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Die preußische Ostasien-Expedition, auch als "Eulenburg-Expedition" bekannt, war eine diplomatische Mission, die Friedrich Albrecht zu Eulenburg im Auftrag Preußens und des Deutschen Zollvereins in den Jahren 1859-1862 durchführte. Ihr Ziel war es, diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu China, Japan und dem damaligen Siam aufzubauen. Die wichtigsten Teilnehmer der Expedition waren Friedrich Albrecht zu Eulenburg, Lucius von Ballhausen (Arzt), Max von Brandt (Attaché), Wilhelm Heine (Maler), Albert Berg (Künstler), Karl Eduard Heusner, Fritz von Hollmann, Werner von Reinhold, Ferdinand von Richthofen und Gustav Spiess. Der Expedition standen drei Kriegsschiffe des preußischen Ostasiengeschwaders zur Verfügung, die SMS Arcona, die SMS Thetis und die SMS Frauenlob. Dies ist Band vier von vier der Aufzeichnungen zu dieser Expedition. Der Text folgt den Originalausgaben, die zwischen 1864 und 1873 erschienen, wurde aber in wichtigen Wörtern und Begriffen der heute aktuellen Rechtschreibung angepasst.
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Seitenzahl: 637
Die preußische Expedition nach Ostasien
Band 4
GEORG VON MARTENS
Die preußische Expedition nach Ostasien, Band 4, G. von Martens
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849662295
Quelle: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873>, abgerufen am 13.05.2022. Der Originaltext aus o.a. Quelle wurde so weit angepasst, dass wichtige Begriffe und Wörter der Rechtschreibung des Jahres 2022 entsprechen.
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REISEBERICHT.1
XIV. REISE DER ARKONA VON WU-SON NACH DER PEI-HO-MÜNDUNG.1
XV. TIENTSIN.5
XVI. TIENTSIN.53
XVII. AUSFLUG NACH PEKING.81
XVIII. ABREISE VON TIENTSIN. REISE DER ARKONA VON DER PEI-HO-MÜNDUNG NACH NAGASAKI UND HONGKONG.135
XIX. HONGKONG, KANTON, MACAO.150
XX. REISE DER ARKONA VON MACAO NACH DER REEDE VON PAKNAM.190
XXI. BANGKOK.192
XXII. AUSFLUG NACH PHRABAT. ABREISE AUS SIAM. REISE DER ARKONA NACH SINGAPUR.254
ANHANG I. DER VERTRAG MIT CHINA.293
ANHANG II. DER VERTRAG MIT SIAM.313
ANHANG III. DIE AUSWECHSLUNG DER RATIFIKATIONSURKUNDEN IN SCHANGHAI.326
ANHANG IV. DAS ENDE DER TAE-PIN.328
VOM 23. BIS 29. APRIL.
Am Morgen des 23. April lichtete Arkona bei milder Luft die Anker und dampfte langsam den Fluss hinab. Die Fregatte Svetlana, welche eben aus Nagasaki eingetroffen war, grüßten wir vorübergleitend mit der russischen Hymne; die an Deck aufgestellte Mannschaft dankte mit abgenommenen Mützen; vorn stand der Geistliche, eine hohe Gestalt mit langem weißem Bart und faltigem Talar. Der Fluss lag dicht voll Dschunken, großenteils mit Bambus beladen, der ihnen, in dicken Bündeln außenbords befestigt, große Breite gab. Mühsam wand Arkona sich durch, konnte aber nicht vermeiden, einem Chinesen den Vordermast wegzuputzen, der krachend ins Wasser fiel. Bald gelangten wir in den Jangtse und nun ging es schneller; die Mündung machen jedoch veränderliche Sandbänke gefährlich. Gegen drei passierte Arkona das auf der Barre liegende Leuchtschiff und konnte den chinesischen Lotsen entlassen; erst abends gelangte sie in klares Wasser und steuerte noch eine Weile östlich, dann nördlich. Um acht Uhr wurde die Schraube ausgehoben; wir segelten bei günstigem Südwest neun Knoten. Es war empfindlich kalt, so dass man Winterkleidung anlegen musste.
Am folgenden Morgen starb der Wind fort und wir dampften wieder. Es war Bußtag, der mit Gottesdienst begangen wurde. Das Wetter, morgens neblig, dann regnerisch, klärte sich später auf, und der 25. April war schön. Viele Dschunken belebten das Meer: die Sonne schied, durch Strahlenbrechung zu wunderlichem Gebilde verzerrt, in glühender Pracht.
Am 26. April kam bei Tagesgrauen Kap Šan-tun in Sicht, das wir, in den Golf von Pe-tši-li einbiegend, gegen fünf Uhr morgens umschifften. Die Fahrt ging westlich, die schroffe Felsküste entlang. Gegen zwei Uhr nachmittags gewahrte man nah dem Lande drei Schiffe: das französische Transportschiff Calvados, das Schanghai kurz vor der Arkona verließ, war hier gestrandet, von zwei Dampfern aber wieder flott gemacht worden, und hielt mit diesen jetzt gleich uns auf Tši-fu los. Wir hatten wegen der dunstigen Luft keine sichere Längen-Observation, der Meereshorizont zeigte die sonderbarsten Unebenheiten: bald wellenförmig, bald geradezu bergan laufend brach die Linie plötzlich senkrecht ab, um tiefer wieder anzusetzen; die Küsten reckten und hoben sich fratzenhaft in unruhig wechselnder Verschiebung. Das wunderlichste Phänomen der Strahlenbrechung gewährten aber jene drei Schiffe: sie verschwanden plötzlich vor unseren Augen und tauchten wieder auf; dann schob sich der Meereshorizont mit zwei Schiffen in die Höhe; sie standen wie auf einem Berge, während das dritte in der Tiefe blieb; dann senkte sich die Meereslinie wieder, die Masten blieben in der Luft stehen und der Rumpf der beiden Schiffe schwoll so ungeheuerlich, dass sie Türmen glichen, die allmählich einsanken, während nun die Untermasten wuchsen. Nach einigen Minuten hatte Alles seine natürliche Gestalt. 1)
Da die Reede von Ta-ku ein schlechter Ankerplatz für größere Kriegsschiffe, auch die Proviantierung unsicher ist, so lief Kapitän Sundewall Tši-fu an, um die Vorteile dieses Hafens kennen zu lernen. Der Namen bezeichnet streng genommen nur das Felsenkap, das, am Ende einer flachen Landzunge in schroffen Wänden aus dem Meere steigend, mit einigen Felsinseln die Bucht gegen Meeresschwall und nördliche Winde schützt. Die im Halbkreis gelagerte Stadt heißt bei den Chinesen Džen-tai; die Fremden haben jedoch den Namen Tši-fu auf die ganze Örtlichkeit übertragen und kennen auch die Stadt nur unter dieser Bezeichnung. Von den Kriegen und Aufständen der letzten zwanzig Jahre unberührt, genoss sie blühenden Wohlstandes; mehrere fremde Schiffe hatten ihre Ladung mit Vorteil gegen klingendes Silber verkauft, und der Handel bot so günstige Aussichten, dass die Fremden Tši-fu dem in der Nähe gelegenen Tan-tšau vorzogen, das in den Verträgen dem Handel freigegeben war. Die Bucht ist geräumig und sicher, der Ankergrund vortrefflich.
Nachdem Arkona gegen drei Uhr nachmittags Anker geworfen, fuhren Graf Eulenburg und seine Begleiter an das Land und erstiegen zunächst eine östlich der Stadt gelegene Höhe. Am Abhang blühten Veilchen und ein fliederartiger Strauch; die Spitze krönt burgartiges Gemäuer. Man blickte auf die am Strande gelagerte, von grünen Gefilden umgebene Stadt, vor welcher die Ebbe breite Wasserlachen stehen ließ; malerische Dschunken lagen kreuz und quer auf dem grünen Seetang wie auf einer Wiese gestrandet, im Hafen eine ganze Flotte von Chinesen und fremde Kriegs- und Handelsschiffe; dahinter die Klippeninseln, Kap Tši-fu und das hohe Meer, auf der Landseite ein duftiger Kranz steiler Felsgebirge.
Der Stadt, welche seit dem Kriege französische Garnison hatte, sah man ihren Wohlstand kaum an: breite öde Straßen fast ohne Kaufläden, die Häuser zwar massiv aus dem anstehenden Granit, aber so roh und ungeschickt gebaut, wie in China selten vorkommt. In offenen Buden hielten Krämer ihre Ware feil, unter der uns auch hier die bunten Wiener Streichholzbüchsen entgegen lachten. An Viktualien sah man Birnen, Wallnüsse, gutes Weizenbrot, lebende Waldschnepfen und Trappen. Einige Gassen sind mit Quadern gepflastert; am Hauptplatz steht ein reinlich gehaltener Tempel, gegenüber ein Theater, vielmehr eine Bühne mit geschnörkeltem Dachfirst, denn den Zuschauerraum bildet die Straße. Es war gerade Vorstellung. Die Musiker begleiteten, im Grunde der Szene sitzend, das Stück bald mit Becken und Zimbeln, bald auf einer Art Dudelsack. Die Schauspieler entwickelten das herrlichste Pathos und illustrierten ihre näselnde Rezitation mit mörderischen Fratzen und gymnastischer Action, wobei viel Fahnen und Schwerter geschwenkt wurden. In einer Szene hielten zwei Männer eine blaue durch weiße Markierung der Steinfugen zur Burgmauer gestempelte Leinwand. Dahinter traten die Handelnden auf Stühle: der schwerbedrängte Burgherr klagte sein Weh in schneidenden Trillertönen. Dann erschien vor der Mauer ein aufgeputzter Held mit Trabanten, der mit dem ganzen Leibe gestikulierte und in graziöser Wut seinen Bart strich. Er ließ sich einen Bogen reichen und schoss einen Pfeil nach der Burgmauer, worauf einer von der Besatzung herunterplumpte. Da warf der Burgherr einen Stein nach dem feindlichen Heere, das entsetzt von dannen floh. — Die chinesische Bühnenkunst hat den Vorzug, dass sie in keiner Richtung Nachahmung der Wirklichkeit, nicht einmal Wahrscheinlichkeit anstrebt: nicht nur Kostüm und Dekoration, sondern auch Mimik und Sprache, Alles ist Maske und Konvenienz. Gewiss lässt sich auch in diesem gemachten, durchweg übertriebenen Ausdruck der Affekte künstlerische Kraft entwickeln; dem Fremden aber, der die Sprache nicht versteht, muss Alles lächerlich scheinen.
Ein Spaziergang vor der Stadt führte uns durch üppige Getreidefelder; dort standen Kiefern, der Meerpinie ähnlich, und prächtige Weidenbäume, die eben die jungen Blätter aufrollten. — Gegen sechs Uhr kehrte der Gesandte an Bord zurück, wo der Kommandeur und einige Offiziere der französischen Fregatte Andromaque seinen mittagstisch teilten.
