Die Präsenz - Birgit Hämmerle - E-Book

Die Präsenz E-Book

Birgit Hämmerle

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Beschreibung

Wie soll man in jungen Jahren den Tod der Leukämie-kranken Schwester unter die Füße bekommen? Karly Laubinger (21) begegnet am Totenbett von Anna (18) Gott unerwartet real und lässt sich auf seine Präsenz ein. Dabei erlebt die Theologiestudentin Hilfe, Herausforderung und Abenteuer, während der innere Frieden wächst. Ihr Leben gleicht sich Seinem weltumfassenden Denken an und Karly kommt dem Sinn ihres Lebens näher. Praktisch ist es aber oft hochgradig ungemütlich, denn die Präsenz macht einfach, was die Präsenz eben will! Buch I einer wahren Geschichte.

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Birgit Hämmerle

Die Präsenz

Nach dem Tod ist vor dem Leben

Band I

Copyright: © 2021 Birgit Hämmerle

Titelbild: © 2021 Birgit Hämmerle

Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Glauben Sie mir: es ist besser, dass Orte, Namen und Zeiten sowie Einzelheiten verändert wurden, denn die Privatsphäre mancher Personen soll gewahrt bleiben. Das tut der Geschichte selber keinen Abbruch: sie ist trotzdem wahr.

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-34336-8 (Paperback)

978-3-347-34337-5 (Hardcover)

978-3-347-34338-2 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meine Kinder Eric und Ines.

Und alle geistlichen Kinder und Enkel in meinem Leben.

Wie ist die Präsenz?

Eine Badewanne, leer. Lange Zeit leer. Lange. Blank, weiß, wartend. Der Emaille schimmert, wo Licht vom Fenster draufscheint. Stille. Nichts. Warten. Lange Zeit warten. Nichts und immer noch nichts.

Ein Hebel bewegt sich. Wasser schießt, gurgelt, rauscht in das Weiß. Viel Rauschen, viel Gurgeln. Wasser, noch mehr Wasser, viel Wasser. Reinheit. Eine andere Dimension. Alles geschenkt. Ein Duft von Yasmin und Rosen. Mehr Wasser. Fülle. Tief Atemholen, Luft und Duft, Rauschen, Yasmin und Rosen.

Das Weiß ist voll.

Wasser umschließt Dich, Du hörst es. Du fühlst es. Du weißt es. Wärme. Überall ist es um Dich, streichelt, wärmt, wirkt. Demütig ist es, das Wasser. Alles ist offen, alles ist sichtbar, alles ist weich. Du bist auch demütig. Du willst es um Dich, das Wasser, denn Du weißt, es will Dir wohl.

Die Präsenz ist wie Wasser, umschließt Dich, wärmt Dich, will Dir wohl.

Ohne Präsenz kein Wohl, kein Leben ohne Präsenz. Ohne Präsenz der Schmutz, die Kälte, die Gleichgültigkeit – blinkendes Emaille, aber kein Leben, keine Wärme.

Erst das Wasser ist Leben und Wohlsein und Liebe.

Die Präsenz ist im Wachsen vom Gras, im Fliegen vom Vogel, im Nähren von Milch.

Wer hat das Lachen erfunden?

Wer weiß, wo die Wolken hinziehen?

Wer lässt die Babys wachsen?

Alle Farben im Weiß, alle Kraft im Magnet, alle Grünkraft im Kompost.

Die Adern im Kiesel, die Farbe von Stroh, das Konzert im Teich.

Geheimnis von Mann und Frau,

Blitz und Donner,

Lüge gegen Wahrheit,

Räuber gegen Schandi.

Licht ohne Sterne im All, Zeit ohne Ende auf Erden, Ende ohne Zeit im Himmel.

Null und Eins und Plus und Minus.

Oliver und Stan.

Hund und Katz'.

Löwenzahn-Schirmchen und Schneeflocke.

Sprache, Ideen und Musik.

Ärztin, Pfleger und Managerin.

Exekutive, Legislative und Judikative.

Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.

ZWEI

Wie holt man sich den Tod?

Annas Leukämie war wie ein Überfall! Was sollte man sich für einen Reim auf dieses fundamentale Geschehen von Annas Tod machen? Es war doch alles ganz normal gewesen – bis vor drei Jahren eben! Eine ganz normale Familie waren die Laubingers. Warum traf es gerade sie? Hatte irgendwer vielleicht was falsch gemacht – in der Vergangenheit vielleicht?

