Die Quelle der Schatten - Harry Connolly - E-Book

Die Quelle der Schatten E-Book

Harry Connolly

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Beschreibung

Das Imperium von Peredain besteht nicht mehr. Was rasende Bestien nicht vernichtet haben, ist durch den Verrat und die Intrigen der Fürsten und benachbarten Reiche zerfallen. Doch Prinz Lar, gefangen im Körper eines Monsters, hat das eigentliche Ziel seines Kampfes nicht aus den Augen verloren: die Rettung der Menschheit. Doch dafür muss er den Strahlenden Weg beschreiten und so dem sicheren Tod gegenübertreten. All seine Hoffnung ruht nun auf seinen Freunden …

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Buch

Das einstige Imperium von Peradain ist eine verwüstete Landschaft von ausgebrannten, leeren Städten und verlassenen Ländereien. Der Fluch ist nun stärker denn je und breitet sich weiter quer über den ganzen Kontinent aus. Die Menschen fliehen vor den Monstern und ziehen in die fragwürdige Sicherheit der Stadtmauern. Doch die Vorräte für den Winter sind knapp …

Aber die Hoffnung bleibt. Tejohn Treygar weiß, dass das Überleben der Menschen von ihm abhängt. Ein Stück gestohlene Magie kann vielleicht die Ausbreitung des Fluchs stoppen, wenn Tejohn und Cazia den Gelehrten finden können, der die Fähigkeit besitzt, den Zauber auszulösen. Wenn ein solcher Magier überhaupt noch lebt, müssen sie ihn rasch aufspüren. Die letzten menschlichen Zufluchten sind isoliert und werden belagert. Wenn Cazia und Tejohn gegen den monströsen Feind zurückschlagen wollen, dürfen sie keine Zeit mehr verlieren!

HARRY CONNOLLY

DIE QUELLE DER

SCHATTEN

BANDDREIDER TRILOGIE

DER STRAHLENDE WEG

Aus dem Englischen

von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Way into Darkness (The Great Way 3)« im Selbstverlag.
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Harry Connolly Published by arrangement with Harry Connolly Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung und -illustration: Melanie Miklitza, Inkcraft Redaktion: Alexander Groß HK · Herstellung: sam Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-18035-5V002
www.blanvalet.de

Für J. R. R. Tolkien.

Ich stehe tief in seiner Schuld.

KAPITEL 1

Der große Saal von Tyr Iskol Zweifloss war nicht besonders groß, aber für eine Hinrichtung reichte es allemal. Tejohn wurde mit hinter dem Rücken gefesselten Händen hineingezerrt. Es waren Fesseln aus Seilen. Keine Ketten. Ketten waren teuer. Tejohn unternahm keinen Versuch festzustellen, ob seine Kräfte sich mit seinen Fesseln messen konnten.

Wenn der Herrschaftsbereich der Zweifloss so klein war, wie es den Anschein hatte, würde er sehr vorsichtig sein müssen. Kaum jemand wendete so schnell Gewalt an wie ein schwacher Feind, der um jeden Preis stark erscheinen wollte.

Tejohn schwieg, als man ihn vor den Zweifloss-Thron brachte. Sonnenlicht fiel durch die offenen Türen eines großen Balkons, und mit ihm drang der Geruch von Meerwasser herein. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, aber niemand hatte die Öllampen angezündet, die von den grob behauenen Holzbalken herabhingen.

»Was habt Ihr uns da eingebrockt?«, rief Oma Nin. Man hatte sie ebenfalls gefesselt in den Saal gebracht, auch wenn der Rest ihres Trupps von Kaufleuten auf dem Vorplatz hatte bleiben müssen, ringsum bewacht von einer Schar ängstlich aussehender junger Soldaten, die eigentlich noch Knaben waren. Sie befand sich in nächster Nähe von Javien, so dass er jedes Mal zusammenzuckte, wenn sie ihn anschrie. »Was habt Ihr nur gemacht? Wir sind angesehene Kaufleute aus ehrenwerten Familien. Ich selbst entstamme einer Familie der dritten Festspiele, und alle meine Leute gehen mindestens bis auf das achte zurück! Seid Ihr überhaupt ein richtiger Priester?«

Das ließ ihn antworten. »Natürlich bin ich ein richtiger Priester!«, rief Javien. Seine Stimme überschlug sich und verriet seine Angst, doch sie hatte ihm einen Grund gegeben, sich gekränkt zu fühlen, und das nutzte er nun als Anlass, um seine Position als Priester zu unterstreichen. »Ich bin ein Leuchter des Großen Weges, der das Volk von Kal-Maddum auf den wahren Pfad führt, und ich dulde es nicht, dass man mit mir spricht, als wäre ich ein hergelaufener Taschendieb!«

»Ich glaube Euch nicht!«, rief Oma Nin. »Mein guter Freund Iskol würde uns nie so behandeln. Ihr müsst den echten Leuchter ermordet und seine Röcke gestohlen haben!«

Javien schloss die Augen und bleckte die Zähne, aber er blieb ruhig. »Monument sei mir Stütze.«

»Weiß Sang, ich habe nichts Unrechtes getan«, rief Oma. »Man hat mich überlistet!« Sie wandte sich flehentlich an den Beamten, der sie draußen so herzlich begrüßt hatte. Tejohn fiel auf, dass sie ihn kein einziges Mal beim Namen nannte. Vielleicht war er ihr entfallen.

Es tat nichts zur Sache. Der Beamte schwieg. Er stand einfach nur in der Ecke des Saals und musterte die drei Gefangenen mit verkniffenem Gesicht. Tejohn blickte sich im Raum um und sah, dass er sich nun langsam füllte. Weitere Wachen erschienen, gefolgt von einem Mann in einem Brustharnisch, der ihm wahrscheinlich gepasst hatte, als er jung und gesund gewesen war, der aber jetzt über seinem Oberkörper hing wie der Panzer einer Schildkröte.

Drei Frauen betraten den Saal. Sie legten ihre langen Ärmel über den Mund, während sie miteinander tuschelten. Andere der im Raum Versammelten waren offensichtlich Kaufleute; es war in den kleineren Festungen gang und gäbe, dass Kaufleute einen beträchtlichen Einfluss auf den Tyr hatten; die kleinen Länder waren stärker vom Handel mit der Außenwelt abhängig als zum Beispiel Finstel oder Gerrit. Tejohn war sich nicht sicher, ob die Kaufleute darauf hofften, die Karawane plündern zu können, oder ob sie nicht vielmehr Angst davor hatten, dass ihnen eines Tages womöglich die gleiche Behandlung zuteilwerden würde. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war zu unbewegt, um ihn zu deuten.

Oma Nin sackte zur Seite und fiel auf die Hüfte. Tejohn konnte es ihr nicht verübeln. Der Holzboden drückte hart gegen seine Kniescheiben, aber er wollte, wenn er es irgend verhindern konnte, nicht unten am Boden liegen – nicht, wenn der Tyr endlich zu erscheinen geruhte. Zu knien war schon schlimm genug.

Doktor Zweifloss selbst war nirgendwo zu sehen.

Tejohn verfluchte sich für seine Dummheit. Er hatte gewusst, dass Doktor Zweifloss der Bruder des Tyrs einer der kleineren Bergfestungen war, aber nicht, wo genau diese Festung lag. Und er hatte das Banner draußen vor der Mauer vielleicht einmal im Leben gesehen, damals, als der Prinz seine Reise durch das Reich gemacht hatte. Doktor Zweifloss selbst hatte es natürlich niemals getragen. Als Soldat war Tejohn stolz darauf, die militärischen Abzeichen seines Heimatlandes zu tragen, aber Gelehrten war es nicht gleichermaßen gestattet, an ihren alten Bindungen festzuhalten. Sie legten einen Treueschwur auf die Familie Italga und den Gelehrtenturm ab.

Vielleicht hätte er dieses Wappen, die beiden mit Flossen versehenen Rückenwölbungen einer Wasserschlange, erkennen sollen. Vielleicht auch nicht. Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Momentan konnte er ohnehin nur noch darauf warten, dass der hiesige Tyr seinen spektakulären Auftritt hatte.

Iskol Zweifloss, Tyr der zweiflossschen Lande, war in seinem äußeren Erscheinungsbild Doktor Zweifloss sehr ähnlich, schien aber etwa zehn Jahre älter zu sein. Sein Haar war dünn und weiß, sein Gesicht eingefallen, und seine Augen wirkten ein wenig verstört, als hätte man ihm mitgeteilt, dass er es gleich mit einem wilden Tier zu tun bekommen würde.

Doch waren seine Gewänder grün mit weißem Besatz, im Gegensatz zu dem traurigen Schwarz der Finstels, was ihm etwas Lebhaft-Munteres verlieh. »Gut, gut!«, rief er, als er durch den Raum gerauscht kam, und er tat sein Bestes, selbstbewusst und beherzt zu klingen. Tejohn fand, dass in seiner Stimme eine gewisse Anspannung mitschwang. »Nin, es ist immer wirklich schön, Euch zu sehen, aber ich höre, Ihr hättet diesmal, ähm, ungewöhnliche Gäste mitgebracht.«

»Mein Tyr«, erwiderte Oma Nin und zwang sich zurück auf die Knie. »Ihr wisst um die Liebe, die ich für Euch und die Euren hege. Ich kann mir nicht erklären, warum Ihr mich so behandelt habt – als wäre ich eine gewöhnliche Verbrecherin. Ich habe einen Leuchter des Tempels in Ussmajil mitgebracht. Zumindest hat er behauptet, einer zu sein.« Sie klang beinahe so angespannt wie er.