Am Morgen des 27. April salutierte die englische Korvette Odin den Kommodore aus der Ferne mit dreizehn, die Andromaque den Gesandten mit neunzehn Schüssen. Arkona erwiderte die Grüße, lichtete um halb zehn die Anker und dampfte der Pei-ho-Mündung zu. Die glatte See spiegelte warm den tiefblauen Himmel, als wir gegen vier Uhr nachmittags dem Admiral Sir James Hope auf der englischen Korvette Scout begegneten. Beide Schiffe drehten bei; Graf Eulenburg sandte dem Admiral seine Post, die er aus Schanghai mitgenommen hatte. Arkona salutierte und Scout antwortete; beide Schiffe lagen in dichten Pulverdampf gehüllt, bis sie weiter fuhren. Auf einem Vorgebirge standen Tausende Chinesen, die wohl eine Seeschlacht zu sehen glaubten. — abends wurde es neblig und sehr dunkel.
Am 28. April mittags ergaben die Lotungen, dass man sich der Küste näherte; um zwei Uhr wurde am westlichen Horizont durch das Fernrohr ein Streifen niedrigen Landes sichtbar, das eben so wenig wie eine Flotte davor ankernder Dschunken zur Orientierung dienen konnte. Da tauchten — auf einen Augenblick — nördlich die Masten europäischer Schiffe auf; im nächsten befanden wir uns in einer dichten Staubwolke. Die Luft färbte sich dunkelgelb, ins Rote spielend; die Sonne, eine glänzendblaue, strahlenlose Scheibe, warf silberne Glitzer auf die spitzen gelbgrünen Wellen. Es war einer der in dieser Jahreszeit so häufigen Staubstürme, ein Vorschmack der uns in Tientsin winkenden Genüsse. In wenig Minuten bedeckte sich das Schiff mit einer so dicken Kruste des feinsten Staubes, als wenn es Tage lang auf trockener Landstraße gefahren wäre. In dichte Wolken gehüllt warf man Anker vor der Pei-ho-Mündung, etwa zwölf Seemeilen vom Lande. Der Flaggenleutnant Graf Monts fuhr nachmittags mit dem russischen Fähnrich Herrn Markianowitsch nach dem Kanonenboot Rasboynik, welches Kommodore Likhatschoff dem Gesandten für die Fahrt auf dem Pei-ho zur Verfügung stellte.
Fußnoten:
1) Der Verfasser hat das sonderbare Phänomen auf dem Fleck beschrieben und von Minute zu Minute die Veränderungen gezeichnet.
VOM 29. APRIL BIS 30. JUNI.
Das mit Graf Monts und Herrn Markianowitsch nach dem Rasboynik gesandte Boot der Arkona wurde abends auf der Rückfahrt von heftigem Sturm gepackt und musste zu dem Russen zurückkehren; erst am folgenden Morgen brachte es die Nachricht, dass der Rasboynik keine Kohlen habe, auch die Barre erst in vierzehn Tagen mit der nächsten Springflut passieren könne. Der Kommandant, Kapitän-Lieutenant Rosenberg, machte nachher dem Gesandten seine Aufwartung. — Da nun auch der englische und der französische Admiral ihre in der Pei-ho-Mündung liegenden Dampfer zur Verfügung gestellt hatten, so schickte Kapitän Sundewall am 29. April vormittags ein Boot dahin ab, welches abends den Attaché von Brandt an Bord der Arkona brachte. Schon seit zehn Tagen erwartete Derselbe bei den Ta-ku-Forts die Ankunft der Gesandtschaft; der Kommandant der kaiserlich französischen Canonière No. 13, Lieutenant de vaisseau Des Varannes, beherbergte ihn gastfrei auf seinem Fahrzeug. Der Attaché von Brandt übergab dem Gesandten ein Schreiben des Prinzen von Kun und meldete, dass er in Tientsin ein Haus gemietet und eingerichtet habe.
Am 30. April früh legte sich Numero treize, ein Kanonenboot vom kleinsten Kaliber, neben die Arkona. Erst um zwei Uhr konnte es mit der Flut wieder über die Barre, — wo bei Ebbe nur zwei Fuß Wasser stehen, — und brachte zunächst das große Gepäck, einige Ordonnanzen und die chinesische Dienerschaft nach den Ta-ku-Forts, von wo sie in der folgenden Nacht auf Maultierkarren nach Tientsin fuhren. Herr von Brandt machte den Weg zu Pferde. — Am Morgen des 1. Mai war die Canonière wieder bei der Arkona und nahm um halb acht den Gesandten, die Attachés Graf zu Eulenburg und von Bunsen, Dr. Lucius, Maler Berg, Herrn Marques, Dr. Kloekers, und einige Offiziere und Kadetten der Arkona an Bord, welche die Ta-ku-Forts besehen wollten; ihr Boot und ein zweites mit einigen Ordonnanzen und dem kleinen Gepäck der Gesandtschaft führte Numero treize im Schlepptau. Arkona salutierte mit neunzehn Schüssen, und das Dampferchen 2) tanzte, die Nase in der Luft, tapfer prustend auf den zackigen Wogen, die der widrige Wind ihm entgegenwälzte. Viel Wasser schlug in die Boote, deren Insaßen hoffentlich Sturzbäder liebten. — Wir begegneten hier wieder den tritonenhaften Fischern, die, auf einem durch ihr Gewicht unter Wasser gedrückten Floss sitzend, von Wind und Wogen umhergetrieben werden, bis ein Boot sie wieder aufnimmt; ein frostiges Gewerbe in dieser Jahreszeit; uns fror in trockenen Kleidern. — Nach anderthalbstündiger Fahrt erreichte Treize die Barre, über welche die Flut ihr hinweghalf, und bald darauf das ruhige Wasser der Pei-ho-Mündung.
Zu beiden Seiten der Einfahrt liegen die äußeren Ta-ku-Forts, der Schauplatz der englischen und französischen Angriffe in drei aufeinander folgenden Jahren. Die Flut bespült den Fuß der Wälle; die Ebbe legt einen breiten von Gräben durchschnittenen schlammigen Uferstreifen bloß, den die Chinesen durch Wolfsgruben und eiserne Krähenfüße noch unwegsamer gemacht hatten. 1858 drangen die Alliierten in den Fluss ein, landeten oberhalb der hinten offenen Werke und rollten deren Besatzung auf; 1859 konnten die Kanonenboote nicht eindringen, gerieten zum Teil auf Grund und sanken unter dem wohlgezielten Kreuzfeuer der Festen, während die auf dem tiefen Uferschlamm unterhalb des Südforts landenden Truppen teils in den Gräben und Wolfsgruben, teils im Kartätschenfeuer der unnahbaren Wälle untergingen. 1860 wurden die äußeren Forts nur durch einige Kanonenboote auf weiten Abstand beschäftigt, während die Landmacht der Verbündeten, nördlich von Pe-tan kommend, zuerst das innere Nordfort stürmte, dann das äußere ohne Widerstand besetzte, worauf die drei Südforts geräumt wurden; die Werke waren damals auf allen Seiten geschlossen und sehr fest. — Seit dem Kriege hatten sie nun englische und französische Besatzung; mehrere Kanonenboote lagen in der Flussmündung.
Die Pinasse der Arkona nahm jetzt deren Offiziere und Kadetten an Bord, welche mit drei Hurras vom Gesandten schieden. — Der Anblick ist trostlos: Lehmwasser, Lehmbauten, Lehmufer, so flach wie ein Tisch, bis auf einige Haufen Salz, das hier dem Meere abgewonnen wird; nahe der Mündung kein Baum, kein Strauch; Alles ein gelbgrauer Teig, oben fest und trocken, in klumpige Formen geknetet, unten flüssig, ein trüber hässlicher Brei. Stiefmütterlicher waltete nirgend die Natur.
Hinter den südlichen Forts liegt der große Flecken Ta-ku, eine Lehmmasse wie alles Übrige. Weiter hinauf sind die Ufer grün; da stehen schöne Weiden- und unzählige Pfirsichbäume, die in festlichem Blütenschmuck prangten. Die Luft war staubig; bald wurde es heiß, während wir morgens in Winterkleidung gefroren hatten. Dass wenig Wochen zuvor das Land noch in dickem Eise lag, merkte man nicht: nur die vielen Ufereinschnitte, ähnlich denen bei Schanghai, in welchen die Dschunken geborgen werden, erinnerten daran, dass hier, fast in der Breite von Lissabon, die Flüsse im November zufrieren und erst im März wieder aufgehen. Die Landschaft, — grüne Felder, Bäume und lehmfarbene Dörfer, — gleicht vielen Stellen im Niltal.
Die Windungen des Pei-ho verdoppeln den Weg; beim Scheiden der Sonne waren wir noch weit von Tientsin. Je näher der Stadt, desto dichter lagen im verengten Fluss die Dschunken, durch die sich selbst unsere zappelnde Treize nur mühsam hindurchwand. Lieutenant Des Varannes, der uns den Tag mit lebendigem Gespräch verkürzt hatte, leitete, vorn beim Geschütz stehend, den schlängelnden Lauf des Bootes. Nach acht erreichten wir die Vorstädte von Tientsin und fuhren dann noch eine halbe Stunde durch einen Mastenwald, hinter welchem zu beiden Seiten niedrige Häuserreihen lagen. An Kaufläden und Kneipen hingen viel bunte Laternen, und das Gesumme am Ufer verriet die volkreiche Stadt. Gegen neun passierte Treize die Schiffbrücke und warf etwa tausend Schritt oberhalb, bei der Mündung des Kaiserkanales Anker. Der Attaché von Brandt wartete am rechten Flussufer und führte den Gesandten nach seiner nahe gelegenen Wohnung. Die bestellten Kulis waren durchgegangen; es dauerte lange, bis andere das Gepäck heraufgeschafft hatten; erst spät gelangte man zur Ruhe.