Großvater Wilhelm Laubinger hatte in der Wirtschaftswunderzeit das Anwesen in der Achalmstrasse in Herzogenaurach gekauft und nutzte die großzügigen Hallen am Haus als professionelles Lederlager, aus dem er Schuhfabriken überall in Deutschland belieferte. Der Krieg hatte ihn, Friederike, seine Frau, und die beiden Söhne gezeichnet. Alle waren froh, wieder Frieden und eine Perspektive zu haben und etwas aufbauen zu können. Wilhelm hatte als Auslandsagent der Schuhfabrik Friesenberg etwa ein Jahrzehnt in Portugal und dann noch länger in Wien gearbeitet und war als Lederhändler immer auf Tour gewesen. Eigentlich seltsam, dass sie Franken wählten, denn er und Friederike kamen aus Weinheim in Baden, wollten dort aber nicht wieder hin! Na ja, in Franken gab es einfach viele Schuhfabriken, also Kunden. Großkunde Adidas saß gleich nebenan und Laubinger Seniors und Dasslers waren befreundet.

Unter den Nazis, als sie in Wien lebten, war der kränkliche "Willam", wie Oma den Opa nannte, einer, der sich entzog, wo er konnte. Er war mit Leib und Seele Handelsreisender und verdünnisierte sich gern nach Rumänien, weg an die Peripherie. Dies wohl auch, um sich nicht als Informant missbrauchen zu lassen. Als man ihn kurz nach dem Krieg nötigte, Friesenberg in Baden zu leiten, weil die Chefetage von den Alliierten interniert worden war, wurde es wieder schlimmer mit seinen Magengeschwüren. Oder vorher schon? Nach kurzer Abwesenheit waren die Chefs aber bald wieder auf der Matte und man sagte ihm durch die Blume, dass seine Aufgabe jetzt zu Ende sei – herb! Ob er wohl auch deshalb Wurzeln in Franken schlug?

Karly wusste es nicht. Sie hätte ihn gern so Vieles gefragt, aber er starb schon mit nur 71, als sie 12 war. Der Magen und wer-weiß-was-noch vom Krieg, das ihn auffraß. Man redete über solche Dinge nicht. Hatte Anna vielleicht von Opa dieses Schwächelnde, Kränkliche abgekriegt? Sind wir letztlich vielleicht so etwas wie das Produkt unserer Vorfahren? Mutti erzählte auch von einer ihrer Cousinen, die wie Anna Leukämie gehabt hatte und daran gestorben war. Geben uns die Altfordern also die Arschkarte weiter? Sind sie schuld an unserer Misere? Aber wieso waren dann sie und Kira, die Jüngste, dabei übergangen worden, wieso lebten denn sie noch – und Anna nicht?

"Friede", wie die Oma hieß, eine geborene Ebert, zog als Witwe nun in den oberen Stock, so dass die Junior-Familie mehr Platz bekam. Die kompakte, rundliche Frau stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ein entfernter Cousin war ihr großer Verwandter: Reichspräsident Friedrich Ebert. Als Karly diesen Ebert, eine der Gründerpersönlichkeiten der SPD Ende 19. Jahrhundert in Geschichte kennenlernte, konnte sie keinen Bezug zu sich selber erkennen. Erst viel später fand sie im eigenen Vorangehen Eigenheiten wieder, die wohl auch den "Beweger" Ebert ausgemacht hatten: Als Mensch mit Hingabe an die Nöte der in der Industrialisierung verelendeten Arbeiter war Ebert ein in ganz Deutschland aktiver Freigeist. Als Gründer neuer Filialen ging er für seine hilflosen Kollegen in die Politik. Sein Aufstieg zum Reichspräsident war beispiellos – als gelernter Sattler, der eigentlich Priester werden wollte. Er sah aber anscheinend in der Domkirche seiner Zeit keinen Raum für seine Anliegen, deshalb trat er aus.

