Die Phoenix Chroniken - Fluch - Lori Handeland - E-Book

Die Phoenix Chroniken - Fluch E-Book

Lori Handeland

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Beschreibung

Nachdem Elizabeth Phoenix ihren Geliebten, den Magier Sawyer, töten musste, sucht dieser sie in ihren Träumen heim. Liz gewinnt neue übernatürliche Kräfte. Doch Sawyer hinterlässt ihr auch ein Geschenk, mit dem sie nicht gerechnet hätte und das ihr Leben für immer verändern wird: Liz stellt fest, dass sie schwanger ist ...

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Inhalt

Widmung

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Epilog

Impressum

Lori Handeland

Roman

Ins Deutsche übertragen von Cornelia Röser

 

Dies ist ein fiktionales Werk. Alle Charaktere,

Organisationen und Ereignisse, die in diesem Roman

dargestellt werden, entstammen entweder der Fantasie der

Autorin oder werden in einem fiktionalen Kontext verwendet.

1

Die Anführerin der übernatürlichen Mächte des Guten zu sein ist längst nicht so cool, wie es klingen mag. Zum Beispiel hat die Welt immer oberste Priorität, alles andere kommt an zweiter, dritter und vierhundertneunundfünfzigster Stelle. Und ich spreche von so wichtigen Dingen wie Liebe, Freundschaft und Familie. Letztlich hat das dazu geführt, dass ich den Mann getötet habe, den ich liebte.

Schon wieder.

Oh nein, ich habe ihn nicht zweimal umgebracht. Ich meinte vielmehr: Ich habe zwei Männer getötet. Der eine ist nicht tot geblieben, und der andere … bei dem bin ich mir nicht so sicher.

Ja, ich liebe zwei Männer. Das war mir auch neu. Dazu kommt noch der Anfang vom Ende der Welt – und schon ist das Chaos komplett. Als jemand, der sich damit auskennt, kann ich nur sagen: Chaos kann einem wirklich auf die Nerven gehen!

Seit der Nacht, in der meine Pflegemutter in meinen Armen starb und mir die Verantwortung für die Apokalypse hinterließ, war das Chaos für mich der Normalzustand.

Einige Wochen, nachdem ich Sawyer getötet hatte, tauchte er in meinen Träumen wieder auf. Er war ein Navajo-Fellläufer gewesen – Hexer und Gestaltwandler in einem, also ein Zauberer mit einer unvorstellbaren Macht. Leider hatten diese Kräfte seinen eigenen Tod nicht verhindern können. Ich glaube allerdings kaum, dass überhaupt irgendetwas das vermocht hätte, denn er hatte ja sterben wollen. Ich fühlte mich trotzdem schuldig. Was daran liegen könnte, dass ich ihm mit bloßen Händen das Herz herausgerissen hatte.

Es war ein erotischer Traum, wie meist, wenn Sawyer darin vorkam. Er war eine Art Katalysator-Telepath: Er brachte die übernatürlichen Fähigkeiten anderer durch Sex zum Vorschein. Es hatte etwas damit zu tun, sich zu öffnen, und zwar sich selbst gegenüber, dem Universum und den magischen Möglichkeiten darin – laberlaber, blablabla.

Ich habe nie ganz kapiert, was er da getan hat oder wie er es getan hat. Aber es funktionierte. Nach einer Nacht mit Sawyer hatte ich so viele Kräfte, dass ich kaum noch wusste, wohin damit.

Im Traum befand ich mich in meinem Apartment in Friedenberg, einer Vorstadt im Norden von Milwaukee, im Bett. Sawyer lag in der Löffelchenstellung hinter mir. Seine Hand ruhte auf meiner Hüfte. Da wir etwa gleich groß waren, spürte ich seinen Atem in meinem Nacken, sein Haar ergoss sich lang, schwarz und seidig über meine Haut. Ich legte meine Hand auf seine und wollte mich umdrehen.

Dabei kamen sich unsere Beine in die Quere. Er machte seine ganz steif und hielt mich an der Hüfte fest. »Nicht«, sagte er mit einer unendlich tiefen und befehlenden Stimme.

»Aber …«

Er knabberte sanft an meiner Halsbeuge, und ich schnappte nach Luft – sowohl vor Überraschung als auch vor Erregung. Ich wusste zwar, dass es ein Traum war, aber mein Körper reagierte, als wäre es keiner.

Alles fühlte sich so lebendig an – seine geschmeidigen, festen Muskeln spielten tatsächlich unter der glatten, heißen Haut. Sawyer war ausnehmend gut gebaut. In den Jahrhunderten, die er schon auf dieser Erde weilte, hatte er mehr als genug Zeit gehabt, jede einzelne Muskelgruppe mehrere Jahrzehnte lang zu trainieren und jeden Zentimeter so perfekt zu formen, dass Frauen bei seinem Anblick geradezu anfingen zu sabbern. Er wäre mir sogar ganz vollkommen erschienen, wären da nicht diese Tattoos gewesen, die seinen gesamten Körper bedeckten.

Fellläufer benutzen für ihre Verwandlung einen Umhang, auf dem ihr Tierwesen abgebildet ist. Sawyer brauchte keinen solchen Umhang, stattdessen waren auf seiner Haut die Abbilder vieler Raubtiere verewigt. Im Feuerschein schienen sie manchmal zu tanzen.

»Warum bist du hier?«, fragte ich.

»Was glaubst du?« Er schob die Hüfte vor und drückte seine Erek­tion gegen mich. Ich konnte nicht anders, als mich an ihn zu schmiegen. Okay, es war erst ein paar Wochen her, aber ich vermisste ihn trotzdem schon. Ich würde ihn für den Rest meines Lebens vermissen.

Ohne Sawyer steckten die Mächte des Guten – auch die Föderation genannt – ziemlich tief in der Scheiße. Natürlich war ich auch einigermaßen mächtig und sogar gerade dabei, noch mächtiger zu werden. Aber ich war auch recht unvorbereitet in diese Situation geraten. Ich kam mir wie ein magischer Elefant in einem ziemlich vollen Porzellanladen vor: stapfte durch die Gegend und machte Dinge und Menschen kaputt. Bis jetzt hatte ich gerade noch verhindern können, dass meine Leute ausgelöscht wurden, allerdings auch nur, weil ich dabei Hilfe gehabt hatte.

Von Sawyer.

»Ist ein ganz schön weiter Weg aus der Hölle, nur für ein Schäferstündchen«, murmelte ich.

Seine Zunge kitzelte meinen Hals genau an der Stelle, an der er eben geknabbert hatte. »Ich bin nicht in der Hölle.«

»Wo bist du dann?«

Er ließ seine Hand von meiner Hüfte zu meiner Brust wandern. »Wonach fühlt es sich denn an?« Er strich mit dem Daumen über meine Brustwarze. Das Gefühl jagte mir ein Kribbeln durch den ganzen Körper.

»Ich weiß, dass du nicht hier bist«, sagte ich. »Du wirst nie wieder hier sein.«

Meine Stimme drohte zu brechen, aber ich ließ es nicht zu. Das machte mich stolz. Ich konnte keine Schwäche zeigen, nicht einmal vor ihm.

Sawyer sagte nichts, er strich nur weiter mit seinem Daumen hin und her, hin und her. Dann seufzte er und hörte auf. Ich biss mir auf die Lippen, um ihn nicht anflehen zu müssen, weiterzumachen.

Seine geschmeidigen, äußerst geschickten Finger strichen über die Kette an meinem Hals und griffen nach dem Türkis, der daran hing. »Du trägst sie wieder?«

Sawyer hatte mir diese Kette vor Jahren geschenkt, und erst vor kurzer Zeit hatte ich sie ablegen müssen. Seit seinem Tod trug ich den Türkis nun aber wieder, denn er war alles, was mir von Sawyer geblieben war. Das hoffte ich jedenfalls.

»Ich …« Ich verstummte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich wollte einfach nicht, dass er wusste, wie sehr er mir fehlte, so sehr nämlich, dass ich mindestens ein Dutzend Mal am Tag über den glatten Stein strich und an ihn dachte.

»Ich bin ja froh darüber«, sagte er sanft. »Er hat mich zu dir geführt.«

Anfangs hatte ich noch geglaubt, die Kette wäre nichts weiter als ein Schmuckstück. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass sie magische Kräfte besaß, mich als Sawyers Eigentum auswies und mir sogar schon einmal das Leben gerettet hatte. Außerdem wusste er dadurch jederzeit, wo ich war.

