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Der neue Roman von Clemens Meyer: Ein Epos über die Krisen Europas und die Kunst des Erzählens Von Leipzig bis Belgrad, von der DDR bis zur Volksrepublik Jugoslawien, vom Leinwandspektakel bis zum Abenteuerroman. Schonungslos und rasant erzählt »Die Projektoren« von unserer an der Vergangenheit zerschellenden Gegenwart – und von unvergleichlichen Figuren: Im Velebit-Gebirge erlebt ein ehemaliger Partisan die abenteuerlichen Dreharbeiten der Winnetou-Filme. Jahrzehnte später finden an genau diesen Orten die brutalen Kämpfe der Jugoslawienkriege statt – mittendrin eine Gruppe junger Rechtsradikaler aus Dortmund, die die Sinnlosigkeit ihrer Ideologie erleben muss. Und in Leipzig werden bei einer Konferenz in einer psychiatrischen Klinik die Texte eines ehemaligen Patienten diskutiert: Wie gelang es ihm, spurlos zu verschwinden? Konnte er die Zukunft voraussagen? Und was verbindet ihn mit dem Weltreisenden Dr. May, der einst ebenfalls Patient der Klinik war?
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Seitenzahl: 1597
Clemens Meyer
Roman
Von Leipzig bis Belgrad, von der DDR bis zur Volksrepublik Jugoslawien, vom Leinwandspektakel bis zum Abenteuerroman: ein Epos über die Krisen Europas und die Kunst des Erzählens. »Die Projektoren« erzählt rasant und schonungslos von unserer an der Vergangenheit zerschellenden Gegenwart – und von unvergleichlichen Figuren: Im Velebit-Gebirge erlebt ein ehemaliger Partisan die abenteuerlichen Dreharbeiten der Winnetou-Filme. Jahrzehnte später finden an genau diesen Orten die brutalen Kämpfe des Jugoslawienkriegs statt – mittendrin eine Gruppe junger Rechtsradikaler aus Dortmund, die die Sinnlosigkeit ihrer Ideologie erleben muss. Und in Leipzig werden bei einer Konferenz in einer psychiatrischen Klinik die Texte eines ehemaligen Patienten diskutiert: Wie gelang es ihm, spurlos zu verschwinden? Und konnte er die Zukunft voraussagen?
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Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein Debütroman »Als wir träumten«, es folgten »Die Nacht, die Lichter. Stories« (2008), »Gewalten. Ein Tagebuch« (2010), der Roman »Im Stein« (2013), die Frankfurter Poetikvorlesungen »Der Untergang der Äkschn GmbH« (2016) und die Erzählungen »Die stillen Trabanten«. Für sein Werk erhielt Clemens Meyer zahlreiche Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. »Im Stein« stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet.
[Motto]
Eins (The Tower of Güntz)
Zwei (Nacht im Bioskop)
Drei (Engel im Rauch)
Die Wölfe
Wunden und Wunder
Ein kurzes Register über die Zeit, in der die Deutschen romantische Western in Jugoslawien drehten [...]
Am Meer des Schweigens
I
II
III
Fremde Pfade
Die Konferenz der Dottores zum rätselhaften Fall des Fragmentaristen
Zweihundertdreiundneunzig Sätze über Winnetous Reise nach Wounded Knee [...]
Die Feuerhand
Die Leichenwässer
Die silbernen Löwen
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
Empor ins Reich des Edelmenschen (Die drei Gesänge des Hadschi)
Eins
Zwei
Drei
Abgesang
Am Jenseits (Die Bibliothek von O.)
Das versteinerte Gebet
Komm wieder, Dr. May!
Quellenangaben
Danksagungen
Ich bin Hakawati, ein Märchenerzähler.
Dr. May
Ihr Deutsch ist wirklich gut, really good, Mister …«
»Danke, Herr Doktor. Das ist eine lange Tradition in unserer Familie. Mein Urgroßvater war hier amerikanischer Konsul.«
»In Leipzig? Oder you mean in Berlin?«
»Nein, nicht in Berlin, Herr Doktor. Mit hier meinte ich eigentlich eine kleine Stadt, nicht weit von Leipzig. In den Bergen.«
»Im Erzgebirge?«
»Ja, das Erzgebirge, Herr Doktor. Ein schöner deutscher Name.«
»Wonderful, indeed! Wir Deutschen vergessen oft die dunkle Schönheit unserer Sprache.«
»Dunkle Schönheit, das haben Sie sehr … schön gesagt, Herr Doktor!«
»Nun, mich fasziniert auch Ihre Sprache, also die Sprache Ihres Landes, breit und spröde und leger zugleich. Wie würde das im Amerikanischen klingen… The Archmountains?«
»Die … Arsch-Mountains, Herr Doktor?«
»Meine Aussprache, Sie müssen entschuldigen. Der Sachse lässt die Zunge schleifen, wie man bei uns sagt.«
»Oh nein, Ihr Englisch ist durchaus …«
»Thank you! Die Erzberge, die Archmountains. Wegen dem Erzengel, verstehen Sie? The Archangel. Aber was erzähle ich Ihnen, Sie sind ja Amerikaner, Mister …«
»Ist denn der Erzengel aus Erz, Herr Doktor? Ein Engel aus flüssigem Erz … rotglühend.«
»Nein, eher nicht, da haben Sie recht. Vielleicht müsste man es besser übersetzen mit The Iron Mountains, aber lassen wir das. Sie meinten sicher das amerikanische Konsulat in Annaberg-Buchholz.«
»Sie sagen es, Herr Doktor! Wenn mein Urgroßvater diese Namen aussprach, klangen sie wie seltsame Zauberworte für uns Kinder. Annaberg, Erzgebirge.«
»In diesen alten Mountains und Wäldern leben viele Märchen und Legenden, Mister …«
»Und genau die sind ein Teil meiner Forschungen, Herr Doktor.«
»Ich bitte Sie, lassen Sie doch das Herr Doktor weg, please! Sie klingen ja fast wie ein Patient, Mister …«
»Ein Patient? Oh nein, das nun doch nicht, Herr …«
»Keine Angst, wir haben es hier sehr komfortabel. You can be patient as a patient, kleiner Scherz. Wo waren wir stehengeblieben?«
»Das amerikanische Konsulat.«
»Yes! The good old neunzehnte Jahrhundert …«
»Es heißt, die Zeit ist stehengeblieben in Annaberg, Herr Doktor.«
»The Kaiser, the Nazis oder Sozialismus?«
»Ich nehme an, von jedem ein bisschen. Vielleicht ein magischer Ort …«