Das für die Gesandtschaft gemietete Haus gehörte einem chinesischen Kaufmann, den nur energisches Zureden der obersten Behörde zur Abtretung vermochte. Die Gebäude gruppierten sich um zwei hintereinanderliegende Höfe: das vordere hatte nach der Straße gar keine Fenster und enthielt nur untergeordnete Räume mit Eingängen vom ersten Hofe, wo der chinesische Türhüter und die Ordonnanzen hausten. Ein Seitengebäude mit zwei hübschen Zimmern, welche Herr Marques bezog, verband es mit dem gegenüberliegenden Hauptgebäude, der Wohnung des Gesandten, deren Rückseite auf den zweiten Hof blickte. Diesen begrenzten rechts und links niedrige Gebäude mit Küchen- und Wirtschaftsräumen; gegenüber stand ein geräumiges Haus, welches die drei Attachés, Dr. Lucius und Maler Berg bezogen. Die Straßenfront war in Sandstein, alles übrige in feinem Backstein gebaut, mit Friesen in fein behauenem Sandstein, Blätterschmuck und grotesken Tiergestalten, und schweren grauen Ziegeldächern. — Die Eingangstür führte in einen Korridor, dessen Fortsetzung als bedachter Gang die vierte Seite des ersten Hofes, der Wohnung des Herrn Marques gegenüber, bildete, dann rechts um das Mittelgebäude nach dem zweiten Hofe einbog. Der Estrich aller Wohngebäude lag einige Stufen erhöht. Zur Wohnung des Gesandten führte vom ersten Hofe eine Haupttür; geradeaus gelangte man durch das Vorgemach in den Salon und weiter in gerader Linie nach dem zweiten Hof; rechts vom Salon lag das Esszimmer, links das Schlafzimmer des Gesandten, deren Fenster auf den zweiten Hof gingen. Diese Räume waren anständig eingerichtet, die Wände und Decken hell tapeziert, hier und da mit geschnitztem Laubwerk aus dunklem Holze von reicher durchbrochener Arbeit verziert, die Räume des Hintergebäudes aber nackt und kahl. Ein Teil des Fußbodens war hier in jedem Zimmer etwa sechs Fuß breit um anderthalb Fuß erhöht, eine Art Pritsche, die den Chinesen zugleich als Bett und als Ofen dient, denn es sind Feuerstellen mit Luftzügen darin; ihre Oberfläche besteht, wie der Estrich, aus festgestampftem und geglättetem Lehm. Alle Fenster haben ein reiches Rahmenwerk aus schmalen Leisten, das mit dünnem Papier beklebt ist. — Im Ganzen war die Wohnung weder so geräumig noch so sauber, als unsere japanische; als Versammlungsraum musste abends der zweite Hof dienen, doch hätten wir uns darüber nicht beklagen mögen. Zum Glück ahnte beim Einzug niemand, dass wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spannkraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unverstande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. In Tokio gaben die gesunde stählende Luft, die herrliche Landschaft und die durch alle Schichten interessante Bevölkerung einer reichen Haupt- und Handelsstadt für alle Beschwerden und Täuschungen Ersatz; Tientsin dagegen ist so durch und durch reizlos, als sich die trockenste Phantasie nur ausmalen kann. In einer unabsehbaren Ebene gelegen hat es den Winter von Uppsala und den Sommer von Kairo. Als Hafen der Hauptstadt empfängt es zwar alle Erzeugnisse des Südens sowohl zur See durch den Pei-ho, als durch den hier mündenden Kaiserkanal, der, von Han-tšau ausgehend, den Jangtse und den Huang He schneidend, durch acht Breitengerade und vier große Provinzen fließt; es versieht ferner den größten Teil des Reiches mit Salz, das, an der niedrigen Meeresküste gewonnen, in Tientsin aufgestapelt und verschifft wird; man merkt aber den Handel nur an der ungeheuren Zahl der Dschunken und der die Umladung besorgenden Arbeiter, welche die Masse der Bevölkerung bilden. Von Reichtum und Lebensverfeinerung zeigt sich keine Spur; ansehnliche Kaufläden gibt es nicht; man sucht vergebens nach den mannigfachen Erzeugnissen des chinesischen Gewerbefleißes. Einzelne Trödelbuden, welche allerlei Luxusartikel und Kuriositäten, großenteils aus der Beute des Sommerpalastes aufwiesen, dankten wohl nur der englischen Garnison ihr Dasein. In der Tat ist Tientsin, auf salpeterhaltigem Boden an trüben Wassern gelegen, die allen Abgang von 300,000 Menschen aufnehmen, von der Natur dermaßen beschimpft, dass es Wunder nehmen müsste, wenn Jemand ohne zwingende Gründe da wohnte.
Das von Ringmauern umschlossene Viereck der Stadt blickt genau nach den vier Himmelsgegenden und misst in der Richtung von Norden nach Süden eine englische Meile, von Osten nach Westen etwa drei Achtel mehr. Die zinnenbekränzte Mauer ist fast dreißig Fuß hoch und fünfzehn Fuß dick, außen und innen von graugelben Luftsteinen gebaut, zwischen diesen Wänden mit Lehm und Schutt ausgefüllt. In der Mitte jeder Mauerseite liegt ein gewölbtes Tor, über welchem ein breiter Festungsturm von mehreren Stockwerken steht. Ähnliche Türme von quadratischem Grundriss erheben sich auf den vier Ecken der Ringmauer. Eine Hauptstraße führt vom nördlichen zum südlichen, eine zweite vom östlichen zum westlichen Tor; über ihrer Kreuzung steht im Mittelpunkte der Stadt ein den Stadttoren gleichendes massives Gebäude mit gewölbten Eingängen von den vier Seiten. Dieser Bau beherrscht ganz Tientsin, kann aber durch seine Lage keinen möglichen Nutzen bieten und soll wohl nur, der symmetrischen Anordnung des Gründers zu Liebe, den Mittelpunkt der Stadt bezeichnen; nicht einmal als Feuerwarte scheint das festungsartige Gebäude zu dienen, dessen Unterbau genau in der Höhe der Stadtmauer massiv aus Luftsteinen gebaut ist. Die oberen Stockwerke sind, wie bei den Toren, aus Holz und Luftsteinen aufgeführt, mit schweren vorspringenden Dächern, die Dachkanten geschwungen und mit grotesken Tiergestalten verziert. Die vier durch die Hauptstraßen abgeteilten Stadtviertel bilden ein Labyrinth enger gewundener Gassen; in der Nähe der Mauern liegen weite Strecken unbebaut, mit Lachen stagnierenden Wassers. Rechts vom Osttor steht der Tempel des Confucius, links ein großes Theater, damals von den Engländern zur Kaserne eingerichtet; andere Tempel und Theater liegen in der Stadt zerstreut.
Ein weit größeres Areal als diesen mauerumschlossenen Platz bedecken die Vorstädte, die sich zu beiden Seiten des Pei-ho und des Kaiserkanales ausdehnen. Hier wohnt die handeltreibende Bevölkerung; die Straßen sind breiter und etwas reinlicher, die Kaufläden besser als in der Stadt, wo es fast nur Schmutz und Spelunken gibt. Der Kaiserkanal läuft aus Westen her etwa fünfhundert Schritt von der nördlichen Mauer mit dieser eine Strecke parallel und macht dann eine Biegung gegen die Nordost-Ecke der Stadt, wo unter der Mauer nur eine Straßenbreite bleibt. Nicht weit von da mündet der Kanal in den aus Nordwesten kommenden Pei-ho, der sich hier scharf nach Süden wendet und etwa sechshundert Schritt von der Ostmauer strömt. Die Vorstädte vor dem Nord- und dem Ost-Tore sind die beste Gegend von Tientsin; weiter den Kanal hinauf, flussabwärts und jenseits beider Gewässer gibt es nur enge winklige Gassen und wenig gute Gebäude. Auf dem linken Flussufer liegen am östlichen Ende der Vorstadt ungeheure Salzmaßen in freier Luft aufgestapelt. Südlich vom Osttor führt eine Schiffbrücke über den Pei-ho; eine zweite über den Kaiserkanal stößt auf die vom Nordtor ausgehende Straße. Dort liegen mehrere Theater, und jenseits des Kanales ein Tempel, der als Zollamt für den fremden Handel eingerichtet ist. — Nach Süden und Südwesten hat Tientsin keine Vorstädte; dort blickt die Stadtmauer auf das freie Feld.
Die äußersten Grenzen der Vorstädte bezeichnen flussaufwärts und abwärts zwei verfallene Festungstürme, vorgeschobene Posten aus alter Zeit. Ringsum dehnt sich die unabsehbare Ebene aus, im Frühjahr kahl und staubig; Bäume gibt es wenig und fast nur an den Wasserläufen, wo jenseits der Vorstädte Nutzgärten liegen. Im mauerumschlossenen Park eines kleinen Lamaklosters am Kaiserkanal stehen schöne Robinien und Weiden, in deren Schatten wir zuweilen von der furchtbaren Dürre aufatmeten. Weiter hinaus säumen das nördliche Ufer des Kanales kleine Tempel und Sommerhäuser mit hübschen Gärten, welche nur künstliche Berieselung frisch erhält. In geringer Entfernung von den Rinnsalen war den Mai hindurch noch Alles kahl; die Staubstürme ließen kein Pflänzchen wachsen.
Der Erdwall und Graben, den der Mongolenfürst San-kolin-sin 1860 zum Schutz von Tientsin aufwerfen ließ, umgibt die Stadt in weiter Runde; der Umkreis mag fünf deutsche Meilen betragen. Aus lehmigem Erdreich gebaut, hier und da durch eingerammte Pfähle befestigt, bildet der Wall ungebrochene Linien ohne jede Flankierung; den breiten Wallgang schützt eine krenelierte Brustwehr, die kaum europäischem Gewehrfeuer widerstehen könnte. Die Linie in ihrer ganzen Ausdehnung zu besetzen, reichten nicht alle kaiserlichen Heere; San-ko-lin-sin, heißt es, wollte dazu die Volkswehr aufbieten, machte aber nach der Niederlage bei Ta-ku nicht einmal den Versuch, sich bei Tientsin zu halten. Wo der Wall unterhalb der Stadt auf den Pei-ho stößt, verteidigten den Zugang zwei starke Bastionen, ähnlich den Ta-ku-Forts; gleich diesen lagen sie bei unserer Ankunft schon halb zerstört: das zum Bau verwendete Holz diente im Winter sowohl der Garnison als den Bewohnern zum Heizen; Niemand hinderte den Raub.
Fast den ganzen Mai durch brausten die Staubwinde. Blaue Luft sah man nur auf halbe Stunden; gewöhnlich erschien der Himmel gelbgrau, bei heftigem Sturme gelbrot, die Sonne bläulich und strahlenlos. Etwa zweimal wöchentlich pflegte der Sturm so heftig zu wüten, dass der Tag sich verfinsterte, dass um Mittag in den Zimmern Licht gebrannt werden musste; die Chinesen unterscheiden nach dem Gerade der Dunkelheit weiße, gelbe, rote und schwarze Stürme. Draußen kaute man die Luft; Nase und Ohren füllten sich mit feinem Staube, der selbst bei dicht verstopften Fenstern und Türen in die Häuser drang. Das Schreiben wurde unmöglich; die Tinte stockte in der Feder, und auf das Papier lagerte sich im Nu eine Staubschicht. 3) Meist war die Luft furchtbar schwül; aus dem Electrometer des englischen Hospitals strömten bei heftigem Sturm beständig blaue Flammen; die Elektrizität wechselte oft zwischen positiver und negativer. Zuweilen kam dabei ein Wolkenbruch, dass das aufgeweichte Papier in Lappen von den Fenstern floss und das Wasser fußhoch in den Straßen stand. Dann regnete es dicken braunen Schmutz, und wen solch Wetter draußen packte, der kam gepanzert nach Hause. Oft kühlte die schwüle Luft sich während des Sturmes dermaßen ab, dass man Winterkleidung brauchte.