Oma Friede, die wie ihr Bruder Fritz nach dem großen Präsidenten benannt war, hatte aus der Zeit in Portugal und aus Wien ein gewisses hochherrschaftliches Auftreten mit ins provinzielle Franken gebracht. Ein seltsamer Kontrast war das zum großen Onkel Friedrich, der trotz des hohen Amts bescheiden blieb. Friedes Verhalten harmonierte auch nicht immer gut mit den Werten der Schwiegertochter, Inge, also Mutti, die mehr und mehr das Ruder im Haus übernahm, das kriegte sie auch bald spitz. Aufgewachsen als Älteste auf einem Bauernhof mit viel Fläche hatte Mutti gelernt, je 20 Knechte und Mägde anzuleiten und rhythmisch mit den Jahreszeiten den Laden am Laufen zu halten. Das Problem war nur: es gab zwar auch hier ein Anwesen – aber keine Knechte und Mägde mehr! Als sie, Anna und Kira heranwuchsen, wurde oft aus dem Oberstock hochherrschaftlich und aus dem Unteren großbäuerlich regiert. Vati versuchte, es beiden Frauen recht zu machen und entzog sich, wo er konnte. Karly tat es ihm gleich, je älter sie wurde.

Bewirtschaftet werden musste ein ausladendes, älteres Sandstein-Haus, an das in den 60er-Jahren ein Anbau kam – dazu noch ein weitläufiger Garten mit großem Obstbaumbestand. Die Kinder lernten dieses Wirtschaften, wollten aber – logisch! – lieber die Genüsse abgreifen. Paradiesische Momente, wenn sie im Juli kichernd im Kirschbaum saßen und sich mit den fleischigen, duftenden Schwarzkirschen den Bauch vollschlugen, die sie eigentlich pflücken sollten. Manchmal durfte sie mit Vatis Luftgewehr nach den Starenschwärmen schießen, die auch hinter den Kirschen her waren.

Dabei war sie als Teenager viel mehr davon angetan, auf den weiten Wiesen hinter dem Anwesen herumzustreifen und Blumen zu pflücken. Wilde Blumen faszinierten sie auch als Heilpflanzen, als sie sich mit Inhaltsstoffen und Anwendung bei Krankheiten beschäftigte und Herbarien anlegte. Es war später frustrierend für sie zu merken, dass alle die Wirkungen der Pflanzen an einem so ragenden Feind wie der Akuten Myeloischen abprallten. Es halfen Anna ja nicht mal die chemischen Keulen, nicht einmal die Rückenmarkstransplantation, die mit Hubschrauber-Transport umgesetzt wurde. Kamillentee bei Magengrimmen, schön. Wirklich hilfreich!

Es interessierte die hochaufgeschossene Karly auch eher, von zuhause aus das Umland auszukundschaften, als zu überlegen, was man gegen die zahllosen Hügel machen konnte, die der Maulwurf mitten im Rasen grub oder 20 hohe Obstbäume gegen Schädlinge mit E 605 zu bespritzen. Ihr Lieblingsplatz war eine Weide, auf deren starkem Ast sie gern träumend über einem Wasserlauf hing, der einen weiten Bogen hinter der Achalmstrasse machte. Träumen mochte sie, das konnte sie stundenlang, bis sie vorwurfsvoll nach ihr suchten – und lesen, sehr viel lesen! Dies eher zum Leidwesen von Mutter, die immer "Mägde" zum Jäten für ihren ausladenden Gemüsegarten brauchte.

Sie baute eher wachsende Abneigung gegen die immer präsente Überforderung auf, eine Empfindung, die sie wohl mit Vati teilte. Vater hatte anscheinend aufgegeben: er wurde der vielen Einzelteile, die er sammelte, nicht mehr Herr. So waren Werkstatt, Lagerräume, Keller, Garage etc. immer mit einem Sammelsurium von Gerätschaften gefüllt. Man konnte damit Do-it-yourself-Projekte umsetzen, Kaputtes reparieren, Gartenbau betreiben und den Fuhrpark in Stand halten. Aber Vati kam nicht mehr hinterher. Haus und Hof waren trotzdem Ein und Alles für die Eltern! Gefühlt jede freie Minute, auch die der Kinder, ging in einen Job dort – oder sollte es zumindest, wenn man Mutter fragte.

Als Teenager begriff sie, dass in Gymnasium und Vereinen Möglichkeiten lockten, dem Hamsterrad daheim zu entkommen – zumindest phasenweise. Es gefiel ihr "draußen" immer besser! Die Mutter ließ sie Blockflöte lernen, aber das mochte sie nicht. Sie brachte sich selber lieber Gitarre spielen bei – so konnte sie spielen, was ihr gefiel, nicht nur die langweiligen Heimatlieder. Sie hing auch ewig im Reit-Club im nächsten Dorf herum, zu dem sie bei jedem Wetter hin radelte. Aber das Reiten musste sie nach Jahren wieder aufgeben und war untröstlich, denn es war keine Kohle für die Reitstunden da. Das Geld in der Familie wurde immer knapp, wenn Vater wieder arbeitslos war. Dann verdiente nur Mutter und stellte sicher, dass gespart wurde, um Vatis Bruder Heinz auszubezahlen, denn sie erbten Wilhelms riesiges Anwesen.