»Das heißt, Sie haben Annaberg-Buchholz und das Konsulat Ihres Urgroßvaters nie gesehen in reality, haben die Mauern nie berührt, Mister …?«
»Ach, die Realität, Herr Doktor … Aber ich bin auf dem Weg dorthin, auf den Spuren meines Urgroßvaters und auf den Spuren Dr. Mays!«
»The good old Dr. May! Wenn wir in den Bergen wanderten, spielten wir oft seine Abenteuer und Geschichten, und was heißt spielen: Wir waren seine Helden.«
»Im Orient oder im Wilden Westen?«
»The Wild West natürlich! Indianer und Cowboys, Banditen und Goldsucher … Obwohl sie das nicht gerne sahen.«
»Sie?«
»Nun, die Autoritäten, die Schule, die Sozialisten. Zu dieser Zeit waren die Werke Dr. Mays noch … wie soll ich sagen …«
»Verboten, Herr Doktor?«
»Nein, nicht offiziell. Sagen wir: unerwünscht. Der Vorbote der Verbote, if you understand, Mister …«
»Verbote der Vorboten, wunderbar! Aber Sie spielten dennoch, Herr Doktor, standhaft in den Bergen, standhaft gegen die Autoritäten der Sozialisten.«
»Ich bitte Sie, wir waren Kinder. Children! …«
»Und Sie waren in einer sozialistischen Wandergruppe, Herr Doktor, so etwas wie Pfadfinder?«
»Viel mehr als das! Wir waren die Pionierorganisation Ernst Thälmann!«
»Thälmann, der berühmte deutsche Arbeiterführer? Unsere … Dozenten erzählten von den großen Kommunisten, damit wir den Feind begreifen, doch wir waren fasziniert.«
»Fascination Kommunismus, nicht wahr?, Mister …«
»All die Legenden, Herr Doktor! Teddy Thälmanns Hände sollen groß wie Teller gewesen sein, ein kommunistischer Old Shatterhand …«
»Surprise, surprise, geiler Scheiß!«
»Aber Herr Doktor …«
»Da ist es wohl kurz mit mir durchgegangen. Aber Sie überraschen mich immer wieder, seit Sie vorhin an unsere Pforte klopften. Thälmann und Old Shatterhand! Und ich dachte immer, niemand in Amerika kennt diesen berühmten Romanhelden Dr. Mays, der seine Feinde mit nur einem Schmetterschlag betäuben konnte …«
»Aber ich sagte doch schon, genau deswegen bin ich hier, Herr Doktor!«
»Not immer with the Doktor, please!«
»Ich muss mich entschuldigen, das ist wohl der Ort, die Anstalt …«
»Respekteinflößend, nicht wahr? Dies ist ein Ort der Stimmen und der Bilder. Auch wenn jetzt Silence herrscht in den Gängen.«
»… die scheinbar endlos sind, Herr Dok-«
»Endlos wie die Berge, die Iron Mountains meiner Kindheit, Mister …«
»Durch die Sie mit Ihren jungen Genossen gewandert sind?«
»You say it! Mit der roten Fahne. Auf der Suche nach dem sozialistischen Bergland. Vielleicht auch durch Annaberg-Buchholz …«
»Nur ein müdes vielleicht, Herr Doktor? Das heißt, Sie können sich nicht genau erinnern an diese … verlorene Zeit?«
»Sie wird wiederkommen, da bin ich absolutely sicher, I am total sure, Mister …«
»Die Legenden werden zur Wahrheit, Herr Doktor?«
»Und umgedreht!«
»Hört, hört!«
»Big words! Zu große Worte perhaps, Mister …«
»Smith!«
»Danke! Und Sie haben recht, ich dachte lange, es wäre nur eine dieser alten Legenden gewesen, the Star-Spangled Banner über den Wipfeln des Erzgebirges …«
»Gipfeln, Herr Doktor.«
»Was … äh, what you mean, Mister …?«
»In allen Wipfeln ist Ruh, über allen Gipfeln spürest du kaum einen Hauch …«
»Oh, I understand: die Vöglein schweigen im Walde, warte nur balde …«
»… ruhest du auch. Wir lieben eure Klassiker, Herr Doktor!«
»Womit wir wieder bei unserem Dr. May wären.«
Berge, im Gespräch der beiden Herren, die den langen Gang entlangschreiten, Berge, hinter ihnen auftauchend, aus den Worten hervortretend, wo die Sonne durchs trübe Glas der Fenster fällt, Quadrate aus Licht auf dem Boden, Staub in diesem Licht, Würfel aus Staub und Licht hinter den beiden Herren, Landschaften in diesen Guckkästen, die nur die Patienten sehen, die aus ihren kleinen Fensterchen in den Türen schauen; die Patienten, die seit einhundertsiebzig Jahren in den Zimmern sitzen, sehen: zerklüftete Berge, weißgraue Felsspitzen, über denen sich Wolken türmen, ein riesiger Mann, der eine Herde Ziegen durch die Täler führt, Dörfer in der Ebene vor den Bergen, ein azurblaues Meer in der Ferne, ein Militär-Lkw rumpelt über eine Piste, die hoch in diese Berge führt; die Patienten sehen: Schatten auf den Hängen, das Blinken von Kameralinsen, im Morgenlicht, im Abendlicht, Indianer schleichen über die Hänge, Rauchwölkchen von Schüssen steigen auf, Indianer und Cowboys stürzen zu Boden, stehen wieder auf, ein Film wird gedreht, dann verdunkelt sich all das und wird schwarz, Abblende, ein neues Bild entsteht, andere, dunklere Berge, menschenleer, Wälder an den Hängen bis in die Täler hinein, feuchter Nebel, den ein Wolf trinkt, einatmet, ausatmet, weiß schimmernde Tropfen hängen an seinen Lefzen, die Wölfe kehren zurück in die alten Wälder, die Berge, überqueren die Grenze, die unsichtbar ist, nur hin und wieder Reste von Zäunen zwischen den Bäumen, Tränen, weiß schimmernd, die Grenze, die abgetragen wurde, ein anderes Jahrhundert …
»Ein Kipfel.«
»Ähh… what you mean, Mister …?«
»Was ist … entschuldigen Sie meine Aussprache …, was ist der Unterschied zwischen einem Kipfel und einem Gipfel?«
»Wie kann ich Ihnen das erklären … ein Kipfel ist ein Gebäck, so etwas wie ein Kringel, aber man benutzt das Wort Kipfel in unserer Gegend nicht, auch nicht zwischen den Gipfeln des Erzgebirges, wo Ihr Großvater …«
»My Ur!«
»Was … ähh… ist mit Ihrer Uhr, Mister …?«
»Not the time, Sir, my watch is alright! But the time, Sir. Verzeihen Sie, jetzt bin ich ein wenig in meine Muttersprache geraten …«
»No Problem!«