Anfang Juni legten sich die Staubwinde; nur zuweilen verfinsterte sich die Luft noch auf halbe Stunden. Dafür trat aber, bei klarem blauem Himmel, arge Hitze ein, die Mitte Juni auf 33° R. stieg; kein Hygrometer zeigte mehr den Wassergehalt der Luft an, die Haut blieb selbst bei starker Bewegung trocken. In der zweiten Hälfte des Juni gab es zuweilen erfrischende Regenschauer und Gewitter, nach denen das Wetter auf einige Stunden angenehm wurde. abends genoss man in diesem Monat noch leidlicher Kühle unter dem prachtvoll glänzenden Sternhimmel; bei Tage ließ sich die Hitze der Zimmer auch durch große Eisblöcke kaum abkühlen; man fühlte sich unbehaglich, zu keiner Arbeit aufgelegt, viel schlimmer als in feuchten tropischen Gegenden, bei schwächerer Verdunstung. — Im Juli sollte es noch schlimmer werden.
An gesunden Lebensmitteln mangelte es nicht. Gutes Brot bereiteten die Bäcker der englischen Garnison; es gab Hammel-, Rind- und Schweinefleisch, vorzügliche Bohnen, Spinat, Kartoffeln, Bataten, nachher auch Brinjals, die Früchte der Eierpflanze (Solanum Melongena), ferner den ganzen Sommer durch Birnen und köstliche Weintrauben 4) vom letzten Jahre, die, in Eishäusern aufbewahrt, bis zum Herbst so fest und saftig wie frischgeschnittene bleiben. Das Eis wird im Winter systematisch in viereckige Blöcke geschnitten und in steilwandigen Gruben aufgeschichtet, die etwa hundert Fuß lang, fünfzig breit und zwanzig Fuß tief sind. Die Früchte, — Äpfel, Birnen und Weintrauben, — packt man in Eimer und ausgehöhlte Kürbisse, setzt sie in diese Gruben und füllt auch die Zwischenräume mit Eis. Ein Mattendach mit einer dichten Erdschicht darauf bedeckt das Ganze. Der Vorrat ist unerschöpflich: selbst auf dem Markt liegt jeder Fisch und jedes Stück Fleisch auf Eis; jede Fischerdschunke geht eisbeladen in See und bringt ihren Fang eingefroren nach Tientsin; so groß ist der Vorrat.
Wein und Bier brachten wir mit; Sodawasser bereitete ein Engländer zu mäßigem Preise; man trank es eimerweise, denn der Durst war kaum zu löschen und das Wasser ungesund. Das Brunnenwasser des salpeterhaltigen Bodens kann Niemand trinken; so ist denn Tientsin auf den Lehmbrei des Pei-ho und des Kanales angewiesen, welche allen Unrat der Stadt aufnehmen; auch faulende Tierleichen und anderes Unsägliche schwimmen darin herum. Nicht einmal kann das Wasser in ruhigem Fluss seine dicken Bestandteile ablagern, denn die Flut staut es jeden Tag mehrere Stunden zu Berg, und bei Ebbe strömt es gewaltsam durch die lehmigen Ufer. Man klärt es gewöhnlich durch Umrühren mit einem Rohr, dessen durchbrochenes Ende mit Alaun gefüllt ist, oder wirft eine Handvoll davon in die großen Wasserkrüge. Dadurch werden aber die organischen Stoffe nicht zerstört. Vielfache unter der Garnison grassierende übel, auch den Bandwurm, für den sich kaum hinreichende Mengen des spezifischen Mittels herbeischaffen ließen, glaubten die Ärzte auf das Wasser schieben zu müssen. Der Chinese trinkt instinktiv seinen Tee und bleibt gesund, da Sieden des Wassers alle organischen Stoffe zerstört, während das bei den Engländern so beliebte Versetzen mit Branntwein keinen Schutz gewähren soll.
Unser erstes Bedürfnis in Tientsin waren Pferde; die weite Ebene lockte zu Ausflügen, und in der Stadt watete man bei Regenwetter bis über die Knie im Schmutz. Dem Gesandten stellte der Höchstkommandierende der englischen Garnison, General Staveley, ein Pferd arabischer Rasse aus dem indischen Regimente »Fane's horse« zur Verfügung; seine Begleiter kauften tartarische Ponys, teils von Offizieren, welche sie im Kriege erbeuteten, teils von chinesischen Händlern. Nützlichere Pferde mag es kaum geben: der Bau kräftig und edel, vom schönsten Ebenmaß der Glieder; der Huf unverwüstlich auf härtestem Boden; nur kranke werden vorn beschlagen. Bei der kärglichsten Nahrung bleiben diese Tiere frisch und brauchbar; sie traben zwar schlecht, gehen aber Schritt und Galopp ebenso ausgiebig als unverwüstlich. — Für gute Pflege sorgten chinesische Stallknechte unter Leitung eines englischen Trainsoldaten, den unsere gütigen Nachbarn vom Hauptquartier des »Kommissariat department« dem Gesandten zuwiesen. Diese Herren leisteten uns durch ihre im Laufe des Winters gesammelte Erfahrung und Kenntnis der Hilfsmittel die wesentlichsten Dienste und halfen über alle Schwierigkeiten des materiellen Lebens hinweg; nur der freundschaftliche Verkehr mit ihnen und anderen Offizieren der englischen Garnison machte uns den Aufenthalt in Tientsin erträglich, der doch Allen ein gelindes Fegefeuer schien.
An englischen Truppen standen im Sommer 1860 noch gegen 3800 Mann in Tientsin, nämlich das 2. Bataillon des 60. Regiments (Rifle brigade), Abteilungen des 31. und des 67. Infanterie-Regiments, das Reiter-Regiment »Fane’s horse«, zwei Batterien, eine Kompanie Ingenieure und eine Abteilung Train. Sie waren ausschließlich in der Stadt und den Vorstädten des rechten Flussufers einquartiert, während die französische Garnison, ein Bataillon Infanterie, zwei Batterien, eine Kompanie Genietruppen und einige Gendarmen das andere Ufer bewohnten. Mit dem französischen General O’Malley trat der Gesandte in keine Verbindung; dagegen besuchten General Staveley und die Herren seines Stabes, so wie die Kommandeure und viele Offiziere aller englischen Truppenteile ihn gleich nach seiner Ankunft. Mit ihnen entspann sich, wie gesagt, ein reger geselliger Verkehr, und kaum verging ein Tag, an welchem nicht englische Offiziere bei dem Gesandten, oder Mitglieder der Gesandtschaft in einer der Offiziersmessen gespeist hätten. Auch an ihrem Sport und anderen Vergnügungen, mit denen sie tapfer den Missmut bekämpften, nahmen wir tätigen Anteil.
Besonderes Interesse bot Fanes indisches Reiter-Regiment. Der Kommandeur hatte dasselbe als junger Offizier in Indien angeworben und bekleidete damals in der englischen Armee noch Hauptmannsrang, ist aber nachher schnell avanciert. Die Offiziere waren Engländer, nur ausnahmsweise wurden Asiaten zu Lieutenants befördert. Siks, Hindustani, Afghanen und Perser, lauter Edelleute und Fürsten in ihrer Heimat, bildeten die Mannschaft der 350 Pferde starken Truppe, die einen riesigen Tross von Leibdienern, Stall- und Futterknechten mitführte; denn die vornehmen Krieger ließen sich bedienen. Die größte Schwierigkeit machten dem Kommandeur die Eifersucht, der nationale und religiöse Aberglauben der verschiedenen Stämme, da Viele nach der heimatlichen Sitte ihre Kaste verloren, wenn sie mit Fremden oder Geringeren aßen; er übte jedoch unbedingte Autorität und bezwang durch die Macht seiner ritterlichen Persönlichkeit jeden Widerstand. Den Siks verbietet ihr sonderbarer Kultus, sich das Haar zu schneiden, Tabak zu rauchen und anderes Fleisch zu essen als von selbst getöteten Tieren: lebendig mussten ihnen die Hammel zugeführt werden, welche sie eigenhändig köpften; Bart und Haar hingen, wenn sie es auf unsere Bitten einmal aus Turban und Kleidung hervorzogen, bis zum Boden herab. Neben ihnen zeichneten sich die Afghanen durch hohe schlanke Gestalt und edel geschnittene Züge aus, die meisten von dunkler, fast schwarzbrauner Hautfarbe und vornehm kriegerischer Haltung. Die Uniform war einfach und kleidsam: hohe Stiefel, weite Hosen und Tunica von leichtem dunkelblauem Wollstoff, die um den Leib geschlungene Schärpe und der faltige Turban scharlach; Patrontasche und Bandolier von schwarzem Leder mit Silberbeschlägen und den Buchstaben F. H., Fane’s Horse; die Waffen krumme Säbel und Bambuslanzen. Das Zaumzeug ist englisch, mit scharfem Gebiss, der Sattel bequem gepolstert; vorn wird der zweite Anzug über die Pistolenhalter aufgeschnallt, hinten ein Kochgeschirr und Steckpfähle. Besonders malerisch stand den dunklen Reitern ihre außerdienstliche Tracht von schneeweißem Musselin, und der Turban aus demselben Stoff oder buntem Kaschmirschal, in mächtigen Falten um die braunen Schläfen gewunden, unter denen feurige Augen hervorblitzten.
Zwei Kompanien des Regimentes hatten südlich von der Stadt ein Lager bezogen: dort standen vor den Zeltreihen ihre Pferde, den einen Hinterfuß und den Halfter an Picketpflöcke gefesselt, meist edele Tiere arabischer und australischer Zucht; viele litten noch an Wunden aus dem Kriege, die schlimmer gewesen wären, wenn die Tartaren scharfe Säbel geführt hätten. Entsetzliche Narben und Verkrüppelungen zeigten die Gliedmaßen der mit Herrn Parkes und Lieutenant Anderson gefangenen Reiter, der wenigen, welche die ruchlosen Misshandlungen der Chinesen überlebt hatten. Die tief in das Fleisch schneidenden Stricke und Ketten hinterließen Höhlungen bis auf den Knochen, die niemals wieder zuwachsen konnten.
Zahllose indische Knechte trieben sich bei dem Lager herum, halbnackt oder in geraubten Trachten, von Gold und bunter Seide strotzend. — Beim Besuch des Gesandten zeigten die Reiter ihre Meisterschaft in der Lanzenführung. Ein Zeltpflock wird in die Erde gerammt; der Reiter naht in gestrecktem Galopp und hebt mit kräftigem Stoß den Pflock aus dem Boden. Die Lanze nur für den Augenblick senkend, trafen die Behänden doch jedes Mal; dabei lag der Körper fast waagrecht. Dass sie den Sitz behielten, zeugte sowohl von festem Schluss als von Kraft und Biegsamkeit des Handgelenkes; denn die Lanze muss im Nu aus dem Boden gerissen werden, wenn sie nicht brechen oder den Reiter vom Pferde schleudern soll. Jeder führte die Waffe anders; es war kein eingelerntes Exerzitium.
