich Cazia und versuchte, so zu tun, als sei es nicht im Mindesten schmerzhaft, dass ihr das Ohr beinahe vom Kopf gerissen wurde.

»Es ist schon schlimm genug, dass du überhaupt im Turm sein darfst«, beharrte Winterhügel. »Kein Freibrunn in ganz Kal-Maddum besitzt die Erlaubnis, die königlichen Karten zu studieren. Und jetzt verschwinde, bevor ich dich von Zweifloss des Turmes verweisen lasse.«

Er stieß sie auf den Hof hinaus. Die anderen Gelehrten saßen da und blickten sie böse an, daher senkte sie rasch den Kopf und eilte hinter Pagesh und den anderen her. Selbst im Gelehrtenturm hatte sie Feinde. Zumindest im Moment.

Bittler hatte sich bereits von den Mädchen getrennt und steuerte die Trainingshalle an. Cazia sah ihm nach, wie er mit gekrümmtem Rücken einen Umweg einschlug, um nicht direkt einer Gruppe von Palastwachen über den Weg zu laufen.

Es nutzte ihm herzlich wenig. Eine der Wachen warf einen Kieselstein nach ihm. Sie alle lachten, als Bitt zusammenzuckte und sich den Oberarm hielt.

Dergleichen war den Wachen eigentlich nicht mehr gestattet, aber man konnte wenig tun, um sie daran zu hindern. Würde sich Bitt über die Wache beschweren, würden sie einfach lügen, und ihre Vorgesetzten würden bei einem solchen Vorfall dem Wort eines Verräterkindes stets weniger Glauben schenken als dem Wort eines der ihren. Und wenn sich Cazia über Doktor Winterhügel beklagte, würde genau dasselbe passieren. Sie alle hatten diese Lektion bereits in jungen Jahren gelernt. Als Prinz hätte Lar eigentlich über die Macht verfügen sollen, dem allen ein Ende zu bereiten, aber irgendwie tat er das nicht. Niemand schien ihn ernst zu nehmen; Cazia wusste immer noch nicht so recht, warum.

Nach einer solchen Beschwerde war dann alles einen Monat lang ganz schrecklich – sie fanden die Wäsche in ihren Betten nass vor, ihre Mahlzeiten waren plötzlich unerträglich versalzen, und in ihren Zimmern wimmelte es von Maden und sonstigem Ungeziefer. Es war die Mühe nicht wert, sich zu wehren.

Die bittere Wahrheit bestand darin, dass, so groß der Palast von Sang und Morgen auch war, die einzigen sicheren Orte darin ihr Kreis von Freunden um Lar sowie der Aufenthalt im Übungsraum zusammen mit Doktor Zweifloss waren. Selbst ihre eigenen winzigen Gemächer waren Feindesland.

In ihrem Zimmer war das Feuer angezündet worden, und neben ihrem Bett stand eine Schüssel mit Brot und Salzkäse. Die Kammerzofe – es war nicht »ihre« Zofe; nicht, wenn man der Tatsache Rechnung trug, wie oft das Mädchen Cazias Sachen bereits weiß Sang wonach durchsucht hatte – hatte Cazias neues grünes Kleid mit den wunderschönen weißen Fältchen an den Ärmeln und am Saum herausgelegt. Während Cazia sich wusch und umzog, kam das Dienstmädchen zurück und legte einen weichen Schal und eine mit winzigen blauen Edelsteinen besetzte Schnur heraus, damit sich Cazia das Haar zurückbinden konnte.

Seit der Handel über Ostfurt wieder aufgenommen worden war, war Blau groß angesagt, aber Cazia fand es für eine Geisel zu protzig, auch wenn die Steine ein Geschenk des Prinzen persönlich gewesen waren. Also hielt sie sich an Grün und Weiß. Dazu kam noch ein weißer Hut aus gestärktem Leinen, um ihr Gesicht vor dem Regen zu schützen. Die Juwelen trug sie darunter versteckt. Es spielte für sie keine Rolle, dass niemand sonst sie sehen würde. Tatsächlich bereiteten sie ihr dadurch nur umso mehr Freude.