»Ich wollte sagen, mein Urgroßvater war Konsul in Annaberg, nicht mein Großvater. Er war der letzte Konsul in Annaberg, neunzehnhundertacht. Das Konsulat schloss, und er blieb noch eine Weile in Europa, bis der Krieg begann. Dann ging er zurück nach Amerika.«
»Amerika … Zurück in jenen Traum, oder back aus jenem Traum …«
»In den Jemen, Herr Doktor?«
Ein Lachen in dem Gang, durch den die beiden Herren schreiten, die Arme auf dem Rücken verschränkt, ein Lachen, das die beiden Herren nicht zu hören scheinen, sie reden weiter und sie gehen weiter, langsamer werdend, schneller werdend, der Gang scheint sich zu weiten, zu dehnen, dann wieder ist das Ende in Sicht, eine türlose, dunkelrote Ziegelmauer, alt und verwittert, die Steine geschwärzt wie nach einem Feuer, dann wölben sich die Wände, runden sich, und der Gang bewegt sich wie eine immer enger werdende Röhre ins Unendliche hinein, ein Fernrohr, zusammenschiebbar, auseinanderziehbar; ein Lachen in diesem Gang, das sehr leise erst und sehr fein das vergitterte Glas der kleinen Fenster in den Türen berührt, das Glas zum Klingen bringt, ein Lachen, das unmerklich immer lauter und dann wieder leiser wird, das ein Kichern ist und ein Husten ist, Augen hinter den Fenstern, die, wie optische Linsen, die beiden Männer verzerren, mal größer, mal kleiner erscheinen lassen, so wie auch der Gang sich dehnt und verkürzt, und die Irren schauen aus ihren Zimmern, wenn sie nicht auf ihren Betten liegen und schlafen oder die Zimmerdecke anstarren und die winzigen Stäubchen zählen, die in dem Licht schweben, das durch die vergitterten Fenster in ihre Räume dringt, während ihr Lachen wie der Schallimpuls eines Echolots all die türlosen Mauern betastet, weiße Wände betastet, rotschwarze Brandmauern betastet, die beiden Herren abtastet, die durch die Gänge schreiten, die Hände auf dem Rücken ineinander verschränkt, durch ihre Gespräche dringt, immer tiefer und weiter bewegt sich das Kichern der Irren in den verwinkelten, mehrstöckigen Backsteinkomplex hinein, bis der Schall des Lachens schließlich einen Mann berührt, Impulse von allen Seiten, einen nackten Mann berührt, der schweigend in der Mitte seines Zimmers sitzt, die Hände im Schoß, die Hände gefaltet, er trägt eine Art Turban um seinen Kopf gewunden, der aber nur ein Fetzen grün-weißen Stoffes ist (oder ein Handtuch aus einem der Waschräume), der silberweiße Bart des Mannes beginnt zu knistern, als wäre er statisch aufgeladen, die Wände seines Zimmers sind dicht beschrieben, so viele Worte, Sätze, übereinander, ineinander verschlungen, Worte, verdichtet, Sätze, in Kreisen, Bildern, Worte, Sätze, übereinander, durcheinander, wie fremde Zeichen …
»Ich bewundere Sie und Ihre … Anstalt, Herr Doktor, wie Sie versuchen, eine Ordnung ins Chaos zu bringen.«
»Ach, wissen Sie, wir folgen hier so vielen Stimmen, dass wir uns häufig selbst verlieren.«
»Sie hören die Patienten, auch wenn Sie nicht im Dienst sind?«
»Ich bin immer im Dienst! Und es ist vor allem ein Patient. Unser Fragmentarist. Er erzählt und erzählt und beschriftet die Wände.«
»Ein Fragmentarist, Herr Doktor?«
»We call him so, weil er die Welt nur noch in Fragmenten wahrnimmt. Krieg und Flucht wounded his mind.«
»Und er beschreibt die Wände Ihrer Anstalt?«
»Oh ja, day and night!«
»Die Zeit, die Zeit, Herr Doktor.«
»Das haben Sie sehr schön gesagt. Ein Amerikaner reimt deutsch mit einem Deutschen, der auf Amerikanisch die Vorlage gibt!«
»Äh…, ja, Herr Doktor.«
»Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich der Versuchung nicht widerstehen kann, ab und an Ihre faszinierende Sprache zu nutzen.«
»Es ist mir eine Freude, fern der Heimat …«
»Nun, einige Heimatgefühle sollten Sie hier ja haben, durch Ihren Great-Grand … äh, Grand-Great … or, äh, your Double-Grand-Vater!«
»Der Urgroßvater war wie ein deutscher Geist in unserem amerikanischen Haus.«
»Ein böser Geist?«
»Nein, das würde ich nicht sagen. Obwohl er lange versuchte, den Führer zu verstehen. Er war immer für ein … eine Art Abkommen …«
»You mean the Appeasement, Mister …?«
»Genau das, Herr Doktor! Nun bin auch ich wohl zu lange in Europa und vergesse die Klänge meiner Staaten …«
»Don’t worry! Was zum Fenster rausfällt, comes very often back durch die Tür!«
»Die Fenster unseres Hauses, Herr Doktor … Ich sehe noch, wie er da steht, fast hundertjährig …«
»Der Führer? Kleiner Joke. Sie meinen Ihren Urgroßvater.«
»… und sein weißes Haar wehte im Wind, und immer wieder sprach er in die Frühlings- oder Winterluft, als würde er in die Vergangenheit sprechen: Piep, Piep, Piep, / wir haben uns alle lieb, / ein jeder esse, was er kann, / nur nicht seinen Nebenmann. Er träumte schon sehr früh von einer deutsch-amerikanischen Front gegen den Bolschewismus. Das ganze Haus hatte er stets bunt geschmückt mit Posamenten, die er neunzehnhundertzwölf aus …«
»Die Posamenten von Jericho? Sorry, another Wortplay, Mister … äh…«
»Smith!«
»Es ist also wirklich wahr, Mister Schmidt, dass das Konsulat einst eröffnet wurde, um den Handel mit diesem berühmten, auf der ganzen Welt begehrten erzgebirgischen Uniformenschmuck vor Ort zu kontrollieren?«
»Sie sind ausgezeichnet informiert, Herr Doktor. Ich dachte immer, das Konsulat wurde hier tot-tot-tot …«
»You mean totgeschwiegen, Herr Smith? Aber wir hatten doch Heimatkunde!«
»Heimatschutz, Herr Doktor?«
»Kunde, not Schutz. Das beliebte Schulfach Heimatkunde, nicht zu verwechseln mit dem nicht ganz so beliebten Schulfach Staatsbürgerkunde, informierte uns in den Zeiten des Kalten Krieges, des frigid war, wenn ich das so frei und ein wenig … äh … kreativ übersetzen darf, über diese einst weltführende Posamentenproduktion im Erzgebirge …«