Große Kraft und Gewandtheit bewiesen Fanes Reiter auch bei anderen Übungen, besonders im Schwingen mächtiger Keulen, womit sie sich im Hofe eines zum Stall umgewandelten Tao-Tempels oft die Zeit vertrieben. Dort blickte aus der reichen Architektur der Haupthalle eine Reihe fratzenhafter Goldgötzen auf die glatten Rosse nieder, ein sonderbares Bild. Die Engländer nannten ihn Teufelstempel. — Sie richteten die meisten Tempel und öffentlichen Gebäude zu Kasernen und Ställen ein, und gaben damit gar kein Ärgernis. Die Bevölkerung entging so der Einquartierung, wurde überhaupt von den englischen Militärbehörden auf das Äußerste geschont und zog reichen Gewinn von der Garnison. Holz- und Wassertragen, das den Franzosen gar nichts kostete, verursachte den Engländern, die Alles bezahlten, enorme Ausgaben, ebenso vieles andere. Am meisten profitierten die ärmeren Stände. So war denn auch das Verhältnis mit den Chinesen durchaus freundschaftlich. Die Afghanen und Perser fanden als Moslems zu ihrem Erstaunen viele Glaubensgenossen in Tientsin, welche sie in der Moschee begrüßten. — Dem bunten Treiben auf der Gasse verliehen die malerischen Gestalten von Fanes Reitern besonderen Reiz. Hier störte nicht, wie in Schanghai, das europäische Element; denn selbst die englischen Offiziere, welche außer Dienst keine Uniform tragen, kleideten sich ohne Rücksicht auf Konvenienz nach Laune und Behagen: Wasserstiefel, Kaschmirschals, Jagdröcke, Turbane und bunte Halstücher bildeten die lustigsten Trachten. — Fanes Offiziere blieben in Tientsin ihren indischen Gewohnheiten treu, die durchaus zum Klima passten. über dem Esstisch ihres Messraumes, — einer Tempelhalle — hing die unvermeidliche »Punka«; 5) mehrere Offiziere hatten solche auch über ihren Betten angebracht; die Schnur, an welcher der Punka-Junge die Nacht über arbeitete, war dann durch die Wand geführt, und, damit sie lautlos ging, an dieser Stelle durch ein seifenbeschmiertes Rohr ersetzt.
Nicht weit von Fanes Reitern lagerte eine Armstrong-Batterie, deren Hinterlader, damals neu, die Aufmerksamkeit der militärischen Attachés erregten. Von ihrer Genauigkeit gewannen dieselben bei den Schießübungen keine große Meinung; dagegen war die Bespannung vortrefflich.
Am 24. Mai, dem Geburtstag der Königin Victoria, sahen wir die ganze englische Garnison. Die große Parade wurde auf dem Exerzierplatz unter der südlichen Stadtmauer abgehalten, wo die Truppen nachmittags zunächst in Linie aufmarschierten: auf dem linken Flügel die Artillerie, dann Fane’s horse, die Ingenieure, Infanterie, und auf dem rechten Flügel der Train. Nach dem königlichen Salut, dreimal sieben Kanonenschüssen, und dreimaligem Reihenfeuer der gesamten Infanterie brachte die Mannschaft Ihrer Majestät ein dreifaches Hurra. Der Gesandte ritt mit General Staveley und dessen Stabe die Front hinunter und hielt dann bei der königlichen Standarte, — welche die Offiziere fünfzehn Fuß breit aus chinesischer Seide hatten fertigen lassen, — um den Vorbeimarsch zu sehen. Das erste Mal gingen die Kavallerie und die Artillerie im Schritt, die Infanterie in Kompaniefront vorbei; das zweite Mal die Reiter und die Batterien im Galopp, die Infanterie, auf halbe Distanzen aufgeschlossen, im Geschwindschritt. Alle Truppen sahen trotz dem Feldzuge und sechsmonatlichem Aufenthalt in der Schmutzhölle Tientsin vortrefflich aus; vor Allem gefiel uns aber das malerisch-kriegerische Aussehen von Fanes brauner Reiterschar. — Die Geschütze nahmen, mit chinesischen Maultieren bespannt, im Galopp ohne Anstoß einen breiten Graben.
Keine geringe Aufgabe war es für die Offiziere, der Mannschaft und sich selbst den Aufenthalt in Tientsin erträglich zu machen, wo sie schon den Winter verlebten. Vorzüglich um die Soldaten in guter Stimmung zu erhalten, richteten sie mit erheblichen Kosten ein Theater ein, wo sie abwechselnd mit denselben spielten. Tragisches, Melodramatisches, Parodien, Lustspiele und Possen kamen auf die Bretter; es fehlte auch nicht an Dichtern, die Couplets machten voll Anspielungen auf den Krieg und den Garnison-Klatsch. Den Soldaten zuliebe spielten auch die Offiziere oft Rührstücke mit zarten Frauenrollen, bei denen sie selbst wohl Tränen lachten, während Jene Alles sehr ernst nahmen; ihr eigenes Vergnügen fanden sie an der Komik, und zeigten dazu vorzügliche Begabung. Possen gaben sie meisterhaft, auch die Frauenrollen, zu denen sich junge Offiziere fast verführerisch aufzuputzen wussten. — Das Lokal war ein den Offizieren der Garnison vom Oberkommando als Ressource überwiesenes chinesisches Theater; sie statteten die Bühne mit selbstgemalten Dekorationen aus und richteten ein Orchester ein. Im Zuschauerraum standen vorn einige Bänke für die Offiziere; das weite Parterre dahinter besetzten die Soldaten. Oft mussten die Vorstellungen wiederholt werden, um dem Andrang zu genügen. Kostüme und Requisiten waren glänzend; aus den mäßigen Eintrittspreisen konnten die Kosten kaum bestritten werden, die Unternehmer schossen wohl namhafte Summen zu, und leisteten wahrhaft Erstaunliches.
Zur Pflege des Sport hatten die englischen Offiziere einen Club gestiftet, den sie mit indischem Ausdruck Džim-kana nannten. Graf Eulenburg und seine Begleiter wurden gleich nach ihrer Ankunft zu Ehrenmitgliedern berufen und wohnten regelmäßig den Wettrennen bei, welche der Club jeden Sonnabend veranstaltete. Die Rennbahn war südlich von Tientsin innerhalb San-ko-linsin’s Umwallung abgesteckt, wo in geräumigem Zelt die Zeichnungen angenommen und alle strengen Regeln des Sport in bester Form gehandhabt wurden. Oft liefen die Wetten zu bedeutender Höhe: da gab es Rennen für arabische, englische, australische, tartarische Pferde, Hürdenrennen, Handikaps, Steeple chase, doppelten Sieg u. s. w. Zuweilen wurden Taubenschießen, Lotterien und anderer Zeitvertreib zwischen den Rennen eingeschoben. Wie jeder Brite nahmen auch hier die Soldaten den lebendigsten Anteil; fast die ganze Garnison pflegte sich auf dem Rennplatz einzufinden, ein buntes lustiges Treiben. — Auch Cricket spielten die Engländer mit großer Leidenschaft und Gewandtheit.
Des Gesandten Hausstand bildeten in Tientsin außer seinen deutschen Dienern ein chinesischer von Schanghai mitgenommener Koch und fünf eingeborene Hausknechte. Sechs Seesoldaten von der Arkona dienten als Ordonnanzen. Die drei Attachés, Dr. Lucius und Maler Berg wohnten beim Gesandten als dessen Gäste; andere Expeditionsmitglieder, die nur vorübergehend nach Tientsin kamen, wurden in einem zweiten zu diesem Zweck gemieteten Hause einquartiert. — Unser Leben passte sich dem Klima an: morgens ging Jeder seiner Beschäftigung nach; um elf Uhr war gemeinschaftliches Frühstück, die Hauptmahlzeit nach sieben, später sogar erst um halb neun in dem durch Papierlaternen erhellten Hofe. — Gegen sechs Uhr ritten wir fast täglich mit dem Gesandten aus und kamen erst kurz vor Tisch nach Hause. Nach allen Richtungen wurde die Umgebung durchstreift.
Dörfer gibt es bei Tientsin nur an den Wasserläufen, doch ist auch in anderen Richtungen das Land gut angebaut, und es nimmt Wunder, wie die Bestellung oft auf so große Ferne geschieht. Ende Mai, als die Staubwinde nachließen, spross das Grün in erstaunlicher Fülle. Viele Stellen blieben, mit Salz oder Salpeter gesättigt, den ganzen Sommer kahl; silbern glänzten dort die Kristalle an der Oberfläche, so dass der Boden wie bereift schien. Die meisten Äcker hatten, mit Gerste und Zwiebelgewächsen bestellt, Einfassungen von Bohnen. Bei der Gersten-Ernte, Ende Juni, kamen weder Sichel noch Sense in Anwendung; der Landmann riss die Halme mit der Wurzel aus und warf sie auf Schiebkarren. Sieben Wochen vergingen vom Umpflügen bis zur Ernte, und man schritt dann gleich zu neuer Bestellung, um eine zweite zu gewinnen. In den Gärten am Wasser gedieh der Pflanzenwuchs zu tropischer Üppigkeit; dort rankte der Weinstock an freien Spalieren, wuchsen prächtige Weiden, Sophora japonica, Rhamnus zizyphus und andere Bäume in gesunder Kraft. Als die Ebene grünte, fiel ihre Baumlosigkeit doppelt auf; der Salpeter des Bodens soll allen Pfahlwurzeln verderblich sein. Der Horizont gleicht ringsum der Meereslinie; nur einmal sahen wir, wahrscheinlich durch Luftspiegelung, im Westen einen Höhenzug, wo sonst die Ferne ganz eben erschien. — Eine malerische Staffage bilden die zweirädrigen Karren, die man überall trifft: der sorgfältig gefügte Kasten trägt gewöhnlich ein gewölbtes, mit blauem Stoff bezogenes Schutzdach; in der Schere geht ein starkes Maultier, vor welches häufig ein zweites gespannt wird. Ein Sonnensegel schützt das Tier und den Kutscher, der mit baumelnden Beinen auf einem Schaft der Schere sitzt. Nur eine Person findet bequem Platz, aber keinen bequemen Sitz in der Karre; denn man kauert am Boden und empfindet jeden Stoß des federlosen Fahrzeuges weit heftiger, als auf einer Bank. — Segelnde Schiebkarren, die von anderen Reisenden beschrieben werden, sind bei Tientsin selten; das etwa drei Fuß breite Segel wird durch Schnüre in der Hand des Schiebenden gelenkt.