Es war noch früh, als sie zu Pageshs Zimmer eilte. Wie erwartet waren Pagesh und Jagia hektisch damit beschäftigt, sich für den Beginn der Festspiele fertig zu machen. Jagia ging ganz in Rot und Gold – eine wunderschöne Kombination, die in Cazia den Wunsch weckte, sich auf der Stelle wieder umzuziehen. Pagesh trat in einem weißen Kleid mit rotem Aufsatz aus ihrem Schlafzimmer; das Kleid war mit Rosenblüten bestickt und so ganz anders als ihre gewohnten schlammfleckigen Gewänder, dass es Cazia regelrecht den Atem verschlug.

»Ihr seht beide wunderschön aus«, bemerkte Cazia.

Pagesh schnitt eine Grimasse. »Mädchenkleider. So etwas zieht regelmäßig Heiratsanträge nach sich.«

Mit nun neunzehn hatte Pagesh schon seit Jahren alle möglichen Verehrer abgewiesen. Sie war Tyr Simblins einziges anerkanntes Kind, und König Ellifer wollte, dass Simblins Erbin jemanden heiratete, der dem Reich treu ergeben war. Pagesh selbst wollte ihre Tage im Garten verbringen – sie interessierte sich für kaum irgendetwas anderes –, aber die Königin hatte deutlich gemacht, dass die junge Frau bald auf die Festung der Simblins zurückkehren würde, und zwar mit einem Ehemann an ihrer Seite.

Sie tat Cazia aufrichtig leid. Erst vor einem Jahr hatte Cazia selbst die Königin um Erlaubnis gebeten, im Palast bleiben zu dürfen, wenn Colchua auf die Besitztümer ihrer Familie zurückkehrte. Sie hatte vor, ihr Leben dem Studium im Gelehrtenturm zu widmen, und ihre Feinde, die dort arbeiteten, würden gar keine andere Wahl haben, als sie als eine der Ihren zu akzeptieren. Sie würde sie dazu zwingen.

Es war riskant gewesen, eine solche Bitte zu äußern, erfuhr sie später. Königinnen wurden zu Gelehrten ausgebildet – zwar in nur eingeschränktem Maße, aber immerhin –, und Cazias Abstammung bedeutete, dass sie nach Lar, Jagia, ihrem eigenen Bruder sowie Ellifers Bruder und Schwester in der Thronfolge stand.

Doch Königin Amlian hatte begriffen, dass Cazia keinerlei Interesse daran hatte, auf dem Thron zu sitzen. Cazia lernte jetzt lesen, Gegenstände in Brand zu stecken und mit ihren Wurfspießen Zielscheiben zu treffen. Am Ende der diesjährigen Festspiele würde es ein neues Geschenk geben, mit dem man spielen konnte, und was auch immer das sein würde, Cazia wollte zu denen gehören, die es benutzten. Wenn die Italgas ihr diese Möglichkeit verschaffen konnten, war ihnen Cazias absolute Treue bereits sicher, noch bevor Lar gekrönt wurde.

Pagesh verabschiedete sich mit einem Kuss von ihrer Zofe, und dann eilten sie alle den Flur hinunter. Bittler, Timush und Colchua erwarteten sie bereits. Alle drei sahen in den Grau- und Rottönen des Königs sehr gut aus. Sogar Bittler – beinahe jedenfalls.

Col machte auf seine halb spöttische Art ein großes Getue um ihre Kleider, auch wenn er gegenüber der kleinen Jagia natürlich am freundlichsten war. Und Timush sagte leise zu Pagesh: »Ihr seht wunderbar aus, aber ich glaube, ich habe Euch in Euren üblichen schlammigen Gartenkleidern lieber.« Sie lächelte nicht, blickte auch nicht zu ihm auf. Sie starrte nur stumm zu Boden. Timush seinerseits nahm ihr Schweigen als eine Art Abstand zwischen ihnen hin, von dem er nicht wusste, wie er ihn überbrücken sollte.

Auf dem Weg zum Innenhof stolperte eine der Dienerinnen absichtlich über einen Eimer mit Schmutzwasser, aber Cazia hatte aufgepasst und sprang rechtzeitig zur Seite.

»Oh, Entschuldigung, mein Fräulein!«, sagte das Mädchen, außerstande, das höhnische Grinsen um ihre Mundwinkel zu verbergen. »Wo Ihr doch so hübsche Kleider tragt.«

Cazia und Pagesh funkelten sie beide mit einem so glühenden Hass im Blick an, dass man damit eine Flamme hätte entfachen können, und das Mädchen zog sich rasch in den Flur zurück.