»Wirklich? Hat er Euch priesterliche Dienste geleistet? Ehen geschlossen? Sie aufgelöst? Die Frischverstorbenen und die Neugeborenen gesegnet?«

»Das hat er, mein Tyr.«

»Und kannte stets den gebührenden Ritus?«

»Ja, mein Tyr«, antwortete Oma eifrig. Mehr und mehr schien sie die Zuversicht zurückzugewinnen, ihren »guten Freund« davon überzeugen zu können, dass sie nichts Böses im Schilde führte. »Er kannte jeden Ritus und schien mir ein frommer und freundlicher Mann zu sein.«

»Hm.« Tyr Zweifloss ließ sich auf seinem Thron nieder.

Tejohn hielt noch einmal nach Doktor Zweifloss Ausschau, aber er konnte ihn nirgends im Raum … Ah, da war er ja, stand plötzlich links hinter dem Thron des Tyrs. Tejohn war für einen Moment überrascht und erschrocken. Hohl gewordene Gelehrte, die sich selbst überlassen blieben, wurden zu Hexenmeistern. Sie entwickelten ihre eigenen seltsamen und gefährlichen Zauber und bedienten sich ihrer ohne Rücksicht auf Treuegelübde, ohne Achtung vor anderen oder auch nur vor den Banden der Familienliebe. Welcher Wahnsinnige konnte einen Hexer so nah an einen Tyr heranlassen? War der Mann für alle außer Tejohn unsichtbar?

»Also«, sagte der Tyr nach einer langen Pause, die wohl den Eindruck von angestrengtem Nachdenken erwecken sollte. Iskol Zweifloss war sichtlich kein großer Schauspieler. »Ihr habt demnach den Leuchter sorgfältig überprüft und Euch davon überzeugt, dass er genau der war, für den er sich ausgegeben hat.«

»Das habe ich getan, mein Tyr«, bestätigte Oma Nin. »Sehr sorgfältig.«

»Aber was ist mit seinem Leibwächter? Habt Ihr den ebenfalls überprüft?«

Diese Frage brachte Oma Nin gehörig in die Klemme. Sie sah Tejohn voller Schreck und Verwirrung an, als wäre sie nie auch nur im Entferntesten auf den Gedanken gekommen, sich seinetwegen zu beunruhigen.

»Es ist nicht ihre Schuld«, meldete sich Tejohn zu Wort. »Ich habe ihr gegenüber behauptet, mein Name sei Ondel Ulstrik.«

Tyr Zweifloss bedachte ihn mit dem gleichen leeren Blick, wie er ausgehöhlten Gelehrten eigen war. »Wenn er noch einmal ohne meine Erlaubnis das Wort ergreift, schneidet ihm die Zunge heraus. Es ist mir egal, wer er ist.«

Tejohn schloss den Mund. Feuer mochte das Ganze holen. Er hätte es besser wissen müssen, als zu versuchen, Oma Nin oder irgendjemandem sonst in einer solchen Situation zu helfen. Sollte sie sich selbst aus der Sache herausreden. Sie hatte das wahrscheinlich auch schon in allen möglichen anderen Gefahrensituationen hinbekommen.

»Wer?«, rief sie. »Wer? Wer? Was hat er denn getan? Wer ist er?«

»Das wisst Ihr nicht?«, fragte Tyr Zweifloss mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. »Das ist Tyr Tejohn Treygar, Held von Zwickhall, Weggefährte von König Ellifer Italga, Schwert- und Speermeister des Prinzen.«

Oma Nin blickte ihn erschrocken an. Tejohn erwartete halb, dass sie völlig entsetzt reagieren würde, aber stattdessen sah sie ihn an, als wäre er eine fremdländische Münze. Sie wusste nicht, was sie mit ihm anfangen sollte und ob es sich denn lohnte, so ein Geldstück aufzubewahren.

»Das wusste ich nicht. Haltet Ihr ihn für einen Spion, mein Tyr?«

»Ich glaube, dass er ein Meuchelmörder ist«, antwortete Tyr Zweifloss in aller Ruhe. »Ich glaube, dass er hergekommen ist, um auch mich und meinen Bruder umzubringen, sobald er eine Gelegenheit dazu erhält.«

Tejohn merkte sofort, wenn er es mit Hohn und Spott zu tun hatte, aber er hatte nicht vergessen, dass der Tyr gelobt hatte, ihm die Zunge herausschneiden zu lassen. Er wahrte Stillschweigen, auch wenn es ihm nicht gelang, eine ausdruckslose Miene beizubehalten.

Tyr Zweifloss grinste und beugte sich auf seinem Thron vor. »Das gefällt Euch nicht, wie? Es gefällt Euch nicht, dass wir Zweifloss aus einer kleinen und weitgehend vergessenen Festung Euch völlig durchschaut haben. Eure Spielchen, wie man sie im Palast spielt, werden hier niemanden beeindrucken. Ich werde die Wahrheit aus Euch herausholen, bevor der Mond sich wendet, mein Tyr, und Ihr werdet froh sein, sie mir zu sagen. Dann werde ich wissen, wann die Truppen der Italga kommen werden, wer sie anführen wird und wo wir Königin Amlian Italga selbst finden können.«

Paranoid. Der Mann war verrückt geworden.

»König Shunzik« Finstel hatte Tejohn ebenfalls einen Meuchelmörder genannt, aber Finstel hatte auch jeden Grund, seine Feinde zu fürchten. Er war zu allen Seiten von ihnen umringt – und an seiner Westgrenze machten ihm bereits jetzt die Überfälle der Bendertuks zu schaffen.

Doch die Mauern der Zweifloss waren nicht von Blut oder Feuer gezeichnet. Niemand war gekommen, um diese Tore niederzureißen. Wer würde sich auch die Mühe machen? Selbst der Pass hinüber in die Weiten Lande, den die Zweifloss kontrollierten, wurde nur selten genutzt. Durdrische Kämpfer und Alligaunten trieben an diesem westlichsten Ende der Weiten Lande ihr Unwesen, und das Land war zu sumpfig für die Hirtenvölker. Oma Nin und ihre kleine Karawane dürften so ziemlich der größte Trupp sein, dem zu begegnen die Zweifloss erwarten konnten.

Die Lande der Zweifloss waren weit abgelegenes Hinterland und waren es immer gewesen. Armer Iskol Zweifloss – wie sehr ihn das doch gewurmt haben musste.

»Nun?«, rief der alte Tyr. »Ihr wollt es also nicht einmal abstreiten?«

Tejohn räusperte sich. »Mit Eurer gütigen Erlaubnis zu sprechen, mein Tyr.«

Tyr Zweifloss’ Augen wurden groß vor Ärger, aber er hielt sich im Zaum. Doktor Zweifloss, der immer noch neben ihm stand, starrte Tejohn mit der ganzen tröstlichen Herzlichkeit einer hungrigen Eule an. »Ich erteile sie Euch«, sagte der alte Mann.

»Ich habe Ellifer und Amlian Italga einen Treueeid geleistet. Wenn sie noch rührig und am Leben sind, wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr mir mitteilen würdet, wo sie sich befinden. Ich würde dann auf der Stelle zu ihnen zurückkehren.«

»Pst«, gebot der alte Tyr mit einer knappen Handbewegung. Tejohns Antwort schien ihn nicht überrascht zu haben. »Wir haben alle die Geschichten gehört. Wir wissen, dass Amlian und Ellifer dem Gemetzel an jenem ersten Tag der Festspiele im Palast von Sang und Morgen entronnen sind. Wir wissen das, weil Königin Amlian einen Zauber beherrscht und eingesetzt hat, den das ganze Reich für verloren gegangen hielt: das achte Geschenk des Abendvolks. Wir wissen, dass sie sich mit neunzehnhundert Speerträgern und vierhundert Bogenschützen in eine geheime Festung im Osten zurückgezogen haben.«

Tejohn konnte der Versuchung nicht widerstehen zu fragen: »Wer hat Euch all das erzählt?«

»Reisende«, antwortete der alte Tyr mit hörbarer Befriedigung. »Reisende, die die Tore unserer Stadt passiert haben. Wir haben mit Dutzenden von ihnen gesprochen, Menschen, die nichts voneinander wussten, die keine Möglichkeit hatten, sich untereinander zu verschwören, ehe sie hierhergekommen sind, und sie alle berichten ähnliche Geschichten. Der König und die Königin von Peradain leben noch, und sie bedienen sich der Grunzer, um das Land von jenen Völkern zu säubern, die ihnen am lästigsten sind.«

»Ich weiß, dass Ihr mir nicht glauben werdet«, begann Tejohn, »aber diese Geschichten sind falsch.«

»Ha! Wir haben sie viele Male gehört! Aus zahlreichen Quellen!«

Javien räusperte sich. »Wenn ich sprechen darf, mein Tyr.«

Tyr Zweifloss machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern nickte nur und gab ihm die Erlaubnis mit einem Wink seiner Hand.