»Entschuldigen Sie die Zwischenfrage, Herr Doktor, aber haben Sie gute Erinnerungen an diese Zeit des Sozialismus? Frigide, wie Sie es eben ausdrückten, war Ihr kleines Land ja eher nicht. Ich hörte von gewaltigen Nudisten-Camps …«
»Schweigen Sie, bitte! Ich hasste die Frei-Körper-Kultur der Arbeiterklasse. Meine Mutter nahm mich mit an diese Strände, meine gesamte Kindheit war geflutet von Pimmeln und Titten und Ärschen und …«
»Das ist ja grauenvoll, Herr Doktor!«
»Indeed, indeed!«
»Was ich sagen wollte, in Amerika, viele denken, hier wäre eine Art GULAG gewesen.«
»Hier? In der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz zu Leipzig-Thonberg?«
»Nein, mit hier meinte ich dieses Land, Ihr Land, Herr Doktor, also das alte Land …«
»Das einst ein neues Deutschland war! Wie hieß es in unserer Kinderhymne doch so schön: ›Anmut sparet nicht noch Mühe, / Leidenschaft nicht noch Verstand, / daß ein gutes Deutschland blühe, / wie ein andres gutes Land.‹«
»Das ist ja Poesie, Herr Doktor! Und wie schön Sie singen …«
»Poesie, Utopie. Und dennoch denken Ihre Landsleute, diese Deutsche Demokratische Republik wäre ein GULAG gewesen?«
»Wo Sozialismus draufsteht, ist Stalin drin …«
»Nun, Mister …«
»Smith, Herr Doktor.«
»Ich war ein junger Mann, Mister Schmidt. In vielen Dingen war ich glücklich. In anderen unglücklich, so wie heute.«
»Wollten Sie nie reisen? Amerika …«
»Reisen, ja. Aber eher in den Orient. Von Bagdad nach Stambul. Durch die Wüste, den Nil runter, durch den dunklen Sudan Richtung Quelle, vielleicht bis zum verschwundenen Tschadsee. Die afrikanisch-orientalischen Träume unseres Dr. May! Aber in Amerika I have been very often.«
»In Amerika? Sie meinen nach dem Fall der Mauer?«
»Nein, nein, Mister Smith, long before the Wende. In meiner Kindheit fuhren wir oft nach Amerika.«
»Sie wollen damit sagen, Sie erträumten sich ein Amerika, so wie Dr. May es einst erträumte für seine Romane?«
»Wie Sie vielleicht wissen, Mister Schmidt, glaube ich an die amerikanischen Reisen und Abenteuer des Dr. May. I am a believer!«
»Nun, Herr Doktor, es lassen sich sicher Fakten finden oder schaffen …«
»Ich gehe nicht so weit zu behaupten, dass alles in Dr. Mays Wild-West-Romanen wahr ist. Waffen wie der fünfundzwanzigschüssige Henrystutzen oder der gewaltige Bärentöter gehören dann doch eher in die Kategorie Hengstschwanz und Mehrfachspritzer beziehungsweise umgedreht.«
»Ich muss protestieren, Herr Doktor!«
»Nein, Mister Smith, Dr. May bereiste den Wilden Westen zur Zeit der Indianerkriege! Die Grausamkeit Ihrer Landsleute traumatisierte ihn regelrecht.«
»Ich muss erneut protestieren, Herr Doktor!«
»Protest erneut zur Kenntnis genommen, Mister Schmidt. Aber the war war wahr, wenn ich das mal so ausdrücken darf.«
»Lassen wir doch die Indianerkriege, Herr Doktor. Denn ich bin der Ansicht, dass Dr. May bereits zwischen achtzehnhundertfünfundsechzig und achtzehnhundertsiebzig mehrfach den Orient bereiste, aber nicht die Vereinigten Staaten.«
»Meine Fakten, Mister Smith, sprechen eindeutig für den Wilden Westen!«
»Aber es ist doch erwiesen, dass Dr. May erst wenige Jahre vor dem ersten großen Krieg nach Amerika kam. Da war unser Kampf gegen die kriegerischen Indianer längst vorbei, Herr Doktor, und der Westen nicht mehr wild!«
»Ich bitte Sie, Mister Schmidt, lassen Sie doch endlich das Herr Doktor away. Dulle, einfach nur Dulle!«
»Dulle?, Herr …«
»The other way, please. First Herr, then Dulle, Mister Schmidt!«
»Oh, your name is Herr Dulle! Ich habe es vorhin nicht richtig verstanden, als wir uns vorstellten, ich dachte, Sie hätten …«
»Schluckauf, Mister Schmidt?«
»Gesundheit, Herr Dulle!«
»Der Sachse lässt die Zunge schleifen, Mister Schmidt. Und was Amerika betrifft …«
»Ich bin sehr … gespannt auf Ihre Fakten, Herr Dulle!«
Und wenig später stehen die beiden Herren auf der Aussichtsplattform auf dem Dach der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz neben einem gewaltigen Fernrohr, das wie eine Kanone auf das flache Land hinter den letzten Häusern der Stadt zielt. Und langsam färbt sich der Himmel, Streifen von Rot, das noch ein Rosa ist, dunkler werdend in der beginnenden Dämmerung, und die beiden Herren blicken über die Kleingärten, die sich zwischen die Reihen der Häuser und die Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Doktor Güntz drängen, Parzelle an Parzelle, ein Ring aus Klein- und Schrebergärten, in der Mitte die Anstalt, das Schloss, wie die Kleingärtner die Anstalt nennen, »Doktor Güntz ist der Gleiche wie sein Vater und sein Großvater«, flüstern sie zwischen den Beeten und Lauben, Rauchzeichen der Grills über den Parzellen, »derselbe!«, verbessert ein Garten- und Naturfreund, während er Flüssiggrillanzünder auf der Holzkohle verteilt, »aber das ist doch das Gleiche«, widerspricht dem wiederum ein weiterer Grill- und Gartenspezialist, »Doktor Güntz sitzt in seinem Schloss seit achtzehnhundertneununddreißig«, flüstern die Kleingärtner (und Kleingärtnerinnen!), »aber er hat viele Namen, Dulle, Sternau, Güntz«, und sie fachen das Feuer des Grills an, denn glühen muss die Kohle, bevor das Fleisch auf den Rost kommt. »Die Dottores gehen ein und aus / in diesem Haus«, reimt die Frau eines belesenen Gartenfreundes, während sie das blutige Fleisch wendet; und über den Dächern der Häuser liegt leicht noch der Abend vor der Schwere der Nacht.