So sehr wir auf den täglichen Ausflügen von Staub und Hitze litten, so war es doch immer Gewinn, den Wohlgerüchen der Stadt zu entrinnen. Die englischen Kommandeure suchten vergebens die Chinesen zu Reinlichkeit anzuhalten; in den engen dunklen Gassen stagnierten die ekelsten Dünste. Auf den Müll- und Kehrichthaufen vor den Häusern wälzen sich nackte schmutzige Kinder und kranke Haustiere; an allen Ecken kauern Bettler, von Schmutz und Elend strotzend; Krüppel mit jammervoll verzerrten Gliedmaßen, mit offenen Beulen, Geschwüren und Ausschlag kriechen winselnd von Lager zu Lager, räudigen Hunden und Schweinen die aus dem Unrat aufgewühlten Abfälle streitig machend. Im Stadtgraben stand dicke schwarze Jauche, mephitischen Qualm atmend. Nach Regengüssen unergründlicher Koth, oft fußhohes Wasser: alle Abzugsgräben waren verstopft, und wenn die Sonne in den Brei schien, wurde der Gestank unerträglich. Dazu ein dichtes Gewühl schreiender Krämer und Hökerer; Büßer, die jämmerlich heulend, mit einer Schuhsohle die bloße Brust schlagen, Lastträger und Wasserkärrner, die sich brüllend Bahn brechen, englische Soldaten, die auf Eseln im Galopp durch das Gewimmel zu jagen suchen. Man drängt sich mühsam durch und streift viel unsaubere Gestalten. Wehe dem, der einer Sänfte oder einem Leichenzuge begegnet; er muss umkehren oder sich in die Häuser drücken. Die Vermögenden werden mit Gepränge bestattet; ein bunter Haufen schreitet voran, Stangen mit Emblemen, Fahnen, Flitterkronen und reichgestickte Baldachine tragend; dann folgen Musikanten mit Becken, kleinen Trommeln und Gongs, Dudelsäcken und riesigen Hörnern, welchen gedehnte Trauerklänge entlockt werden; bei aller Dissonanz wird ziemlich rhythmisch gespielt. Den mit Seidenzeugen verhängten Sarg tragen wohl zwanzig Männer auf einer Bahre; dahinter folgen die Leidtragenden weißgekleidet in weiß bezogenen Sänften.
Wo ein Plätzchen frei ist auf der Straße, sitzt ein Hökerer mit Leckereien und einem Glücksspiel; denn die Chinesen sind eingefleischte Spieler. Das Kind, das einen Heller zu vernaschen hat, wagt unfehlbar den wahrscheinlichen Verlust, in der Hoffnung, über seinen Wert zu gewinnen. Zuweilen ist es eine Drehscheibe nach Art des Roulette, gewöhnlich aber ein Becher mit Holzstäben, ähnlich den Orakelbechern auf den Tempelaltären; am unteren Ende der Loos-Stäbe steht das Schicksalszeichen. Der Hang zu Glücksspielen lebt in allen Volksklassen: zu heißen Tagesstunden findet man in schattigen Winkeln Haufen zerlumpter Bettler, leidenschaftlich in ihre schmutzigen Karten vertieft; oft setzt es da wütenden Zank und Schlägereien. — Das furchtbare Elend, das in Tientsin allerwärts zu Tage liegt, veranlasste die englischen Offiziere zu einer Geldsammlung; 900 Dollars kamen zur Verteilung, bei welcher mehrere Empfänger erdrückt und zertreten, andere von leer ausgehenden Bettlern erschlagen wurden. Dem Notstand ist nicht zu steuern, und das Übergewicht des besitz- und obdachlosen Proletariates ist für China eine Gefahr, die bei der kleinsten Erschütterung an das Licht tritt; die Executive wäre nimmer fähig, diese Maßen im Zaum zu halten, wenn sie ihre Kräfte kennten, bewusste Zwecke und tüchtige Führer hätten. — Es gibt in China verschiedene Klassen von Bettlern. Den vornehmsten Rang behaupten die rüstigen, gesunden, die wohl Kraft aber keine Lust haben zur Arbeit; sie leben in Banden, stehlen — und morden vielleicht — wo sie können, und beschließen oft ihre Tage unter Henkers Hand. Zuweilen sammelt sich solche Schar vor einem Kaufladen, verstopft den Eingang, hämmert mit Steinen und Stöcken auf den Ladentisch oder stimmt ein klägliches Geheul an, und lässt keine Käufer durch, bis der gefolterte Krämer sie abfindet. — Die Witwen mit vaterlosen Waisen, deren Verwandtschaft wohl nicht immer zu beweisen wäre, bilden eine andere Gattung; ferner die Alten, Kranken, Blinden, Lahmen und Verwachsenen, die teils wirklich Mitleid verdienen, teils ihre Schäden künstlich erzeugen und pflegen. Dann gibt es Erzähler, Sänger und Zitherspieler, — die vielfach blind, durchgängig aber reinlicher und besser gekleidet sind als die anderen Bettler.
Abends brennen vor Läden und Schenken bunte Laternen; die Bewohner sitzen schwatzend in den Türen; das lärmende Treiben hat aufgehört, und die Gassen machen, in mildes Dämmerlicht getaucht, den behaglichsten Eindruck. Hier und da versammeln sich Gruppen um einen Erzähler, der, hinter beleuchtetem Tische stehend, seine gemessene Deklamation mit emphatisch graziösen Fächer-Schwenkungen begleitet: man hört ihm andächtig zu.
Die ärmeren Klassen bewohnen niedrige Häuser aus Lehm und Holz, teils mit Ziegeln, teils mit Stroh gedeckt, über welchem eine dicke Lage geglätteten Lehmes liegt; ein Obergeschoss haben nur wenige. Es gibt auch flache Dächer aus grauem mit Asphalt gemischtem Mörtel. In den besseren Gassen ist jedes Haus ein Kaufladen: geschnitzte, vergoldete, gemalte Schilder mit Inschriften, Ladenzeichen und Emblemen bieten dicht beieinander hängend den buntesten Anblick; zuweilen stehen hohe Steinpfeiler, das Dach um das Doppelte überragend, vor den Läden, mit elegant gemeißelten Schriftzeichen und einem Zierrat auf der Spitze, der ein niedliches Häuschen darstellt. — Die besten Kaufläden lagen in der Hauptstraße der nordöstlichen Vorstadt; da gab es Kramläden aller Art, Seiden-, Gold-, Pelz-, Schuh- und Kleiderläden. In letzteren, wo meist gebrauchte Kleider verkauft wurden, war fast beständig Auktion; eine gaffende Menge pflegte davor zu stehen; der Ausrufer hatte einen großen Kleiderhaufen neben sich liegen, hob, mit lauter Stimme den Preis hinausschreiend, ein Stück nach dem andern in die Höhe und legte es, wenn Niemand bot, auf einen anderen Haufen. So ging es Tag für Tag, und so kam, obgleich nur Einzelnes gekauft wurde, wohl an jedes Stück einmal die Reihe. Mehrere dieser Handlungen liegen oft nebeneinander, und die Ausrufer trachten einander zu überschreien. Auch Zopfläden gibt es in dieser wie in allen belebten Straßen chinesischer Städte; denn ein schöner bis zu den Knien herabhangender Zopf, gleichviel ob falsch oder echt, ist der Stolz jedes Chinesen.
Uns fesselten nur die Trödelbuden, wo Gegenstände von Bronze, Lack, Porzellan, Glasfluss, Email, Jade und anderem kostbarem Stein zu Kauf standen. Manchmal fand man wertvolle Stücke; die Anhäufung von Gegenständen aus den verschiedensten Blüteperioden war lehrreich für die Kenntnis des chinesischen Kunsthandwerks. Da standen nebeneinander Gefäße aus der Zeit der älteren Dynastien, der Min und der Tsin, jede Periode mit deutlich ausgeprägtem Typus der Form, Zeichnung und Malerei. In großer Menge waren die früher gebräuchlichen Mandarinenzepter von grünem Jade, Sandelholz oder rotem Lack vorhanden, viele von ausgesuchter Arbeit. Teekannen von Thon, Porzellan, Metall spielten auch hier eine Rolle; die Bronzen, meist fratzenhafte Tiergestalten und Götzen, Rauch- und Kohlengefäße, kommen an Schönheit weder der Form und Arbeit, noch des Metalls den japanischen gleich. Von Jade, dem kostbaren Stein aus Turkestan, welchen der härteste Stahl nicht ritzt, sahen wir vollendete Arbeiten, die jeder Sammlung würdig, aber sehr teuer waren; der Wert richtet sich in China vorzüglich nach der Farbe, welche milchig weiß, gelblich, hell- oder dunkelgrün ist; am meisten schätzt man den Farbenton frisch angeschnittenen Spezkes. Aus diesem Stein und aus Porzellan gefertigt standen in jeder Trödelbude Hunderte kleiner Fläschchen von der Länge und Dicke eines Daumens: das sind die chinesischen Schnupftabaksdosen, in denen großer Luxus getrieben wird Sie veranlassten in neuerer Zeit einige Aufregung unter den Ägyptologen, da Altertumshändler in Kairo solche unter dem Vorgeben verkauften, dass sie aus antiken Gräbern stammten. Nun lässt sich aber der viel neuere Ursprung dieser Gefäße durch Vergleichung nachweisen, und es möchte schwerlich gültiges Zeugnis beizubringen sein, dass deren wirklich in Gräbern gefunden wurden. Der Verkehr beider Länder in uralter Zeit, den man daraus folgern wollte, ist gewiss eine Fabel; und wenn solche Fläschchen vor Einführung des Tabaks in China anderen Zwecken dienten, so mögen deren durch arabische Reisende nach Ägypten gelangt sein, aber nicht früher.