Er ließ den Türkis wieder zwischen meine Brüste fallen. »Weißt du noch, was das Letzte war, das ich zu dir gesagt habe?«

Ich verspannte mich so abrupt, dass ich mit dem Hinterkopf gegen seine Nase stieß. Der Zusammenprall und das Zischen, das Sawyer dabei ausstieß, klangen ziemlich real, ebenso wie das dumpfe Pochen, das nun in meinem Kopf einsetzte.

»Phoenix«, sagte Sawyer eindringlich. »Erinnerst du dich …?«

»Beschütze diese Gabe des Glaubens«, wiederholte ich sofort.

Er fuhr mit der Handfläche über meine Schulter. »Ja, richtig.«

»Was bedeutet das?«

»Das wirst du schon sehen.«

Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Unmittelbar vor diesem Satz hatte Sawyer noch etwas anderes gesagt. Worte, die mich ebenso um den Schlaf gebracht hatten wie sein Tod:

Ich beschließe, ein Kind zu hinterlassen.

Die Erinnerung an das, was kurz vor und nach diesen Äußerungen geschehen war, blendete ich aus. Er war in mein Zimmer geschlichen, wo ich als Gefangene meiner eigenen, längst tot geglaubten Mutter ans Bett gekettet war. Sie war ein echter Hauptgewinn. Schon nach fünf Minuten in ihrer Gesellschaft bedauerte ich nicht mehr, als Waise aufgewachsen zu sein.

Die Situation war zwar abscheulich gewesen, aber Sawyer hatte mich trotz allem verführt. Ich hatte nicht mehr darüber nachgedacht – bis er verschwunden war. Nun legte ich die Hand auf meinen noch immer flachen Bauch. Hatte er tatsächlich ein Kind gezeugt?

»Sawyer«, begann ich. Ich hatte so viele Fragen. Aber ich kam gar nicht dazu, auch nur eine von ihnen zu stellen.

»Du musst jetzt aufwachen.«

»Warte, ich …«

»Phoenix«, sagte er, und dann sanfter: »Elizabeth.«

Die meisten nannten mich Liz, aber Sawyer hatte das nie getan.

»Jemand ist hier.«

Im nächsten Augenblick fiel ich in die Realität zurück, und der Klang seiner Stimme, das Gewicht seiner Hand und die Wärme seines Körpers schwanden dahin.

»Jemand oder etwas?«, fragte ich.

»Beides«, antwortete er noch, und dann war er verschwunden.

Ich schlug die Augen auf und griff schon nach dem silbernen Messer unter meinem Kissen.

Die Welt war nicht das, wonach sie aussah. In vielen Menschen verbargen sich Halbdämonen, die nur darauf aus waren, uns zu vernichten. Sie hießen Nephilim und mussten als die Nachkommen von gefallenen Engeln und Menschentöchtern gelten.

Es gab sie bereits seit dem Anbeginn der Zeit, in früheren Zeiten wurden sie häufiger gesichtet, damals, als Wolfsmenschen und Frauen aus Rauch noch ganz alltäglich waren. Auf ihnen basierten die Legen­den, die man heute fast ausschließlich auf den Kinoleinwänden zu sehen bekam. Es sei denn, man war ich. Dann kamen sie zu einem in die Wohnung.

Die Finger fest um den Griff des Messers geschlossen, wartete ich regungslos auf das leichte Summen, das dem Auftauchen einer bösartigen, unheimlichen Kreatur vorausging. Doch es kam nicht.

Ich saß mit zusammengekniffenen Augen und gespitzten Ohren auf dem Rand der Matratze, dann atmete ich tief ein und ein Kribbeln lief mir über die Haut. Das Bett roch nach Sawyer – nach Schnee in den Bergen, nach Blättern im Wind, nach Feuer, Rauch und Hitze.

»Von wegen Traum«, murmelte ich.

Unten vor dem Haus hörte ich ein dumpfes Geräusch, dann ein Kratzen von etwas Festem auf dem Gehweg. War das ein Schuh? Ein Fuß? Eine Klaue?

Als ich das Zimmer durchquerte, hätte ich schwören können, dass etwas Pelziges mein Bein streifte. Ich blickte nach unten, sah aber nur den Stoff meiner weiten Baumwollshorts, die ich zusammen mit dem abgetragenen und verwaschenen Milwaukee-Brewers-T-Shirt als Schlafanzug trug.

Ich hörte ein merkwürdiges Heulen und ging zum Fenster, wo ich mich so hinstellte, dass man mich von außen nicht sehen konnte. Es war Neumond und der Himmel dunkel. Hier, in der Nähe der Stadt, spendeten auch die Sterne nur wenig Licht. Die einzige Straßenlaterne in Friedenberg beleuchtete nichts als leere Bürgersteige und dunkle Schaufenster. Das hatte gar nichts zu bedeuten. Nephilim benutzten nur selten die Vordertür. Das hatten sie gar nicht nötig.

Mit einem mulmigen Gefühl sah ich nach oben, aber auch auf den Dächern waren nur Schatten zu erkennen. Diese Schatten konnten jedoch alles Mögliche bedeuten.

»Psst. Junge.«

Ich trat gegen das Kinderbett, das in einer Ecke an die Wand gedrängt stand. Meine Wohnung war ein kleines Apartment direkt über einem Nippesladen. Das Haus gehörte mir, ich hatte das Erdgeschoss vermietet und auch schon mit dem Gedanken gespielt, den ersten Stock ebenfalls zu vermieten. Zurzeit war ich nämlich kaum in der Stadt. Und auch jetzt war ich nur hier, weil ich meiner besten Freundin versprochen hatte, zum neunten Geburtstag ihrer Tochter zu kommen. Ich schuldete Megan so viel, da war es das Mindeste, wenigstens ein Mal da zu sein, wenn sie mich darum bat.

»Luther!« Wieder stieß ich gegen das Kinderbett. Ich wollte ihn nicht berühren, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Meine übersinnlichen Kräfte hatte ich schon von Geburt an, so vermute ich. Jedenfalls kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht anhand einer einzigen Berührung hatte sehen können, wo ­Menschen gewesen waren und was sie getan hatten. Bei Nephilim konnte ich erkennen, was sie in Wirklichkeit waren. Oder jedenfalls hatte ich das bis vor kurzer Zeit noch gekonnt. Jetzt hatte ich dafür ja Luther.

»Wa…? Häh?« Luther rieb sich seine glatte braune Gesichtshaut. Das wirre goldbraune Haar stand ihm noch wilder vom Kopf ab als sonst.

»Empfängst du eigentlich irgendwelche Bösewichter-Schwingungen?«, fragte ich.

Der Junge war sofort hellwach. Respekt. »Nein«, sagte er langsam, mit schief gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen.

»Du hast ja einen ziemlich tiefen Schlaf.« Das hatten alle Kinder, soweit ich wusste – auch wenn Luther darauf bestand, dass er kein Kind mehr war, sondern ein Mann.

Er behauptete steif und fest, achtzehn Jahre alt zu sein, aber ich hatte da so meine Zweifel. Er war groß und schlaksig, seine Hände und Füße wirkten riesig. Viele Nephilim hatten sich von seiner ungelenken Erscheinung täuschen lassen und ihn für langsam und tollpatschig gehalten. Dabei bewegte sich Luther so schnell und geschmeidig wie der Löwe, in den er sich verwandeln konnte.

Der Junge war nämlich eine Kreuzung – Nachkomme eines Nephilim und eines Menschen. Weil er zum Teil Dämon war, hatte er übernatürliche Kräfte. Da er aber zum größeren Teil Mensch war, hatte er sich dafür entscheiden können, auf der Seite des Guten zu kämpfen. Viele Kreuzungen taten das.

»Ich würde es hören, wenn Ruthie versucht, mir etwas zu sagen. Egal ob ich schlafe oder nicht.«

Ruthie Kane, meine Pflegemutter, war früher mal die Anführerin des Lichts gewesen. Jetzt war ich das. Anfangs hatte sie im Wind, in meinen Träumen oder Visionen zu mir gesprochen, um mir mitzuteilen, welche Spielart des Bösen sich hinter dem menschlichen Gesicht eines Nephilim verbarg. Jetzt aber sprach sie durch Luther. Ich hatte nämlich ein Dämonenproblem.

»Da draußen ist etwas«, sagte ich.

Luther zog sein Silbermesser genauso schnell, wie ich vorhin meins gezogen hatte. Die meisten Gestaltwandler kann man mit Silber töten, und selbst wenn nicht, so hält es sie zumindest auf.