Und die beiden Herren auf der Aussichtsplattform legen die Hände flach an die Stirn, über die Augen, als würden sie salutieren. Hinter ihnen, in der Mitte des Anstaltsparks, ragt dunkel und schwarz verwittert der Güntzturm zwischen kleinen Bäumen und Büschen empor, wirft seinen Schatten auf die Aussichtsplattform mit dem Fernrohr, wirft seinen Schatten aufs Dach des Hauptgebäudes der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt.
»Und nun, mein lieber Mister Smith, schauen Sie bis nach Amerika!«
»Lassen Sie mich raten: Ich werde Projektionen sehen im Inneren dieses überdimensionalen Teleskops, nicht wahr, Herr Dulle?«
»Durchaus nicht, Mister Smith.«
»Hm. Aber es handelt sich doch wohl um ein Element der berühmten geovisuellen Hypnosetherapie des Dr. Güntz? Eine Art Stereo-Opticon, Traumgebilde und optische Täuschungen werden sich mit der Landschaft verbinden. Wahrscheinlich stand unser Dr. May als Patient einst selbst hier oben!«
»Nein, nein, Mister Smith, so alt ist unser Spezialteleskop nun nicht. Obwohl die Firma Pentacon, sehen Sie hier, das Logo …«
»Ah, Pentacon aus Dresden, vormals Zeiss Ikon. Es heißt, die Sowjets, also der KGB, waren einst die besten Kunden …«
»Hören Sie doch auf mit diesen kalten Legenden eines alten Krieges, Mister Smith. Der KGB! Höchstens die Staatssicherheit.«
»Ich wage kaum zu fragen, Herr Dulle, aber die …«
»Dann fragen Sie nicht, Mister Smith! Wir sollten beim Namen Pentacon an die Errungenschaften der multioptischen Bilderfassung und Bildgebung denken, zumal unser verehrter Dr. Güntz schon achtzehnhundertachtundneunzig ein Bioskop nach Bauart der Gebrüder Skladanowsky in unserer Anstalt installieren ließ.«
»Ein Bioskop? Also eine Art Kino?«
»Nun, Sie kennen doch anscheinend die damals wie heute revolutionären Theorien und Therapien unseres Doktors.«
»Licht und Traum, Herr Dulle.«
»Und genau deswegen schauen Sie bitte durchs Okular, Mister Smith. Wir könnten die Sterne heranholen, aber wir wollen ---«
»Die neue Welt?«
Und auch später, als sie im weißen Raum des Dr. May stehen (eine altertümliche Glühbirne summt an der Decke, ein Bett ein Tisch ein Stuhl, vorm Fenster die Schatten und Stimmen des abendlichen Anstaltsparks), sieht der Mann, der sich als Mister Smith vorstellte, die Bilder, die ihm das große Fernrohr gebracht hat: ein Bahnhofsgebäude in einem Tal, bewaldete Berghänge, ein Fluss, Gleisanlagen, eine Draisine auf einem Nebengleis, das Schild an dem ziegelroten Bahnhofsgebäude konnte er kaum erkennen in der einsetzenden Dämmerung, Amerika/Sachsen.
Doch dann, als er das Teleskop der Firma Pentacon, ehemals Zeiss Ikon, vorsichtig bewegte, Millimeter bewegte, Bruchteile von Millimetern, denn ein unvorsichtiger Schwenk brachte ihn bis weit über die tschechische Grenze, wurde er von einem Licht geblendet … »Was sehen Sie genau in unserem sächsischen Amerika, Mister Smith?«
Nur sehr wenige verwitterte Pappfahrkarten liegen auf dem Boden vorm Bahnhofsgebäude, neben den Gleisen, auf dem Bahnsteig, abgestempelt, gelocht und entwertet, Wir fahr’n fahr’n fahr’n nach A-me-ri-ka!, Kinder, die ihre Fahrkarten Amerika, Hin und Zurück in Hosentaschen schieben, in kleine Campingbeutel stecken, weil sie sie am nächsten Tag in der Schule ihren Freunden zeigen wollen …, war das ein Imbisswagen, den er sah?, auf dem kleinen Platz vor dem Bahnhofsgebäude, ein Diner würden sie in Amerika, also dem richtigen Amerika, sagen. Ein paar Schrebergärten hinter dem Imbiss, die sich an die Berghänge drückten, ein Plastikstehtisch vor dem hell erleuchteten Inneren des Wagens, aber viel heller noch die Neonschrift auf dem Dach des Imbisswagens, die ihn blendete, durchs Okular in sein Auge drang: AMERIKA’S BEST SÜSS-SAUER CHINA IMBISS.