Feinde überall.

Als sie um die nächste Ecke bogen, begann Col, Witze über das Abendvolk und Lars Lied zu machen. Sie alle hatten ihr Leben lang davon gesprochen, bei ihren ersten Festspielen eine ganz große Sache aufzuziehen oder irgendeine verrückte Posse zu inszenieren, aber daraus war nichts geworden.

Außer bei Lar. Und nur Col wusste Genaueres. Aber er verriet niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen.

Ihre Stiefelabsätze schrammten über den rosa Stein, während sie durch die leeren Korridore eilten.

KAPITEL 3

Lars Kammerdiener hatte drei Anzüge herausgelegt, unter denen der Prinz seine Wahl treffen sollte. Während Tejohn an der Wand stand und wartete, diskutierten sie ausführlich jeden einzelnen. Schließlich kombinierte der Prinz zwei von ihnen und wählte einen leuchtend roten Leinenmantel sowie ein grün-gelb kariertes Hemd. Tejohn hätte nicht einmal einen Possenreißer in diese Farben gekleidet, aber der Prinz konnte tun, was immer ihm beliebte. Er schien sich mit seinen Entscheidungen stets wohlzufühlen, selbst wenn er sie in nüchternem Zustand traf. Der Königin würde seine Wahl nicht gefallen, aber sie hatte Tejohn nur darum gebeten, dafür zu sorgen, dass der Prinz nüchtern erschien, und nicht, dass er dabei modisch gekleidet war.

Schließlich erreichten sie den großen Innenhof. Mit »kontrolliertem Chaos« war das Treiben, das sich hier abspielte, noch freundlich umschrieben, und der König und die Königin steckten mittendrin.

»Mein Prinz! Da seid Ihr ja!« Kolbi Arriya kam die Treppe heraufgerannt und umklammerte den Ärmel des Prinzen. Sie war die Schildträgerin des Königs. Das war einst ein Ehrenamt für einen talentierten jungen Krieger aus guter Familie gewesen, aber nun, in den gegenwärtigen, verschwenderisch reichen Herrscherzeiten, war der Schildträger zum Berater und Schreiber des Königs geworden.

Kolbi Arriya musterte stirnrunzelnd die Gewänder des Prinzen, dann richtete sie den gleichen missmutigen Blick auch auf Tejohn. Kolbi selbst trug das Grau und Rot der Italgas, wenngleich ihre Kleider zerknittert und von Regen, Schweiß oder einer Mischung von beidem durchnässt waren. Sie würde sich nicht neben der Königsfamilie aufs Podium stellen, solange sie so aussah. »Ihr wisst, wo Ihr hingehen müsst, mein Prinz? Lasst es Sincl unbedingt wissen, ob Ihr als Erster, als Letzter oder irgendwann zwischendrin singen wollt. Er wird Euch entsprechend unterbringen.« Sie eilte atemlos in Richtung der Tische mit den Speisen weiter, ohne auf eine Antwort zu warten.

Lar lachte auf, dann blieb er oben an der Treppe stehen und blickte auf das Gedränge der Menschen hinunter. Der König legte sich die Hand vors Gesicht und wandte sich ab, offensichtlich verärgert über etwas, was ihm einer der Oberdiener berichtet hatte; nun griff die Königin geschickt ein, um das Problem zu lösen. Lar schien das Ganze amüsant zu finden. »Dreiundzwanzig Jahre zwischen den Festspielen. Glaubt Ihr, meine Braut wird es einst genauso gut machen?«

Lar war mit der Tochter des obersten Stammesführers der Indregai-Allianz verlobt. Das Mädchen lebte hier in der Morgenstadt und war genauso eine Geisel wie die Kinder der Freibrunns. Sobald sie volljährig war, würden sie heiraten und dadurch einen Friedensbund mit den Bewohnern von Indrega schmieden. Dadurch würden dann einige der in Ostfurt stationierten Truppen in den unruhigen Westen verlegt werden können.