»Wir haben solche Geschichten ebenfalls gehört. Die einfachen Leute verbreiten sie von Stadt zu Stadt, von Karawane zu Karawane. In Kriegszeiten breiten sich immer Gerüchte aus. Es ist unmöglich, das zu verhindern.«

»Haltlose Gerüchte, hm? Einfache Leute, die einander alle die gleichen Lügengeschichten auftischen. Ist es das, was Ihr mich glauben machen wollt? Ich hätte gedacht, Ihr wüsstet es besser.«

»Er nicht«, sagte Tejohn. »Ich schon. Wie Euer Bruder Euch sicherlich erzählt hat, war ich dort, in Peradain, am ersten Tag der Festspiele. Ich habe gesehen, wie sich das Tor öffnete. Ich habe die Grunzer durchkommen sehen. Ich habe Königin Amlian Italga sterben sehen.«

Bei diesen Worten ging ein Raunen durch die Menge, das zu überhören Tyr Zweifloss sich alle Mühe gab. Doktor Zweifloss machte immer noch nicht den Anschein, als ob irgendetwas von dem, was gesprochen wurde, ihn auch nur im Geringsten etwas anginge. Tejohn versuchte zu erkennen, ob seine Wangen feucht von Tränen waren, aber dafür war es nicht hell genug.

»Andererseits«, fuhr Tyr Zweifloss fort, »wenn Euer geliebter König und Eure geliebte Königin Euch in die Welt gesandt hätten, um diese Geschichte zu verbreiten, würdet Ihr das mit Freuden tun. Ihr würdet mir in die Augen schauen und alles sagen, was sie Euch zu sagen aufgetragen hätten. Nicht wahr?«

»Ich würde tun, was immer der König und die Königin von mir verlangten, sofern es in meiner Macht stünde.«

»Seht Ihr!« Der alte Tyr sprang von seinem Thron und schritt mit hochrotem Gesicht auf Tejohn zu. Er schien zu glauben, damit ein gewichtiges Argument auf seiner Seite zu haben. »Ihr gebt zu, dass Ihr mich belügen würdet!«

»Wenn der König es mir befohlen hätte, würde ich es natürlich tun. Ich habe geschworen, ihm zu dienen.« Tejohn hatte die Hoffnung aufgegeben, den Tyr dazu bewegen zu können, sein Leben zu verschonen. Jetzt sprach er nur noch, um die anderen im Raum zu beeindrucken, in der Hoffnung, dass einer oder mehrere von ihnen ein gutes Wort für ihn einlegen würden. Er brauchte sie nur davon zu überzeugen, dass sein Leben von hohem Wert war. »Allein, der König hat mir keinen solchen Befehl erteilt. Vom ersten Moment an stand er an vorderster Front der Schlacht. Ich habe ihn nicht sterben sehen, aber er ist im Kampfgetümmel untergegangen.«

»Und doch hält sich beharrlich das Gerücht, dass die Königin den König mithilfe des achten Geschenks hat verschwinden lassen.«

Tejohn versuchte sich daran zu erinnern, um welche Art Zauber es sich beim achten Geschenk handelte. Hatte er Doktor Zweifloss oder irgendeinen der anderen Gelehrten im Palast je davon sprechen hören? »Ich kenne diesen Zauber nicht.«

»Das ist der Teleportationszauber«, erklärte Javien.

Doktor Zweifloss trat mit plötzlicher Eile hinter dem Thron des Tyrs hervor. Er beugte sich über den am Boden knienden Javien und hielt die Hand über den Kopf des Priesters, als wollte er die Hitze eines Lagerfeuers beurteilen. »Der da«, verkündete Doktor Zweifloss, »ist ein Gelehrter. Ich spüre die Magie in ihm.«

»An den Schandstock mit ihm!«, schrie Tyr Zweifloss mit sich überschlagender Stimme. »Erhitzt die Brandeisen! Ich werde das achte Geschenk aus ihm herausholen, oder sein Herzblut soll an meinen Händen kleben!«

Zwei Speerträger packten Javien an den Ellbogen und stellten ihn auf die Füße.

»Es gibt gar kein achtes Geschenk!«, schrie der Leuchter. »Es ist schon vor Generationen verloren gegangen! Das geschah mit Absicht! Ich kenne es nicht. Niemand kennt es!«

Tejohn zwang sich, den Blick von dem völlig verängstigten jungen Priester abzuwenden. Er spürte, wie der Drang zu kämpfen in ihm wuchs; er war wie ein Funke, der danach strebte, zu einem lodernden Feuer zu werden. »Selbst ich habe die Geschichten von diesem Zauber gehört«, sagte Tejohn ruhig. »Hat der König der achten Festspiele, wie immer sein Name auch war, nicht jeden Gelehrten hinrichten lassen, der den Zauber erlernt hatte? Wie Ihr fürchtete er einen Meuchelmord.«

»Das hat er damals behauptet, und Ihr sollt wissen, dass sein Name König Imbalt Winslega war. Aber denkt einmal nach: Ergibt es denn wirklich einen Sinn, dass sich ein peradainischer König gegen seine wertvollsten Verbündeten wenden sollte, die Gelehrten von Peradain, nur um einen einzigen Zauber aus der Welt zu schaffen? Ich glaube das nicht. Es sind die Gelehrten, die die Peradaini über all die vielen Generationen hinweg an der Macht gehalten haben, und wir Zweifloss sind nicht so leichtgläubig anzunehmen, dass sie irgendeinen Teil ihrer Macht, welcher Art auch immer, je aufgeben würden. Nein, mein Tyr,die Könige von Peradain würden niemals einen Zauber verloren gehen lassen. Sie würden ihn nur geheim halten. Sie würden ihn für sich selbst behalten wollen.«

»Ihr glaubt nicht, dass sie ihre Macht aufgeben würden«, entgegnete Tejohn. »Dennoch glaubt Ihr, dass sie ihren eigenen Palast zerstört, jedermann im Gelehrtenturm getötet und dann ihre eigene Hauptstadt geschleift haben. Im Anschluss, so meint Ihr, haben sie die Grunzer auf die Ländereien in ihrer Nähe losgelassen, Ländereien, in denen weit und breit nur ihre engsten Verbündeten lebten. Und all diese Macht hätten sie aufgegeben, nur um ihr altes Reich von neuem zu erobern? Mit weniger als zweitausend Speerträgern?« Er neigte den Kopf. »Ich muss gestehen, diese Theorie verblüfft mich. Es ist wahr, dass ich ein Tyr bin, aber ich bin nicht als Tyr geboren worden. Ich bin unter dem einfachen Volk aufgewachsen. Derart verschlagene höfische Intrigen übersteigen mein Fassungsvermögen.«

»Versucht nicht, dieses Spiel mit mir zu spielen!«, rief Tyr Zweifloss. Er wirkte beinahe erheitert. »Ihr könnt nicht so viel Zeit mit Amlian Italga verbracht haben, ohne ein paar ihrer Tricks zu erlernen!«

»Tatsächlich habe ich die Königin nur sehr selten gesehen«, bekannte Tejohn. »Und den König noch seltener. Ich bin gewiss nicht ihr Vertrauter gewesen. Meine Aufgabe im Palast hat darin bestanden, den Prinzen im Umgang mit dem Schild und dem Speer auszubilden, und außerdem …«

»Aha! Seht Ihr?« Tyr Zweifloss strahlte im Bewusstsein des Sieges. Nichts, was Tejohn gesagt hatte, konnte den Panzer seiner Gewissheit durchdringen. »Ihr habt ihn ›den Prinzen‹ genannt. Wenn König Ellifer wirklich tot wäre, hättet Ihr ihn ›König‹ genannt. Wir sind hier draußen auf dem Land nicht so leichtgläubig, wie Ihr Stadtleute zu glauben scheint.«

»Es war einfach Gewohnheit, mein Tyr«, antwortete Tejohn wahrheitsgemäß.

»Eine gefährliche Gewohnheit«, entgegnete Tyr Zweifloss immer noch grinsend. »Wer den Italgas nicht den geziemenden Respekt erweist, könnte rasch bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Ich war lediglich der Lehrmeister des Knaben.«

Doktor Zweifloss beugte sich zu seinem Bruder hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Tejohn konnte nicht hören, was er sagte, aber der Tyr kniff die Augen zusammen und wurde nachdenklich.

»Gegen meinen Willen bin ich fast bereit, Euch zu glauben.«

»Hat …« Tejohn wusste, wie gefährlich es war, in seiner Position Fragen zu stellen. »Darf ich noch etwas fragen?«

»Ja«, sagte der alte Tyr.