»Spricht Ruthie wieder mit dir?« Luther war schon auf dem Weg zur Tür, die zur Hintertreppe führte.

»Nein.« Ich blieb stehen, um Luthers und mein Gewehr vom Nachttisch zu nehmen – wenn ein Silbermesser wirkte, war eine Silberkugel noch besser –, dann eilte ich ihm nach.

Wir warfen unsere Messer auf den Küchentisch. Der Junge griff nach der Türklinke, doch ich schob mich vor ihn. Luther war ein Neuling. Nicht, dass ich selbst ein alter Hase gewesen wäre. Ich machte diesen Job noch keine vier Monate. Aber ich war die Anführerin, und das bedeutete eben, dass ich als Erste durch die Tür musste.

Früher hatte ein Seher – jemand mit der übersinnlichen Fähigkeit, Nephilim in ihrer menschlichen Gestalt zu erkennen – mit mehreren Dämonenjägern zusammengearbeitet. Diese Regelung war aber beim Teufel, seit die Nephilim die Föderation infiltriert und drei Viertel der Gruppe ausgelöscht hatten. Die verbleibenden Mitglieder taten nun alles, was in ihrer Macht stand. Seher wurden zu Dämonenjägern, Dämonenjäger zu Sehern, und jeder tötete einfach alles, was ihm in die Quere kam.

»Wenn Ruthie noch immer nicht zu dir spricht, woher weißt du dann, dass da draußen etwas ist?«, fragte Luther verständlicherweise.

Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, dass ich im Traum Besuch von den Toten gehabt hatte. Nicht, dass ihn diese Nachricht schockiert hätte. Luther bekam schließlich jeden verdammten Tag Besuch von den Toten. Aber ich wollte jetzt nicht darüber sprechen. Jetzt wollte ich nur wissen, was sich da draußen befand. Und dann wollte ich es töten.

Auf bloßen Füßen schlich ich fast lautlos die Treppe hinunter. Luther war sogar noch leiser. Er war zur Hälfte Löwe, da konnte er gar nicht anders.

Eine Tür führte auf den Parkplatz hinter dem Haus. Ich öffnete sie, ging jedoch nicht hinaus. Stattdessen lauschte ich. Luther schnupperte, dann trafen sich unsere Blicke. Nichts zu erkennen.

»Erschieß niemanden, dessen Leiche ich nachher wegschaffen muss«, ermahnte ich ihn. Eine Variation von Schieß erst, wenn du das Weiße im Auge sehen kannst, oder im Föderationsjargon: Bring nicht versehentlich einen Menschen um.

Nephilim zerfielen zu Asche, wenn man sie auf die richtige Weise tötete. So kamen keine Fragen auf, die wir nicht beantworten konnten, und wir mussten uns auch nicht um die nervige Beseitigung blutverschmierter Leichen kümmern. Bei Menschen war das etwas anderes.

Luthers einzige Reaktion auf meine Warnung war das typische Teenagergrinsen, gepaart mit einem genervten Augenrollen. Ich musste ihn nicht berühren, um seine Gedanken zu kennen.

Ich bin doch nicht blöd!

Wir gingen nach draußen. Niemand schoss auf uns – nicht, dass eine Kugel viel angerichtet hätte. Übernatürliche Wesen – selbst solche wie Luther und ich, die mehr Mensch als irgendwas anderes waren – konnten fast alle Verletzungen heilen. Bis auf eine ganz bestimmte, die für jede Spezies einzigartig war. Der Angreifer musste also die einzig richtige Methode kennen.

Ich bedeutete Luther mit dem Kinn, dass er links um das Haus her­umgehen solle, während ich zur rechten Seite ging. Wir würden uns wieder hier hinten treffen, um dann gemeinsam die dunkle Böschung am anderen Ende des Parkplatzes zu untersuchen, wo der Milwaukee River fröhlich vorbeiplätscherte.

An dieser Stelle blieb mein Blick hängen. Dort hätte sich etwas – oder mehrere Etwasse – verstecken können. Aber ohne Ruthies Warnungen ging ich erst einmal davon aus, dass alle Geräusche, die ich hörte, von Menschen stammten. Natürlich konnten uns auch Menschen das Leben schwer machen. Das taten sie meistens. Und ganz besonders solche, die sich hier im Dunkeln herumtrieben.

Als ich mich mit dem Rücken zur Wand am Haus entlangschob, hörte ich in der Nähe des Flusses ein Geräusch und fuhr herum, das Gewehr schussbereit. Für einen Augenblick hätte ich schwören können, in Bodennähe etwas Schwarzes, Vierbeiniges entlangschleichen zu sehen.

Ich blinzelte, und der Schatten war nur noch ein Schatten, vielleicht ein Baumstamm mit vier Ästen oder die Spiegelung einer weit entfernten Straßenlaterne auf dem Fluss. Es gab in Friedenberg auch Füchse, ein paar Kojoten und jede Menge Hunde. Aber das hier hatte wie ein Wolf ausgesehen.

»Sawyer«, flüsterte ich. Die einzige Antwort war das Heulen einer Windböe.

Ich hielt mein Gesicht in die Nacht hinein, um meine Haut von der Brise kühlen zu lassen. Stattdessen umgab mich schwülwarme Luft ohne die leiseste Bewegung. Kein Wind also, aber definitiv ein Heulen.

Scheiße. Luther.

Ich rannte zur Frontseite des Hauses. Obwohl mir all meine Instinkte befahlen, wild um mich schießend um die Ecke zu stürmen, blieb ich stehen und überprüfte zuerst die Straße. Blindlings auf offenes Gelände zu rennen, das war höchstens eine effektive Methode, sich den Kopf wegblasen zu lassen. Wahrscheinlich hätte mich zwar nicht einmal das töten können, aber die Heilung würde doch ziemlich lange dauern. Bis dahin konnte Luther tot sein.

Außerdem waren da noch die zusätzlichen Bedenken wegen meiner möglichen Schwangerschaft. Ich wollte nicht schwanger sein, konnte mir kaum etwas vorstellen, das ich weniger hätte gebrauchen können – außer vielleicht einen langsamen, qualvollen Tod durch einen Nephilim. Aber ich konnte nun mal nichts daran ändern. Wenn ich Sawyers Kind in mir trug, war er, sie oder es alles, was von seiner Magie übrig geblieben war – neben dem, was er an mich weitergegeben hatte. Ich musste diese Gabe beschützen. Das hatte ich versprochen.

Es war vier Uhr früh an einem Freitagmorgen und die Hauptstraße menschenleer. Friedenberg brüstete sich mit seinen zahlreichen Kneipen – es war immerhin Wisconsin. Aber sie hatten pünktlich geschlossen, und inzwischen waren alle längst schon wieder zu Hause.

Keine Spur von Luther. Verdammt.

»Junge?« Ich wollte nicht laut rufen, aber bald würde mir nichts anderes übrig bleiben.

Ich eilte an der Vorderseite des Nippesladens vorbei, so konzentriert auf die nächste Ecke, dass ich fast übersehen hätte, was da eingehüllt im Hauseingang lag. Ich war schon daran vorbeigelaufen, als mir klar wurde, was ich gesehen hatte. Also bremste ich ab und ging ein paar Schritte zurück.

Auf der obersten Treppenstufe stand, in eine Decke gewickelt, ein Korb. Obwohl es in der Türnische dunkel und die Decke nicht gerade farbenfroh war – entweder schwarz oder dunkelblau –, konnte ich unter der Decke eine Bewegung ausmachen.

Ich spürte ein Kribbeln im Nacken und kämpfte gegen den Drang an, dort eine imaginäre Stechmücke zu erschlagen. Ich wagte nicht, diese Stelle zu berühren, wenn ich es nicht wirklich wollte. Sawyer war nicht der Einzige, der Tattoos hatte – und sie benutzen konnte.

Hatte mir jemand einen Korb mit giftigen Schlangen, Taranteln oder Gila-Krustenechsen vor die Tür gestellt? Vielleicht eine neue Züchtung, wie einen Landhai, eine Trockenqualle oder einen winzigen Minivampir? Oh, ich habe auch schon weit merkwürdigere Dinge gesehen.

Das Heulen, das ich vorhin gehört hatte, erklang erneut – es kam aus dem Körbchen. Ich beugte mich vor und hob die Decke an einem Ende mit dem Lauf meiner Glock ein wenig an. Was ich darunter entdeckte, ließ mein Herz schneller schlagen, als es jeder Vampir vermocht hätte. Ich ließ die Decke wieder fallen und stolperte fast über meine eigenen Füße, so eilig wich ich zurück.