Tejohn konnte nicht umhin zu bemerken, dass der Prinz sich soeben danach erkundigt hatte, ob seine Braut die Festspiele wohl genauso gut wie seine Eltern würde organisieren können, ganz als habe er selbst mit alledem nicht das Geringste zu schaffen. »Ich bin ihr noch nicht begegnet, mein Prinz.«

»Sie ist ein Albtraum. Erst zwölf Jahre alt und glaubt bereits, sie würde auf dem Thron sitzen.«

Tejohn nickte höflich. Normalerweise wurde Fremden kein Einlass in die Mauern von Peradain gewährt. Die Prinzessin und ihr Gefolge würden über die nächsten zehn Tage hinweg in ihrem großen, bestens ausgestatteten Haus eingesperrt sein, rund um die Uhr von stets aufmerksamen Wachen gehütet. Sie würde niemals näher als hundertfünfzig Meter an die Leute vom Abendvolk herankommen, bis ihre Ehe vollzogen war und sie ihre Treue gegenüber dem Reich bewiesen hatte. Falls das überhaupt möglich war.

Tejohn machte eine Handbewegung zum königlichen Podium hin. »Vielleicht sollten wir jetzt unsere Plätze einnehmen.«

»Nicht dort oben«, entschied Lar und begann sich durch die Menge hindurch einen Weg in die Richtung des Hofes unter ihnen zu bahnen. »Ich will zusammen mit den anderen Sängern unten im Verschlag warten.«

»Mein Prinz …«

»Nicht jetzt, mein Tyr!« Lars Stimme war unerwartet leidenschaftlich. Beinahe ungestüm. »Diese … Darbietung, die meine Eltern da aufführen, mag dem Abendvolk vielleicht gefallen und vielleicht auch den Händlern und Generälen und Gelehrten und … und überhaupt allen. Aber ich bin als Sänger hier. Ich werde mein Lied singen – das nichts Schlüpfriges an sich hat, wie ich Euch versichern kann –, und dann werde ich mir einen Krug Wein besorgen und zehn Tage lang so wenig wie irgend möglich tun.«

Tejohn musterte Lars Züge. Dafür, für diese Geschichte, zeigt er nun endlich ein wenig Rückgrat? »Mein Prinz …«

»Nach meinem Lied werde ich keinen schützenden Begleiter mehr benötigen, und Ihr könnt gehen, wohin es Euch beliebt, aber jetzt werdet Ihr mich zum Unterstand der Sänger begleiten. Ich werde dort auf meinen Auftritt warten, geradeso wie Ihr es einst getan habt.«

Sie durchquerten den Innenhof und traten in den Wintergarten an dessen Nordende. Sänger und Musiker, von denen die meisten unausgeruht und unterernährt wirkten, lungerten auf den Bänken oder saßen zwischen den immergrünen Sträuchern. Offensichtlich erkannte keiner von ihnen den Prinzen, denn niemand kam auf die Idee, aufzuspringen und ihm den eigenen Platz anzubieten. Lar schien das nicht zu bemerken; er schritt zur Mauer hin, von der aus man einen guten Blick auf den Innenhof und das Podium hatte.

Sincl fand sie am Geländer stehend und kümmerte sich auf die Bitte des Prinzen hin sogleich beflissen darum, ihm den Platz als letztem Sänger des Tages einzuräumen. Einer der Musiker begann nervös auf seiner Schoßharfe zu zupfen, und Sincl eilte sogleich auf den Mann zu, um ihm einen heftigen Tritt zu versetzen. Tejohn war froh, ihn von hinten zu sehen; der künstlerische Leiter der Aufführung war ein schwitzendes Nervenbündel.

Die Zelte unten im Innenhof waren bereits vor längerer Zeit aufgebaut worden, und der größte Trubel herrschte jetzt an den Tischen mit Speisen. Auf jedem der sechs Tische richteten Dienstboten die gleichen Köstlichkeiten an: Sauerkuchen, Zwiebelsuppe, Brei aus eingemachtem Obst, Blattröllchen, feuchten Reis und mehr. Das Abendvolk verzehrte kein Fleisch von Tieren, daher würden selbst für alles Gold der Morgenstadt während der restlichen Zeit der Festspiele weder gebratene Hühnerbrust noch gesottene Schlangen noch gefüllte Lammherzen irgendwo zu haben sein.

Palastwachen patrouillierten im Garten und durchsuchten die Sänger auf Waffen. Ihr Kommandant hieß Kellin und war ein alter Freund von Tejohn. Sie waren im gleichen Alter und spielten oft miteinander Karten oder traten in der Trainingshalle zu Übungskämpfen gegeneinander an. Er schien eine Frage stellen zu wollen, aber nicht zu wissen, wie er sie formulieren sollte.

