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Sie kämpfen für ihre Heimat – doch es geht längst um das Überleben der Menschheit
Die magischen Bestien, die das Imperium von Peredain überrennen, scheinen unaufhaltbar. Und nun ist auch noch Prinz Lar dem Fluch erlegen und hat sich ebenfalls in eine Bestie verwandelt wie schon so viele andere vor ihm. Nur Tejohn und Cazia wissen von seinem Plan, eine uralte Magie wiederzuerwecken und so das Blatt im Krieg gegen die Untiere zu wenden. Tejohn ist schwer verletzt, und Cazia wurde ihre Magie entrissen. Doch beide setzen alles daran, den Kampf um das Bestehen des Imperiums voranzutreiben – und verlieren dabei ihr eigentliches Ziel aus den Augen …
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Seitenzahl: 539
Buch
Die magischen Bestien, die das Imperium von Peredain überrennen, scheinen unaufhaltbar. Und nun ist auch noch Prinz Lar dem Fluch erlegen und hat sich ebenfalls in eine Bestie verwandelt wie schon so viele andere vor ihm. Nur Tejohn und Cazia wissen von seinem Plan, eine uralte Magie wiederzuerwecken und so das Blatt im Krieg gegen die Untiere zu wenden. Tejohn ist schwer verletzt, und Cazia wurde ihre Magie entrissen. Doch beide setzen alles daran, den Kampf um das Bestehen des Imperiums voranzutreiben – und verlieren dabei ihr eigentliches Ziel aus den Augen …
HARRY CONNOLLY
DIE SAAT DER
SCHATEN
BANDZWEIDER TRILOGIE
DER STRAHLENDE WEG
Aus dem Englischen
von Michaela Link
Karte: Kontinent Karl-Maddum
Für Roger Zelazny,
den Lieblingsautor meiner Teenagerjahre
KAPITEL 1
Cazia Freibrunn brauchte mehrere Tage, um sich an die Gegenwart eines zweiten Wesens in ihrem Geist zu gewöhnen. Noch immer hatte sie die Tilkilit-Königin nicht gesehen – obwohl sie diesem Geschöpf so nahe gewesen war, dass sie auf es … auf sie … auf es hätte spucken können –, aber ihre Gedanken standen unter ständiger Beobachtung. Wann immer Cazia über Dinge wie Freiheit, Heimat, Flucht, ihre Magie oder die Waffen der Tilkilit-Krieger nachdachte – oder auch nur darüber, wie hässlich diese Wesen doch waren –, ging von der Königin eine derart heftige Welle des Missfallens aus, dass das Gefühl für Cazia von Selbsthass nicht zu unterscheiden war.
Zuerst hatte Cazia dagegen angekämpft – genauso hartnäckig und verbissen, wie sie immer gekämpft hatte. Die Königin war ein Feind, und auch wenn sich Cazia vor vielen der Feinde, mit denen sie aufgewachsen war, hatte zurückziehen müssen, so hatte sie ihren Widerstand dennoch nie aufgegeben.
Nur dass es unmöglich war, sich vor der Königin zurückzuziehen. Sie war in ihre Gedanken eingedrungen und hatte sich dort eingenistet, genauso wie die Tilkilit in Cazias Heimat Kal-Maddum eingedrungen waren. Dieses Wesen kannte all ihre Gedanken, und Cazia konnte ihm nicht entkommen, ob sie sich nun unten in den lichtlosen Tunneln befand oder draußen in den dichten, nebelverschleierten Wäldern des Talgrunds.
Und Cazia fand es furchtbar. Sie mochte noch jung sein, aber sie hatte bereits ein Leben lang Erfahrung darin gesammelt, Groll gegen andere zu hegen; nur konnte sie ihre Gefühle diesmal leider nicht hinter einer gleichgültigen Miene verbergen. Und sie konnte sich nicht in die Einsamkeit ihres Zimmers zurückziehen. Sie konnte überhaupt nichts tun, außer die Gegenwart der Gedanken eines Feindes inmitten ihrer eigenen zu ertragen. Schlimmer noch, die Gedanken der Königin und ihre eigenen überlagerten sich so sehr, dass Cazia bisweilen Mühe hatte, die Meinung der Königin über sie von ihrer eigenen Meinung zu unterscheiden. Fast war es, als würde sie wieder hohl werden, nur ohne den damit verbundenen Zuwachs an magischen Fähigkeiten, Einsichten und Kenntnissen.
Sie hasste dieses Wesen mehr, als sie je zuvor irgendjemanden oder irgendetwas in ihrem Leben gehasst hatte.
»Ich bin ein freier Mensch«, hatte Vilavivianna ihr eines Morgens zugeflüstert. Das war vielleicht zwanzig Tage nach ihrer Gefangennahme gewesen. Sie hatten zusammen auf der nebligen Wiese gesessen, die die Tilkilit für sich in Beschlag genommen hatten. Im Westen und Süden ragten steile Berge auf, und weit im Osten lag das Meer, aber all das hatte sie seit vielen Tagen nicht mehr gesehen. Hier unten drängten sich die Tilkilit an der tiefstgelegenen trockenen Stelle im Qorrtal zusammen, verbargen sich unter den Bäumen und im ewigen Nebel.
»Ich bin ein freier Mensch«, sagte Ivi ein zweites Mal. »Ich bin niemandes Besitz.« Die kleine Prinzessin aus Indrega wirkte bleich und erschöpft; sie hatte genauso erbittert gegen die mentale Kontrolle der Königin angekämpft wie Cazia. Sie fassten sich an den Händen und wiederholten die Worte gemeinsam. »Ich bin ein freier Mensch.«
Das feindliche Geschöpf schlug so unerbittlich zurück, dass die Attacke sie überwältigte. Sie verloren das Bewusstsein und sanken ohnmächtig ins Gras.
Sie erwachten gemeinsam, fast als hätte die Königin ihnen jetzt das Aufwachen wieder erlaubt. Noch ehe Cazia überhaupt wusste, wo sie war, hatte ihr einer der Tilkilit-Krieger bereits einen ihrer seltsamen glatten Steine an den Kopf gedrückt. Sie spürte, wie ihr alle Magie aus dem Leib gezogen wurde. Wieder einmal. Jeden Tag taten sie ihr das an.
Aber sie wagte es nicht, Widerstand zu leisten. Die Tilkilit waren zwar alle nur ungefähr so groß wie die Prinzessin, die erst zwölf Jahre alt war, aber sie waren ungeheuer stark und gut bewaffnet. Sie konnten Steine mit einer solchen Wucht werfen wie ein Mensch mit einer Schleuder und hatten mit Kinz, dem dritten Mitglied ihrer Expedition, bereits kurzen Prozess gemacht. Sie war von ihnen weggebracht worden; hoffentlich heilten die Tilkilit einfach nur ihre Verletzungen, aber irgendwo in ihrem Hinterkopf war Cazia davon überzeugt, dass sie sie bereits aufgefressen hatten.
Die arme kleine Ivi sah todunglücklich aus. Cazia hätte ihr nicht gestatten sollen, sie über die Berge zu begleiten.
Die Erde rumorte. Einer der Würmer der Tilkilit kroch in der Nähe vorbei, aber glücklicherweise befand er sich tief unter der Erde. Cazia wollte definitiv nie wieder einen von ihnen sehen müssen. Diese Ungetüme waren absolut riesig, groß genug, um die Tore des Palastes von Sang und Morgen einfach nur dadurch zu zerschmettern, dass sie sich mit dem Gewicht ihres Vorderkörpers gegen sie lehnten, und Cazia hatte die Tilkilit auf diesen Würmern in die Schlacht reiten sehen.
Cazia hatte Vilavivianna geholfen, einen dieser Würmer zu töten, und allein die Erinnerung – nur ein flüchtiges Bild des Untiers, wie es sich wand und verbrannte – löste in ihr eine Flut von Selbstvorwürfen aus, deren Quelle nicht in ihr selbst lag. Da war sie sich sicher. Ziemlich sicher.
Das Rumoren ließ die Äste eines nahen Baumes erzittern. Cazia wurde bewusst, dass sie einen solchen Baum noch nie gesehen hatte: Die Rinde wirkte, als sei sie aus Blech, und seine mit glänzenden metallischen Spitzen versehenen Blüten waren so weiß wie Schönwetterwolken.
Sie starrte den Baum finster an. Diese Pflanze war in Kal-Maddum nicht heimisch. Sie war ein weiterer Eindringling im Qorrtal, genau wie die Tilkilit.
Nur einige Tagesreisen von diesem Ort entfernt stand eine Pforte offen, die zu anderen Ländern führte und wahllos alles und jeden in beide Richtungen passieren ließ. An diesem Ende hier war die Verbindungsöffnung unveränderlich dieselbe und immer am gleichen Platz, aber der Ausgang nach der anderen Seite hin wechselte alle zehn Tage zu einer neuen Örtlichkeit. Alles und jeder konnte da hindurchgelangen, und so geschah es auch. Einige dieser Eindringlinge waren Feinde, wie jene Insektenkönigin, die Cazia zu ihrem Besitz erklärt hatte, oder wie die Riesenadler, die hoch oben über dem Nebel ihre Kreise zogen. Einige waren auch die Saat harmloser Pflanzen wie …
Dann bemerkte sie einen Ring nackter Erde um den Baumstamm herum und das braune Gras an dessen Rand. Anscheinend war dieser Baum für das hier heimische Leben giftig.