»Hat Euer Bruder den Eid gebrochen, den er mir geleistet hat?«

»Ah.« Tyr Zweifloss legte seine Finger so zusammen, dass sie ein kleines Dach bildeten. »Ich habe mir schon gedacht, dass Ihr diese Frage stellen würdet. Ja, er hat seinen Eid gebrochen – auf meinen Befehl hin. Als sein Tyr habe ich ihm befohlen, sich an keinen der Eide mehr gebunden zu fühlen, die er anderen geschworen hat. Um meinetwillen. Er ist kein peradainischer Gelehrter mehr und schuldet der königlichen Familie rein gar nichts. Der Flugwagen, den er mir gebracht hat, ist zu wertvoll, um ihn einem anderen Italga auszuhändigen; wir könnten nicht so viele Speerträger erübrigen, wie es bräuchte, um ihn bei einer Reise auf dem Landweg zu beschützen. An diesem Ende der Weiten Lande wimmelt es von Alligaunten, wie Ihr wisst. Vermutlich seid Ihr genau deshalb hierhergekommen, um ihn zu ermorden.«

Tejohn schüttelte den Kopf. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich durch Zweifloss-Lande reiste, hätte ich einen anderen Weg gewählt. Was auch immer zwischen dem Gelehrten und mir vorgefallen ist – die Mission, mit der mich Lar Italga beauftragt hat, hat Vorrang.«

»Ja, dieser Zauber«, sagte Zweifloss. »Mein Bruder hat mir Eure Geschichte erzählt. Für mich hört es sich danach an, als wolltet Ihr versuchen, einen anderen Italga auf den Thron der Schädel zu setzen.«

»Peradain ist gefallen, die Stadt ist niedergebrannt, ihre Speerträger sind tot oder in alle Winde verstreut. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Ihr Eure Aufmerksamkeit nicht mehr auf irgendwelche nicht vorhandenen Verschwörungen toter Könige verschwendet, sondern sie auf den Feind richtet, der sich in Kal-Maddum ausbreitet.«

Tyr Zweifloss’ Grinsen wurde breiter. »Warum sollte ich einen Rat von Euch annehmen, wo Ihr doch nur eine Marionette des Königs seid?«

»Ihr seid mir etwas schuldig«, erklärte Tejohn. »Ich habe Euren Bruder aus einem Gefängnis der Finstels befreit.«

»Das habt Ihr«, pflichtete Tyr Zweifloss ihm bei, immer noch ein breites Feixen auf dem Gesicht. »Das habt Ihr. Verratet mir, welche Gefälligkeit kann ich Euch zur Bezahlung dieser Schuld gewähren?«

Lasst mich frei, damit ich meine Frau und meine Kinder wiedersehen kann.

Aber nein, darum konnte Tejohn ihn nicht bitten.

KAPITEL 2

Iskol wartete auf seine Antwort.

»Lasst den Leuchter nicht foltern«, sagte Tejohn. Es war bitter, diese Worte zu äußern. Er wollte, dass die Seile von seinen Armen verschwanden. Er wollte die Freiheit, aufrecht vor diesem unmenschlichen Emporkömmling zu stehen und nicht zu knien. Er wollte ein Stück scharfen Stahls in Doktor Zweifloss’ Bauch stoßen. Aber wenn er um irgendetwas dieser Art bat, würde er gar nichts bekommen. »Nachdem ich Euren Bruder aus dem Verlies der Finstels gerettet habe, hat er mich aus dem Wagen und direkt vor die feindlichen Speerträger geworfen. Ich wurde gefangen genommen und gefoltert. Wäre der Tempel nicht gewesen, wäre ich immer noch dort. Bei meiner Ehre, ich werde Euch alles sagen, was Ihr wissen wollt, aber bitte, tut diesem Jungen nicht weh.«

»Einverstanden.« Tyr Zweifloss gab einem der Speerträger, die an der Tür Wache standen, ein Zeichen. Der junge Mann eilte herbei und kniete nieder. Für eine Wache eines Tyrs sah er allzu gut genährt aus. »Sorg dafür, dass man den Leuchter aus dem Schandstock holt. Er soll den luftigsten Ort im westlichen Teil der Festung haben. Ich werde unsere Gäste vielleicht bald zu ihm bringen.«

Der junge Mann eilte davon.

Tejohn rechnete voll und ganz damit, nun selbst in diesen Schandstock gesteckt zu werden.

»Nin«, sagte der alte Tyr. »Ich bin Euch mit Argwohn begegnet, als Ihr es nicht verdient hattet. Bin ich ein alter Narr, weil ich Euch nicht getraut habe?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete die Kauffrau vorsichtig. »Ihr seid ein weiser Tyr, der seine Länder und seine Untertanen beschützt. Ich würde nichts Geringeres von einem Mann Eures Formats erwarten.«

»Ihr Klatschbasen«, wandte sich Zweifloss an die drei Frauen mit den langen Ärmeln, »bindet sie bitte los und bringt sie hinaus an die Sonne. Aber seht zu, dass ihr schnell wieder da seid.«

Sie taten wie geheißen. Als sie wieder zurück waren, ruhten aller Augen im Saal auf Tejohn.

»Also«, sagte Tyr Zweifloss, »jetzt berichtet mir alles.«

Tejohn berichtete. Er begann mit der Anweisung der Königin an ihn, dafür zu sorgen, dass der Prinz am ersten Tag der Festspiele nüchtern blieb. Er beschrieb, wie die Pforte sich öffnete und die Grunzer angriffen. Er beschrieb den Kampf und Amlians Sturz. Er berichtete ihnen, wie er mit dem Prinzen zum Gelehrtenturm geflohen war.

Während er seine Geschichte erzählte, trat ein älterer Mann in einem aus Flicken zusammengesetzten Leinengewand immer näher an ihn heran. Sein Gesichtsausdruck war konzentriert und aufmerksam, als wollte er sich jedes Zucken in Tejohns Gesicht während der Wiedergabe seines Berichts einprägen.

Ein Barde. Großartig. Schon bald würde diese Geschichte in Verse gefasst werden, aber es würde dann wahrscheinlich Doktor Zweifloss sein, der den Prinzen und die indregaische Prinzessin rettete.

Wie auch immer. Tejohn erzählte ihnen alles, bis auf die Tatsache, dass Lar Italga gebissen worden und in einen Grunzer verwandelt worden war. In Tejohns Version trennte sich der Prinz von der Gruppe, als sie nach Caarilit gingen, fest entschlossen, sich einen Weg durch die Berge zu suchen. Tejohn unterließ es auch, die Kammer der verschworenen Dienerschaft zu erwähnen, die im Untergrund der Finstel-Ländereien aktiv war. Er hatte einen Eid geleistet, ihr Geheimnis zu hüten; außerdem war Iskol der Typ Mensch, der glauben würde, eine solche Kammer stelle eine Verschwörung gegen ihn selbst dar. Wenn er so schnell damit bei der Hand war, einen Leuchter foltern zu lassen, wollte sich Tejohn gar nicht ausmalen, was er wohl mit Dienern anstellen würde.

Seltsamerweise schienen diejenigen Teile seiner Geschichte, die Tejohn sich ausdachte, die einzigen zu sein, die Tyr Zweifloss ihm unbesehen abnahm. Er hinterfragte alles, angefangen von dem Zauber, den Doktor Kriegbad auf dem Gelehrtenturm eingesetzt hatte, bis hin zu den Namen der Soldaten, die ihm in Samsit und Caarilit begegnet waren.

Der Tyr bat Tejohn außerdem mehrmals, von seinem Aufbruch aus Fort Caarilit zu berichten. Wie hatte sich der Kommandant verhalten? Wer waren die Soldaten, die er ausgesandt hatte, damit sie Tejohn am Fluss einen Hinterhalt legten? Wie hatten sie ausgesehen? Welche Hautfarbe, wie groß, irgendwelche Narben?

Es wurde schnell deutlich, dass Zweifloss auf den Gedanken gekommen war, dass die anderen Tyre vielleicht Meuchelmörder auch auf ihn ansetzen würden, und die Vorstellung, dass sich einer dieser Männer schon bald innerhalb seiner Mauern befinden könnte, machte ihn sichtlich nervös.

Unglücklicherweise war das alles in den Tagen geschehen, als Tejohn noch so kurzsichtig gewesen war, dass es fast schon an Blindheit grenzte. Er hatte die Gesichter dieser Männer nie gesehen, und Arla, seine Späherin, hatte sie ihm nicht besonders detailliert beschrieben. Anstelle der Soldaten aus Fort Caarilit beschrieb er daher zwei der Männer, die er hingerichtet hatte, nachdem sie von Grunzern gebissen worden waren. An die erinnerte er sich recht genau, und es war kaum wahrscheinlich, dass sie jetzt noch einmal auftauchen würden. Er entschuldigte sich dafür, dass er nicht nah genug an die anderen herangekommen war, um sich ihre Züge genauer einprägen zu können.

»Gut, gut!«, rief Tyr Zweifloss, als er endlich zu der Überzeugung gelangt war, dass sich aus Tejohns Geschichte keine weiteren Einzelheiten mehr würden herausquetschen lassen. »Ihr habt da ein ordentliches Abenteuer hinter Euch gebracht.«

Das Lächeln des Tyrs wirkte echt, aber Tejohn vertraute ihm nicht. »Ich habe das Reich zusammenbrechen sehen, vom Höchsten bis zum Niedersten.«

»Gut so!«, erwiderte der alte Tyr. »Dieses Reich war ein Fluch, der auf Kal-Maddum lastete. Allein schon die Steuerlast hat vielen meiner Untertanen leere Schüsseln und staubige Speisekammern beschert. Ich bin froh, dass es nun mit ihm zu Ende ist.«

Nur, dass mit dem Untergang des Reiches so viele Menschenleben verloren gegangen sind … »Die Peradaini waren trotz all ihrer Fehler Menschen. Der Segen wird sich nicht zufriedengeben, ehe wir nicht alle ausgelöscht worden sind.«

»Die Italgas werden …« Tyr Zweifloss brach mitten im Satz ab. »Eure Geschichte klingt glaubhaft. Die Italgas sind also wirklich untergegangen?«

»Peradain und der Gelehrtenturm waren das Herz der Macht der Italgas. Sie hätten dieses Herz niemals zerstört, es sei denn, sie wären wahnsinnig geworden; und was immer Ihr von ihnen halten mögt, Ellifer und Amlian waren nicht wahnsinnig. Wenn sie einen Fluch hätten entfesseln wollen, um damit ihre Feinde auszulöschen, hätten sie das in den Ländereien der Simblins oder der Freibrunns getan.«

»Wenn es nicht die Italgas gewesen sind«, fragte der alte Mann, »wer war es dann?«

Tejohn holte tief Luft. Die wahrscheinlichste Antwort war: niemand. Es war möglich, dass wirklich niemand hinter den Grunzern steckte. Manchmal streunt ein Bär in dein Haus. Manchmal pirscht ein Graslöwe durch deine Felder. Schlimme Dinge geschehen. Nicht alles ist eine Verschwörung.