Tejohn wusste, was das für eine Frage sein würde, und er hatte das Gefühl, es nicht ertragen zu können, sie zu hören. »Ich bin als Wache des Prinzen hier«, erklärte er unvermittelt. »Ich habe kein Lied zu singen.«

Kellin nickte. Er wirkte ein wenig enttäuscht. Er war noch nie ein Mann für leichtfertige Worte gewesen – und für ernste genauso wenig –, also schlug er Tejohn auf die Schulter, verneigte sich vor dem Prinzen und ging weiter. Als seine Männer fertig waren, schritten sie zu den Schauspielern im Garten nebenan hinüber.

»Col!«, rief Lar glücklich. Die Freunde des Prinzen kamen auf sie zu und umschwärmten sie. Die kleine Freibrunn war dabei, ebenso wie ihr älterer Bruder; Bittler hatte ihn und den anderen Jungen doch tatsächlich aufgespürt und mitgebracht, aber er hatte sie nicht dazu überreden können, sich zu waschen. Trotzdem, jemand, der sie nicht kannte, hätte sie für ordentliche, ehrbare Leute gehalten.

Lar und der junge Freibrunn umarmten einander, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen. Tejohn gab es höchst ungern zu, aber Colchua Freibrunn hatte wirklich mehr von einem Prinzen als Lar Italga: Sein Gesicht war breit und hübsch, sein Lächeln kühn. »Wir wollten einfach dabei sein, um dich aus dem Publikum auszubuhen, wenn du dich zum Narren machst!«, sagte Colchua.

»Danke, Col«, erwiderte der Prinz. »Auf dich kann ich mich immer verlassen.«

»Nervös?«, fragte der junge Bendertuk und grinste.

Lar nickte, während er sagte: »In gar keiner Weise. Warum sollte ich auch nervös sein?«

Sie lachten und redeten über Belanglosigkeiten, während ein Schatten langsam über sie hinwegglitt. Ein Flugwagen kreiste über dem Palast. Er landete schließlich auf dem Gelehrtenturm, und, nach einigen hektischen Bewegungen zu urteilen, von denen Tejohn indes nicht viel ausmachen konnte, stiegen ein paar Männer aus, bevor der Wagen wieder davonschwebte.

Die kleine Freibrunn löste sich aus der Gruppe und trat neben Tejohn an das Gartengeländer. Das Podium, auf dem der König und die Königin stehen würden, befand sich unter ihnen im Innenhof. Zwar gehörte es sich für Sänger, Schauspieler, Pantomimen und Possenreißer nicht, auf höherem Grund zu stehen als die königliche Familie, aber die Pforte würde sich nun einmal dort unten öffnen, an der gleichen Stelle wie üblich, sodass in diesem Punkt die angestammte Ordnung eben auf den Kopf gestellt werden musste. Kaufmannsfamilien, Palastdiener, namhafte Gelehrte und Ehrengäste saßen auf den Balkonen, beugten sich aus den Fenstern oder hockten auf Dachkanten oder an den Rändern der Promenaden.

Aber kein diensttuender Tyr war zugegen. Keiner der königstreuen, keiner der Verräter, überhaupt keiner.

»Diese Männer dort unten sind Palastwachen, nicht?«

Die kleine Freibrunn zeigte auf eine Reihe von Männern, die fünf Meter hinter den beiden Thronen standen. Ein jeder der Männer hielt eine lange Stange in der Hand, an der ein jeweils verschiedenfarbiger Wimpel befestigt war. »Das sind Athleten«, antwortete Tejohn und versuchte, den Ärger aus seiner Stimme herauszuhalten. Es sollten eigentlich keine Wachen oder Soldaten im Hof sein, wenn die Pforte geöffnet wurde, aber natürlich hatte Kellin auch die Pflicht, König und Königin zu beschützen. »Sie werden bei den Spielen antreten.«

»Ich erkenne sie.« Wenn das stimmte, hatte sie scharfe Augen, und das machte ihn nur noch argwöhnischer. Ein unvernünftiger Impuls, aber nur wenige wichtige Dinge waren vernünftig. »Sie tragen aber keine Waffen, oder doch?«

»Die Leute vom Abendvolk können Waffen spüren, also nein, die Athleten sind unbewaffnet.«