»Sind Sie sicher, dass Sie diesen … Diner … sehen, Mister Schmidt?«
»Ja.«
»Und zwei … Asiaten … stehen hinterm Tresen und warten auf Kundschaft?«
»Ja.«
»Ein sehr dicker Asiate und ein sehr dünner langer Asiate?«
»Ja.«
»Und die beiden scheinen sich über irgendetwas zu streiten?«
»Ja.«
»Und jetzt bewirft der Dünne den Dicken mit … Nudeln?«
»Ja.«
»Und andere … Menschen … sind nicht in der Nähe?«
»Nein. Also ja.«
»Sehen Sie irgendwo … Feuer?«
»Feuer, Herr Dulle? Nein. Doch! Da kommt eine Gruppe Männer, sie scheinen wütend zu sein. Einer trägt eine Art Fackel.«
Und im weißen Raum des Dr. May starrten die beiden Herren auf zwei Worte, kaum noch zu erkennen auf dem schon leicht ergrauten Weiß der Wand: Rex Damagdarut.
Und der Mann, der sich Mister Smith nannte, fragte, das Glühen des Imbisses an der Bahnstation Amerika und das Glühen der Fackel noch in seinem Kopf, ob es sich hier tatsächlich um die Originalhandschrift Dr. Mays handele.
Herr Dulle bestätigte das sofort, die Schrift sei von 1865. Das Jahr, das Dr. May als Patient in der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz verbracht hatte.
Und der Mann, der sich Mister Smith nannte, fragte weiter, woher denn Dr. May die Zeichenkohle gehabt habe, denn es handele sich hier zweifelsfrei um Zeichenkohle, mit der Dr. May die beiden Worte auf die Wand …
Worauf Herr Dulle wieder einmal auf das Organisationstalent des Dr. May verwies, der ja, lange bevor er als Schriftsteller und Reisender Weltruhm erlangte und seinen Doktortitel verliehen bekam, durchaus bekannt gewesen sei für ebendieses Organisationstalent, in Sachsen und um Sachsen herum, weshalb er ja auch hier in der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz gelandet sei. Und von dort beziehungsweise hier ins Arbeitshaus Schloss Osterstein bei Zwickau gebracht wurde.
Der Mann, der sich Mister Smith nannte, hakte noch einmal nach, ob denn dieses seltsame Damagdarut nicht doch eine Stadt sein könne oder ein Dorf oder eine ostdeutsche Bahnstation, was wäre beziehungsweise sei denn auszuschließen, wenn in Sachsen sogar ein Ort namens Amerika amtlich eingetragen existiere?
Herr Dulle entschuldigte sich für seine temporäre Abgelenktheit, er sei immer noch verunsichert wegen der so plötzlich zurückgekommenen Bilder des brennenden Chinaimbisses, das sei nämlich 1992 passiert, kurz nach der großen Wende.
Der Mann, der sich Mister Smith nannte, hatte aber in der Zwischenzeit mit Hilfe seines Taschencomputers schon herausgefunden, dass ein Ort namens Damagdarut nirgends auf der Welt existierte, dass aber die kleine, seit 1876 amtlich eingetragene Bahnstation Amerika gleichzeitig einen Stadtteil der Kleinstadt Penig darstellte, bis 1994 aber zu Arnsdorf gehört habe, und Herr Dulle solle sich darüber klar sein, dass der Brandanschlag auf den amerikanischen Chinaimbiss im Jahr 1992 demzufolge eine Arnsdorfer Angelegenheit gewesen sei, sollte er aber jetzt, nach über zwanzig Jahren, erneut stattgefunden haben, in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Penig falle.
Und die beiden Herren starrten auf die Wand, auf der Dr. May, bevor er als Schriftsteller und Reisender zu Weltruhm gelangte, einst diese rätselhaften Worte hinterließ. Rex Damagdarut.
Herr Dulle drückte mehrfach sein Bedauern über den Verlust der Krankenakten des Dr. May in den Wirren nach 1945 aus.
Und der Mann, der sich Mister Smith nannte, wollte nun wissen, ob der Führer tatsächlich einmal in der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz gewesen sei, natürlich nicht als Patient, aber als ein glühender Fan des Dr. May, dessen Weltkarriere möglicherweise ja hier in der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz begonnen habe, zumindest aber begünstigt worden sei durch die damals wie heute revolutionären Heil- und Forschungsmethoden des Dr. Güntz. Also die Karriere Dr. Mays, nicht die des Führers.
Und so fachsimpelten die beiden Herren, Herr Dulle breitete seine Theorie aus, dass einer der Patienten, der sein halbes Leben in der Anstalt verbracht hatte und der von allen nur der Indianer genannt wurde, weil er dem Wahn erlegen war, ein solcher zu sein, und von Dr. Güntz diesbezüglich sogar bestärkt wurde und sich die Haare bis zu den Hüften wachsen ließ, sich mit einem Lendenschurz kleidete, der eigentlich ein Anstaltshandtuch war, und im Anstaltspark in einer Art Tipi wohnen durfte, in Dr. May die Idee zur Figur des Indianerhäuptlings Winnetou ausgelöst habe.
Und der Mann, der sich Mister Smith nannte, wies sehr plötzlich und zur Überraschung Dr. Dulles auf einen kaum erkennbaren Strich unter dem R des REX hin. Beide Herren hockten sich sogleich auf den Boden und warfen die Frage in den Raum, ob es sich hierbei nicht um ein L handeln könne, das Dr. May später mit einem R übermalt habe, König und Gesetz, das sei ja in manchen Zeiten dasselbe gewesen, und Dr. Dulle erinnerte sogleich, und beinahe zeitgleich mit Mister Smith, an den Starschauspieler Lex Barker, der ja in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts so unnachahmlich die beiden Helden des Dr. May auf der Leinwand verkörpert hatte, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, die wären ja im Prinzip ein und derselbe, beziehungsweise der Gleiche, also Dr. May himself, und Doktor Dulle bekannte nun, dass er manchmal scheitere am Unterschied zwischen das Selbe und das Gleiche.
Und der Mann, der sich Mister Smith nannte, mutmaßte, dass dieses orientalisch klingende Damagdarut im Universum des Dr. May für das Böse und Entartete stünde, dass dieser möglicherweise sogar muslimische REX der Herrscher der Dunkelheit …
Das aber erschien Doktor Dulle dann doch zu spekulativ.