Die Laubinger-girls schauten sich immer entfernter von dem Hausmeisterjob daheim im Leben um. Karlys Begabungen gingen eben in eine konträre Richtung zur Laubinger-Welt: künstlerisch und feinsinnig, der Gedankenarbeit und Menschen zugewandt, musisch begabt und immer draußen im Wilden und Freien. Aber die Arbeit war einfach da und für die Kinder war es normal, dass die Eltern intensive Haus- und Gartenwirtschaft betrieben. Manchmal schämte sie sich, dass sie so anders tickte und nachts mit Taschenlampe unter der Bettdecke noch lange las. Für die Kriegsgenerationen bedeutete aber die Bewirtschaftung alles: sie gab ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Glück, dass sie wieder solche Möglichkeiten hatten, denn sie kannten Krieg, Vertreibung, Hunger und Mangel noch in böser Schärfe.

Vati steuerte Geselligkeit und Gemütlichkeit zum Familienleben bei, seine Devise war: Leben und leben lassen! Da gab es viel Lachen und funkelnde Persönlichkeiten gingen ein und aus, denn die Eltern führten ein offenes Haus, in dem sich ein Sammelsurium von Besuchern oft ein Stelldichein gab. Dass Viele dort Hilfe suchten, das gefiel beiden Eltern.

Sie selber dagegen musste sich immer mal wieder aus dem Trubel herausziehen – und sie schrieb gern. Nichts Schöneres, als einen Brief aus dem Postkasten zu fischen, die exotische Briefmarke zu bewundern und sich in den handgeschriebenen Zeilen zu verlieren, die ja zu ihr sagten: ‚Du bist gemeint und bist mir die Zeit wert gewesen, Dir an meinem Leben Anteil zu geben!‘ Das war ihre Art des Kontakts zu den Menschen, gern auch den Fernen.

Die Mutter nahm, um ein Zubrot zu verdienen, in ihrem Haus mit den vielen Einzelzimmern Lehrlinge einer Friseurschule während der Ausbildung auf, meist junge Frauen. Diese kamen buchstäblich aus aller Welt! Als Karly zehn war, berührte es sie voll, als die Carol aus Namibia, die sie gern mochte, ihr ein "Tigerauge" aus Afrika schenkte! Der samtig schimmernde Halbedelstein weckte ihre Neugier.

Da war auch noch das uralte, kranke "Tante Mariechen" aus Mutters Heimat, das von Kaiserin Elisabeth, der "Sissi", erzählte, die die Hundertjährige selber noch gesehen hatte. Frau Siedendorf litt an großen Schmerzen beim Laufen ohne zu jammern, und lebte allein. Vati, der gern Auto fuhr – und schnell – holte sie hin und wieder mal her, so dass sie ein bisschen Ansprache hatte. Karly schrieb ihr dann einseitig Briefe, wenn sie wieder allein war. Sie wollte sie ermutigen und ihr zur Seite stehen, denn es beeindruckte sie, dass die Urgroßtante immer zu Pfeifen anfing, wenn die Schmerzen kamen und keine Miene verzog. Preußen steckte eben in der mütterlichen Seite!

Was sie richtig juckte, waren "Großprojekte", die eine fette Leistung nötig machten. Nichts Schöneres, als wenn wieder einer der Obstbäume aus dem Garten herausgenommen wurde! Axt und Kettensäge kamen zum Einsatz, das machte endlich mal Spaß! Mutters Heimathof im Hohen Norden brauchte ein neues Dach? Da war sie die Erste, die sich zum Helfen meldete und auf den obersten First kletterte, um den Handwerkern Ziegel anzureichen! Der Raum, in dem die neue Anschaffung – eine Sauna – stand, sollte verschalt werden? Karly war zur Stelle, sägte mit roten Wangen Beigen-weise Nut-und-Feder-Bretter auf dem Holzbock zu und reichte sie dem Vater an, der sie an der Decke aufnagelte. Da sah man wenigstens, was man geschafft hatte! Sie schmeckte so einem Erlebnis noch lange nach, wenn wieder Staubwischen oder sowas angesagt war.