»Schöne Scheiße«, murmelte ich.

Jemand hatte mir ein Baby vermacht.

2

Das Kind fing jetzt richtig zu weinen an, dieses Geräusch konnte man beim besten Willen nicht mehr für den Wind halten. Schon bald würde jemand aus seinem Haus kommen und fragen, warum ich hier mit einem Gewehr herumschlich. Dieser Jemand würde auch wissen wollen, warum auf der Treppe zu meinem Haus ein Baby in einem Korb lag. Das hätte ich selbst ziemlich gern gewusst.

Ich näherte mich vorsichtig und zog die Decke weg – diesmal mit der Hand. Das Kind blinzelte. Lange, dunkle Wimpern rahmten seine hellen Augen ein, deren genaue Farbe ich in der Nacht nicht erkennen konnte. Das runde Gesicht verfinsterte sich, als das Baby tief einatmete, bevor es dann so richtig loslegte.

»Nimm sie hoch.«

Ich fuhr so heftig zusammen, dass ich beinahe das Gewehr fallen gelassen hätte. Vorsichtig nahm mir Luther die Waffe aus der Hand.

»Sie?«, fragte ich, worauf er mit den Schultern zuckte.

»Sieht doch wie eine Sie aus, oder?«

Das Kind trug zwar nur eine Wegwerfwindel, die allerdings war rosa. Das hätte ich als ersten Anhaltspunkt nehmen können.

»Nimm sie auf den Arm, Liz, bevor mir der Kopf platzt.«

»Warum nimmst du sie denn nicht auf den Arm?« Ich versuchte, ihm die Gewehre abzunehmen, aber Luther hielt sie über seinen Kopf. Obwohl ich mit knapp eins achtzig ziemlich groß war, kam ich da nicht ran. Wenn Luther seine Wachstumsphase abgeschlossen hatte, könnte er von der Größe her mit LeBron James konkurrieren.

»Keine Chance«, sagte er.

»Mist«, murmelte ich.

Scheiße, dachte ich.

Ich beugte mich über den Korb und schob die Hände unter das Baby. Es war warm und wand sich, ein bisschen wie ein Welpe, nur eben ohne Fell. Die Kleine wog vielleicht fünf Kilo und war etwa siebzig Zentimeter groß. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie sein mochte, aber sie sah sehr jung aus – klein, hilflos und zerbrechlich. Sie jagte mir eine Scheißangst ein.

Als ich sie hochnahm, schrie sie weiter. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich war selbst auf einer Türschwelle ausgesetzt worden. Wenn ich damals gewusst hätte, was mich in den folgenden Jahrzehnten erwartete, hätte ich geschrien, bis mir der Kopf weggeflogen wäre. Scheiße, vielleicht hatte ich das ja sogar wirklich getan.

»Irgendeine Nachricht?«

Luther starrte in die Tiefen des Korbs. »Nö.«

»Na fabelhaft.« Ich hatte ziemlich mit dem Kind zu kämpfen, das sich so in meinen Armen wand, als wolle es, dass ich es fallen lasse.

»Mensch«, sagte Luther. »Pass auf ihren Kopf auf.«

Er hielt beide Gewehre in einer seiner riesigen Pranken und nahm mit der anderen meine Hand, um mir zu zeigen, wie ich ihren Kopf mit den Fingern umfassen sollte, während ich gleichzeitig mit der Handfläche ihren Nacken stützte.

»Leg sie dir an die Schulter.« Er machte die Bewegung vor, dann streckte er die Hand aus und klopfte ihr auf den Rücken. »Manchmal mögen sie das.«

Das Baby machte ein Bäuerchen, dann noch eins, und holte tief Luft. Ich verspannte mich, weil ich erwartete, dass mir der nächste Schrei das Trommelfell zerreißen würde. Stattdessen wackelte sie mit dem Po, kuschelte sich an mich und nuckelte an meinem T-Shirt.

»Woher weißt du so viel über Babys?«, fragte ich.

»Ich hatte schon mal eins auf dem Arm. Was ist deine Entschuldigung?«

»Ist mein erstes Mal.«

»Du hast noch nie ein Baby auf dem Arm gehabt?« Luthers Stimme klang genauso ungläubig, wie sein Gesicht aussah. »Wie hast du das denn hingekriegt?«

»War nicht einfach«, murmelte ich.

Ich war zwar im Pflegeheim zusammen mit anderen Kindern aufgewachsen, aber Ruthie hatte nun mal nicht besonders viele Babys aufgenommen. Die brauchten einfach zu viel Fürsorge, und Ruthies Spezialgebiet waren Kinder zwischen zehn und zwölf, die in Schwierigkeiten steckten. Die meisten glaubten, dass Ruthie die Heranwachsenden bevorzugte, weil sie gut mit ihnen umgehen konnte. Das konnte sie auch wirklich. Aber in Wahrheit ging es um die übernatürlichen Kräfte von Kreuzungen, die sich erst in der Pubertät entwickelten oder verstärkten.

Ruthie leitete dieses Pflegeheim weniger zum Wohle derjenigen, die sie dort aufnahm, als vielmehr zum Wohle der Föderation. Auf diese Weise rekrutierte sie den Nachwuchs. Dass ihretwegen zahllosen Kindern ein Leben auf der Straße oder in einer furchtbaren Pflege­familie erspart blieb, war nichts weiter als ein glücklicher Zufall.

»Hat denn keiner deiner Freunde Kinder?«, hakte Luther nach.

Ich hatte eine Freundin, Megan. Sie hatte drei Kinder. Aber als sie noch Babys gewesen waren, hatte ich mich in ihrer Nähe so unwohl gefühlt, dass Megan mir nicht erlaubt hatte, sie anzufassen. Sicher hatte sie befürchtet, dass ich die Kleinen auf den Kopf fallen ließe.

»Wir sollten reingehen«, sagte ich und ignorierte Luthers Frage. »Schnapp dir den Korb.«

Luther legte die Waffen auf dem Boden ab und nahm die Babytrage auf. Dabei kam auf der Treppe eine rosafarbene Decke zum Vorschein. Luther hob den Stoff auf, der sich dabei entfaltete und weich herabfiel. Winzige Kätzchen sprangen auf dem Flanell herum.

»Vielleicht ist es das, was sie wollte.« Sanft legte Luther dem Baby die Decke um.

Licht blitzte auf, und zwar so hell, dass es den ganzen Himmel auszufüllen schien. Das Kind in meinen Armen drehte und wand sich. Ich hielt es fester, weil ich fürchtete, es könnte mir entgleiten.

»Pssst«, flüsterte ich und hoffte, die Kleine finge nicht wieder zu schreien an.

Miau, sagte sie.

Ich sah nach unten. Jetzt hielt ich ein flaumiges schwarzes Katzenbaby auf dem Arm.

Ein Streifenwagen bog an der einzigen, blinkenden Ampel nach links ab und kam auf uns zu. Bei nur dreitausend Einwohnern in diesem winzigen Vorort am Fluss, von denen die meisten ziemlich wohlhabende Zwei-Einkommen-Familien mit Kindern waren, hatten die Bullen in Friedenberg kaum etwas zu tun, außer Teenager zu schikanieren und mit den Anwohnern zu plaudern. Obwohl ein Kätzchen weitaus leichter plausibel zu machen gewesen wäre als ein Baby und unsere Gewehre sicher außer Sichtweite standen, lief ich eilig zur Hintertür.

Ich war zwar selbst mal eine von ihnen gewesen, trotzdem machten mich Bullen immer nervös. Das konnte damit zusammenhängen, dass ich jeden Tag gegen das Gesetz verstieß. Und damit meine ich nicht, dass ich bei Rot über die Straße ging oder im Halteverbot parkte. Ich beging Morde. Hinzu kamen noch diverse Betrugsfälle und ab und zu eine Entführung. Die Erklärung, dass die Menschen, die ich tötete, eigentlich gar keine Menschen waren, würde mich statt ins Frauengefängnis für lange Zeit in die Psychiatrie bringen.

Natürlich käme ich da wieder raus. Es würde mich nicht mal viel Mühe kosten. Aber als flüchtiger Sträfling hätte ich nicht nur die Nephilim auf den Fersen, sondern auch noch die örtlichen Vollzugsbehörden. Sobald ich die Staatsgrenzen überquerte, wäre es ein Fall für die Bundespolizei, und das Chaos wäre an allen Fronten komplett.