Unterm Eis eines großen Flusses, der durch eine sehr alte Stadt in der südöstlichen Mitte der Welt floss, trieb eine junge Frau. Sie blieb an den Resten eines festgefrorenen Fischernetzes hängen, und ihr blondes Haar fächerte sich weit um ihren Kopf, und die Strömung des Flusses nahm ihr langes helles Haar und bewegte es bis zu ihren Hüften, und unterm brüchigen Eis des Flusses sah es so aus, als hätte sie Flügel oder als würde sie in fließender Bewegung gegen den Strom schwimmen.
Die Stadt hieß Novi Sad, und die Deutschen nannten sie Neusatz.
Verschiedene Stämme siedelten seit jeher an den Ufern des Stroms, und viele hundert Jahre bevor die junge Frau ihre blauen Lippen bewegte im eisigen Wasser, als wäre noch ein winziger Rest Leben in ihr, als würde sie beten unter dem Eis, das sich so dicht von Ufer zu Ufer erstreckte, dass die Soldaten mit Kanonen und Sprengladungen Löcher hineinschossen und -sprengten, hatten die Osmanen die Stadt erobert. Im alten Defter der osmanischen Verwaltung, das zwei sozialistische Völkerkundler später in den Katakomben der Festung Petrovaradin aufstöberten, auf der Suche nach den Spuren der südslawischen Völker, die sie im Sinne des völkereinenden multiethnischen Sozialismus deuten oder uminterpretieren konnten, fanden sich Aufzeichnungen über die großen serbischen Familien, die von den osmanischen Besatzern geduldet wurden und in und um die Stadt herum lebten. »Bist du nicht auch der Meinung, lieber Kollege …«, »Genosse!«, »… lieber Kollege Genosse, dass vor allem die Habsburger die Frühform einer imperialistischen Besatzungsmacht in Novi Sad darstellten, in dem Sinne, dass die nach Unabhängigkeit strebenden, in gewisser Weise frühsozialistischen früh- äh… südslawischen Völker …«, »Durchaus, durchaus, Genosse!«
Und immer neue Namen erhielt die Stadt, nachdem die Osmanen verschwunden waren und die Habsburger herrschten (eine Zeitlang), Neoplanta, Újvidék, Mlada Loza, lateinisch, ungarisch, bulgarisch oder rumänisch …, aber im Winter 1942, im Januar, als der Strom langsam zuzufrieren begann und die blonde Frau noch am Bahnhof stand und nach Schwarzmarkthändlern Ausschau hielt, an der Železnička stanica, die im matten Licht der Fenster und Eingangstüren die kommenden dunklen Tage und immer kälter werdenden Nächte erwartete, die drei Spitzdächer über dem flachen Gebäude schneebedeckt, schon jetzt ein wimmelndes Kommen und Gehen in der Schalterhalle, auf dem Bahnhofsvorplatz, Reisende, Suchende, Fliehende, zwischen den Menschen Soldaten und Uniformierte der Gendarmerie, und hinter dem Bahnhofsgebäude zog der Dampf der Lokomotiven über die Gleise und die Bahnsteige, schwarzer Dampf der Kohle und weißer Dampf des Wassers, und weit über die stanica, in die Stadt und bis hoch zur Festung Petrovaradin auf der anderen Seite des Flusses schrillten die Pfiffe der Lokomotiven, und die blonde Frau stand auf dem Bahnhofsvorplatz und hielt nach Schwarzmarkthändlern Ausschau, denn sie suchte eine ganz bestimmte Zigarettenmarke …, im Winter 1942 nannten die Einwohner, egal, zu welchem Stamm sie gehörten, ihre Stadt nur bei ihrem serbischen Namen Novi Sad (so beschrieben es die zwei jugoslawischen Völkerkundler viele Jahre später, ein Akt der Solidarität unter den Völkern); überall in Europa (und der Welt) war sie unter diesem Namen bekannt, obwohl die Ungarn, die mit den Deutschen verbündet waren, sie besetzt hielten.
Es war ein harter Winter, und Schnee und Eis legten sich über die Vojvodina und die Bačka und Novi Sad, und ein Mann, der unbewegt unterhalb der Festung Petrovaradin stand und auf die schmale, noch eisfreie Fahrrinne in der Mitte des Flusses blickte, hörte mit geneigtem Kopf die fernen Signalpfiffe der Lokomotiven, die aus der Stadt und über den Strom zu ihm drangen und ihn an langgezogene Schreie erinnerten, und er wusste, dass dieser Winter Jahre dauern würde, vielleicht.
Der Mann kam aus wärmeren Gebieten und trug einen alten Pelzmantel aus grauschwarzem Wolfsfell. Er stand sehr still und scheinbar in Gedanken versunken, und wenn ein Soldat ihn von der Festung aus beobachtet hätte, wäre er in seinem langen Stehen und Starren auf den zufrierenden Strom einem kahlen Baum oder Baumstamm nicht unähnlich gewesen.
Als der Mann wenig später über die Brücke wieder Richtung Stadt geht, die Festung liegt dunkel hinter ihm in der beginnenden Abenddämmerung, Rekruten kehren den Schnee von den Dächern und Mauern, und der Schnee fällt auf die kahlen Bäume unterhalb der Festung, und zwei Soldaten ihn auf der Brücke anhalten, um seine Papiere zu kontrollieren (der Mann ist sich zuerst nicht sicher, sind das graue Soldaten da vor ihm oder die Blauen der Gendarmerie?, selbst die Farben der Uniformen gefroren in diesen kalten Tagen), die Bajonette auf den Gewehren aufgepflanzt, warnen ihn die Soldaten, nachdem sie seine Papiere studiert haben und ihn dann neugierig anblickten, sie schlugen sogar kurz die Hacken zusammen, als wollten sie dem Mann salutieren: »Gehen Sie nicht allein nach da draußen!«
»Da draußen?«, fragt der Mann. Er spricht ungarisch wie die Soldaten, aber sehr langsam und mit einem starken Akzent. Der jüngere der beiden Soldaten, dessen dünner Schnurrbart über seinen gesprungenen rissigen Lippen wie aufgemalt wirkt, weist mit dem Gewehr auf die Schneelandschaften jenseits des Flusses. »Partisanen, Kommunistenschweine.« Das Bajonett ragt wie ein sehr langer und spitzer Zeigefinger in die beginnende Nacht. »Sie haben geschworen, jeden Ungarn, jeden Deutschen …« Der Soldat hält kurz inne, er atmet heftig, und sein Atem dampft. »… und die, die mit uns verbündet sind, zu töten, zu ermorden. Jeden!«
Der andere, deutlich ältere Soldat mischt sich ein: »Sie haben Flugblätter überall in der Gegend verbreitet. Sie haben ihre Flugblätter sogar auf die Toten genagelt.«
»Auf die Toten genagelt?«, fragt der Mann. Er hält seine Papiere immer noch in der Hand, Stempel, so viele Stempel, Kreuze, Zeichen, ein Schachbrett, eine Flamme, Pfeile, darüber wieder andere Stempel, Unterschriften, fremde Zeichen …, dann schiebt er sie unter seinen Pelzmantel.