Wir sahen Porzellan, auch Craquelé der verschiedensten Art: da waren ältere Gefäße von einfacher, fast strenger Form mit steifer markiger Zeichnung, italienischem Trecento ähnlich; dann Vasen aus der Min-Zeit, mit schönem Blumen-Ornament auf dunkelrotem Grunde und figuristischen Darstellungen von reicher Komposition, höchster Anmut in Ausdruck und Gebärde, und zartester Ausführung; andere mit tiefglühender unter der Glasur eingebrannter Malerei, deren technisches Geheimnis jetzt auch in China verloren zu sein scheint. Es gibt jedoch solcher farbenprächtiger Gefäße noch aus Kien-lons großer Zeit, die, ihr eigenes Gepräge tragend, sich in Darstellung reichen Blumenschmuckes auf hellem Grunde gefiel. Besonders merkwürdig sind viele Emails dieser Periode, die, nach französischen Zeichnungen gefertigt, Landschaften mit Schäferszenen im Geschmack von Watteau und Lancret darstellen; man könnte an ihrem chinesischen Ursprung zweifeln, wenn kein Fabrikzeichen vorhanden wäre. Von dieser Art glatter Emaille strotzten alle Trödelbuden in Tientsin, ebenso von derjenigen, welche nur stellenweise auf Goldbronze angebracht, sich vorzüglich an Tempelgerät, Leuchtern und Rauchgefäßen findet. Die seltenste und teuerste ist die »Cloisonné« genannte Gattung, die, vor 1860 in Europa wahrscheinlich nur durch wenige Stücke vertreten, selbst vielen Sammlern kaum bekannt war. Erst die Plünderung von Yuan-min-yuan förderte Schätze davon zu Tage, die sich seitdem rasch über Europa verbreiteten. Beim Cloisonné bilden Linien von Goldbronze die Umrisse der Zeichnung; die Zwischenräume sind mit Glasfluss von großer Härte und den herrlichsten Farben ausgefüllt; es ist, im Gegensatze zur Malerei des glatten Email, eine Art Mosaik. In China muss die Technik durch viele Jahrhunderte geübt worden sein, denn auch in dieser Gattung lässt sich sowohl in der Form der Gefäße als in Zeichnung und Charakter des Ornamentes, Konsistenz und Farbe des Glasflusses das Gepräge weit auseinanderliegender Blüteperioden nachweisen. Einen solchen Reichtum an Produkten des chinesischen Kunstfleißes aller Zeiten, wie damals in Folge der Plünderung von Yuanmin-yuan die Läden von Tientsin und Peking, hatten vielleicht niemals chinesische Städte aufzuweisen. Man brachte dort, eine Tasse Tee nach der anderen schlürfend, manche angenehme Stunde zu, und wiederholte gern den Besuch, neue Erwerbungen zu sehen. Die Konkurrenz der Engländer schraubte die Preise weit über ihr landesübliches Niveau, doch ließen sich, im Vergleich des Wertes in Europa, noch vorteilhafte Ankäufe machen. Das Beste besaßen freilich die englischen Offiziere, die es teils von französischen Soldaten, teils aus der nach der Plünderung im Lager bei den Lama-Tempeln gehaltenen Auktion erstanden, Vieles auch von Chinesen kauften. Wir sahen bei ihnen auch herrliche Stücke, die sie in den Tempeln und Pfandleihen verlassener Ortschaften und selbst in Yuan-min-yuan erbeuteten; denn als Lord Elgin die Zerstörung des Sommerpalastes beschlossen hatte, durften englische Offiziere dort vorher eine Nachlese halten, deren Ertrag nicht zur Versteigerung abgeliefert wurde.
Öffentliche Gebäude von Bedeutung gibt es kaum in Tientsin. Die reichste Architektur zeigen die Tempel und ihre Portale, die meist im Häusergewirr eingeengt liegen; einige haben lange Avenuen, mit mehreren Pforten aus lackiertem Holz mit Ziegeldächern. Oft bilden die Portale ansehnliche Gebäude mit Obergeschoss und Altan, mit geschnitzten, gemalten, vergoldeten, Balustraden, Friesen und Zierraten; hölzerne Säulen tragen die schwere geschweifte Ziegel-Bedachung, deren hohe First und herablaufende Kanten aus feinem Mörtel gezogen, mit aufgerollten Drachenschwänzen und grotesken Tieren geschmückt sind. Andere Pforten bilden vier in einer Linie stehende durch Querbalken verbundene Holzsäulen, zwischen welchen unter dem künstlichen Dachstuhl Rahmen mit durchbrochenem Schnitzwerk und Inschriften eingefügt sind. 6) Solche Portale stehen oft seitlich in der Straße, von welcher ein reichverziertes Mäuerchen den Tempelzugang scheidet. Hohe rote Masten, an denen bei Festlichkeiten bunte Banner und Laternen hängen, sieht man bei jedem größeren Tempel.
Das Innere der Tempel in Tientsin gleicht den früher beschriebenen; der merkwürdigste ist der in der Nordwest-Ecke der Stadt gelegene, von den Engländern »Tempel der Gräuel« benannte. In mehreren Seitengebäuden des Vorhofes sind dort die Strafen des Jenseits durch geschnitzte roh angestrichene Holzfiguren grauenhaft versinnlicht. Da wird ein Mann mitten durchgesägt, einer Frau die Zunge, einer anderen die Brust ausgerissen u. s. w. Das Haupt-Idol, eine roh angestrichene Holzpuppe, soll einen berühmten Kaiser darstellen. — An Festtagen kamen viele Büßer, gelbe oder rote Papierblätter vor der Stirn, auf denen wahrscheinlich ihr Sündenregister stand, und Bündel glimmender Rauchkerzen in den Händen; mit scheinbarer Zerknirschung warfen sie sich, die Glieder verrenkend, vor dem Altar nieder. Andere rutschten auf den Knien die mehrere hundert Schritt lange Steinbahn bis zum Tempel hinan, einen Ziegelstein vor sich umkantend, um dann den Körper nachzuziehen. — Im innersten Heiligtum tobte das Volk ohne Scheu und Ehrfurcht, ein roher Haufen voll Schmutz und Elend.
Einigen Reiz bot bei günstigem Wetter ein Spaziergang auf der Ringmauer, da man, mit einigem Klettern über eingesunkene Stellen, um die ganze Stadt wandern konnte. Nach außen schweift der Blick über die Vorstädte, den Mastenwald im Pei-ho und die grenzenlose Ebene; im Innern ragen aus dem Häusermeer nur das Torgebäude im Mittelpunkt, einige Tempelportale, Flaggenmasten und viele Mattendächer, welche im Sommer über Höfen und öffentlichen Plätzen aufgebaut werden. Das hohe Mastengerüst trägt ein leichtes Rahmenwerk aus Bambus, auf welchem die Mattenbedachung liegt; an die Ost- und die Westseite lehnen schiefliegende Gerüste, deren Mattenwandung nach Bedürfnis durch Schnüre aufgerollt werden kann. Ohne diese Schutzdächer machte die brennende Sonne den Aufenthalt im Freien unmöglich. — Man blickt von der Stadtmauer in viele Höfe, wo unter dem Staube Wein und Akazien grünen; besonders anziehend war die Aussicht vom Osttor in die belebte nach dem Mittelpunkt der Stadt führende Hauptstraße. 7) In den Torgebäuden und den Ecktürmen lagen Maßen alter Pickelhauben, Säbel und Uniformstücke, modernde Klumpen von Rost und bunten Lappen.
Anfangs verleidete der mephitische Hauch des Stadtgrabens die Spaziergänge auf der Mauer; General Staveley ersuchte den Tau-tae vergebens, die Pfütze räumen zu lassen. Im Mai sollten aber die öffentlichen Prüfungen des Bezirkes in der von den Engländern zur Kirche eingerichteten Examinationshalle stattfinden, und die Stadtbehörden baten, das Gebäude nach seiner Bestimmung benutzen zu dürfen. Das erlaubte General Staveley unter der Bedingung, dass sie den Graben räumten. — Die Prüfungen wurden gehalten; die Namen der Bestbestandenen prangten bald an allen Straßenecken, und unsere Nasen atmeten freier.
Da die in der Stadt liegenden Truppen zu ihrem Exerzierplatz immer einen langen Weg durch übelriechende Gassen hatten, so ließ General Staveley ein Stück der südlichen Stadtmauer einreißen; der kürzeste Weg führte durch diese Bresche. Nach einigen Tagen erschien eine Deputation bei dem General: er gebe durch Niederlegung der Mauer die Stadt der Vernichtung preis; denn die Genien des Feuers stürmten aus Süden heran und verzehrten alles, was auf der geraden Linie ihres Weges läge. — In der Tat haben alle südlich gewendeten Stadttore in China keinen direkten Zugang von dieser Seite; immer ist ein Hof vorgebaut, in den man seitlich von Osten oder Westen einbiegt, so dass der Weg eine Schlangenlinie beschreibt. Nun waren unmittelbar nach Niederlegung jenes Mauerstückes sieben Feuersbrünste im Innern der Stadt ausgebrochen, und, des alten Aberglaubens eingedenk, geriet die Bevölkerung in arge Bestürzung. General Staveley wurde gebeten, wenigstens einen Hof mit seitlichem Eingang vor die Öffnung bauen zu lassen, überließ das aber den Chinesen, die sich nach Belieben schützen möchten.
Feuersbrünste gab es bei der starken Hitze vielfach. So gingen in der Nacht zum 7. Mai die französischen Artillerie-Ställe jenseits des Flusses in Flammen auf. Obwohl Hilfe gleich zur Hand war, verbrannten neunundzwanzig Pferde; andere, die man loskoppelte, rasten scheu durch die Gassen und rannten viele Chinesen um. Zum Glück war die Munition der beiden Batterien, bis dahin in einem Hause neben den Ställen untergebracht, das gleichfalls abbrannte, den Tag vorher zum Transport nach Ta-ku in eine Dschunke verladen worden; so entging die Stadt einer großen Gefahr. — Am 12. Juni mittags brach Feuer im Messlokal des englischen 67. Regimentes aus und wuchs so schnell, dass weder Tischgerät noch Vorräte zu retten waren. Das große Mattendach über dem Hofe brannte, von der Sonne ausgedörrt, wie Zunder lichterloh und strahlte solche Hitze, dass binnen einer halben Stunde alle umliegenden Gebäude, — die Mess- und Leseräume, Küchen und Vorratshäuser — Aschenhaufen wurden. Das Offizierkorps verlor dabei herrliche Tafelaufsätze aus der Beute des Sommerpalastes. — Die Chinesen, die große Passion für Feuersbrünste haben, erschienen zum Löschen in dichten Haufen und arbeiteten tapfer, lärmten aber noch mehr. Es geht dabei sehr lustig zu: vor jeder von zwei Mann getragenen Feuerspritze tanzen ein Dutzend Burschen in buntester Tracht, die rasend auf ihre Gongs schlagen, rote Fahnen schwenken und brüllend die wildesten Luftsprünge machen. Einige tragen rätselhafte Embleme. Das Toben soll wohl die Feuergeister verscheuchen; denn der Chinese ist über die Maßen wundersüchtig und packt alle Dinge von dieser Seite an. — Reizend ist das Schauspiel abends: dann erhellen tausend Papierlaternen die Gassen, teils einzeln auf Stöcken, teils als Gehänge an hohen Stangen getragen, oft in schirmförmiger Anordnung, — wobei an den einzelnen Stäben des Regenschirmes winzige bunte Lämpchen herabhängen, — und hundert phantastischen Formen. In solchen Erfindungen ist der Chinese Meister; Feuer- und Lichtglanz sind seine Wonne.