Niemand sah also auch nur im Entferntesten etwas kommen wie das lange, bösartige Leiden von Anna, dem Sandwichkind. Ja, andere traf sowas, man verfolgte solche tragischen Geschichten und die Todesanzeigen in der Zeitung. Alles Tun und Lassen war aber lückenlos trotzdem auf das Leben im Moment hin ausgelegt – und auf eine Zukunft, die sich alle rosig und fortschrittlich ausmalten und die man nur noch ausbauen brauchte. In all der prallen, naiven Lebensplanung also jetzt: der Tod, überraschend und grausam! Er war in den Plänen einfach nicht vorgesehen. Keinerlei Gedanke war an ihn gegangen.

Und nein, er krallte sich nicht etwa eine ältere, reifere Frau, die vielleicht eher Strategien gehabt hätte, die existentielle Bedrohung zu meistern. So, wie sie das bei Opa Wilhelm schon mitbekommen hatte. Nein, zum Kuckuck nochmal: als Anna 15 war, zapfte ihr die Leukämie schleichend die Energie ab – zuerst im Sport, dann in der Schule, schließlich in allem. Ein Bluttest offenbarte die verstörende Realität. Wie geht man mit so etwas um, wenn man sich nie zuvor Gedanken über eine eigene Krankheit gemacht hat? Da gaben sich die Eltern immer so viel Mühe, das Haus täglich zu sichern, sie schlossen ab und kontrollierten öfters nochmal nach.

Aber wie ein Einbrecher durch die Hintertür konnte die AML einfach in unser Leben eindringen und am helllichten Tag Annas Leben stehlen.

Alle Familienmitglieder erfanden sich ihre je eigene Strategie, mit der Bedrohung auf dem Königsplatz klarzukommen – oder soll man sagen, ihr auszuweichen? Was sie jedenfalls gleich mit Nachdruck beschlossen, war, dass Anna natürlich leben blieb. Etwas Anderes war bei einem Teenager ja auch überhaupt nicht vorstellbar. Mutter war die einzige medizinisch Kompetente und deshalb in ihrer Position als Anführerin der Familie bestärkt. Und sie kämpfte wie Jeanne d' Arc für Lebensrettung! Mutti zog alle Register. Die anderen unterstützten, was die Mediziner angaben.

So wurde Anna allen Kuren und Torturen unterworfen, die das Leben verlängern und letztlich die AML besiegen sollten. Der Tod als Ausgang kam nie in Frage, Mutter und Vater schlossen ihn kategorisch aus. Annas gut dreieinhalb Jahre am Marterpfahl waren so mit zahllosen Chemos und einer Rückenmarkstransplantation erkauft. Ihr Leiden war entsetzlich und sie schien davor zu verstummen. Sie wollte wohl Kräfte sammeln für den nächsten Schub – und um sich dem Verglimmen ihres Dochtes zu stellen.

Zuhause drehten sich die Prioritäten von einem Tag auf den anderen wie der Wetterhahn auf dem Kirchturm: plötzlich grünte und blühte Unkraut überall. Der Rasen blieb nicht gemäht. Das Obst blieb am Baum, anstatt in Weckgläsern eingemacht den winterlichen Essensplan aufzupeppen. Berge von Laub wehte es vor die Drahtzäune und Igel überwinterten. Äpfel wurden auf einmal im Supermarkt gekauft, statt sie unter Lebensgefahr ohne Druckstellen vom Baum zu holen und im Keller neben Spinnennetzen auf Holzrosten einzulagern. Der Staub überzog alles im Haus und blieb. Alles Undenkbare war plötzlich ganz normal und das Haus fand keine Beachtung mehr. Mutter zog nämlich in den Leukämie-Schüben nach Neu-Ulm, um bei Anna zu sein. Vati fuhr so oft hin, dass er die drei Stunden Ulm fast per Autopilot zurücklegte!

Karly bekam das nur peripher mit, denn sie erweiterte ihren Radius. Nach dem Abi begann sie in der nächsten Unistadt, Erlangen, Theologie zu studieren. Trotzdem lebte sie weiter daheim – das kostete weniger – und pendelte dorthin. Mutter, die an der Uniklinik ein Labor für pathologische Gewebeschnitte führte, tat das auch. Für Annas Pflege ließ sie sich aber beurlauben. Karly entwickelte durch das Studium und die Krankheit Annas ihre nachdenkliche, philosophische Seite. Auf die unendliche Geschichte daheim hatte sie null Bock.