Eine mächtige Welle des Abscheus durchwogte Cazia. Diese Pforte musste auf irgendeine Art und Weise verschlossen oder zerstört werden, damit keine weiteren Gräuel wie der Giftbaum oder die Tilkilit-Königin in ihr schönes Kal-Maddum, ihr Zuhause, einfallen konnten.
Die Königin las ihre Gedanken sofort und überwältigte sie erneut, zwang sie in die Bewusstlosigkeit.
So ging es weiter, Tag um Tag. Die Krieger setzten täglich ihre Anti-Magie-Steine ein, um es Cazia unmöglich zu machen, ihre magischen Gaben, die Geschenke, zu benutzen. Die Königin überwachte jeden Gedanken ihrer Gefangenen und ließ die Mädchen selbst die oberflächlichsten unzufriedenen Gedanken bitter bereuen.
Nach fünfzehn weiteren Tagen durfte Kinz sich ihnen wieder anschließen. Vilavivianna sprang der Älteren stürmisch entgegen, um sie zu umarmen, aber Kinz zeigte keinerlei Gefühlsregung. Als die Prinzessin sie wieder losgelassen hatte, ließ Kinz ihre Schultern kreisen und verkündete, völlig geheilt zu sein. Die in einem Kokon der Tilkilit verbrachte Zeit hatte ihre gebrochenen Knochen so gut heilen lassen, als sei sie überhaupt nie verletzt gewesen.
»Ich bin froh, dass sie dich nicht aufgefressen haben«, sagte Cazia.
»Ich tu auch froh sein. Was ist alles passiert, während ich weg war?«, fragte Kinz.
Sie saßen in einem kleinen Kreis zusammen. Der Nebel war an diesem Tag besonders dicht, aber die Mädchen konnten nicht einmal so tun, als könnten sie heimlich miteinander reden. Am Rand der Lichtung, gerade noch in Sichtweite, bewegten sich Tilkilit-Krieger auf und ab, und die Königin schien ohnehin nie zu schlafen.
»Nichts«, antwortete Vilavivianna. »Sie halten uns hier im Wald gefangen und verlegen uns nur dann an einen anderen Ort, wenn sich der Nebel einmal so stark lüftet, dass sie fürchten, der Große Schrecken könnte von oben angreifen.« Großer Schrecken war der Name der Tilkilit für die Riesenadler, die weit oben in den Felswänden nisteten und sie erbarmungslos jagten. »Wir dürfen uns nicht einmal unbeaufsichtigt erleichtern.«
»Es ist ja nicht so, dass sie glotzen tun wollen, Ivi«, sagte Kinz. Ihre Stimme zitterte vor Erschöpfung. Ein Krieger ging in ihrer Nähe vorbei, und die drei Mädchen blickten auf. Sein rötlich schwarzer Körper mit dem harten Panzer war nicht breiter als der Oberschenkel eines Mannes, und seine winzigen Augen waren finster und undurchsichtig. Er trug nicht mehr am Leib als eine grüne Schärpe – offenbar ein Rangabzeichen – und war mit einem Kurzspeer, einem Beutel mit Steinen und einem kleinen Knüppel bewaffnet, den er statt eines Dolches bei sich trug.
Die Tilkilit konnten springend überraschend große Distanzen überwinden und machten überhaupt einen übermäßig starken Eindruck. Doch Cazia wusste, dass sie und ihre beiden Gefährtinnen den Tilkilit würden entkommen können, sobald sie nur einen anständigen Vorsprung hatten – die Krieger waren zwar schnell, aber ihnen fehlte die Ausdauer. Leider waren sich die Tilkilit darüber selbst im Klaren.
»Sie sind vorsichtig«, sagte die Prinzessin. »Und sie warten auf irgendetwas.«
Cazia riss ein Büschel Grashalme aus der Erde und warf sie wieder zu Boden. »Sie warten darauf, dass wir aufgeben.«
Kinz sah sie beide an. »Wissen sie denn alles? Ivi?«
Vilavivianna senkte den Blick. »Ja. Sie wissen von der Allianz, den fünf Völkern, den Schlangen, den Riesenadlern und … und von dem Tunnel, den Cazia gegraben hat, um uns hierher über die Berge zu bringen.«
»Sie wissen auch, dass der Tunnel verbarrikadiert ist«, warf Cazia ein. »Obwohl ich bezweifle, dass sie das besonders kümmert. Ich glaube, sie sind nur deshalb noch nicht von hier aus die Berge hinaufgeklettert und durch den Tunnel in die Ebene hinunter, weil wir uns nicht mehr erinnern können, wo er überhaupt ist.«
»Nein«, widersprach Ivi entschieden. »Sie werden bestimmt nicht über den Nebel hinausklettern, nicht solange dort oben die Vögel über uns kreisen. Das würde ein Gemetzel geben. Und was würde dann die Königin tun? Sich hier in Qorr eine bleibende Festung bauen? Nein, sie suchen nach einem anderen Weg hinaus.«
Cazia spürte, wie sie rot wurde. Natürlich würden sich die Tilkilit nicht schutzlos den Vögeln ausliefern. Außerdem konnten ihre Reittiere auf keinen Fall über die Berge von hier wegkommen. Sie waren einfach zu riesig.
Die Königin hatte sie ganz in ihrer Gewalt. Sie war in ihrem Kopf, bekam jeden ihrer Gedanken mit, und Cazia hatte keinerlei Freiraum, von wo aus sie einen Gegenschlag planen könnte.
Cazia strich mit den Fingern über das harte kurze Gras. Wusste die Königin in jedem Augenblick, wo sie sich aufhielt? Ganz bestimmt nicht, denn dann würde man die Mädchen nicht so streng bewachen, selbst wenn sie hinter einen Baum gingen, um sich zu erleichtern. Konnte die Königin sehen, was Cazias Augen sahen, und hören, was ihre Ohren hörten?
Wenn ja, dann musste sie sich genauso langweilen wie Cazia, die Tag um Tag auf dieser Wiese verbrachte und dabei immer nur dieselben paar Bäume und denselben dichten weißen Nebel vor Augen hatte – einen Nebel, der sich nie ganz auflöste, nicht einmal während der wärmsten Stunden des Tages. Die Wiese war einer der wenigen oberirdischen Orte, wo sich die Tilkilit verstecken konnten. Und wenn ein starker Wind von Osten her wehte, konnte Cazia spät in der Nacht das schreckliche Krachen der Meeresbrandung hören. Das machte den Ort nur noch ungemütlicher.
Ivi schniefte. »Ich habe Heimweh«, jammerte sie. In diesem Moment sah die Prinzessin wie das kleine Mädchen aus, das sie in Wirklichkeit war. Obwohl Cazia nur drei Jahre älter war als sie. Kinz wiederum war noch einmal zwei oder drei Jahre älter als Cazia. »Ich kann es nicht ausstehen, im nassen Gras zu schlafen. Wir bekommen von ihnen nur ekelhaftes Zeug zu essen, und ich habe immerzu Durst. Warum können sie uns nicht einmal erlauben, ungestört und allein unseren Bedürfnissen nachzugehen!«
»Komm schon, kleine Schwester«, sagte Cazia begütigend, aber Ivi wollte keinen Trost. Sie stand auf und stapfte in den Nebel davon. Krieger folgten ihr. Krieger folgten ihnen immer.
Kinz’ Gesichtsausdruck war verkniffen und undeutbar. Die Tilkilit-Königin mochte in der Lage sein, die Gedanken der Älteren zu lesen – Cazia konnte das nicht.
Beide blickten sie Ivi hinterher. Die Prinzessin war zwar die Jüngste, doch war sie von Privatlehrern erzogen worden, die sie über die große weite Welt unterrichtet hatten. Sie beherrschte mehrere Sprachen, und als es um die Ausrüstung gegangen war, die sie für ihre Reise benötigten, hatte sie die Verhandlungen geführt. Kinz wiederum taugte vor allem dazu, Fische zu fangen und ihre Rucksäcke zu tragen. Cazia selbst hatte sich irgendwie an der Seite der beiden durchgeschlagen und dabei mit ihrer Magie Schindluder getrieben, bis sie sich selbst in den Wahnsinn gestürzt hatte. Es war Ivi gewesen, die mit ihrem gesunden Menschenverstand mehr als nur einmal ihrer aller Leben gerettet hatte.
Ich hätte sie nie mitkommen lassen dürfen.
:: Du bist mein Besitz. :: Die »Stimme« der Tilkilit-Königin drang laut und schrill durch ihren Kopf. Cazia verspürte einen jähen Widerwillen gegen die eindringenden Gedanken. Das Wesen hatte seit jener ersten Begegnung nicht mehr zu ihr gesprochen. :: Du bist mein Besitz. Du hast das hinzunehmen. So, wie ich der Stimme des Gottes in der Luft gehorche, wirst du tun, was ich dir befehle. Wenn nicht, werde ich dir deine kleine Schwester wegnehmen. ::
Glühender Zorn durchströmte Cazia. Sie hasste diese Gedanken, die sich ihr tief und stechend in den Sinn drängten. Das Wesen und Denken der Königin war öde und dumm, immer hastig und überstürzt und ihrem eigenen durch und durch fremd. Und gerade war die Königin auch noch so närrisch gewesen, Ivi zu bedrohen.