Ich musste mich ungehindert mit allen möglichen Verkehrsmitteln durchs ganze Land bewegen können, auch per Flugzeug. Mein Gesicht und mein Name auf einer Fahndungsliste wären dabei nicht gerade hilfreich.

Ich polterte die Treppen hinauf und schloss die Tür hinter uns ab. Das Kätzchen wand sich, und als ich es festhalten wollte, kratzte es mich. Also ließ ich es herunter. Sofort flitzte es unters Bett.

»Wessen Kind das ist, brauchen wir uns wohl nicht zu fragen.« Luther sah ein wenig mitgenommen aus. Seine Augen waren riesig, und er starrte noch immer auf die Stelle, an der das Kätzchen verschwunden war, so als wartete er darauf, dass es wieder hervorgekrabbelt kam – auf menschlichen Händen und Knien. Vielleicht würde es das sogar tun. Ich wunderte mich über seine Nervosität, schließlich hatte er schon mitangesehen, wie Menschen sich in alles Mögliche verwandelten. Aber natürlich hatte er noch nie gesehen, wie sich ein Baby in ein Katzenjunges verwandelt.

Das hatte ich auch nicht.

Ich warf die Decke und die leere rosa Windel auf den Tisch. »Wohl nicht, nein.«

»Was glaubst du, wie sie heißt?«

Ich hörte wieder Sawyers Worte, als stünde er direkt neben mir: Beschütze diese Gabe des Glaubens.

»Faith«, platzte ich heraus. »Ihr Name ist Faith.« Englisch für Glaube.

»Sicher?«

Ich seufzte. »Ja.«

»Wer ist ihre Mama?«

»Keine Ahnung.« Bei Sawyer kam da so ziemlich jede infrage.

»Glaubst du, sie war es, die Faith hierhergebracht hat?«, fuhr Luther fort.

»Ihre Mutter?« Ich runzelte die Stirn. »Warum sollte sie das tun?«

Luthers knochige, löwenartige Schultern zeichneten sich unter der Haut ab, als er die Achseln zuckte. »Vielleicht ist sie in Schwierig­keiten.«

»Willkommen im Club«, murmelte ich, während ich nachdenklich das Augenpaar betrachtete, das unter dem Bett glühte. In dem Moment, als Faith aus meinen Armen gesprungen war, hatte ich gesehen, dass ihre Augen grau waren, wie die von Sawyer. »Was soll ich nur mit einem Baby anfangen?«

»Es beschützen.« Ich warf Luther einen Seitenblick aus zusammengekniffenen Augen zu, und er hob beschwichtigend die Hände. »Das tust du doch?«

»Natürlich. Aber …«

An jeder Ecke warteten Halbdämonen darauf, ums Leben gebracht zu werden. Dabei konnte ich keinen Kinderwagen vor mir herschieben. Ich könnte Faith in ihre Decke wickeln und in einen Käfig stecken.

Ich wand mich. Wohl kaum.

»Hol Ruthie«, befahl ich.

Luther widersprach nicht. Er schloss einfach die Augen und tat, was auch immer er tun musste, um Ruthie herbeizurufen. Als er die Augen Sekunden später wieder öffnete, blickte mich Ruthie daraus an.

Das war das Merkwürdigste. Luthers Augen waren haselnussfarben oder, wenn sein Löwe sich drohend bemerkbar machte, auch bernsteinfarben. Aber wenn er als Medium für Ruthie fungierte, wurde ­seine Iris jeweils dunkelbraun. Er bewegte sich auch anders – an die Stelle der großen Gesten und schnellen Schritte des Teenagers traten die anmutigen Bewegungen und der gemessene Schritt einer alten Frau.

»Ich wollte gerade zu dir kommen, mein Kind.« Ruthies Stimme kam aus Luthers Mund.

»Warum?«

»Ich habe einen neuen Fellläufer für uns gefunden. Er heißt Sani.«

Sawyers Wissen über die Magie war mit ihm gestorben. Zwar hatte ich jetzt seine Kräfte, aber ich hatte überhaupt keinen Schimmer, wie ich sie anwenden sollte. Deshalb hatte Ruthie ja auch nach jemandem von meiner Art gesucht. Sawyer hatte mit den Toten sprechen können, und das war in diesem Moment … genau das, was ich brauchte.

»Der Mann hat Sawyer alles beigebracht, was er wusste«, fuhr sie fort.

»Der Typ lebt also noch?« Da Sawyer schon antik war, musste Sani sozusagen mesozoisch sein.

Ruthie warf mir aus Luthers Gesicht einen langen Blick zu. Ein Fellläufer starb nur, wenn er sich auch dafür entschied, deshalb waren die meisten von ihnen wohl steinalt. Buchstäblich.

»Wie komme ich zu ihm?«, fragte ich.

»Du biegst bei den Badlands rechts ab und fährst dann immer weiter geradeaus, bis du zu den Black Hills kommst. Der Ort heißt Inyan Kara. Ein heiliger Berg der Lakota.«

»Fellläufer sind Navajo. Was zum Teufel macht einer von denen im Lakota-Gebiet?«

»Ein heiliger Berg ist ein heiliger Berg. Und jeder Fellläufer braucht einen eigenen. Mount Taylor gehörte Sawyer seit …«

»Dem Anbeginn der Zeit«, vermutete ich.

»Fast.«

»Wenn dieser Mann Sawyer alles beigebracht hat, warum hat er sich Mount Taylor dann nicht selbst unter den Nagel gerissen?«

»Das hat er ja auch.«

»Aber er ist trotzdem in South Dakota.«

»Wyoming«, korrigierte sie mich. »Der Inyan Kara liegt in dem Teil der Black Hills, der zu Wyoming gehört. Er bildet mit dem Bear Butte und dem Devil’s Tower ein heiliges Dreieck. Mächtige Magie.«

»Lakota-Magie.«

Luthers knochige Schultern hoben und senkten sich erneut. »Sani kann die Magie aus jedem Berg nutzen.«

»Ich verstehe noch immer nicht, warum er Mount Taylor eigentlich aufgegeben hat.«

»Er hat ihn ja gar nicht aufgegeben«, sagte Ruthie, und irgendetwas in ihrer Stimme verriet mir die Wahrheit.

»Sawyer hatte ihm den Berg weggenommen.«

Luthers Kinn sackte bestätigend auf die Brust.

»Der Typ wird ja vor Begeisterung ausflippen, dass er mir beim Beschwören gerade des Mannes helfen soll, der ihm seinen Zauberberg gestohlen hat«, murmelte ich. Indianer waren verständlicherweise empfindlich, wenn es um das Wegschnappen von Land ging.

»Sani wird dir helfen. Er muss es tun.«

»Warum?«

»Am Ende deiner Reise wirst du alles wissen, was du wissen musst.«

Ich hasste es, wenn Ruthie solchen Scheiß redete.

Doch ich sparte mir die Mühe, sie darüber auszufragen, was ich denn nun auf dieser Reise lernen mochte. Selbst wenn sie es gewusst hätte, sie hätte es mir nicht verraten. Der Weg war eben ein Teil des … Weges.

»Was bedeutet ›Sani‹?«, fragte ich.

»Der Alte.«

»Wie hat man ihn genannt, als er noch jung war?«

»Sani war nie jung.«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Das wollte ich jetzt wirklich nicht wissen.

»Was ist los?«, fragte Ruthie. »Ich dachte, du würdest deine Tasche schnappen und wärst schon aus der Tür, bevor ich überhaupt dazu käme, dir den Ort zu nennen.«

Das hätte ich auch gedacht. Doch auch wenn ich keine Fragen zu meiner Reise stellen würde, so hatte ich doch einige Fragen zu einem anderen Thema.

»Ich habe ein kleines Problem«, sagte ich. Dann ging ich auf die Knie und zog das fauchende, spuckende Kätzchen unter der Matratze hervor.