Nein: der Sport war's! Und wenn schon praktische Arbeit, dann am liebsten mit anderen zusammen im CaAM, einer Art Pfadfinderclub der Latteranischen Kirche, zu der die Familie sich zählte. Jahrelang setzten sie Karly dort in einer Kinderjungschar ein. Eigentlich nicht ihr Ding, denn die Minis wollten natürlich pausenlos Aufmerksamkeit. Aber sie lernte Strategien dort, die kleinen Energiebündel bei der Stange zu halten. Später lernte sie, vor Leuten zu sprechen und Andachten zu halten. Das gefiel ihr viel besser. Das Beste war aber, bei einer Großveranstaltung sogar mal zu schauspielern! Karly dachte sich für ein Anspiel auf der Bühne eine Rolle als Putzfrau aus, bei der das Publikum sich vor Lachen die Bäuche hielt!

An den alten Sprachen – Latein im Leistungskurs, Griechisch und Hebräisch im Studium – gefiel ihr besonders der geschichtliche Aspekt. Da konnte man in Zeiten und Länder blicken, die ganz anders funktionierten als die Bundesrepublik Deutschland in den 80ern. Diese Welten faszinierten sie, weil sie eben so ganz anders waren als ihr eigenes, langweiliges 'Dorf'. Dort wollte sie am liebsten sein!

Das war schon was, die alten Geschichten in sich aufzunehmen wie einen Schatz, aus dem man z. B. Strategien für das Morgen ableiten konnte. Auch aus Fehlern anderer ließ sich durchaus lernen. Du kriegtest einen Geschmack davon auf die Zunge, wie groß die Welt war, so dass Du Lust bekamst, sie mal selber kennen zu lernen, wenn es auch vielleicht nur archäologisch war. Sie war total beeindruckt, als sie Bücher in die Hand bekam, die die spannenden archäologischen Ausgrabungen des 19. Jahrhunderts schilderten. Stark! Hier ging es um biblische Schauplätze wie z. B. Ninive in Mesopotamien, die man in der Wissenschaft lange verächtlich als Fabel-Orte abgetan hatte. Über die dazugehörende biblische Geschichte spottete man: Märchen! Es gab das imposante Ninive aber ganz real, wie die lange Ausgrabungsgeschichte Bottas und Layards zeigte! Später bestaunte Karla selber mal am Mittelmeer in einem Museum ein antikes Walskelett. Es belegte, dass auch der Wal aus der Jona-Story eben kein Fabeltier gewesen sein musste.

Die leidenschaftliche Motivation aber, die sie antrieb, war besonders von drei Romanfiguren inspiriert, die in fremden Ländern aktiv waren. Karly verschlang alle 70 Bände von Karl May, einem Autor von fiktiven Reiseromanen und Schöpfer von "Old Shatterhand", "Winnetou" und "Kara ben Nemsi". Sie neigte dazu, ihre Lese-Zeiten nachts immer mehr auszuweiten und bebte mit den Abenteuern dieser Helden mit, dort lebte sie. Sie übernahm den Lebensentwurf der Figuren: "der fähige, fremde Held, der mutig mit dem Schießeisen die lokalen Probleme löst und dabei demütig und sympathisch bleibt". Diese leidenschaftlich geschriebenen, draufgängerischen Wohltaten an faszinierenden Völkern wurden die Blaupause dafür, wie sie unbewusst Zukunft träumte.

Das allerdings machte sie auch immer einsamer, denn zu tun hatte sie im Alltag ja nicht mit der Bücherwelt, sondern mit Menschen in Deutschland und ganz anderen Fragen. Wahrscheinlich kam sie denen ziemlich arrogant und weltfremd vor, wenn sie realisierten, dass sie keine Lust hatte, in ihrer Welt die Ärmel hochzukrempeln. Die Deutschen wiederum hatten außer in den Ferien wenig Interesse an ihren Welten; da war dann eher die Qualität von Hotelbetten wichtig. Aber Wilhelms Blut pulsierte in ihren Adern. Die göttliche Präsenz wollte in diese Liebe zum Fremden Energie gießen – zum Zorn aller lokalen Spieler! Etwas rieb sich hier kolossal. Man hatte nämlich Pläne für Karly, das hübsche Zugpferd. Wie konnte die Präsenz es wagen, einfach die Ihren in ihr Herz zu pflanzen?