Wenn sie noch über ihre Magie verfügt hätte, hätte Cazia nun damit begonnen, jeden Tilkilit zu verbrennen, den sie sehen konnte, und Feuer mochte die Konsequenzen holen.
Wenn du diesem kleinen Mädchen etwas antust, wenn du oder dein Volk ihr auch nur ein einziges Haar krümmt, werde ich mir das Leben nehmen, und du wirst nie mehr von hier wegkommen.
Cazia konnte den Schock des Wesens spüren. Sie konnte spüren, wie das Geschöpf mit dem Konzept von Selbstmord rang, als sei das eine völlig neue und unvorstellbare Idee. Für etwas sein Leben zu riskieren, das verstand es – aber seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen?
Offensichtlich wollte die Königin die Idee einfach als eine leere Drohung abtun, daher rief sich Cazia die wenigen Selbstmorde ins Gedächtnis, die ihr während ihres Lebens im Palast untergekommen waren – zwei Diener, die sich erhängt hatten, ein Wachposten, der sich in sein Schwert gestürzt hatte, ein junger Gelehrter, der vom Dach des Turms gesprungen war. Die Königin war in ihren Gedanken und verstand, dass Selbstmord tatsächlich etwas war, was diese Menschenwesen taten.
Eine tiefe Verwirrung überkam sie beide. Cazia war für die Königin ebenso fremdartig, wie die Königin es für sie war.
Eine jähe Woge der Missbilligung brandete über Cazia hinweg, und der Zorn der Königin war so groß, dass sie das Bewusstsein verlor.
Der Schrei eines Adlers weckte sie mitten in der Nacht. Der Nebel war derart dicht, dass er jegliches Sternenlicht schluckte, und sie konnte die Hand nicht vor Augen sehen.
Doch sie konnte das Schlagen der gewaltigen Flügel hören und die panischen Klacklaute der Tilkilit-Krieger. Ein weiterer durchdringender Schrei erscholl, und sie hörte den Großen Schrecken davonflattern. Kinz und Ivi tasteten nach ihr, und sie klammerten sich in der Dunkelheit aneinander und warteten, dass wieder Stille einkehrte.
Kinz führte sie zu den Bäumen hinüber. Cazia kroch hinter den beiden anderen her und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Auf keinen Fall hatte der Riesenadler seine Beute mit den Augen ausfindig gemacht; er musste sie vielmehr durch ihr Geräusch aufgespürt haben. Zwischen zwei großen Bäumen fanden sie einen schmalen Zwischenraum. Sie schlüpften hinein und schlangen erneut die Arme umeinander. Es war nicht allein die kühle, feuchte Luft, die sie zittern ließ.
Die Tilkilit-Königin wollte einen Tunnel haben. Cazia sollte sich nicht nur ganz der Macht der Königin unterwerfen, sie war auch nur deshalb noch am Leben, weil die Königin wollte, dass sie für sie einen Tunnel durch die Nördliche Barriere grub, der groß genug für die Riesenwürmer war. Den Tilkilit würde sich dadurch ein Verbindungsweg in den übrigen Kontinent eröffnen, während die Königin … Konnte sie überhaupt bewegt werden? Sie lebte in absoluter Finsternis; das eine Mal, als Cazia in ihrer Nähe gewesen war, hatte sie nicht das Geringste sehen können, hatte aber das untrügliche Gefühl von gewaltiger Größe und Unbeweglichkeit gehabt. Vielleicht wollte die Königin von ihrem Bau im Qorrtal aus weiterregieren, oder vielleicht hatte sie auch vor, eine zweite Königin zu schaffen, die die Reise hinab in die Weiten Lande unternehmen konnte.
Nicht dass ihre Pläne von Belang gewesen wären. Cazia hatte nämlich nicht die geringste Absicht, ihr …
Sie wurde erneut ohnmächtig.
Es war noch vor der Morgendämmerung, als sie wieder zu sich kam. War es dieselbe Nacht? Im ersten Moment hätte sie es nicht sagen können, aber wenn sie einen ganzen Tag verpasst hätte, hätte sie eigentlich noch durstiger sein müssen.
»Alles in Ordnung mit dir, große Schwester?«
Ivis Hand auf ihrem Gesicht fühlte sich kühl an. Cazia richtete sich auf und hielt sich den Kopf. Sie hatte in ihrem Leben bereits schlimmere Kopfschmerzen gehabt, jetzt war sie sich allerdings nicht sicher, ob die Königin dahintersteckte oder ob es einfach nur daran lag, dass sie völlig ausgedörrt war. »Ich habe Durst.«
»Trink das hier.« Ivi drückte ihr eine Wasserschale in die Hände. Die Tilkilit tranken aus irgendeinem Grund immer aus Holzschalen. »Sie haben uns heute doppelte Wasserrationen gebracht. Vielleicht wollen sie uns ja doch nicht umbringen.«
»Das glaube ich erst, wenn sie uns freilassen.«
Sie nahm einen kräftigen Zug aus der Schale, schluckte das kühle, leicht salzige Wasser hastig hinunter. Großer Weg, es tat so gut, ihre trockene Kehle zu befeuchten. Dann bemerkte sie zwei weitere Wasserschalen im Gras neben sich und leerte sie genauso gierig wie die erste. Es war noch immer nicht genug, aber sie fühlte sich besser.
Kinz näherte sich ihnen mit zwei Aprikosen in der Hand. Sie gab beide Cazia. »Wir haben schon gegessen.«
»Kinz«, sagte Ivi und legte der Älteren eine Hand auf die Schulter. »Kinz.«
Cazia bemerkte, dass das Gesicht der Dienerin bleich war und sie verquollene Augen hatte. »Kinz«, sagte sie. Ihrem Tonfall fehlte die Freundlichkeit, die in Ivis Stimme gelegen hatte. »Warum hast du geweint?«
»Ich bin nicht frei«, antwortete Kinz. »Die Poalos tun nicht mehr frei sein. Seit ich alt genug war, um neben der Herde herzulaufen, habe ich gewusst, dass wohl einst der Tag kommen würde, an dem mir etwas meine Freiheit wegnehmen tun würde. Eine schlimme Heirat. Eine plötzliche Krankheit. Sklavenhändler aus Indrega, die ihre Opfer bei Nacht überwältigen und …«
Ivi schnappte nach Luft. »Die Angehörigen meines Volkes, die Indregai, sind keine Sklavenhändler. Wie kannst du so etwas nur sagen!«
Kinz bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Räuberbanden tun aus Eurem Land kommen, um sich in das unsere einzuschleichen. Meine eigene Cousine wurde entführt, als ich sieben war. Sie schrubbt wahrscheinlich immer noch in der Küche irgendeines kleinen Stammesfürsten Pfannen, wenn sie nicht bereits zu Tode gepeitscht worden ist.« Ivi öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Kinz kam ihr zuvor. »Ihr mögt stets nur die besten Lehrmeister gehabt haben, kleine Prinzessin, aber es gibt immer noch sehr viel, was Ihr nicht wisst.«
Daraufhin verfiel Ivi in grollendes Schweigen.
Kinz sah Cazia schuldbewusst an, als sei sie sich durchaus bewusst, dass sich eigentlich niemand ihre Ausführungen anhören wollte. Dennoch fuhr sie fort: »Aber vor allem habe ich immer geglaubt, dass es Soldaten aus Peradain sein würden, die mir meine Freiheit nehmen tun würden. Wann immer sich ihre Schwertkämpfer und Schwertkämpferinnen unserem Lager genähert haben, um ihre Tributzahlungen einzutreiben …«
Steuern, dachte Cazia automatisch, aber sie hielt den Mund. Was spielte es jetzt auch für eine Rolle, ob die Poalos und die anderen Hirtenvölker Teil des peradainischen Reiches gewesen waren oder nicht? Das Reich gab es nicht mehr.
»… war ich mir sicher, dass sie uns alle verschleppen würden«, brachte Kinz ihren Satz zu Ende. »Dass sie uns zu Dienern machen tun würden.«
»Du bist eine Dienerin«, platzte es aus Cazia heraus. »Du bist meine und auch Ivis Dienerin. An dem Tag, als wir die Ozzhuacks verlassen haben, hast du uns Treue geschworen.«
»Ich glaube, die Königin der Tilkilit hat mich meinen Dienstvertrag mit Gewalt brechen lassen tun.«
Cazia war nicht bereit, das hinzunehmen; nicht, wo doch … Eine plötzliche Welle der Missbilligung drängte ihre Gedanken davon, aber sie war nicht stark genug, um ihr erneut das Bewusstsein zu rauben. Die Königin wollte sie alle als ihre Dienerinnen haben.
Sie mussten nur eine Gelegenheit finden, einen gewissen Abstand zwischen sich und die Tilkilit-Krieger zu legen. Cazia wusste nicht, wie sie das bewerkstelligen sollten, aber irgendwann, in irgendeiner Form, würde diese Gelegenheit kommen.
Der missbilligende Tadel der Königin wurde stärker. Kleine Punkte flimmerten vor Cazias Augen.
»Hat die Königin die Angriffe auf euch eingestellt?«, fragte Ivi.