Aber Tejohn war unter Bauern aufgewachsen, Leuten, die tagelang über die immer gleichen Dinge tratschen konnten. Für manche steckte hinter jedem Ereignis ein Plan, und es war zwecklos, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen.

»Ich hatte eine Menge Zeit, um darüber nachzudenken.« Tejohn wählte seine Worte mit Bedacht. »Mir scheint, dass es zwei gut denkbare Möglichkeiten gibt. Die eine ist die, dass das Abendvolk selbst sich gegen die Peradaini gewandt und den Segen so auf sie losgelassen hat, wie wir vielleicht einen Feind mit einem Hagel von Pfeilen beschießen würden. Die andere besteht darin, dass das Abendvolk seinerseits von irgendeinem Feind überrollt wurde, von dem wir nichts wissen, und dass ihr Krieg sich dann auf Kal-Maddum ausgedehnt hat.«

»Das Abendvolk hat sich gegen die Italgas gewandt!« Der Tyr schlug sich aufs Knie und lachte laut. Tejohn tat das eine, was zu tun er eigentlich hatte vermeiden wollen: Er warf einen Blick zu Doktor Zweifloss hinüber. Das Gesicht des alten Gelehrten war völlig leer, und seine Wangen waren tränenüberströmt. »Der alte Ellifer hat die Todespeitsche seines Herrn schmecken müssen! Ha!«

»Diese Peitsche wartet auf uns alle, wenn sich der Gang der Schlacht nicht zu unseren Gunsten ändert.«

Zweifloss tat das als eine eher unbedeutende Sorge ab. Er lächelte wie ein Kind, das sich über ein Geschenk freut. »Die Zweifloss können diese Pest binnen Tagen wegwischen.«

Das war nicht gerade das, was Tejohn zu hören erwartet hatte. Hatte der Mann Wahnvorstellungen, oder verfügte Doktor Zweifloss genau wie damals Doktor Kriegbad über einen Zauber, von dem Tejohn nichts wusste? Selbst der Zauber, den aufzuspüren Lar ihn gebeten hatte, würde zunächst einen langen und blutigen Feldzug erfordern. Kannten die Zweifloss einen besseren Zauber, der die Grunzer zu vernichten vermochte?

Tyr Zweifloss erhob sich von seinem Thron und ging zu den Kaufleuten hinüber, die an den Wänden des Saals standen. Zwei Soldaten verließen ihre Plätze, um neben ihn zu treten. Aus Gewohnheit machte sich Tejohn schnell ein Bild von ihnen: Sie waren jung, hatten einen schlurfenden Gang und hielten ihre Speere zu tief unten am Schaft. Vielleicht waren sie Mitglieder der Familie des Tyrs, die eher um ihrer Loyalität als um ihrer Fähigkeiten willen ausgewählt worden waren.

Was die Kaufleute betraf, so hatten sie Tejohns lange Vernehmung mit der geübten Gelassenheit von Hausdienern über sich ergehen lassen. Die Art und Weise, wie man Tejohn gezwungen hatte, dieselben Geschichten wieder und wieder zu erzählen, musste sie unglaublich gelangweilt haben, aber sie verbargen es gut.

Doktor Zweifloss behielt seine Position hinter dem Thron des Tyrs bei.

Der Tyr paradierte an der Reihe aus Kaufleuten, Beamten und »Klatschbasen« vorbei wie ein Bräutigam bei einer Hochzeit. Er schüttelte Hände und nahm sich bei jedem einige Augenblicke Zeit für ein kurzes Gespräch.

Als er fertig war, stand die Sonne schon so tief am Himmel, dass ihr Licht durch den offenen Balkon fiel und sie beinahe auch Tejohn selbst in ihre Strahlen getaucht hätte. Der kniete noch immer auf dem Holzboden und hatte einen schmerzhaften Krampf in den Beinen. Der lange Kampf, den Schmerz zu verbergen, begann seine Fähigkeiten zu übersteigen.

»Mein Tyr Treygar«, sagte Zweifloss schließlich, »habt Ihr schon etwas gegessen? Was bin ich doch für ein schrecklicher Gastgeber gewesen. Bringt ihm einen Laib Brot.«

Als wäre es vorab bereits so geplant gewesen, trat ein Diener drei Schritte vor und stellte einen Teller mit ganz gewöhnlichem Brot auf den Boden. Tejohn würde sich zum Essen hinabbeugen müssen wie ein Hund.

Früher einmal hätte er jetzt einfach geradeaus gestarrt, als wären solche Beleidigungen nicht der Beachtung wert, Feuer mochte die Konsequenzen holen. Doch jetzt hatte er wichtigere Sorgen als seine Ehre. Trotzdem, er hoffte immer noch darauf, Verbündete in Zweifloss’ Gefolge zu finden – wenn der Tyr ihn nicht ohnehin auf der Stelle hinrichten ließ –, und wer würde sich schon mit einem Hund verbünden?

»Danke für das Brot«, sagte Tejohn. Seine Stimme war klar und deutlich. »Dürfte ich Euch auch um einen Stuhl und einen Tisch bitten?«

Tyr Zweifloss trat vor ihn hin und bückte sich tief. »Ihr habt den ganzen Nachmittag in dieser Position verbracht, Tejohn Treygar. Fühlt Ihr Euch ein wenig unbehaglich?«

Die beiden Wachen rechts und links hinter ihm leckten sich die Lippen und sahen einander verstohlen an. Machte er sie nervös? »Ich bin nicht mehr so jung, wie ich es einmal war, das stimmt. Bei Anbruch der Dunkelheit werde ich vermutlich da und dort ein Zwicken in meinen Gliedern verspüren.«

Der alte Mann lachte, Monument sei Dank, und deutete auf Tejohn. Starke Hände griffen nach seinen Armen und hoben ihn hoch.

Der Schmerz ließ ihn unwillkürlich aufkeuchen. Seine Beine fühlten sich an, als stünden sie in Flammen, aber er wahrte das Gleichgewicht, selbst als nun jemand an seinen Fesseln zerrte.

Zu Tejohns Überraschung wurden ein Tisch und eine Bank von den Dachsparren herabgelassen. Er hatte noch nie von einem Haushalt gehört, der seine Möbel in die Lüfte hob, bis sie unsichtbar waren. Wie auch immer: Er wurde aufgefordert, sich zu setzen und zu essen. Und das tat er auch.

Ein Diener brachte ihm eine Schale mit einer Art getrockneter grüner Blätter, die nach Meerwasser schmeckten. Seltsam, aber nicht schlecht, vor allem da er nichts mehr gegessen hatte, seit Omas Karawane an diesem Morgen das Frühstück zu sich genommen hatte. Es überraschte ihn nicht, dass sich niemand zu ihm gesellte. Alle im Raum hatten fast so lange wie er nichts gegessen, aber niemandem wurde eine Mahlzeit angeboten, und niemand ließ irgendein Interesse erkennen, auch etwas essen zu wollen.

Diener rissen einen Seitenschrank auf und holten große Holzschüsseln und lange Holzrohre heraus. Tejohn beobachtete, wie eine kleine Schale auf einen Schemel in der Mitte des Saals gestellt wurde, während eine andere, die so groß war wie ein halbes Fass, in der Nähe auf dem Boden positioniert wurde. Beide wurden mit einem Holzrohr verbunden, das sanft festgeklopft wurde, um sicherzustellen, dass nichts herauslief. Sodann brachte man weitere Schalen und Rohre herbei und verband sie ebenfalls miteinander.

Sobald sein schlimmster Hunger gestillt war, stand Tejohn auf und näherte sich der Vorrichtung. Seine Beine waren zwar noch steif, fühlten sich aber schon viel besser an als zuvor. Dennoch achtete er darauf, sich langsam und zögernd zu bewegen. Es war deutlich zu erkennen, dass er die Wachen immer noch sehr nervös machte, und er wollte sie nicht erschrecken.

»Einer meiner Neffen hat mir das hier gezeigt«, erklärte Tyr Zweifloss. Er redete offensichtlich mit Tejohn, obwohl er sich nicht dazu herabließ, ihn direkt anzusehen. »Ihr mögt auf einem Bauernhof groß geworden sein statt an einem Königshof, aber ich wette, Ihr habt in den Palästen der Italgas alle möglichen ehrgeizigen Pläne zu sehen bekommen. Nun, die Zweifloss mögen keine in die Wolken ragenden Türme aus rosa Granit besitzen wie unsere einstigen Herrscher, aber wir verfügen über unsere eigenen Künste.«

Eine alte Frau in Dienerkleidern rollte einen Karren in den Raum. Darauf befand sich ein Fass, in dem das Wasser bis zum Rand schwappte. Tyr Zweifloss griff sich eine Schöpfkelle mit langem Stiel und hielt sie Tejohn hin. Er griff danach.

»Nur zu. Füllt die obere Schale.«

Tejohn schöpfte Wasser in die kleine Schale auf dem Schemel. Als das Wasser die Höhe des Rohrs erreicht hatte, floss es in das halbe Fass hinüber. Das Geräusch von fließendem Wasser weckte in ihm das Verlangen, seine Blase zu entleeren, aber das sagte er nicht. Schöpfen. Gießen. Schöpfen. Gießen. Schon bald füllte sich das Fass.