Das Erstaunliche nach Annas Sterben war nämlich der Ruck, der durch Karly ging. Wenn doch Anna weggenommen wurde und sie selber dablieb, dann hieß das, sie hatte eine Bestimmung zu erfüllen, eine Art Auftrag! Die Wahl, die der Tod getroffen hatte, und das Handeln der Präsenz schlossen für sie eine gewaltige Antriebsquelle auf, die sie noch buchstäblich bis an die Enden der Erde katapultieren sollte! Denn am Totenbett Annas dichtete wie Beton Karlys Hingabe daran ab, Anderen beim Umgang mit Schmerz, Bedrohung und Alleinsein zu helfen: das einzige Gegenmittel für jähes Leid und unabwendbaren Tod, so lernte sie im eigenen Schmerz, bestand wohl darin, sich möglichst vor einem Unglück damit auseinander zu setzen. Also: praktisch mit den Grundfragen des Lebens und möglichen Antworten darauf. Mensch, wappne dich!

Wo kommst du her und warum bist du überhaupt hier? Und woher kommt denn alles, was ist? Wo treibt es hin? Ist mit dem Tod alles aus? Wenn ja, was macht mich denn so sicher, dass das so ist? Oder nicht so ist? Wo kriegt man brauchbare Erkenntnis dazu her und wodurch hat die Autorität? Welche Weltsicht trägt einenauch durch Schmerz und Tod hindurch, und: gibt es berechtigte Hoffnung? Wenn ein stattliches Haus mit Garten, was einmal das höchste Gut war und alle Kraft absorbiert hat, auf einmal schlicht uninteressant wird, nach welchen Werten willst du dich orientieren? Was ist erstrebenswert? Was ist in der Langzeitperspektive wirklich wertvoll? Was willst Du zu Prioritäten machen?

Wie kam sie nun aber in diese geheimnisvolle Bestimmung hinein, die sie tief innen empfand? Die Präsenz gab ihr dafür – manchmal – innere Weitsicht wie von einem Fernglas, Gespür wie ein Jagdhund für die richtige Entscheidung und die Orientierung eines Leuchtturms in schwierigen Wassern. Für diese Bestimmung und diese sensiblen Instrumente, die dazugehörten, hatte sie aber noch nicht das Wort Missionar gehört. Es gab für so etwas keine Sparte bei der Berufsberatung, die in der Oberstufe mal kurz zur Frage der Berufswahl dazu geschalten wurde. Auch im CaAM blickte man nur über Deutschland hinaus, um anderswo Freizeiten durchzuführen, nicht um in dem anderen Land zu arbeiten. Aber Karly spürte jetzt einen Motor als Schubkraft in sich, der wie ein Fährschiffs-Diesel tief in den Eingeweiden ihres Daseins brummte. Er sollte noch über menschliche Möglichkeiten weit hinaus volle Kraft voraus Tempo machen.

DREI

Erde zu Erde, Staub zu Staub

Man weiß ja, wie das so ist auf einer Beerdigung, oder? Alle sind ausgelutscht. Die einen, weil sie gerade jemand verloren haben, den sie liebten und vom Schmerz überwältigt sind. Die wollen nichts essen. Die anderen sind gestresst, weil die Schuhe zum schwarzen Anzug nicht geputzt sind, der pinkfarbene Schal zwar zum Mantel, aber nicht zum Anlass passt oder sie im Stau standen und sich fragten, ob sie es noch rechtzeitig schaffen würden. Die können nichts essen. Dann das professionelle Personal: die Baggerführer vom Friedhof, Bestatter, Fahrer, Sargträger und jemand Geistliches. Die essen zuhause – der Pfarrer ausgenommen, der wird eingeladen. Ach ja, bei einem derart gemeinen Tod sind auch die 'Adabeis2' da, die das Spektakel angucken und am liebsten eine Tüte Chips dabei essen wollen.