Kinz schüttelte den Kopf. »Es reicht nicht, sich ihr ergeben zu tun«, antwortete sie. »Sie will auch, dass wir sie lieben.«
Es kostete Cazia ihre ganze Willenskraft, nicht in höhnisches Gelächter auszubrechen. Sie schluckte Zorn und Empörung hinunter, verkniff sich ihre Empfindungen und presste sie zusammen, bis sie glatt und hart waren wie Eisenmünzen. Lieben? Die Tilkilit? Verstand die Königin überhaupt irgendetwas von dem, was Cazias Wesen ausmachte?
»Sie will nicht nur, dass wir uns ergeben«, sagte Cazia. »Sie will, dass wir Teil ihres Schwarms werden … Teil ihres Volkes oder wie auch immer sie es nennen mag. Und solange wir ihr nicht genauso ergeben sind wie ihre Krieger, können wir nicht Teil ihres Volkes sein. Erst dann wird ihr Vertrauen in mich stark genug sein, um mir zu befehlen, einen Tunnel durch die Berge in die Weiten Lande zu graben.«
Kinz und Ivi sahen sie mit offenen Mündern an. »Ein Tunnel, der ihr Volk hier herauslässt«, gab Ivi zu bedenken, »würde den Segen hereinlassen. Hat sie denn unsere Gedanken nicht gelesen?«
Kinz schüttelte den Kopf. »Meint ihr, sie glaubt uns?«
Die Frage verwunderte Cazia. Natürlich glaubte die Königin ihnen. Die Königin war ein Insekt. Sie und ihr Insektenvolk dachten Insektengedanken; sie waren schematisch geordnet und beschränkt. Auch wenn die Königin anderen ihre Gedanken eingeben konnte, wurden die anspruchsvolleren Gespräche innerhalb ihres Volkes vorwiegend mittels Gerüchen geführt.
Die Tilkilit reihten nicht einzelne Wörter zu einer langen Schlange von Lauten, die eine bestimmte Bedeutung zu erkennen gaben. Sie verspritzten Düfte. Das war eine sehr kurze, sehr komplexe Äußerungsform, und soweit Cazia das beurteilen konnte, war diese Art der Kommunikation zum Lügen nicht sonderlich gut geeignet. Verwirrung strudelte durch ihre Gedanken, und natürlich war es die Verwirrung der Königin. Unehrlichkeit schien in der Vorstellungswelt der Tilkilit ein noch schwierigeres Konzept zu sein als der Selbstmord.
Cazias Volk hingegen – und sie betrachtete die Peradaini erst als ihr Volk, seit sie die Stadt Peradain dem Segen der Grunzer hatte anheimfallen sehen – war berühmt für seine Lieder, seine Geschichten und sein Theater. Keine dieser Darbietungen war im wortwörtlichen Sinn gemeint; alles bedeutete etwas anderes. Überschwemmung stand für die Zerstörungen des Krieges. Ein Mensch, der für ein ehrgeiziges Ziel alles riskierte, »baute einen allzu hohen Turm«. Ein Duell zwischen zwei Feinden war ein blutiger »Wettlauf zur Strafe«.
All die Zauber, die Cazia erlernt hatte – und die zu wirken die Anti-Magie-Steine der Tilkilit sie nun hinderten –, betrafen in Wirklichkeit nur die materielle Welt. Sie konnten das Denken der Menschen nicht verändern und sie genauso wenig dazu bringen, sich zu verlieben, wie es die Gedankentyrannei der Königin konnte. Aber Kunst vermochte dergleichen. Und bei den Tilkilit schien es keine Kunst zu geben.
Sie lügen nicht.
»Mir gefällt es hier unglaublich gut«, sagte Cazia plötzlich. Die beiden anderen starrten sie in stummer Überraschung an. »Ich finde hier alles ganz großartig, und ich bin sehr froh, dass ich keine eigenen Entscheidungen mehr treffen muss. Wenn es irgendetwas gibt, was ein Mädchen in meinem Alter mag, dann, dass jemand ihm sagt, was es tun soll.«
Kinz und Ivi warfen einander nervöse Blicke zu. »Cazia«, sagte die kleine Prinzessin, »bist das wirklich du?«
Sie verstehen mich nicht, dachte sie. Doch, das tun sie. Sie verstehen mich ganz genau.
Sie wandte sich direkt an Kinz. »Wie, glaubst du, wird es deinem hässlichen Bruder jetzt wohl ergehen?« Die bloße Erwähnung Algas jagte Cazia ein Kribbeln über den Rücken. Die Art und Weise, wie dieser schöne arrogante Mistkerl sie angelächelt hatte … »Ich muss mich unwillkürlich fragen, wie jemand, der körperlich dermaßen abstoßend ist, ganz allein dort draußen in der Welt zurechtkommen soll.«
Kinz blinzelte zweimal. »Ja. Ja, er tut wirklich sehr hässlich sein. Und ist so bescheiden und schüchtern. Wenn nur die Mädchen ein Interesse an ihm zeigen würden, würde er vielleicht seine Schüchternheit ein Stück weit verlieren tun.«
»Wovon redet ihr beide da?«, fragte Ivi verärgert. »Alga war überhaupt nicht hässlich. Ich fand deinen Bruder sogar ziemlich gutaussehend.« Letzteres sagte sie in einem Tonfall, als wolle sie Kinz freundlich aufmuntern.
Cazia griff nach Ivis Hand. »Es tut mir nur leid, dass wir nichts mehr von dem Fleischbrot für dich übrig haben. Ich weiß, wie gern du es gegessen hast.« Ivi rümpfte die Nase, aber bevor sie sich ein weiteres Mal darüber beschweren konnte, wie salzig das Fleischbrot gewesen war, redete Cazia weiter. »Die Tilkilit-Königin ist wirklich mächtig, findest du nicht auch? Sie kann offensichtlich ihre Gedanken all ihren Untertanen gleichzeitig eingeben.«
»Ja«, pflichtete ihr Kinz bei. »Als wir diesen einen aus ihrem Volk gefangen hatten, war klar, dass sie es sofort wissen musste, und dann hat sie alle anderen Soldaten darauf aufmerksam gemacht, wo wir uns befanden.«
Ivi zog die Brauen zusammen. »Nein, es war doch gar nicht …«
Cazia drückte ihre Hand. »Wenn nur der Segen hier sein könnte! Ich vermisse es so, ihn um mich herum zu haben.«
Der Mund der Prinzessin formte sich zu einem kleinen Kreis, dann schaute sie zwischen ihnen hin und her. »Oh! Ah! Ja ja, ich wünschte auch, der Segen wäre hier, damit ich auf den Schultern der Grunzer durch die Wildnis reiten könnte.«
Sobald die kleine Prinzessin verstanden hatte, worum es ging, war sie voller Eifer und genoss es, wie eine Blume den Sonnenschein genießt. Sie plapperte endlos über ihre gegenwärtige Situation und all die Dinge, die sie jetzt lieber tun würde, und die ganze Zeit sagte sie das genaue Gegenteil von dem, was sie in Wirklichkeit dachte.
Cazia tat ihr Bestes, um sicherzustellen, dass die beiden anderen auch verstanden, dass Worte allein nicht genügten. Sie mussten auch umgekehrt denken. Wenn die Königin dahinterkam, was sie da zu tun beabsichtigten …
Nein. Die Königin hat die totale Gewalt über unsere Gedanken und durchschaut sie restlos. Es besteht keinerlei Möglichkeit, sie zu täuschen oder zu verwirren.
Als man ihnen ihr Frühstück brachte, unterhielten sie sich im freundlichen Plauderton darüber, wie sehr sie doch den klebrigen Harzsaft und die rohen Wurzelknollen genossen, mit denen die Tilkilit sie fütterten. Ihr überschwängliches Lob und ihre Begeisterung nahmen derart aberwitzige Formen an, dass sie sogar lachen mussten. Cazia konnte spüren, wie sich die Gedanken der Königin mehr und mehr beruhigten.
Gegen Mittag legte ihr ein Krieger trotzdem wieder einen Anti-Magie-Stein auf den nackten Hals, und der Schock ließ sie im Gras zusammenbrechen. Diese Steine bringen mich um.
Die Königin schien für den Rest des Tages nicht mehr so drückend nahe, und eine leise Hoffnung, dass es ihr gefiel, wie sie sich verhielten, flackerte in Cazia auf. Trotzdem richtete sie ihre geballte Konzentration auf die gleiche intensive Weise auf ihr Spiel, wie sie früher beim Lernen von Zaubersprüchen ihre Gedanken stur auf die Geschenke gerichtet hatte.
Sie verbrachten den Tag damit, im kühlen, wallenden Nebel im Gras zu liegen. Die kleinen Krieger umkreisten sie am Waldrand in unablässigen Patrouillen. Die Mädchen nahmen ihre Mahlzeiten zu sich, sangen Lieder und schlugen die Zeit tot.
Es war für sie alle überraschend, wie schnell ihnen das Spiel zur selbstverständlichen Gewohnheit wurde.
An diesem Abend kamen die Tilkilit nicht mit ihrem Stein, um Cazia ihre Magie zu nehmen. Sie schlief mit der Frage im Kopf ein, ob sie dann wohl am Morgen kommen würden. Was nicht der Fall war.