Schließlich stieg der Wasserstand im Fass über die Höhe des Schemels. An diesem Punkt hörte die kleine Schale auf leerzufließen und füllte sich stattdessen mit der gleichen Geschwindigkeit wie die größere.

»Der Wasserstand ist jeweils gleich«, bemerkte Tejohn. Er goss Wasser in das halbe Fass, aber die Wirkung war die gleiche. Eine Schale war riesig und eine klein, aber egal in welche er neues Wasser goss, es füllte beide Schalen gleichzeitig, so dass der Wasserspiegel jeweils gleich blieb.

»Jetzt passt auf.« Tyr Zweifloss griff in die kleine Schale und zog einen Korken aus einem zweiten Rohr. Das Wasser in der kleinen Schale floss sofort hinunter in eine dritte Schale auf dem Boden, die nicht größer war als ein Suppentopf. Gleichzeitig sank das Wasser in dem halben Fass ebenfalls. »Was sagt Ihr jetzt?«

»Alles Wasser, das höher stand als das zweite Rohr, ist in die dritte Schale geflossen. Das Wasser will überall gleich sein. Ich wette, würde ich noch mehr Wasser in dieses halbe Fass gießen, würde alles auf der anderen Seite hinausfließen.«

»Ja.« Zweifloss nahm ihm die Schöpfkelle ab und warf sie auf den Karren. »Alles, was sich über diesem zweiten Abflussrohr befindet, würde abfließen, und wäre der dritte Behälter recht klein, gäbe es eine Überschwemmung. Also, stellt Euch vor, dieser große Behälter, den Ihr ein halbes Fass nennt, wäre so gewaltig wie die ganze Welt.«

Tejohn hatte keine Ahnung, worauf das Ganze hinauslaufen sollte, aber in seinem Nacken begann es zu kribbeln. »Die Welt ist tatsächlich bereits so, nicht wahr, mein Tyr?«

»Wenn Ihr die Gezeiten und die wogenden Wellen außer Acht lasst, deren Auswirkungen vernachlässigbar sind, erreicht das Meer überall an den Gestaden Kal-Maddums die gleiche Höhe. Es hat seinen eigenen gleichmäßigen Wasserstand gefunden. Doch was würde geschehen, wenn ein weiteres, tieferes Meer damit verbunden würde?«

Tejohn deutete auf den Boden. »Die Überlaufschalen.«

»Ja. Lasst mich Euch eine andere Frage stellen: Woher kommt der Wind, der durch die Weiten Lande weht?«

Der plötzliche Themenwechsel verblüffte Tejohn. »Der Wind in den Weiten Landen?«

»Vertraut mir, Tyr Treygar, wir sprechen immer noch über das gleiche Thema.« Tejohn hatte sich seine Gedanken vom Gesicht ablesen lassen, aber der alte Mann schien sich darüber zu freuen. »Der Wind der Weiten Lande. So beständig. So unwandelbar. Woher kommt er? Und warum riecht er so sauer?«

Tejohn wusste keine Antwort. »Ich vermute, er kommt von demselben Ort, von dem jeder Wind kommt, mein Tyr, aber er muss zuerst durch die schmale Gebirgsöffnung in der Nähe von Sturmpass, und das Tal der Weiten Lande formt einen natürlichen Trichter …« Tejohns Stimme verhallte.

Der alte Mann lächelte und schüttelte den Kopf. »Eure ach so wichtigen Italgas waren nicht der einzige Clan, der ein Geheimnis für sich behalten konnte! Ich sage Euch Folgendes: Es gibt mehr Pforten in dieser Welt als nur die eine, die sich einmal in jeder Generation bei Euren peradainischen Festspielen öffnet!«

Tejohn trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

Tyr Zweifloss lachte ihm ins Gesicht. »Ihr glaubt mir nicht? Mein eigenes Volk ist die Berge im Westen hinaufgestiegen und hat es mit eigenen Augen gesehen. Es gibt dort eine leuchtend gelbe Scheibe am Himmel, und aus ihr strömt saure Luft wie Bier aus einem zerbrochenen Fass. Der Wind der Weiten Lande.«

»Das ist eine erstaunliche Behauptung«, erwiderte Tejohn und bemühte sich, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen.

Der alte Tyr wirkte erheitert. »Für jemanden aus dem Tiefland vielleicht. Für uns, die wir über das wilde Hochland herrschen – die wahren Nachfahren der alten Hexerkönige –, ist es eine Lektion, die Kleinkinder auf den Knien ihrer Mütter lernen. Kommt. Ich muss Euch noch etwas anderes zeigen, solange die Sonne genau auf der richtigen Höhe steht.«

Tyr Zweifloss führte ihn auf den Balkon hinaus. Das Holz knarrte unter ihrem Gewicht, aber weder der alte Mann noch seine beiden nervösen Wachen schenkten dem Beachtung.

Sie standen oben auf einer großen schwarzen Felswand. Unter ihnen war nichts als der Abgrund, an den sich in beträchtlicher Tiefe ein Bergsee anschloss. Tejohn kam der Gedanke, dass man wohl vier Gelehrtentürme aufeinanderstellen müsste, um von der grünen Wasserfläche unten die Höhe des Balkons zu erreichen. Der See selbst war lang und schmal wie so viele der Gewässer, die die Zwischenräume zwischen den Bergen ausfüllten.

Die Sonne stand tief, und wäre da nicht der Engpass zwischen den Gipfeln im Westen gewesen, durch den schräges Licht direkt auf sie herabfiel, hätte sich bereits die Dämmerung über das Land gelegt. Der Himmel war von einem zwielichtigen Dunkelblau, und im Süden zogen Sturmwolken darüber hinweg.

Tejohn musste zugeben, dass der Anblick wunderschön war. Wäre er der Tyr dieser Festung, er würde seine Tage hier draußen unter dem freien Himmel verbringen.

»Also«, sagte Tyr Zweifloss. »Ihr könnt nun lernen, woher wir unseren Namen haben.« Er winkte mit einem grünen Wimpel über die Balkonkante hinab – Tejohn hätte ihn im Handumdrehen über das Geländer werfen können, wäre er bereit gewesen, mit ihm zusammen in die Tiefe zu stürzen. Jemand weit unter ihnen schlug eine tiefe, hohl klingende Trommel.

Go-wummm. Go-wummm. Go-wummm.

Das grünliche Wasser teilte sich plötzlich, als etwas Weißes zur Oberfläche aufstieg. Es war lang und schmal – wie ein Höcker. Es war der Rücken einer Riesenschlange, die sich an der Wasseroberfläche entlangbewegte. Ihre Flossen waren von bleichem Weiß. Eine zweite höckerartige Rückenwölbung erschien. Tejohn konnte die Umrisse eines gewaltigen Körpers unter der Oberfläche ausmachen. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Die Schlange war so groß wie die Aale, die ihr Unwesen an der Küste in der Nähe von Flussbank trieben, aber das hier war eine ganz andere Art von Tier.

Während die Doppelhöcker ihre Bahn durchs Wasser zogen, ergriff Tyr Zweifloss wieder das Wort, und seine Stimme klang beinahe triumphierend. »Sagt mir: Glaubt Ihr, dass ein so großes Ungetüm in einem so kleinen Gewässer überleben kann?«

Tejohn musste zugeben, dass ihm das nicht sehr wahrscheinlich vorkam. Die Schlange schien beinahe so lang wie der See selbst zu sein. »Das würde davon abhängen, womit Ihr sie füttert, mein Tyr.«

»Pah«, schnaubte der alte Mann. »Wir sind arme Menschen aus dem wilden Hochland. Wir können uns keine Haustiere leisten.«

Ein rotes Aufblitzen erregte Tejohns Aufmerksamkeit. Er schaute entlang der steil abfallenden Felswand nach Norden.

In einiger Entfernung baumelte unter ihnen an einem Seil über dem Wasser eine erschreckend reglose menschliche Gestalt in einem roten Rock.

Tyr Zweifloss folgte seinem Blick. »Ihr habt mich gebeten, ihn nicht zu foltern, daher habe ich das auch nicht getan. Trotzdem ist er ein Priester der Finstels, der über geheimes Gelehrtenwissen verfügt. Ein Spion. Er hat die Behandlung erfahren, die alle Spione erfahren.«

Javien. Tejohn starrte auf die Gestalt hinab. Aus dieser Entfernung wirkte er so klein. Natürlich hätte Tejohn ihn dort nicht einmal bemerkt, wäre er nicht von seiner Kurzsichtigkeit geheilt worden. Niemand außer seinen Gefängniswärtern hätte gewusst, was mit ihm geschehen war.

Sang wusste, was geschehen war, aber ausnahmsweise reichte Tejohn das nicht. Als Tejohn kleinen Kindern begegnet war, die vom Segen vergiftet worden waren, hatte sich Javien freiwillig bereiterklärt zu tun, was getan werden musste. Beim Großen Weg, warum musste dies nun sein Lohn sein?

»Aber darauf kommt es jetzt nicht an«, fuhr der alte Tyr fort, und für einen Moment hätte sich Tejohn beinahe von dem Drang überwältigen lassen, den Mann zu packen und zu springen. Ob sie im Wasser landeten oder auf den Felsen, es wäre zumindest schnell vorbei. »Seht Ihr?«

Tejohn warf einen Blick zu den beiden Wachen hinüber, und im gleichen Moment packte ihn der Zweifel an seinem Vorhaben. Beide schienen bereit, sofort in Aktion zu treten, und seine Beine waren immer noch schwach und schmerzten. Könnte er schnell genug handeln?