Bald nach der Ankunft in Tientsin brachen der Prediger Kreiher und Herr Wilhelm Heine aus New-York unter amerikanischem Pass mit einigen Missionaren nach Peking auf, von wo sie am 15. Mai zurückkehrten. Herr Heine ging am 29. Mai abermals dahin, um durch Sibirien nach Europa zu reisen, fand aber die von der chinesischen Regierung bereiteten Hindernisse unüberwindlich und kehrte am 28. Juni nach Tientsin zurück. Er blieb dort nur bis zum 3. Juli, ging dann von Ta-ku aus auf einer englischen Brigg nach Nagasaki und kam mit der preußischen Expedition in keine weitere Berührung. — Auch der Kaufmann Spieß machte einen kurzen Besuch in Tientsin und Peking, ging dann nach dem Süden und erwartete das Geschwader in Hongkong. — Der Photograph Bismarck arbeitete in Tientsin längere Zeit so angestrengt, dass er erkrankte und Anfang Juli auf die Arkona übersiedeln musste, die von Tši-fu Ende Juni nach der Pei-ho-Mündung zurückkehrte. — Bei den im Mai herrschenden Stürmen war ihr Aufenthalt auf der Reede von Ta-ku höchst unbequem und nutzlos, die Verbindung mit dem Lande oft Tage lang unterbrochen, noch schwieriger der Verkehr mit Tientsin gewesen. Gingen nicht Kanonenboote, so musste die Strecke zu Lande gemacht werden, denn die lange Fahrt auf dem Fluss war für Ruderboote des Flutwechsels wegen selbst stromabwärts mühselig. Bei heftigem Winde liefen sogar Kanonenboote nur mit Gefahr über die Untiefen der Reede. Der englische Dampfer Sphinx, der Mitte Mai vor Ta-ku erschien, konnte mehrere Tage nicht einmal die Post landen. Eine reisbeladene Brigg strandete auf der Barre und wurde leck; der Reis quoll, das Schiff barst und wurde von den Wellen zerschlagen. Ähnliches geschah öfter. Da nun die Arkona vor Ta-ku den Zwecken des Gesandten gar nichts nützen konnte, so segelte Kapitän Sundewall am 15. Mai nach Tš-fu. Unterwegs begegnete er der Elbe und dirigierte sie ebenfalls dahin. Dort gestaltete sich der Aufenthalt sehr vorteilhaft; die Schiffe konnten nah dem Lande ankern; frische Lebensmittel gab es in Fülle; auf einer kleinen Felseninsel vor der Bucht ward ein Lager aufgeschlagen, wo immer ein Teil der Mannschaft campierte. Witterung und Örtlichkeit waren auch den Schießübungen und anderen Exerzitien günstig, so dass der Aufenthalt in Tši-fu, wo Arkona und Elbe später noch längere Zeit ankerten, nicht nur die gute Stimmung und die Gesundheit, sondern auch die militärische Ausbildung der Mannschaft wesentlich förderten.
Nachdem Arkona nach der Reede von Ta-ku zurückgekehrt war, kamen am 25. Juni Kapitän Sundewall, die Lieutenants zur See Behrend, Graf Monts und von Schleinitz und die Ärzte Dr. Eitner und Dr. Friedel auf kurze Zeit nach Tientsin. Dort begann die Hitze eben fürchterlich zu werden, und die Aussichten auf den Vertrag waren sehr trübe.
Das dem Gesandten gleich nach seiner Ankunft überreichte Schreiben des Prinzen von Kun meldete, dass Derselbe über die preußischen Anträge an den Kaiser berichtet und die Ernennung von zwei Kommissaren erwirkt habe, welche in Tientsin mit ihm in Verhandlung treten sollten. Als Hauptbevollmächtigter wurde Tsun-luen, Mandarin des roten Knopfes ohne Emblem, also ersten Ranges, Vize-Direktor der kaiserlichen Speicher, bezeichnet, einer der vier Staatsräte, die mit dem Prinzen von Kun das Ministerium des Auswärtigen bildeten; der zweite war Tsun-hau, Intendant des Handels und der Steuern in den drei nördlichen den Fremden geöffneten Häfen, welcher in Tientsin wohnte und die Beförderung des vom Attaché von Brandt überreichten Schreibens besorgt hatte. Tsun-hau, ein stattlicher Mann von 36 Jahren, ungezwungener Haltung und glatten Manieren, machte dem Gesandten am Tage nach dessen Ankunft einen Besuch, den er eine Viertelstunde vorher durch zwei Mandarinen vierter Klasse anmelden ließ.
Nach der gewöhnlichen Einleitung über das Wetter, des Gesandten Reise u. s. w. erklärte er, dessen Gegenwart sofort nach Peking melden zu wollen. Der erste Kommissar werde dann gleich in Tientsin erscheinen. Herr Wade, der Sekretär der britischen Gesandtschaft, hatte ihm von der nahen Verwandtschaft des preußischen und des englischen Königshauses erzählt; er knüpfte daran Fragen über die Lage und das Klima von Preußen, die Grenzbeziehungen zu Russland u. s. w. Auf der Karte von China war einer seiner Begleiter gut bewandert; Tsun-hau besah, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben, mit Staunen die nach Angaben des Konsuls Meadows darauf verzeichneten Züge der Tae-pin, die sich wohl über die Hälfte des eigentlichen China erstreckten. Er erzählte, dass San-ko-lin-sin in Šan-tun den Salz-Dschunken-Rebellen die Spitze biete, vermied aber von deren bedenklichem Vordringen gegen Peking und der Zusammenziehung von Truppen zu reden, die in Tientsin das Tagesgespräch waren. Tsun-hau gab sich als Tartaren zu erkennen, sprach jedoch fertig chinesisch: das müssten selbst alle in der Tartarei angestellten Mandschu-Beamten. — Graf Eulenburg glaubte damals noch, Tsun-hau seines Ranges wegen nicht als Bevollmächtigten zu politischen Verhandlungen anerkennen zu dürfen, empfing ihn deshalb nur wie einen zu seiner Begrüßung erscheinenden Beamten und vermied jede geschäftliche Diskussion; später zeigte sich, dass seine Stellung als Intendant des fremden Handels ihn allerdings zum Kommissar qualifizierte.
Am 5. Mai erwiderte Graf Eulenburg den Besuch mit dem Dolmetscher Herrn Marques und dem Attaché du jour. Die von Herrn Probst besorgte grüne Sänfte und die Kostüme der Träger leisteten auch in Tientsin gute Dienste. Es ging nach der inneren Stadt durch enge riechende Gassen. Am Eingang des Yamum stand Tsun-haus Kapelle, die den Gesandten mit Trompeten, Zimbeln und Klarinetten anschmetterte; von der Sänfte führte ihn der Wirt in ein auf den inneren Hof mündendes Gemach, wo der übliche Imbiss aufgetragen war; an den Wänden hingen gute Tier- und Blumenstücke; Luxus zeigte sich nur in der Menge der Diener, deren Anzüge reinlich und anständig waren, wie das ganze Haus. Die assistierenden Mandarinen dritten und vierten Ranges trugen lange Röcke von schwerer Seide, auf deren Brust und Rücken gestickte kaiserliche Drachen prangten, ebenso Tsun-hau, um dessen Hals eine lange Kette großer Email-Perlen hing. Seine Hände waren weiß und glatt, die Nägel wohl gepflegt, der des kleinen Fingers fast einen Zoll lang: das sind in China Zeichen des vornehmen Mannes, der seine Hände nicht brauchen darf. Am Daumen trug Tsun-hau einen breiten Ring von weißem Jade. Er unterhielt sich mit dem zu seiner Linken sitzenden Gesandten ungezwungen über Landessitten, Natur und Kunst. Die Kollation aus Früchten, Backwerk, Gemüse, Schinken und Süßigkeiten war auf zierlichen Schüsselchen angerichtet; das Eingemachte und überzuckerte Mandeln schmeckten gut, die meisten Gerichte aber recht fade. — Einige Tage nach diesem Besuch schickte Tsun-hau dem Gesandten ein gebratenes Spanferkel, zwei gebratene Enten, Kuchen, Früchte und kandierte Nüsse, und erhielt als Gegengabe einen Korb Champagner.
Am 8. Mai traf der erste Kommissar Tsun-luen in Tientsin ein und besuchte am folgenden Tage den Gesandten; ein kleiner beweglicher Mann von siebzig Jahren, dessen Antezedenzien von schlechter Vorbedeutung für die Verhandlungen waren. Ihn hatte man schon früher ins Feuer geschickt, wo es sich um Abweisung von Gesandten handelte; seine Berichte an den Kaiser über die 1854 mit Sir John Bowring gepflogenen Beratungen gaben angenehmen Aufschluss über seine Schätzung der Barbaren; Kaiser Hien-fun wusste, dass er sich keiner Inkonsequenz, keines Wortbruches schämte, wo es seinen Vorteil und Überlistung der Fremden galt. — Beim ersten Besuch sprach er mit großer Volubilität von seinen Geschäften: neben den Funktionen im Ministerium des Auswärtigen läge ihm die Versorgung der Hauptstadt mit Getreide ob; die Unsicherheit der Zufuhren, welche die Rebellen häufig abschnitten, machte ihm viel Sorge; Peking brauche jährlich 4,000,000 Pi-kul Reis. Auf die Frage, warum die Regierung nicht kräftiger einschreite, antwortete Tsun-luen, dass sie kein Geld habe, deutete auch an, dass der Himmel selbst sich einmischen werde. Er tat überhaupt sehr fromm, verdrehte bei Erwähnung der angeordneten Gebete um Regen die Augen und erhob feierlich die Hände: die furchtbare Dürre lasse schlechte Ernten befürchten. Die Rede kam auf die große Gefahr, in welcher die Stadt beim Brande der französischen Artillerie-Ställe schwebte: wer ein reines Gewissen habe, meinte Tsun-luen, dürfe getrost dem Schutze des Himmels vertrauen. — Eine Sentenz jagte die andere. — Als der Gesandte nach den Vollmachten forschte, beteuerte der Kommissar, dass er deren nicht besitze: nach Konstituierung eines Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, welches mit den fremden Gesandten zu verhandeln habe, sei spezielle Ermächtigung einzelner Mitglieder desselben nicht mehr erforderlich. Graf Eulenburg suchte ihm darauf den Unterschied in den Attributionen eines Ministerialrates und eines zum Abschluss von Verträgen bevollmächtigten Kommissars zu erklären: ausdrücklicher Vollmachten bedürfe es umso mehr, als Tsun-hau gar nicht Mitglied des Ministeriums sei; Vorbesprechungen möchten ohne Aufschub stattfinden; der Gesandte müsse aber den Prinzen von Kun um ausdrückliche und formelle Bevollmächtigung der Kommissare ersuchen, ehe er zu den Verhandlungen schritte. Das fand Tsun-luen durchaus billig: es werde auch keine Umstände machen, den Kaiser dahin zu vermögen; man wolle gewiss dem Reiche Preußen nicht versagen, was anderen Mächten gewährt sei. Er wünsche sehnlichst und hoffe, die Verhandlungen schnell zu glücklichem Ende zu führen, da ihn wichtige Geschäfte nach Peking riefen. — Tsun-luen hatte großes Gefolge von Mandarinen bei sich, deren mehrere bei den Attachés im Hintergebäude eintraten. — Als Graf Eulenburg am 10. Mai den Besuch erwiderte, machte Tsun-luen den höflichsten Wirt; er wohnte bei Tsun-hau. Musik und Frühstück glichen den früheren Leistungen. Der Gesandte fragte viel über chinesische Verhältnisse, ohne sonderlichen Erfolg. Politisches kam nicht zur Sprache.