Ruthie starrte es eine Minute lang an, dann hob sie den Blick. »Wir haben keine Zeit für ein Haustier.«

»Das hier war vor zehn Minuten noch ein Baby.«

»Nein.«

»Doch.«

Ruthie schnaubte. »Okay. Wie ist das passiert?«

Ich ließ das Kätzchen wieder unters Bett flitzen und griff nach der Decke, hielt den weichen Stoff hoch, damit sie die Wahrheit erkennen konnte. »Du verstehst?«

Luthers Augen weiteten sich. »Kein Scherz?«

»Du hast es nicht gewusst?«

»Nein.«

Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte. Ruthie befand sich zurzeit in ihrem eigenen, ganz privaten Himmel, wo die Sonne immer schien und es niemals – wirklich niemals – regnete. Sie kümmerte sich um Kinder, die diese Welt zu früh und in der Regel gewaltsam verlassen mussten, und ließ ihnen noch eine Extraportion Liebe und Aufmerksamkeit zukommen, bevor sie sie auf ihren Weg ins Licht schickte.

Außerdem führte sie aus dem Jenseits unsere Seite des Krieges an. Ich trug zwar den Titel Anführerin des Lichts, doch die wahre Anführerin war Ruthie und würde es immer bleiben.

Manchmal jedoch hielt sie Dinge vor uns geheim. Sie hatte auch ihre Gründe dafür, das behauptete sie jedenfalls. Außerdem manipulierte sie uns, log uns an und spielte mit uns wie mit lebendigen Schachfiguren. Es gab eine Zeit, da hatte ich sie dafür gehasst. Aber schließlich hatte ich verstanden, dass sie alles tun würde, um die Welt zu retten. Genauso wie ich.

»Du hast keine Ahnung, wer ihre Mutter sein könnte?« Das machte mir mehr und mehr Sorgen. Die Mutter. Wer war sie? Wo war sie? Und was am wichtigsten war:

Was war sie?

»Keine Ahnung«, antwortete Ruthie.

»Ah.« Ich wusste nicht recht, was ich in dieser Angelegenheit unternehmen sollte. Soweit ich wusste, hatte Sawyer kein kleines schwarzes Buch geführt.

»Wir müssen uns etwas für das Kind überlegen«, sagte Ruthie. »Du musst zu Sani gehen. Er verlässt den Inyan Kara nicht mehr.«

»Ein Fluch?« Bis vor kurzer Zeit hatte Sawyer das Navajo-Gebiet nicht als Mensch verlassen können, weil ihn die wahnsinnige, von allen bösen Geistern besessene Schlampe, die sich seine Mutter schimpfte, verflucht hatte. Und kaum war der Fluch gebrochen, und er konnte auf zwei statt vier Beinen gehen, wohin er wollte, da musste ich ihn auch schon töten. Das nennt man wohl Pech.

»Ja.« Ruthie schüttelte den Kopf. »Nein. Nun, du wirst schon sehen.«

Ich fand es einfach großartig, wenn ich so genau wusste, was auf mich zukam.

»Was soll ich mit ihr«, ich deutete mit dem Daumen auf das Bett, »denn jetzt anstellen?«

»Sie beschützen.«

Oh Mann, was hätte ich dafür gegeben, dass mal jemand eine andere Platte auflegte.

»Wie?«

»Du brauchst einen starken Partner, der schon lange gegen Dämonen kämpft und der sehr, sehr gut im Töten ist. Jemand, der alles für dich tun würde, nur weil du es bist, und der eher bereit wäre zu sterben, als dich im Stich zu lassen.«

»Au Scheiße«, murmelte ich. »Nicht er.«

3

Genau«, sagte Ruthie. »Er. Gib das Kind zu Jimmy.«

Jimmy Sanducci und ich, wir hatten eine gemeinsame Vergangenheit – sogar jede Menge davon. Wir hatten uns geliebt und uns verloren, und dann …

Ich wusste nicht genau, wie ich das nennen sollte, was zuletzt zwischen uns vorgefallen war. Ich liebte ihn noch immer. Aber er glaubte irgendwie, er würde mich hassen. Das konnte ich ihm nicht einmal verdenken, aber es tat immer noch weh. Und dass ich vor dem ganzen Universum herausposaunt hatte, auch Sawyer zu lieben, hatte unsere Situation auch nicht gerade verbessert.

Jimmy und Sawyer hatten sich nicht besonders gemocht. Sanducci zu bitten, sich um Sawyers Kind zu kümmern, das dürfte in etwa so viel Spaß machen, wie bei seinem Chef um eine Gehaltserhöhung anzufragen, nachdem man gerade den Firmenwagen zu Schrott gefahren hat.

»Es muss einen einfacheren Weg geben.«

»Denk mal zurück, Lizbeth. Hat es jemals einen einfacheren Weg gegeben?«

»Nein.«

»Du kannst niemand anderen zum Inyan Kara schicken. Du bist diejenige, die dorthin gehen muss.«

Soweit ich wusste, konnten nur Fellläufer Geister heraufbeschwören. Ich war zu einem geworden, als ich das erste Mal mit Sawyer geschlafen hatte. Außer einem Hellseher mit latenten medialen Fähigkeiten war ich auch noch ein sexueller Empath – durch Sex nahm ich übernatürliche Kräfte auf. Das konnte ein ziemlicher Stimmungskiller sein.

Obwohl ich vermutlich über die Fähigkeit verfügte, Geister heraufzubeschwören, war es mir bei Sawyer nicht gelungen. Ein weiteres Häkchen auf unserer Warum-wir-einen-Fellläufer-brauchen-Liste. Ich hoffte, dass Sani herausfand, was ich verkehrt machte.

»Ich nehme Faith mit«, sagte ich.

»Keine gute Idee.« Luthers riesige Hand hob sich, um meinem unausweichlichen Warum? zuvorzukommen. »Sawyer hat ihm seinen Berg gestohlen, Kind. Glaubst du wirklich, Sani wird ihm das vergeben? Glaubst du, er wird die Chance auf Rache ungenutzt verstreichen lassen?«

»Ich kann sie beschützen.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Du weißt nicht, welche Art von Magie der Alte oben auf diesem Lakota-Berg gefunden hat. Willst du riskieren, dass er stark genug ist, an dir vorbei und zu ihr zu kommen?«

»Also gut«, seufzte ich. »Ich lasse sie bei Luther.«

»Er ist selbst noch ein Kind.«

»Lass ihn das bloß nicht hören.«

Ruthie verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich habe viele Kinder großgezogen, Lizbeth. Dabei habe ich eine Menge über männliche Teenager und ihre Egos gelernt.«

»Du könntest nach ihr sehen. Bleib doch einfach …«, ich deutete vage auf Luthers Körper, »da drin.«

Aber Ruthie schüttelte bereits Luthers Kopf. »Ich habe Kinder zu Hause, die mich brauchen. Ich kann sie nicht einfach sich selbst überlassen, so, wie sie ums Leben gekommen sind.«

»Das wird Jimmy nicht gefallen«, sagte ich.

»Ihm gefällt in letzter Zeit ohnehin nicht viel. Was bedeutet da eine Sache mehr oder weniger?«

Ruthie hatte recht. Ich konnte keinem Teenager ein Baby überlassen – ganz egal, wie verantwortungsbewusst Luther auch war und wie bösartig er werden konnte. Und der einzige noch lebende Mensch, dem ich ein gestaltwandelndes Kind anvertrauen würde, war Sanducci.

»Wo ist er?«, fragte ich.

»In den Badlands.«

Ich zog die Brauen zusammen. »Wie praktisch.«

»Praktischer Zufall oder Fügung?« Luthers Schultern hoben und senkten sich. »Entscheide selbst.«

»Warum ist er dort?«

»Ein Iya-Nest.«

»Eine Vampirart?«

Jimmy war ein Dhampir – der Sohn eines Vampirs und einer Frau. Sein Vater war ein Arschloch – ich meine, ein Strega (Übersetzung: italienischer Vampir-Hexer) – gewesen. Niemand wusste, was seine Mutter gewesen war. Vermutlich ein Mittagessen.

Dhampire können Vampire spüren und sind ziemlich geschickt darin, sie zu vernichten. Jimmy war superschnell, megastark und verdammt schwer zu töten. Und wieder aufgrund der sexuellen Empathie galt das auch für mich.

»Sturmmonster der Lakota«, erklärte Ruthie. »Mit einem Hunger, der nicht durch Nahrung gestillt werden kann, sondern nur durch Blut.«

Klang für mich doch ziemlich stark nach einem Vampir. »Was noch?«

»Wo sie gehen und stehen, folgt ihnen der Winter auf dem Fuß. Sie tragen die Köpfe ihrer Opfer als Trophäen.«

»Wie genau stellen sie es an, nicht aufzufallen?«

Luther verzog den Mund. »Sie sind menschlich, wenn sie wollen. Nur im Kampf werden sie zu Iyas, den gesichtslosen Monstern des Sturms.«

»Wie bringt man sie um?«

»Sonnenlicht.«

Irgendwie logisch bei einem Vampir-Sturmmonster.