»Seht Ihr?«

Tejohn trat ans Geländer und schaute auf die Stelle hinab, auf die Tyr Zweifloss zeigte. Sie befand sich direkt unter ihnen an der Felswand, aber bereits unterhalb der Wasseroberfläche.

Ein Strahl der untergehenden Sonne fand eine Öffnung im westlichen Gebirgszug, und das Licht schien durch das grünliche Wasser. »Dort!«, rief Tyr Zweifloss und gestikulierte heftig.

Unter ihnen konnte Tejohn in dem kurz von dem Lichtstrahl erleuchteten Wasser des Sees etwas Gelbes und Flüssiges sehen. Es schien beinahe zu glühen.

Da war eine Pforte im Wasser.

Die Schlange sprang plötzlich aus dem Wasser heraus und streckte sich an der Felswand nach oben. Ihr Kopf war ganz anders geformt als der spatenähnliche Schädel der Meeraale. Das Ungetüm hatte ein langes schmales Maul, fast wie ein Vogelschnabel, und es war ringsum von kurzen, dicken Tentakeln umgeben.

Die Kreatur packte Javiens Leichnam und riss ihn von dem Galgen, an dem man ihn aufgehängt hatte. Im gleichen Moment, als sie mit ihrer Beute im See versank, tauchte eine zweite Schlange auf. Doch sie kam zu spät, um sich eine Mahlzeit zu ergattern, und so ließ sie sich lautlos wieder unter die Wellen sinken.

Nein, diese Geschöpfe konnten unmöglich in diesem See leben. Um sie mit Nahrung zu versorgen, würden Tyr Zweifloss schon bald die der Spionage Verdächtigen und die vorgeblichen Meuchelmörder ausgehen. Die Ungeheuer kamen von woanders.

»Ihr seht, Tyr Treygar, die Pforte in Peradain ist rein gar nichts. Einmal pro Generation taucht sie kurze Zeit auf und verschwindet dann wieder. Von allen Pforten dieser Welt ist sie die schwächste. Es gibt andere, die sich ständig wandeln, und wieder andere, die sich nie verändern und immer offen sind. Warum, glaubt Ihr, gibt es in diesen Bergen wohl Salzwasserflüsse?«

»Es ist mir nie in den Sinn gekommen, mir diese Frage zu stellen, mein Tyr.«

»Hm. Wenn nur die Schlangen da unten uns auch mit Geschenken versorgen könnten, statt uns einfach bloß einen Familiennamen zu geben. Trotzdem, Ihr versteht, was das bedeutet, nicht wahr?«

Tejohn hatte eine vage Vorstellung davon, worauf Zweifloss hinauswollte, aber er wollte es nicht glauben. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es verstehe.« Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstehen will.

»Woher, glaubt Ihr, kommen die Leute vom Abendvolk, wenn sie durch diese Pforte Peradain betreten?«, fragte der alte Mann, dessen Grinsen nun beinahe anzüglich wirkte. »Von irgendeiner Insel im Meer vor Indrega? Von einem Zufluchtsort im Gebirge jenseits der Nördlichen Barriere? Von einem anderen Kontinent auf der anderen Seite des Meeres, den die Bewohner von Kal-Maddum nicht erreichen können? Natürlich nicht! Wenn ihre Heimat irgendwo dort draußen wäre, wären sie sonst wie hierhergekommen. Die Gefahren der Meere spielen keine Rolle! Sie haben Wagen gebaut, mit denen sie hoch über den Wellen reisen können, ja, hoch über den Gipfeln! Glaubt Ihr nicht, dass sie dann nicht bereits vor Jahrzehnten an unseren Küsten gelandet sein und längst begonnen haben könnten, das Land zu erobern?«

»Wenn sie den Willen zur Eroberung gehabt hätten, mein Tyr, dann hätten sie es vielleicht getan.«

Tyr Zweifloss tat den Einwand mit einer knappen Handbewegung ab. »Alles und jeder erobert. Alles wächst und verschlingt und nimmt, was es kann. Eure Herren, die Italgas, haben das bewiesen. Nein, mein Tyr, die Leute vom Abendvolk statten uns deshalb zwischen den Festspielen keine Besuche ab, weil sie nicht in den Bergen oder auf der anderen Seite der Meere leben. Sie leben in einem völlig anderen Reich. Andere Meere. Andere Länder. Selbst andere Himmel, wie ich vermute.«

Der Mann ist wahnsinnig. Doch Tejohn glaubte das eigentlich nicht. Ja, das war der Mann, der Amlian Italga bezichtigt hatte, einen geheimen Krieg gegen ihr eigenes Reich zu führen, aber alles, was er über Pforten und Flugwagen und aus den Bergen fließendes Meerwasser sagte, erschien ihm auf eine grausige Weise einleuchtend.

Tejohn trat ans Geländer und blickte in den See hinab. Zusammen mit dem Prinzen hatte er die Uferlande besucht. Er hatte die großen Untiere des Meeres gehört, die das tiefe Wasser so abschreckend machten, und er hatte zahlreiche der von den Bewohnern der Wasserlande gefertigten Statuen und Gemälde gesehen, geboren aus den Gefahren, mit denen sie konfrontiert waren: monströse Aale, Meeresriesen, formlose Klumpen mit umklammernden Fangarmen. Keines dieser Wesen hatte ausgesehen wie die spitzgesichtigen Schlangen mit den eisweißen Schuppen, die hier in Zweifloss’ Bergsee schwammen.

Waren diese Meerestiere in den Gewässern Kal-Maddums heimisch, oder waren sie durch andere Pforten hierhergekommen, die die Menschen niemals zu sehen bekommen würden, weil sie weit unten in der Tiefe lagen? Vielleicht gab es am Rand des Kontinents verstreut mehrere Pforten. Vielleicht kämpften die Ungeheuer um die Herrschaft über ihr jeweiliges Revier, genau wie die Menschen und die Grunzer es taten.

Womöglich gab es, irgendwo im Nordwesten verborgen, außerdem noch eine Pforte, aus der die Ruhgrit gekommen waren sowie die Riesenspinnen, die einst Cimfulin Italga bezwungen hatte und die seitdem nie wieder aufgetaucht waren. Und die Drachen der uralten Zeiten.

Vielleicht waren sogar die Menschen selbst …

»Nein«, sagte Tejohn laut. Er war hier kein Eindringling. Er konnte es nicht sein. Diese Länder gehörten seinen Leuten. Er hatte jedes Recht, für sie zu kämpfen.

»Ihr könnt versuchen, es zu leugnen, wenn Ihr wollt«, erwiderte Tyr Zweifloss, der Tejohns Reaktion falsch verstanden hatte, »aber es ist wahr: Unser Reich ist mit anderen Reichen verbunden. Und dieser See unter uns, gefüllt mit salzigem Wasser, ist wie die kleine Schale auf dem Schemel in meinem Saal.«

»Was? Wie meint Ihr das?«

»Ha!« Das Hohnlachen des alten Mannes war widerwärtig geworden. »Ihr glaubt, Ellifer Italga hätte Macht besessen? Ihr habt noch nicht einmal ansatzweise Macht gesehen. Der See unter uns befindet sich Hunderte Schritt über unserer Meeresküste, und ich glaube, er ist mit einem ganzen Ozean in einem fernen Reich verbunden. Dank der Bergbaugelehrten, die mir mein Bruder besorgt hat, werde ich das Tiefland zur Gänze fluten, von den Weiten Landen bis zur Bucht der Steine, von den Gipfeln der durdrischen Berge bis zu den Hügeln Indregas. Jeder Feind des Clans der Zweifloss, ob Grunzer oder Mensch, wird weggespült werden, bis nur noch das wilde Hochland übrig bleibt.«

KAPITEL 3

Etwas an Cazias Gesichtsausdruck ließ die Prinzessin stutzen, denn sie entschuldigte sich sofort.

»Ich hätte dich nicht damit aufziehen sollen, dass deine Götter keine wirklichen Wesen sind«, sagte Ivi. »Es ist nicht deine Schuld, ich weiß. Aber wann immer wir auf das Thema kommen, verdrehst du die Augen, als wäre Kelvidschinian nur ein Märchen.«

Cazia kam es nicht so sehr auf eine Entschuldigung an. Sie blickte zurück zu dem Berg, der so steil war, dass er beinahe schon eine glatte Felswand war. Die schwarzen Steine formten ein Gesicht, so riesig, dass sie es erst gar nicht als Gesicht erkannt hatte.

Aber da war es und sah so aus, als wäre es aus dem Berghang gemeißelt worden. Es lag auf der Seite, und seine schläfrigen, halb geschlossenen Augen blinzelten langsam, als hätte es dringend ein Nickerchen nötig. Daran schloss sich die Knollennase an, dann kam der hohe schmale Spalt, der den Mund formte. Die steinernen Lippen bewegten sich leicht, als das Gesicht nun das Wort an Ivis Cousin Belterzhimi richtete, der vor ihm kniete.