»Ich bin enttäuscht zu spüren, dass meine magischen Kräfte zurückkehren«, berichtete sie den anderen Mädchen. »Bisher ist es nur ein ganz klein wenig. Es hat so gutgetan, sie los zu sein. Aber wenn die Königin meine Magie braucht, bin ich bereit, ihr zu dienen.«
Es vergingen noch zwei weitere Tage, bis die Krieger zu ihnen kamen. Sie schritten in die Mitte der Lichtung, die Speere im Anschlag. Sie warfen ihnen Beutel mit Essen sowie Wasserschläuche vor die Füße, dann wurden die Mädchen mit wortlosen Gesten und Knuffen aufgefordert aufzustehen.
Der Boden erbebte und ließ die Blätter in den nahen Bäumen rascheln. Alle drei spürten, wie sich die Wiese unter ihnen leicht anhob und dann senkte. Wieder einmal war einer der Riesenwürmer der Tilkilit unter ihnen hinweggeglitten, dieses Mal viel näher an der Oberfläche.
:: Du wirst einen Tunnel durch die Berge im Süden graben. Er soll breit genug für uns alle sein. ::
Deinen Willen zu erfüllen ist mein innigster Wunsch. Die Königin schien damit zufrieden, und die Gruppe brach auf.
Der Nebel war so dicht, dass es schwierig war, sich über die eingeschlagene Richtung im Klaren zu sein. Cazia konnte sich allein darin sicher sein, dass es bergauf ging. »Ich hoffe nur«, sagte sie, »dass wir nahe genug am Fuß der Felswand sind, damit wir ohne große Verzögerungen anfangen können, den Tunnel für die Königin zu graben.«
Doch das war nicht der Fall. Die Tilkilit führten sie über einen Vorberg, der dicht mit jungen Eichen bewachsen war. Für einen Moment wurde der Nebel so dünn, dass sie die Nördliche Barriere über ihnen aufragen sehen konnten. Selbst wenn sie ein zügiges Tempo beibehielten, lag vor ihnen ein zweitägiger Marsch.
»Dieser reißende Fluss da ist gefährlich«, sagte Kinz und deutete auf eine tief gelegene Stelle im Talgrund vor ihnen. Der wirbelnde Nebel war dort dünner, und sie konnten gerade eben einen flachen, breiten Fluss mit schäumendem Wildwasser an den Ufern ausmachen. »Wenn wir da hineinfallen, könnten wir leicht ertrinken.«
»Dann sollten wir das eben auf keinen Fall tun«, erwiderte Ivi.
»Aber wenn es doch passiert«, fuhr Kinz fort, »ist es das Beste, was man in einem reißenden Fluss tun kann, die Füße auf den Boden zu stemmen. In einer starken Strömung muss man immer alles dafür tun stehen zu bleiben.«
Einer der Krieger stieß ihnen in den Rücken und zwang sie weiterzugehen. Cazia spähte nach oben und sah einen Adler im Aufwind treiben. Er schien recht nahe, aber sie wusste, dass das nur eine optische Täuschung war, die durch die kolossale Größe des Vogels verursacht wurde.
Sie stiegen den Berghang hinab und hielten sich im Schutz der Bäume, bis sie wieder sicher im dickeren Nebel der Talsohle angelangt waren. Der Boden erbebte abermals – der große Wurm begleitete sie, was Cazia natürlich überhaupt gar nichts ausmachte. Zu ihrem Geleittrupp gehörten ungefähr drei Dutzend Krieger, aber es befanden sich womöglich noch weitere vor oder hinter ihrer Kolonne. War sie froh, so viele Soldaten der Königin um sich herum zu haben!
Sie erreichten das Flussufer erst am Vormittag des Folgetages. Der Nebel war hier sehr dünn. Die Tilkilit machten einen Bogen um das flache Ufer und wandten sich flussaufwärts nach Westen. Der tosende Fluss war überraschend laut.
Als sie an diesem Abend das Lager aufschlugen, drängte sich Cazia unwillkürlich die Frage auf, wo sich Quelle und Mündung des Flusses befanden. Wie nah die Quelle wohl an jener Pforte am westlichen Ende des Qorrtals lag? Und wo war die Mündung? Wie alle Peradaini im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte hegte sie eine nur zu berechtigte Furcht vor dem Meer, und die Vorstellung, dass sie in den Fluss fallen und vom Ufer weg und weit ins Meer hinaus gerissen werden könnte, ließ ihren Magen flattern wie einen Käfig voller Motten.
Die Tilkilit weckten sie am nächsten Morgen vor Tagesanbruch. Natürlich. Die Adler waren bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang am wenigsten aktiv; wenn es also eine sichere Zeit zur Überquerung des Flusses gab, dann bei Einsetzen der Dämmerung.
»Schaut euch das mal an«, sagte Kinz.
Die Bäume, die dem Fluss am nächsten standen, wirkten krank und dürr. Steinerne Stifte waren in die Stämme getrieben worden, und von den Stiftspitzen tropfte eine klare Flüssigkeit in die darunter angebrachten Holzschalen. Tilkilit-Krieger leerten die Schalen in ihre Schläuche.
Jetzt, da Kinz sie darauf aufmerksam gemacht hatte, entdeckte Cazia die kleinen Steinstifte überall. Wurde der abscheuliche Harzsaft, von dem sich die Insektenwesen ernährten, aus Bäumen gezapft? Wenn ja, dann waren die Tilkilit gerade dabei, den Wald unwiederbringlich zu zerstören.
Dieses arme Insektenvolk, gefangen in einem Tal, das zu klein für sie alle war, vor allem da ihre Königin doch so viele Eier legte. Oh, wenn sie diesem Kerker nicht bald entkamen, wäre vielleicht gar eine Hungersnot die Folge!
Die Gedanken der Königin waren schwach, aber trotzdem noch immer gegenwärtig. Wie mächtig sie doch war!
Im Morgengrauen erreichten sie eine Stelle, an der der Fluss nicht sehr breit war. Ein kleiner Bergrutsch am gegenüberliegenden Ufer hatte den Flusslauf so schmal werden lassen, dass ein umgestürzter Baum bis ans andere Ufer hinüberreichte.
Als sie die freigelegten Wurzeln hinaufkletterten, fragte Cazia: »Wisst ihr, was ich zutiefst verabscheue? Diese schwarzen Steine, die die Tilkilit bei sich tragen und die mir meine Magie wegnehmen. Ich hoffe, dass ich nie wieder mit ihnen durch die Welt reisen muss.«
Kinz warf einen raschen Blick auf den Krieger, der sich direkt vor ihr auf dem Baumstamm befand. Der Sack mit den Steinen hing auf seiner linken Seite von seiner Schärpe herab. Cazia bemerkte zum ersten Mal, dass seine Schärpe von einem schwarzen Rand eingefasst war. War er eine Art Befehlshaber? »Seid vorsichtig«, mahnte Kinz. »Bleibt in meiner Nähe, damit ich euch die Stelle zeigen kann, an der ihr wirklich nicht fallen tun wollt.«
Oben auf dem Baumstamm angelangt, blieben die drei Mädchen dicht beieinander. Die Krieger um sie herum schenkten der unangenehmen Krümmung des Baumstamms und dem Himmel über ihnen mehr Beachtung als den Mädchen, und das war auch nur zu verständlich. Die Mädchen waren schließlich Freunde der Tilkilit. Getreue Freunde.
Sie hatten gerade die Flussmitte erreicht, als Kinz – auf die denkbar unglaubwürdigste Weise – plötzlich aufschrie, als verlöre sie das Gleichgewicht. Sie umklammerte den nächststehenden Krieger und riss ihn mit sich den glitschigen Baumstamm hinab in das tosende Wasser.
Cazia sah, wie Kinz noch im Sturz nach dem Steinbeutel des Tilkilits griff.
Ivi war ihr bereits hinterhergestürzt, ehe Cazia auch nur begriffen hatte, dass jetzt der Moment ihrer Flucht gekommen war. Krieger sprangen auf sie zu, und sie machte einen Satz zur Seite, so dass sie sich knapp außerhalb ihrer Reichweite befand.
Im letzten Moment änderte Cazia den Winkel ihres Sturzes und landete mit beiden Knien direkt auf dem Tilkilit im Wasser.
KAPITEL 2
Tyr Tejohn Treygar erwachte mit schrecklichen Schmerzen, aber der Schmerz war doch nicht ganz so fürchterlich, wie er erwartet hätte. Sicher, seine Beine, sein Rücken, sein Becken – sie fühlten sich geschwollen an wie gegangener Hefeteig, und die nackte Qual tobte ihm durch alle Glieder, aber wenn man andererseits bedachte, wie tief er gestürzt war …
Er lag mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Trockener Dreck, wie festgetretener Lehmboden, nicht der nasse Schlamm der Uferbereiche des Launischen Flusses. Nein, des Shelsiccan, der Fluss wurde jetzt Shelsiccan genannt. Die alten peradainischen Namen wurden zugunsten der noch älteren Finshto-Namen verworfen.
»Er hat nicht aufgeschrien«, sagte jemand. Tejohn wollte sich umdrehen, um festzustellen, wer gesprochen hatte, aber die Anspannung seiner Halsmuskeln, um den Kopf zu heben, verstärkte den Schmerz in seinen Schultern und seinem Rücken nur noch. Großer Weg, wie war sein Mund doch ausgedörrt.
»Weil er noch bewusstlos war, als er unten aufgekommen ist«, erwiderte eine andere Stimme. Tejohn erkannte die Stimme sofort. Tyr Finstels Männer hatten ihn ein zweites Mal gefangen, aber diesmal war der Tyr selbst gekommen, um ihn zu verhören.