»Wir brechen heute Nachmittag auf«, sagte ich. Ich würde Luther mitschleppen müssen, denn allein käme ich mit Faith nicht zurecht.

»Warum nicht jetzt?«

»Ich habe Megan versprochen, zur Geburtstagsfeier ihrer Tochter zu kommen.«

»Sag ihr doch, du schaffst es nicht.«

»Nein«, erklärte ich bestimmt.

»Lizbeth …«

»Nein«, wiederholte ich. »Ich werde nicht die ganze Zeit dableiben, aber ich werde hingehen.«

Einmal schon hatte ich ein Versprechen gebrochen, das ich Megan gegeben hatte. Ich hatte nicht auf ihren Mann aufgepasst, und dann ist er meinetwegen getötet worden. Ich hatte also geschworen, ihr gegenüber niemals wieder ein Versprechen zu brechen, wenn es in meiner Macht stand.

Max Murphy war mein Partner gewesen. Er hatte sich auf meine Instinkte verlassen und war ihretwegen gestorben. Meinetwegen.

Ich hatte es nicht über mich gebracht, nach dieser Sache weiterhin Polizistin zu bleiben, also hatte ich in der Kneipe, die seiner Witwe gehörte, den Job als Kellnerin angenommen. Es war das Mindeste gewesen, das ich hatte tun können.

»Okay«, stimmte Ruthie zu. »Wie lange wird es dauern, bis du am Inyan Kara eintriffst?«

»Einen Tag oder so. Ich werde fahren müssen.«

Zwar konnte ich meine Gestalt verwandeln, und Luther ebenfalls, aber ich wollte nicht so gern mit einem kleinen Kätzchen im Maul bis nach South Dakota laufen. Außerdem hätte ein Löwe, der so die Straße entlangtrabte, sicher für Aufruhr gesorgt.

Wir hätten auch fliegen können, aber ich kannte die Regeln für Babys an Bord nicht so genau. Ich hatte keine Papiere für die Kleine, und die würden wir schon brauchen. Und wenn wir dann am nächsten Flughafen ankämen, der höchstwahrscheinlich nicht gerade nah an unserem Zielort lag, müssten wir ohnehin einen Wagen mieten. Dann konnten wir auch gleich mit dem Auto fahren – und es mit den Waffen vollpacken, die ich gern in meiner Nähe hatte.

»Können wir den Impala nehmen?«

Das war wieder Luthers Stimme. Seine haselnussbraunen Augen leuchteten begeistert. Er liebte diesen Wagen fast so sehr wie ich. Zu schade, dass der blassblaue ’57er Chevy eigentlich nicht mir gehörte.

»Klar.« Ich griff nach meinem Seesack, der immer noch gepackt neben meinem Bett auf dem Boden lag.

»Kann ich fahren?«

»Nein.«

»Aber Liz …«

»Kein Führerschein, keine Chance.«

»Wenn ich eine prähistorische Werfledermaus …«

»Camazotz«, korrigierte ich ihn. »Ein Gestaltwandler der Maya.«

Letzte Woche waren Luther und ich auf einen Sprung nach Mexiko rübergeflogen, und ich hatte ihm bei der Jagd nach dem fledermausköpfigen Monster die Führung überlassen. Er hatte es gleich mit dem ersten Schuss erlegt.

»Wenn ich einen Camazotz«, er verdrehte die Augen, »töten kann, indem ich einen Pfeil mit Bronzespitze aus einem Holzbogen auf ihn abschieße, dann werde ich wohl auch mit einem Schaltgetriebe fertig.«

Ich hatte geahnt, dass mir die Entscheidung, ihn dieses Ding töten zu lassen, noch Kopfschmerzen bereiten würde. Jetzt glaubte er nämlich, er könnte alles.

»Du musst das Baby halten.«

»Sie ist kein Baby«, murmelte er.

»Kätzchen. Kind. Was auch immer.«

Eine Stunde später hatten wir geduscht, gegessen und gepackt. Ich versuchte, Faith dazu zu bringen, festere Nahrung als eine Schale Milch zu sich zu nehmen, doch über die Dose Saupiquet, die ich aus einem Schrank gekramt hatte, rümpfte sie nur die Nase.

»Du kannst einem Baby doch keinen Thunfisch geben!«, warf mir Luther vor, während er sich die Korkenzieherlocken mit einem Handtuch trocken rubbelte.

»Du hast gesagt, sie ist kein Baby.«

»Haha.« Er warf das Handtuch ins Bad. Mit einem feuchten Klatschen landete es auf dem Boden.

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich, woraufhin er mit aufgesetztem Seufzen in den dunstigen Raum schlurfte und das Handtuch auf den Halter hängte.

»Wie wird sie denn wieder zu einem Baby?«, wollte Luther wissen. »Die Decke verwandelt sie in ein Kätzchen, aber …« Er winkte Faith zu, die gerade in einem Streifen Sonnenlicht auf dem Fußboden Staubflocken jagte. »Wie verwandelt sie sich zurück?«

Ich runzelte die Stirn.

»Wir müssen uns unsere menschliche Gestalt vorstellen«, fuhr Luther fort. »Aber sie ist noch so klein. Ich glaube nicht, dass sie weiß, wie das geht. Und wir können es ihr auch nicht einfach erklären, wenn ihr Wortschatz lediglich aus miau und grrr besteht.

»Scheiße«, murmelte ich. Genau aus diesem Grund war es nicht mein Ding, mich um Gestaltwandlerbabys zu kümmern: Ich wusste einfach nicht, wie sie funktionierten.

»Du wirst ein bisschen auf deine Wortwahl achten müssen, sonst wird ihr erstes Wort noch …«

Ich hob die Hand. »Hab’s kapiert.«

Ich hatte nicht vor, so lange in Faiths Nähe zu bleiben. Ich war auf dem Weg zum Inyan Kara, um so viel wie möglich von Sani zu lernen, dann Sawyers Geist heraufzubeschwören und die Antworten auf ein paar sehr wichtige Fragen zu bekommen.

Zum Beispiel: Wer war sein nächster Angehöriger?

Auf gar keinen Fall würde ich ein Kätzchen-Kind großziehen.

Megan wohnte im Osten Milwaukees, etwa zwanzig Minuten von Friedenberg entfernt, in einem dicht bebauten Viertel mit älteren Häusern und einigen Eckkneipen. Seinerzeit hatte hier fast jede Straße ihre eigene Kneipe gehabt – zumindest in Wisconsin. Und das Murphy’s war eine davon gewesen.

Heute war es hauptsächlich eine Bullenkneipe, obwohl auch viele Anwohner ihre Zeit dort verbrachten. Neben alkoholischen Getränken servierte Megan Sandwiches und solche herzinfarktförderlichen Snacks wie frittierten Käse. Für die gesundheitsbewussten Gäste hatte sie eine große Auswahl an frittiertem Gemüse im Angebot. Und wen das noch nicht umgebracht hatte, der konnte beim Nachtisch noch zwischen frittierten Oreos, Twinkies und Käsekuchen wählen. Die waren wirklich ziemlich gut.

Für die Party ihrer Tochter Anna hatte Megan jedoch Pizza, Limonade und eine Geburtstagstorte angekündigt – nicht frittiert. Das Fest begann um elf Uhr morgens, da Megan nachmittags um drei zur Arbeit musste. An Sonntagabenden war im Murphy’s immer viel los, und wie jeder Kneipenbesitzer wusste auch Megan: Nur wenn sie selbst da war, konnte sie ganz sicher sein, dass alles glattlief und niemand in die Kasse griff.

Auf unser Klopfen hin öffnete Megan die Tür, warf einen Blick auf das Kätzchen in meinem Arm – und schlug uns die Tür vor der Nase zu. Ich blinzelte, sah Luther an, zuckte die Achseln und drückte auf die Klingel.

»Geh weg!«, rief sie durch die Tür.

»Du hast mich doch herbestellt.«

Die Tür flog mit einer solchen Wucht auf, dass die verdrängte Luft Megan die lockigen roten Haare aus dem süßen, kleinen Gesicht wehte. Sollte sie jemals herausfinden, dass ich sie süß fand, würde sie mir eine reinhauen. Megan hatte nie zu schätzen gewusst, wie wunderschön sie eigentlich war. Sie wollte lieber groß und üppig sein, dunkel und exotisch – so wie ich.