Anna war erst kurz zuhause, dann in der Aussegnungshalle aufgebahrt gewesen. Der Sarg helles Holz, aber kein Weiß, da sah das Gesteck aus Gerbera in Pink, Schleierkraut und weißen Freesien entzückend drauf aus. Schade, dass Anna das nicht selber genießen konnte! Man hatte den Deckel geschlossen gelassen: Mutter entschied solche Sachen. Nein, was hätte man da auch gesehen, bitte? Eine ausgezehrte, knapp Achtzehnjährige ohne Haare, das einstmals schön gezeichnete Gesicht aufgedunsen von endlos Chemo und Cortison. Also, doch: man hätte Anna natürlich die aschblonde Echthaarperücke aufsetzen können, die sie während der drei Jahre trug, in denen sie krank war. Oder das pfiffige tomatenrote Baumwollhalstuch, das sie stattdessen auch gern – zum Dreieck gefaltet – auf dem kahlen Kopf hatte, wenn sie unter Leuten war. Trotzdem wäre sie keine "schöne Leich" gewesen, wie es der Onkel Hans aus Wien auf den Punkt brachte, der extra zur Beerdigung angereist war. Auch die schönsten, lieblichsten rosa Gerbera konnten diese schreiende Schieflage, die Scheiß-Ungerechtigkeit dieser Welt nicht überspielen! Hier in der Halle, da forderte es seinen Tribut, brutal und ohne, dass man ihm ausweichen konnte: das Dilemma des Lebens. Wie Kegel wurden die einen rausgekickt, die anderen blieben stehen. Wieso es diese traf und die anderen nicht? Wer wusste es schon?

Der Pfarrer Wendheimer, routiniert und in seinen Fünfzigern, konnte das Böse von Annas Tod, diesen Stachel im prallen Leben auch nicht herausziehen. Schon komisch: bei Tieren akzeptiert man das, so als Kreislauf des Lebens, wenn eins stirbt. Aber das geht bei Menschen nicht. Die Hinterbliebenen schlagen sich Nacht und Tag mit dem brutalen Schmerz herum, herzugeben, loszulassen. Die Leute drum herum wissen nicht, wie sie mit der Pein der Trauernden umgehen sollen. Da taten doch die ruhigen Worte jetzt wohl, gefühlt milde Salbe auf die pochende Wunde. Es tat auch gut, dass das Ritual klar und die Spieler alle bestimmt waren. So konnten sich die Gäste ihren Gedanken und Gefühlen überlassen.

Wie gehst Du nicht nur mit Annas, wie gehst Du mit Deiner eigenen Sterblichkeit um? Da gab es viel Sprachlosigkeit und Abwehr. Nicht sein kann, was nicht sein darf, sagt der Dichter. Geschmackvoll alles, wie die Gerbera mit den duftenden Freesien: jemand aus Annas früherer Schulklasse spielte Bach auf der Geige, die Sängerin der CaAM-Band sang zur Gitarre ein Lied, das den uralten Psalm 139 modern interpretierte: "Spräche ich: Finsternis möge mich decken/ und Nacht statt Licht um mich sein/ wäre auch Finsternis nicht finster bei Dir/ und die Nacht leuchtete wie der helle Schein… "

Aber jeder war in seinem eigenen Kokon eingesponnen. Keine Ahnung, ob diese poetischen Worte dahin drangen, wo der Verstand jeweils zuhause war. Die Musik rührte jedenfalls an die sowieso schon gegen den Strich gebürsteten Gefühle – Männer putzten sich geräuschvoll die Nasen, blasse Damen vertrauten ihre Tränen etwas dezenter vielen Taschentüchern an. Die wanderten dann, mangels Papierkorb in der Halle, alle wieder ins Handtäschchen und sahen dort einer späteren Entsorgung entgegen.

Ist es nicht genau dasselbe mit dem Leben der Menschen? dachte Karly. Man hat das Leben ganz selbstverständlich dabei, benutzt es in vollen Zügen, ohne viel drüber nachzudenken, verbraucht, was es zu bieten hat – und wird irgendwann selber entsorgt, mit allem Erlebten. Würdevoll zwar – also meistens. Aber die unangenehme Realität blieb, wie Zahnschmerzen. Was sollten die Menschen auch machen? Man legte die Körper der Toten in der Erde ab und nein, es war kein Einmotten bis zum nächsten Frühling, nein, es war vorbei und diese mal quicklebendige Person kam nicht wieder zurück an den Platz, den sie ausgefüllt hatte.

Da war es doch – für die Übriggebliebenen wenigstens – tröstlich, dass alles feierlich aussah, dass jemand auf der Beerdigung nochmal an die Verstorbene erinnerte! Wendheimer hatte seine Hausaufgaben gemacht und im Trauergespräch mit den Eltern wichtige Stationen im Leben Annas erkundet. Die Liste war natürlich viel kürzer – und unangenehmer – als beim Ableben einer älteren Frau. Das wenige Nennenswerte spielte in den Krankenhäusern, wo Anna behandelt worden war. Ja, klar, eine Kindheit gab es auch – sie war ein eher stilles Kind zwischen Karla und Kira, der jüngsten Schwester, gewesen.

Karlys Gedanken huschten weg von Wendheimers Lob-Liste.