Nein, nicht »Tyr«, rief er sich ins Gedächtnis. Die alten Herrschaftstitel des Reiches waren ebenfalls abgeschafft worden. Finstel war nun kein Tyr, kein Tyrann und kein Stammesfürst mehr, nein, er hatte sich zum König Shunzik Finstel erklärt, Herr von Ussmajil und aller Ländereien, die unter dem Schutz dieser Festung standen.
Aber wo waren diese Männer? Das flackernde Licht ließ auf eine Laterne schließen. Sie befanden sich irgendwo in einem Gebäude, oder es war Nacht.
Etwas drückte sich gegen seine rechte Wade, und der Schmerz wurde so intensiv, dass Tejohn glaubte, es müsse sich um ein weiß glühendes Eisen handeln oder vielleicht um ein stumpfes Messer. Der Drang, sich umzudrehen und zu sehen, was mit ihm passierte, war beinahe so stark wie der Schmerz selbst, aber nicht einmal dazu war er in der Lage. Er war hilflos. Feuer und Zorn, der Schmerz wurde so groß, dass er ihn mit aller Kraft herausbrüllen musste. Seine Stimme klang trocken, heiser und schwach.
»Mehr braucht es nicht«, sagte König Shunzik. »Nur meine Hand auf Eurem Fleisch. Nicht mehr als das.«
War das lediglich die Berührung der Hand eines Mannes und sonst nichts? Verzweiflung überkam Tejohn. So viel Schmerz würde ihn zerstören, und zudem war es lächerlich einfach, ihm diesen Schmerz zuzufügen, wie überwältigend er auch sein mochte. Schlimmer noch, Finstel klang so, als bereite das Ganze ihm Freude. Tejohn hätte beinahe gefragt, warum.
»Wo ist Lar Italga?«, wollte der König wissen.
Tejohn konnte nichts als festgetretenen schwarzen Erdboden sehen, während die widersprüchlichsten Bilder auf ihn einstürzten. Nichts fügte sich zusammen; der Schmerz war zu groß, um noch klar denken zu können. Er konnte Lars lachendes Gesicht vor sich sehen. Lar Italga war der ungekrönte König von Peradain, der Morgenstadt. Er war der Letzte seiner königlichen Blutlinie und seiner Soldaten, seines Palastes, ja, überhaupt allem beraubt … selbst des Reiches, das zu regieren er geboren war.
Ich habe Pläne für dieses Reich, Tyr Treygar, Pläne, die einem Großteil des Elends und der Ungerechtigkeit, die mein Volk erleidet, ein Ende machen würden; Pläne, die ich hege, seit ich ein kleiner Junge war. Aber diesen Lar gab es jetzt nicht mehr, er war genauso verschwunden wie sein Reich, und ganz Kal-Maddum war dem Elend und der Ungerechtigkeit anheimgefallen.
Tejohns Frau und Kinder würden ihn nie wiedersehen, und sie würden nie wissen, wie er gestorben war. Jemand berührte ihn, und er schrie erneut. Der Schmerz ließ nicht wieder nach, sobald er einmal schlimmer geworden war. Sollte er die Frage beantworten? Kannte er die Antwort? Spielte das alles überhaupt noch eine Rolle?
»Mein König«, ertönte wieder die erste Stimme. »Er ist immer noch zu stark verletzt, um verlässliche Informationen aus ihm herauszuholen. Wir sollten ihm noch etwas mehr Zeit auf dem Schlafstein geben. Wenn dann der Schmerz von Neuem beginnt, wird er alles erzählen.«
»Dieser Mann hat seine Familie verraten, seine Ländereien, seinen König. Mich! Ich will ihn nicht gesund und munter sehen. Ich will ihn verkrüppelt haben.« Der Druck auf Tejohns zerschmettertem Bein hörte auf, aber der Schmerz blieb. Als der König das nächste Mal seine Stimme erhob, klang sie sehr nah. »Die Spieße draußen vor Ussmajil sind mit den Köpfen der Beamten der Italgas geschmückt, aber Euch wird niemals ein solches Glück vergönnt sein. Ihr werdet den Rest Eurer Tage in Dunkelheit verbringen, lebendig, aber an Körper und Geist gebrochen. Als Lohn für alles, was Ihr mich gekostet habt, für den Versuch, meinem Onkel seinen Ruhm zu rauben, und dafür, dass Ihr mein Land wie ein Meuchelmörder betreten habt, wird Euer Schmerz länger währen als der jedes anderen Menschen.«
Er war ihm so nah, dass ihm Tejohn mit einem plötzlichen Schlag die Kehle hätte zerschmettern können – nur dass Tejohn nicht einmal den Kopf drehen konnte.
Hände packten ihn grob und hoben ihn hoch. Der Schmerz war so überwältigend, dass er ohnmächtig wurde.
Er erwachte in absoluter Dunkelheit und spürte, dass er schwankte und durchgeschüttelt wurde, als schwebe er durch unruhiges Wasser. Nach einem Moment der Panik wurde ihm klar, dass ihn jemand von dem Schlafstein heruntergenommen und auf eine Trage gelegt hatte. Warum konnte er nichts sehen? Hatte der für die Vernehmung der Gefangenen zuständige Folterknecht ihn geblendet?
Jemand zischte ihm zu, still zu sein. Er presste seine ausgedörrten Lippen aufeinander und begriff erst jetzt, dass er vor Schmerz und Angst aufgestöhnt hatte. Feuer und Zorn, erwarteten sie von ihm, dass er sang- und klanglos zu seiner eigenen Hinrichtung ging?
Aber irgendetwas schien da nicht zu stimmen. Er glaubte nicht, dass Finstels Folterknechte ihr Werk in hastiger Heimlichkeit und mit gedämpften Stimmen erledigten. »Was ist …«
»Pst«, machte die Stimme. »Das hier ist die einzige Chance auf Rettung, die es je für Euch geben wird, also seid still.«
Tejohn wurde eine lange Treppe hinaufgetragen, aber er konnte nichts von seiner Umgebung sehen und wusste, dass er die Räumlichkeiten auch nicht erkannt hätte, wenn eine Laterne gebrannt hätte. Irgendjemand hatte ihm ein Tuch unter den Nacken gestopft, um seinen Kopf zu stützen. Eine Rettungsaktion? Er glaubte nicht daran. Es war ein Trick, von Finstel eingefädelt, um in ihm erst Hoffnung zu wecken und sie ihm dann wieder zu rauben.
Genau das hätte auch Tejohn jetzt getan. Den verletzten Gefangenen von seinem Schlafstein heruntergeholt, wenn er nahezu geheilt war. Die Dunkelheit und der Schmerz sorgten dann dafür, dass er orientierungslos blieb, und er verriet seinen vorgeblichen Rettern vielleicht seine Geheimnisse.
Die Sache war bloß, dass Tejohn keine Geheimnisse hatte. Zumindest keine, die den König der Finstels interessieren würden. Scherte sich Shunzik tatsächlich um den rechtmäßigen Erben von Peradain? Oder um den Ring, den er Tejohn ausgehändigt hatte und der den Beweis dafür darstellte, dass Tejohn nun sein rechtmäßiger Vertreter und damit Herrscher des Reiches war?
Er spürte, wie seine harte Trage auf einen langgestreckten hölzernen Untergrund glitt. Eine Frau neigte sich dicht an sein Ohr und flüsterte: »Was jetzt kommt, ist schmerzhaft, aber sobald Ihr auch nur das leiseste Geräusch von Euch gebt, sind durch Euch alle in dieser Kammer dem Untergang geweiht.«
Er glaubte ihr keine Sekunde, aber er spielte mit. Solange er sich keinerlei Hoffnung gestattete, konnten sie ihm nur körperliche Schmerzen zufügen.
Jemand legte ihm eine Art Kiste über den Kopf. Auf einer Seite war grob eine Aussparung in das Holz geschnitten worden, damit sich die Kistenkante nicht in seine Kehle drückte, und er spürte die spitz abstehenden Splitter auf der Haut. Dann begann jemand, etwas über seinen Körper zu kippen. Feuer und Zorn, wie weh das tat!
Der Gestank drang durch die Ritzen zwischen den Latten in die Kiste hinein, und Tejohn wusste, was sie da über ihn kippten: Abfall. Sein Magen krampfte sich zusammen, und es stieß ihm sauer auf; er versuchte, nicht durch die Nase zu atmen, aber es half nichts. Tejohn stellte sich vor, wie die Fäulnis in die offenen Wunden auf seinen Beinen drang, und spürte, wie seine Verzweiflung weiter wuchs.
Und er nahm sie an. Das Gewicht des Abfalls auf seinem zerstörten Körper presste sich auf ihn, ließ seinen Schmerz anschwellen, aber er blieb still und lautlos. Ließ es geschehen. Ließ alles geschehen. Die Tage, da er seine Welt hätte beeinflussen können, waren lange vorüber. Mochte der Tod nur kommen.