Das war Kelvidschinian. Das war der Gott der Indregai und auch anderer Ketzer, ein Wesen, von dem man Cazia beigebracht hatte, dass es kaum mehr sei als eine Märchengestalt oder ein Dämon. Cazia versuchte, einen Maßstab zu finden, der seiner wirklichen Größe gerecht wurde. Das Gesicht war größer als jedes von Menschenhand geschaffene Ding, das sie je gesehen hatte. Selbst der Gelehrtenturm, auf die Seite gelegt, wäre noch kleiner. Würde Belterzhimi in den riesigen Spalt eingesogen werden, der den Mund darstellte, hätte er wie ein Reiskorn gewirkt.

Cazias Knie wurden weich, und eine Gänsehaut überlief sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte mit ihren eigenen Göttern im Tempel Zwiesprache gehalten, aber sie hatten in ihr niemals ein solch blankes, instinktives Entsetzen geweckt. »Das ist das Gesicht deines Gottes?«

»Ja.«

»Wo ist sein Körper?«

»Wir stehen auf ihm. Alles Festland auf der Welt ist sein Körper. Darum verehren wir ihn und erweisen ihm unsere Dankbarkeit für die reichen Gaben, die er uns schenkt. Auf diese Weise übermittelt er außerdem Nachrichten für uns, wenn es ihm gefällt.«

»Hast du …« Kinz hielt inne, als wollte sie diese Frage nicht aussprechen, aber dann tat sie es doch. »Hast du ihn je aufstehen tun sehen?«

Cazia wurde es schwindlig bei der Vorstellung, dass so ein riesiger steinerner Mann über ihnen aufragen könnte, aber Ivi lachte nur. »Er steht doch. Jeder Berg ist sein stehender Körper.«

Cazia musste unwillkürlich daran denken, wie sie zu dritt ihren Tunnel die Südliche Barriere hinauf gegraben hatten. »Hat es … hat er, meine ich, etwas dagegen, wenn man gräbt und … du weißt schon?«

Ivi zuckte mit den Schultern. »Die Durdra glauben es. Deshalb töten sie jeden, der Metall bei sich trägt. Als unsere Könige ihn danach gefragt haben, hat Kelvidschinian gesagt, er könne es nicht spüren, wenn Minen gegraben und der Boden bestellt werde, und er sei glücklich darüber, den Reichtum des Bodens mit uns zu teilen. Er hat jedenfalls nicht dafür gesorgt, dass sich die Erde aufgetan und uns alle verschlungen hat, nicht wahr? Offensichtlich ist das religiöse Verbot der Durdra, Bergbau zu betreiben oder Metallgegenstände zu benutzen, etwas, was sie selbst erfunden haben. Aber warte mal, du denkst jetzt an den Tunnel?«

»Pst! Ja, natürlich.«

»Ich habe nie nach … du weißt schon … Zaubern gefragt.« Das Wort »Zauber« sprach sie nicht laut aus, sondern formte es nur mit den Lippen. Doch selbst das reichte, um ein ungutes Gefühl in Cazia zu wecken.

Sie sah wieder zu dem Gesicht hinüber. Wann immer sie den Blick abwandte und dann erneut hinschaute, war sie aufs Neue überrascht von der schieren Größe des Dings. »Ob wohl auch ich mit ihm sprechen darf?«

Wieder zuckte Ivi mit den Schultern. »Das muss mein Cousin entscheiden.« Einen Moment lang wirkte sie, als wäre ihr unbehaglich zumute. »Ähm, um die Form zu wahren, wirst du vielleicht ein Weilchen warten müssen. Die Gläubigen kommen mit Sicherheit vor dir an die Reihe.«

Später ging Goherzma durch das Lager, um alle, ungeachtet ihres Standes, zu fragen, ob sie eine Audienz bei Kelvidschinian wünschten. Cazia und Kinz suchte er jedoch nicht auf – ja, er blickte noch nicht einmal in ihre Richtung, als er von einem zum anderen wanderte.

Belterzhimi blieb bis weit nach Sonnenuntergang im Tempel. Ivi erklärte, dass sie, als Kelvidschinian den letzten Alarm verbreitet hatte, zwar in Gesellschaft ihres Vaters gewesen sei, es jedoch noch nie gesehen habe, wie ein solcher Alarm zustande kam. In diesem Punkt war sie genauso neugierig wie die anderen.

»Wie macht das dein Gott mit dem Alarm?«, fragte Kinz.

»Das Gesicht taucht aus dem Fels und der Erde auf, so wie ein Schwimmer aus dem Wasser eines Sees auftaucht.«

Unheimlich. Aber das sprach Cazia natürlich nicht laut aus.

Sie legten Wolldecken auf das feuchte Wiesengras und aßen einen Eintopf aus getrocknetem Schwaim und frisch gepflückten Sommerbeeren von den Büschen in der Nähe. Am späten Nachmittag verzogen sich die Wolken, und die Sonne kam heraus. Cazia musste unwillkürlich Kelvidschinian anstarren – wie das Sonnenlicht auf dem nassen Stein schimmerte! –, und sie wünschte, sie könnte es aus noch größerer Entfernung tun.

Die indregaischen Schlangen hielten größeren Abstand zu den Menschen als gewöhnlich und hatten sich am östlichsten Teil der Lichtung in einer Reihe angeordnet, beinahe wie wachende Vorposten.

»Das machen sie immer so«, erklärte Ivi. »Die Schlangen huldigen Kelvidschinian nicht – zumindest auf keine Weise, die wir verstehen –, aber sie halten sich im Osten und bewachen die Straße zum Tempel. Ich glaube, das ist durchaus ehrenwert.«

Cazia rollte ihr Bettlager an diesem Abend mit einem Gefühl des Unbehagens auf dem Boden aus. Schließlich könnte Kelvidschinian die Erde unter ihr öffnen. Er könnte sie verschlucken, während sie schlief; sie würde vielleicht sterben, ohne überhaupt aufzuwachen. Natürlich, sie schlief in einem Lager voller indregaischer Soldaten, die allen Bewohnern Peradains mit unverhohlener Feindseligkeit begegneten, auch denen, die mit einer Prinzessin der Ergoll befreundet waren. Dass sie Cazia nicht schon längst im Schlaf ermordet hatten, grenzte an ein Wunder.

Kelvidschinian. Heute hatte sie das Antlitz Kelvidschinians gesehen. Dankbar bin ich, dass ich den Weg beschreiten darf.

Am Morgen war der riesige Kopf immer noch da. Ein unheimliches Empfinden, ein Sinn für die abgrundtiefe Seltsamkeit des Universums, überzog Cazias Körper wie Gänsehaut, doch mit dem Verstreichen des Vormittags verlor die ganze Sache allmählich ihr Mysterium. Während des gesamten zweiten Tages strömten Menschen aus dem Lager und knieten im Tempel nieder, um den Gott um die eine oder andere Gunstbezeigung anzuflehen. Als eine Prinzessin der Ergoll war Ivi natürlich als Erste an der Reihe. Sie hatte sich bereits zu ihrer Audienz begeben und war wieder zurückgekommen, bevor die beiden anderen Mädchen erwacht waren.

»Ich habe natürlich eine Nachricht an meine Eltern geschickt und um eine gute Ernte gebeten und um Hilfe gegen unsere Feinde. So das Übliche.«

Cazia fragte sich einmal mehr, ob sich nun der Boden unter ihr auftun würde. »Hilft er euch denn gegen eure Feinde?«

»Vater sagt Ja, aber Mutter und Onkel meinen, eigentlich nicht so richtig. Er lässt jedenfalls keinen Erdrutsch auf die peradainischen Truppen niedergehen, falls es das ist, was dich beschäftigt. Ich weiß nicht, was er tut, und ich bin mir auch nicht sicher, ob mir irgendjemand gerne eine Antwort auf diese Frage geben würde.«

Den ganzen Morgen über machten sie nicht mehr, als die täglichen Routinetätigkeiten zu erledigen und ihre Füße auszuruhen. Ivi und Kinz halfen Cazia, ihre Kleider zu waschen. Anscheinend hielt sie sie nicht so weiß wie gewünscht, und die Soldaten hatten begonnen zu tuscheln. Um das indregaische Schönheitsempfinden zufriedenzustellen, genügte es jedoch nicht, sie mit Bachwasser zu schrubben. Ivi gab Cazia einen Lederbeutel mit einem gelblichen Pulver darin, das, wenn man es nass machte, ihre Röcke erstaunlich gut reinigte. Cazia wünschte, sie hätte dieses Pulver bereits gekannt, als sie noch im Palast gelebt hatte.

Dann wurde ihr Verband gewechselt, und die Ärztin, die sie behandelte, klopfte ihr wohlwollend auf die Schulter. Außerdem bekam sie ermunternde Worte von den anderen Mädchen zu hören.

Später am Vormittag stattete ihnen Belterzhimi einen Besuch ab. Er war, wie immer, groß, bleich und tadellos gekleidet. Er trug das förmliche weiße Gewand, das ihn als Grenzhüter auszeichnete. Mit schwungvollen Gebärden bedankte er sich ausgiebig bei Cazia dafür, dass sie Ivi sicher zu ihrem Volk zurückbegleitet hatte. Cazia war überrascht. Warum bedankte er sich erst jetzt, nachdem sie bereits so viele Tage zusammen gereist waren? Dann zog er einen kleinen grünen Edelstein aus einer Tasche in seinem Ärmel und reichte ihn ihr als Zeichen seiner Dankbarkeit.

Cazia überlief es heiß am ganzen Körper, aber Ivi schob sich leise hinter die Schulter ihres Cousins, wo er sie nicht sehen konnte, Cazia hingegen schon. Die Prinzessin machte ein finsteres Gesicht.