»Hast du dir das Hirn amputieren lassen?« Die leuchtend blauen Augen in Megans blassem irischen Gesicht blickten mich finster an. »Hier gibt es Regeln.« Sie hob einen Finger. »Keine Nagetiere.« Dann einen weiteren. »Keine Reptilien.« Einen dritten. »Keine Tiere, die grrr machen.«

Ich sah auf das Kätzchen in meinen Armen herab. »Oh.«

»Genau. Bring das genau dahin zurück, wo du es herhast.«

»Ich … ähm. Also, weißt du … äh, das kann ich nicht.«

»Du wirst. Du kannst meiner Tochter doch kein …«

Auf das plötzliche, gleißende Licht folgte ein hörbares Zischen, und das Kätzchen auf meinem Arm war wieder ein Mensch. Megans Augen wurden so groß wie Tortenplatten, als sie ihren Satz beendete: »… Baby schenken.«

Besagtes Baby warf fröhlich die Arme in die Luft und giggelte.

»Das hast du absichtlich gemacht«, warf ich ihm vor.

Megan erholte sich schnell von der Überraschung und lachte los, auch wenn es ein wenig angestrengt klang. Wer konnte ihr das verdenken? »Das ist ein Baby, Liz. Oder jedenfalls glaube ich das. Die machen nicht viel mit Absicht. Obwohl man manchmal den Eindruck bekommen könnte, sie wären mit dem Teufel im Bunde.«

Ich wand mich.

»Oh, entschuldige.« Megan hatte schon über die Nephilim Bescheid gewusst, bevor ich ihr davon erzählt hatte. Ihre Erklärung dafür? Sie war Irin. Die glaubten an all diesen Gruselkram. »Ist sie …?«

»Nein.« Jedenfalls glaubte ich nicht, dass sie mit dem Teufel im Bunde war. Noch nicht.

Fast hätte ich das Baby fallen gelassen, als es versuchte, sich kopfüber auf Luther zu stürzen, der neben mir stand. Ich murmelte einen Fluch, der mir sowohl von Luther als auch von Megan ein Stirnrunzeln einbrachte, dann fasste ich Faith fester und versuchte, sie ruhig zu halten. Sie streckte die Arme weiter nach Luther aus. Ich drehte mich gerade in dem Moment um, als er ihr die Kätzchendecke hinhielt.

»Waaah!« Ich riss ihm den Stoff aus der Hand, nur einen Augenblick, bevor sie ihn berühren konnte. »O nein, lass das! Böses Kätzchen. Ich meine, böses Mädchen.« Ich warf Luther das Ding zu. »Leg es in den Wagen.«

Er gehorchte. Faith schrie.

»Gib ihr doch die Schmusedecke, Liz.« Megan hielt sich die Ohren zu. »Bist du irre?«

Ich ging ins Haus. »Du etwa? Willst du, dass sie sich hier vor all deinen Freunden und Verwandten vom Kätzchen in ein Baby und wieder zurückverwandelt? Sie ist doch kein Partyspielzeug.«

Megan hob eine Augenbraue. »Und was ist sie?«

Da ich Megan noch nie von Sawyer erzählt hatte und das auch jetzt nicht wollte, beschloss ich, mich an die grundlegenden Fakten zu halten. »Ein Gestaltwandler.«

»Nein, im Ernst. Ist es …?«

»Ist es was?«, wiederholte ich abwesend, während ich immer noch vollauf damit beschäftigt war, diesen sich windenden und schlüpfrigen Fellläufer nicht fallen zu lassen.

»… dein Kind?«

Ich sah auf. »Häh?«

Faith nutzte meine Verwirrung, um einen Satz nach hinten zu machen, und wäre fast Hals über Kopf aus meinen Armen geflogen.

Megan nahm mir das Baby ab und drehte es so, dass sein Rücken an ihrer Seite lehnte, der Kinderpopo auf ihrer Hüfte saß und ihr Unterarm über der Brust des Babys lag, während sie mit der Hand sein gegenüberliegendes Bein festhielt. So konnte Faith nicht mehr ausbüxen. Sie hörte auf, sich zu winden, und lächelte mich aus ihrem zahnlosen Mund verschmitzt an.

»Also?«, fragte Megan.

»Du glaubst, ich könnte mir in den paar Wochen, die wir uns nicht gesehen haben, ein Baby rausquetschen?«

»Ich glaube, du könntest so ziemlich alles.«

»Leicht übertrieben«, murmelte ich. Megan hob eine Augenbraue und ich zischte verzweifelt: »Ich kann sicherlich nicht mit Schallgeschwindigkeit einen Braten in der Röhre gar kriegen.« Jedenfalls glaubte ich nicht, dass ich das konnte.

Seit Faith auf meiner Türschwelle ausgesetzt worden war, hatte ich mich so auf sie konzentriert, dass ich gar keine Zeit gehabt hatte, einen Freudentanz aufzuführen, weil ich selbst nicht schwanger war. Ich hatte immer noch nicht viel Zeit, also tanzte ich schnell in Gedanken los.

»Warum grinst du so?«, fragte Megan. »Und wessen Kind ist es, wenn nicht deins?«

Luther öffnete die Tür und kam ins Haus.

Megan zog die Brauen zusammen. »Seins?«

»Nei-en!« Abwehrend hob Luther seine riesigen Hände. »Bestimmt nicht.«

»Ist auch besser so. Du rasierst dich ja noch nicht einmal.«

»Tu ich doch.«

Ich hielt ihm meinen erhobenen Zeigefinger unter die Nase. »Stopp!«, befahl ich. Diese Ich-bin-ein-Mann-Diskussion würde ich nicht noch einmal mit Luther führen. »Meg, das ist Luther Vincent. Luther, das ist meine beste Freundin Megan Murphy.«

Megan nickte. Sie hatte die Hände voller Baby. Luther nickte zurück.

»In der Küche gibt es Limonade«, sagte Megan. »Etwas zum Essen steht auf dem Tisch.« Luther war verschwunden, bevor sie das letzte Wort ausgesprochen hatte. »Wo hast du ihn her?«

»Indiana.«

»Eltern?«

»Tot.«

»Mensch?«

»Ein bisschen.«

Megan machte mit dem Zeigefinger ihrer freien Hand eine Nun-geh-schon-weiter-Geste. Am anderen Zeigefinger nuckelte Faith.

»Luther ist ein Marbas. Seine Mutter war ein Nachfahre des Dämons Barbas – eines Löwen, der sich in einen Menschen verwandeln konnte. Sein Vater war ein Zauberer, der die magische Fähigkeit hatte, sie in diesem Zustand zu halten.«

»Was kann Luther?«

»Sich in einen Löwen verwandeln, Dämonen bekämpfen, seine Wunden heilen.« Ich biss mir auf die Lippen und beschloss, ihr reinen Wein einzuschenken. »Er kann auch Kontakt mit Ruthie aufnehmen.«

Megan runzelte die Stirn. »Ich dachte immer, du könntest das?«

»Das konnte ich auch, bis …«

Meine Stimme versagte. Noch etwas, das ich nicht zugeben wollte.

»Komm mit«, sagte sie und legte auf dem Weg durchs Haus einen Zwischenstopp in der Küche ein, wo sie aus einer Kühlbox neben der Tür zwei Flaschen Miller Lite nahm. Dann trat sie auf die Betonplatte hinaus, die im Garten hinter dem Haus als Terrasse diente.

Luther war mit einem Teller Käse, Salami und Oliven beschäftigt. Ich hoffte sehr, dass noch etwas übrig sein würde, wenn die anderen Gäste eintrafen.

Ich saß neben Megan im Liegestuhl. »Wo sind eigentlich die Kinder?«

»Eine Freundin passt heute Vormittag auf sie auf, damit ich die Party vorbereiten kann.«

Megan hatte noch andere Freunde außer mir? Das war aber neu. Dass sie so viele Stunden in der Kneipe verbrachte, war sozialen Kontakten nicht gerade förderlich – nicht, dass sie welche gewollt hätte. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie in den Jahren nach Max’ Tod einen Babysitter engagiert hatte, um etwas anderes zu tun, als zu arbeiten.

»Aber genug von mir«, sagte sie. »Warum kann der Prinz des Dschungels Ruthie hören – und du nicht?«

»Ich hab … mir was eingefangen.« Ich brachte es einfach nicht über die Lippen.

»Eine Erkältung?«, fragte Megan. »Grippe?«

»Einen Dämon.«