Schon bald nahm er Räder wahr, die schwer eine unebene Erdrampe hinabrollten. Der hölzerne Untergrund, auf den man ihn gelegt hatte, war in Wirklichkeit ein Wagen gewesen. Jedes Holpern über einen Stein oder durch eine Wegfurche jagte weißes Feuer durch seine Beine und seinen Rücken hinauf, aber er biss die Zähne zusammen und gab keinen Ton von sich. Die Kiste versperrte ihm natürlich jede Sicht auf seine Umgebung, aber er spürte eine kühle, feuchte Brise, die durch die Ritzen über sein Gesicht wehte. Draußen. Hatte man ihn wirklich aus der Festung gebracht? Kein Licht ließ darauf schließen, dass es Tag war, aber irgendwo tief in sich verspürte er einen kleinen Hoffnungsfunken. Vielleicht wurde er ja doch gerettet …
Er scheuchte diesen Gedanken davon, und eine Welle der Selbstverachtung überrollte ihn.
Das Geräusch von Stimmen erschreckte Tejohn so sehr, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Irgendwer schimpfte jemand anders, und dieser andere reagierte mit gelangweilter Dreistigkeit. Tejohn konnte keine einzelnen Wörter verstehen, aber es klang wie ein Gespräch, das die beiden schon viele Male geführt hatten, wahrscheinlich über irgendeine unverständliche und nebensächliche Vorschrift. Der Wagen blieb nicht einmal richtig stehen, während sie sprachen. Er verlangsamte nur ein wenig die Geschwindigkeit und nahm dann wieder sein vorhergehendes polterndes Tempo auf.
Es ging bergab. Immer bergab. Nach einer langen Zeit konnte Tejohn der Versuchung zu glauben, dass er wirklich gerade gerettet wurde, nicht mehr widerstehen, obwohl ihm gleichzeitig dämmerte, dass eine Befreiung jetzt, wo er noch immer ein körperlich versehrter Mann war, bedeutete, dass er ein Krüppel bleiben würde. Da wäre es besser, man hätte ihm ein Messer zwischen die Rippen gejagt oder ihm Gift verabreicht.
Vielleicht waren die Leute, die mit seiner Rettung zu tun hatten, ihm auch überhaupt nicht freundlicher gesinnt als die Finstels. Er schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung wie ein dünner Grashalm im Sturm. Wenn er sich des einen oder des anderen dieser beiden Extreme irgendwie hätte entledigen können, hätte er das getan. Möge Monument mir Kraft geben und eine Stütze sein.
Schließlich wurde das Gefälle so steil, dass sich das Gewicht des auf seine Beine gehäuften Abfalls gegen seinen Körper drückte, und er musste all seine Willenskraft zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Dann hörte er das Kratzen einer Holzschaufel auf den Wagenbrettern, gefolgt von einem Platschen. Sie schaufelten den Abfall herunter …
Bevor der Gedanke auch nur zu Ende gedacht war, schlug eine Schaufel gegen sein Knie, und der flammende Schmerz wurde so groß, dass es ihm unmöglich war, weiter stumm zu bleiben. Sein Schrei hallte in der Kiste wider, und kaum hatte er ihn abgewürgt, da riss ihm auch schon jemand die Kiste vom Kopf.
»Du dämlicher Idiot, Feuer soll dich holen«, sagte eine Frau mit leiser strenger Stimme. »Du darfst doch nicht den ruinierten Körper eines ruinierten Mannes schlagen!«
Tejohn war auf geradezu lächerliche Weise dafür dankbar, dass nicht er selbst der dämliche Idiot war, dennoch war nun keine Entschuldigung zu hören. Er schaute in den Nachthimmel auf, an dem so hell die Sterne prangten, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Laoni hatte den Sternenhimmel einmal als eine gewaltige Ansammlung von nadelkopfkleinen Lichtpunkten beschrieben, die an manchen Stellen nur vereinzelt leuchteten, während sie sich an anderen dicht zusammendrängten. Tejohn war zu kurzsichtig, um das selbst sehen zu können.
Für ihn waren sternenklare Nächte eine verschwommene Mischung aus Finsternis und grauem Licht, und es war wunderschön so. Laoni hatte es immer als traurig empfunden, dass ihm die wahre Schönheit von Sternen oder Gebirgszügen verborgen blieb, aber Tejohn reichte das, was er hatte. Und jetzt hatte er vor dem Ende seines Lebens noch einen weiteren Nachthimmel gesehen, und er hoffte, dass seine Frau und seine Kinder, die sich weit weg im Osten versteckten, friedlich unter diesem Himmel schliefen.
Dankbar bin ich, dass ich den Weg beschreiten darf.
Zwei Männer kamen auf den Wagen zugeeilt. Einer umfasste die Griffe der Trage neben Tejohns Kopf und zog ihn nach vorn, so dass der Abfall von ihm herabglitt. Der zweite wischte die Griffe am anderen Ende sauber und packte sie.
Tejohn versuchte, den Mann ins Auge zu fassen, der ihm am nächsten war, aber es war zu dunkel, um mehr als nur Umrisse zu erkennen. Vom Gesicht des Mannes konnte er nicht mehr als das ungekämmte Haar sehen, das es umgab. Sie trugen ihn mit außerordentlicher Behutsamkeit die schlammige Uferböschung des Flusses hinab – wenn einer von ihnen ausrutschte, würde Tejohn ohne Zweifel ertrinken wie ein hilfloser Säugling.
Er wollte den Kopf wenden, und sei es auch nur, um zu sehen, wie nah das Wasser war, aber das zusammengeknüllte Tuch unter seinem Kopf machte eine Nackendrehung noch immer unmöglich. Als die beiden Männer ins Wasser wateten, klangen ihre Schritte so laut, als würde jemand durch die kühle Nachtluft rufen, aber die Schaufelladungen von Abfall, die zugleich von der Trage fielen, übertönten das Geräusch.
»Haltet den Atem an«, flüsterte der Mann neben Tejohns Kopf. Tejohn hatte kaum die Zeit einzuatmen, als er auch schon in die Strömung hinabgesenkt wurde.
Beim Großen Weg, es war kalt, und diese Kälte war äußerst angenehm. Sein Schmerz verschwand nicht, aber er ließ nach. Eine Hand strich ihm über Brust und Beine, und er begriff, dass sie den Abfall von ihm abwuschen.
Dann wurde er wieder in die Luft gehoben. Jemand schnitt an seinem Rock herum – es war nicht seiner, wie ihm bewusst wurde, sondern etwas, was ihm die Folterknechte der Finstels angezogen hatten – und zog ihn dann unter ihm weg. Feuer und Zorn, das ließ seinen Schmerz zurückkommen, doch bevor er sein Missvergnügen äußern konnte, wurde er auch schon wieder untergetaucht, ohne zuvor überhaupt richtig Atem holen zu können. Diesmal glaubte er, ertrinken zu müssen.
Sie hoben ihn aus dem Wasser und trugen ihn zum Ufer. Wieder wurde ein leises Gespräch geführt, aber nun, da er die Kiste nicht mehr über dem Kopf hatte, konnte er alles deutlich hören.
»Danke. Wir werden euch nicht vergessen, was ihr getan habt.«
»Und wir werden nicht vergessen, was ihr uns dafür schuldet.« Tejohn erkannte diese Stimme als diejenige der Frau, die irgendjemanden – aber nicht ihn – einen dämlichen Idioten genannt hatte.
»Wie immer«, sagte der Mann, der zuerst gesprochen hatte. »Los geht’s.«
Die Trage wurde das Flussufer hinauf- und in eine Straße hineingetragen. Noch immer konnte Tejohn nur direkt nach oben schauen, aber die Dachtraufen über ihm verrieten ihm, dass sie durch schmale Gassen gingen und nicht über breite Straßen.
Keiner brach je das Schweigen. Einmal rutschte der Mann, der das Fußende der Trage hielt, auf irgendetwas aus, und die plötzliche Erschütterung jagte Tejohn einen so starken Schmerz durch die Glieder, dass er laut aufkeuchen musste. Niemand rügte ihn deswegen. Und niemand entschuldigte sich. Sie gingen einfach weiter.
Schließlich betraten sie ein Gebäude über einen großen offenen und türlosen Durchgang. Das Dach war nur ein breiter, auf zwei Säulen gelegter Stein, und die Wände waren schmucklos. Tejohn brauchte bloß einen Moment, um zu begreifen, dass sie ihn über die Schwelle eines Tempels getragen hatten und dass er dabei kein Gebet gesprochen hatte.
»Dankbar bin ich«, krächzte er, »dass ich den Weg beschreiten darf.«
Der Mann am Kopfende der Trage warf einen kurzen Blick zu ihm herab, aber Tejohn konnte seinen Gesichtsausdruck nicht ausmachen.
Sie trugen ihn durch einen Torbogen, dann eine lange Steintreppe hinunter. Schließlich folgte eine weitere Türöffnung, und es ging durch einen Raum, in dem laut geschnarcht und leise geflüstert wurde. Menschen, dachte Tejohn. Wahrscheinlich Flüchtlinge.
Bald erreichten sie einen steinernen Raum tief unten in der Erde. Der Kerker der finstelschen Festung hatte einen Lehmboden gehabt, aber selbst die geheimen Räume des Tempels bestanden aus Stein. Das gefiel Tejohn aus einem Grund, den zu verstehen er noch nicht bereit war.
Die Trage wurde auf den Boden gestellt, und die beiden Träger gingen fort. Irgendjemand entzündete eine Laterne, und das unerwartete Licht ließ Tejohn tief durchatmen. Licht war ihm im Moment so willkommen wie ein alter Freund.
»Trinkt«, sagte eine Männerstimme. Der Mann hob sanft Tejohns Kopf an und drückte ihm einen Becher Wasser an die Lippen. Großer Weg, war das gut!
Er trank, so viel er trinken durfte, aber es ging nur langsam vonstatten. Sehr langsam. Der Mann war wie ein Priester gekleidet, mit einem Rock von der Farbe frischen Blutes und dem milden, hängebackigen Gesicht eines Menschen, der kaum mehr tut, als den Tempel zu fegen. Er war alt, wahrscheinlich der älteste Mann, den Tejohn je im Leben gesehen hatte, mit übergroßen Ohren, einem Riesenzinken von Nase und sehr, sehr tiefen Falten im Gesicht.
»Jetzt geht es Euch besser, nicht wahr?«, fragte der Priester.
»Ja.« Tejohns Stimme fing an, wieder normal zu klingen. Der Becher wurde neu gefüllt und ihm abermals hingereicht.
»Ihr fragt Euch wahrscheinlich, warum wir Euch befreit haben«, begann der alte Mann. »Ich würde es jedenfalls tun, wenn ich an Eurer Stelle wäre. Lasst es mich Euch erklären: Es ist die Pflicht des Tempels, für die Menschen zu sorgen, und wir können unmöglich für sie sorgen, wenn wir nicht wissen, welche Leiden sie erdulden müssen. Drücke ich mich klar genug aus? Ihr habt die Welt bereist, Tyr Tejohn Treygar. Ihr habt an den Ratssitzungen von Königen teilgenommen und seid mit den niedrigsten und schäbigsten Flüchtlingen durchs Land gezogen. Und zudem habt Ihr Euch unserem Feind in der Schlacht entgegengestellt.«
Der Priester hielt inne, als erwartete er eine Antwort. Tejohn schob nur die Lippen vor – in Richtung Tasse. Er bekam noch mehr zu trinken.
»Es ist nicht nur der Sturz Peradains, der uns Sorgen macht.« Der alte Mann klang sehr, sehr müde. »Gerüchten zufolge regt sich in den östlichen Bergen der Dämon Kelvidschinian, und Boskorul umrundet die Halbinsel von Indrega in Richtung der Bucht der Steine. Es sind unruhige Zeiten, mein Tyr. Wir würden gern erfahren, was Ihr darüber wisst.«
Der Becher war leer. »Und warum sollte ich euch irgendetwas erzählen?«, krächzte Tejohn.
Jemand schnappte nach Luft und gab ein unzufriedenes Murmeln von sich. War es einer der Männer, die ihn auf der Trage hergebracht hatten? »Wir haben Euch soeben unter nicht geringem Risiko für uns selbst aus König Shunziks Folterkammer gerettet.«
»Mir scheint, dass es die Kammer seiner verschworenen Dienerschaft gewesen ist, die das ganze Risiko getragen hat. Ihr wart nur diejenigen, die sie dazu gedrängt haben. Und vermutlich handelt es sich bei der Sache sowieso nur um eine Finstel-Finte.«
Der alte Priester sah Tejohn mit einem Ausdruck unverhohlener Überraschung an. Dann füllte er die Tasse erneut und hob sie an Tejohns Lippen. »Ihr seid ein vorsichtiger Mann. Das respektiere ich. Weiß Sang, Ihr habt wenig Grund, irgendjemandem in den Ländereien der Finstels zu vertrauen. Wir müssen vielleicht noch mehr tun, um uns Eure Gunst zu verdienen. Seht Ihr, wohin wir Euch gebracht haben? Wir wissen, dass Eurer Augenlicht schlecht ist, aber bestimmt könnt Ihr doch wenigstens so weit sehen?«
Der Priester nickte zur anderen Seite hin, aber Tejohn konnte den Kopf nicht in diese Richtung bewegen. Der Priester half ihm und drehte ihn ein Stück herum.
Großer Weg, es war ein Schlafstein. Aus irgendeinem Grund war in den Tiefen dieses Tempels ein Schlafstein versteckt.
»Hier besteht immerzu ein schrecklich großer Bedarf, all diejenigen zu heilen, die es sich nicht leisten können, die Preise der Finstels zu bezahlen. Im Moment müssen sie aber erst einmal warten, bis Ihr an der Reihe gewesen seid.«
»Herr«, sagte einer der Träger seiner Krankenbahre, »seine Wunden sind zu alt.«
Der alte Mann nickte. »Das habe ich befürchtet.« Er zog etwas aus seiner Rocktasche. Es war eine lange Eisennadel. »Mein Tyr, habt Ihr schon einmal eine dieser Nadeln gesehen?«
Tejohn wollte seine Frage gerade verneinen, doch dann erkannte er sie. »Als ich in Samsit auf dem Schlafstein geheilt wurde, hat die dortige Heilgelehrte mir mit genau so einer Nadel aus Eisen ins Knie gestochen, bevor ich mich zum Schlafen hingelegt habe.«
Der Priester wirkte erfreut. »Ah ja, um eine alte Verletzung zu heilen, nicht wahr? Etwas, was zu lange nicht geheilt worden war und bleibende Schmerzen verursacht hat? Ich bedaure, Euch mitteilen zu müssen, dass es sich mit den neuen Verletzungen, die Ihr nun erlitten habt, genauso verhält. Sie werden nie richtig heilen, es sei denn, sie werden erneuert.«
»Nein!«, krächzte Tejohn. Aber hatte er nicht auch schon einer Heilgelehrten erlaubt, das Gleiche mit ihm zu machen? Und welche Wahl hatte er denn?
»Es wird alles zu Eurem Besten sein, das versichere ich Euch. Bevor wir anfangen, schaut zu dieser Laterne hinüber, die dort an der Wand hängt, wenn Ihr so freundlich sein wollt, mein Tyr.«
Tejohn legte den Kopf, so weit er konnte, in den Nacken und schaute »nach oben« in die Richtung, in die der Priester deutete. Es war dort aber keinerlei Lichtquelle zu sehen; zeigte der Mann etwa auf eine Lampe, die gar nicht brannte?
Dann hörte er, wie einer der Männer, die ihn hergetragen hatten, keuchte, und Tejohn spürte, wie ihm etwas in die Augen fiel, das sich wie Streusand anfühlte.
Sofort begannen sie heftig zu brennen. Blinzelnd versuchte er, von seinen Tränen wegwaschen zu lassen, was immer die Männer ihm da hineingeblasen hatten, aber die Tränen verschlimmerten den Schmerz nur noch. Er schrie auf, außerstande, Arme oder Beine zu heben. Seine Augen fühlten sich zunehmend schleimig und versengt an.
»Es ist nur ein kurzer Schmerz«, erklärte der alte Priester, und jemand stieß die Nadel in ihn hinein.
Es dauerte lange, bis sie ihn auf den Schlafstein legten und der Bewusstlosigkeit erlaubten, sich seiner zu bemächtigen. Aber als er erwachte, erschien die ganze Welt wie neu.
KAPITEL 3
Das Wasser war furchtbar kalt. Jede Befriedigung, die Cazia hätte verspüren können, als nun der Rückenpanzer des Tilkilit-Kriegers unter ihrem Gewicht zerplatzte, wurde im gleichen Moment vom eisigen Schock ihres Sprungs zunichtegemacht.
Rette uns! Wir versuchen zum nördlichen Ufer zu schwimmen. Schick Hilfe! Cazia spielte nicht mehr mit ganzem Herzen mit, und sie bezweifelte, dass sich die Königin noch lange hinters Licht führen lassen würde. Sie wartete auf irgendeine Art von Reaktion – einen Zornesschrei, eine Welle des Hasses, die sie ohnmächtig machen und ertrinken lassen würde –, aber wenn die Tilkilit-Königin wusste, was gerade geschah, so blieb sie stumm.
In einer starken Strömung muss man immer alles dafür tun, stehen zu bleiben. Klar doch. Cazia zog die Fersen bis an ihren Hintern hinauf und rollte sich auf den Rücken. Ihre Wanderröcke hatten sich bereits mit Wasser vollgesogen, aber das wirbelnde Nass strömte so schnell und so heftig, dass sie über die Wasseroberfläche gedrückt wurde, wo sie nach Luft ringen konnte.
Cazia hatte erwartet, dass die Krieger sie von den Ufern und vom Baumstamm aus angreifen würden, aber jetzt, wo sie im Wasser war, hatte sie keine Ahnung, ob das tatsächlich der Fall war. Der Fluss toste so laut und war so aufgewühlt, dass ein ausgewachsener Okshim neben ihr hätte hineinfallen können, ohne dass sie es bemerkt hätte. Sie sauste an etwas Riesigem und Unnachgiebigem vorbei – ohne es zu streifen, aber sie spürte, wie es das Wasser des Flusses brach – und versank dann tief im tobenden Wasser.
Sie hatte keine andere Wahl; Cazia zog ihre Jacke aus. Ihre Röcke – Feuer mochte sie holen! – müssten eigentlich ebenfalls weg, aber die Knoten würde sie jetzt unmöglich aufbekommen. Sie schüttelte ihre Stiefel von den Füßen und kämpfte sich an die Oberfläche.
Als sie den Kopf aus dem Wasser streckte und ihre Lunge mit Luft füllte, rauschte das Wasser um eine Flussbiegung nach Süden und wurde ruhiger. Sie hatte überlebt, irgendwie, trotz allem. Ein euphorisches Hochgefühl durchströmte sie, dann folgte die Panik. Ivi! Wo war Ivi?