»Sie greifen uns an, wie aus dem Nichts«, sagt der ältere Soldat, »kürzlich haben diese serbischen Hunde einen Bunker an der Heerstraße Nummer …« Er stockt. Neigt lauschend den Kopf, blickt zu dem Mann, der den Kragen seines Pelzmantels, um den der alte Soldat ihn so sehr beneidet, hochschlägt, so dass er die frostroten Wangen des Mannes berührt; es war, als würde der Strom, der unter der Brücke gefror, den Soldaten mit jedem Knacken und Brechen des Eises, mit seinem letzten Frostatem, daran erinnern, wachsam zu sein, die Nummern und Daten nicht so einfach preiszugeben, auch wenn die Papiere des Mannes im Wolfspelz ihn als einen der ihren ausgaben, und die schmale Fahrrinne wird immer schmaler, ist nur noch ein Bach und dann ein Bächlein zwischen festen und brüchigen Eisschollen, die sich immer mehr verdichten.
»Wie aus dem Nichts«, wiederholt der alte Soldat und zieht sich die Feldmütze tiefer über die Ohren, das Holz in den gusseisernen Feuerkörben hinter ihnen sollen sie erst zu Beginn der Dämmerung anzünden, und der kleine Unterstand am Rand der Brücke bietet kaum Schutz, »sie kommen, schlagen zu, verschwinden …«
»Und wo haben sie die Flugblätter auf die Toten genagelt?«, fragt der Mann. Er holt eine Schachtel Zigaretten aus dem Pelz seines Mantels. Seine Hände zittern, und er hat Mühe, seinen Kopf ruhig zu halten, wenn die Kälte ihm immer wieder unter den Mantel und in die Glieder fährt, so dass seine Zähne aufeinanderschlagen.
»Selbst auf die Verwundeten nageln sie ihre Hetzschriften«, ruft der jüngere der beiden Soldaten, und das Bajonett auf seinem Gewehr, das er mit einer Hand am Schaft umklammert, bewegt sich silbermetallisch neben seinem Gesicht mit dem Schnurrbart hin und her, »sie sind wie die Tiere, diese Kommunisten, seit Tagen lauern sie uns auf!«
»Einen unserer Bunker haben sie ausgehoben«, sagt der alte Soldat, ohne auf den Ausbruch des jungen zu achten, »ganz in der Nähe, mit Handgranaten, und unsere Offiziere haben uns gesagt, dass sie dort …«
»Rekruten waren in dem Bunker, zum größten Teil Rekruten, grün wie die Wiesen im Frühling, und dennoch …« Der Junge winkt ab, er war ja selbst fast noch ein Rekrut und grün wie die Wiesen im … Ganz langsam, beinahe zärtlich, greift er nach der Schachtel Zigaretten, die der Mann mit dem Pelzmantel und den beeindruckenden Papieren immer noch in der Hand hält.
»Ruhig, Kamerad«, sagt der alte Soldat und legt seine Hand, die fast blau schimmert in der abendlichen Kälte, auf den Arm des jungen Soldaten, »warte noch, Kamerad«, und unter der Brücke, unterm Eis des Flusses, der nun fast vollständig zugefroren ist, treiben … NEIN. Noch treibt dort niemand, außer den Fischen.
Und die Fische drücken sich in den Schlamm der Ufer, und die Fische sinken immer tiefer hinab auf den Grund des Stroms, der durch die alte Stadt in der südöstlichen Mitte der Welt fließt, die Hechte und Karpfen betten sich in den Schlamm auf dem Grund des Stroms, wo das Wasser am wärmsten ist, die Kälte der Erdatmosphäre dringt nicht bis dorthin, das Wasser wird wärmer, je tiefer es unter dem Eis fließt, die empfindlichen Äschen drücken sich in den Schlamm der Ufer, stoßen zuvor mit ihren Köpfen ans Eis, saugen kurz mit ihren Fischmäulern am Eis, bis sie verstehen … Große Barben schwimmen in Gruppen, tauchen dann wieder ab, auf der Suche nach den strömungsarmen Stellen, sie sind, trotz ihrer Größe, keine klassischen Raubfische wie die Hechte, die alles fressen, selbst ihre eigenen Artgenossen, und die nun den Grund beherrschen, die schnabelähnlichen Mäuler stechen spitz und lang wie Bajonette in das trübe Wasser, weswegen die ängstlichen Äschen sich in den Schlamm der Ufer drücken, später wird es reichlich Nahrung für alle geben.
»Nehmen Sie sich ruhig«, sagt der Mann mit dem Pelzmantel und hält den beiden Soldaten die rotfarbene flache Zigarettenschachtel hin, wieder spricht er sehr langsam die Worte auf Ungarisch. Der alte Soldat greift zuerst zu, schiebt die Hand seines jungen Kameraden weg, nimmt zwei Zigaretten aus der flachen Schachtel, schiebt sich eine zwischen die Lippen, die andere hinters Ohr, weswegen er seine Feldmütze kurz abnimmt, der junge Soldat zieht nur eine Zigarette vorsichtig aus der Schachtel.
»Was ist das für eine Marke?«, fragt der alte Soldat und holt ein großes metallenes Feuerzeug aus seiner Uniformjacke. »Englische?«
»Englische.« Der Mann mit dem Pelzmantel nickt und nimmt sich auch eine. »Dunhill.«
»Noch nie gehört.« Der alte Soldat gibt ihnen Feuer, es dauert eine Weile, bis er sein großes Feuerzeug in Gang bekommt, die Flamme erlischt immer wieder, sie stellen sich dicht zusammen auf der breiten Brücke, um die Flamme zu schützen, paffen, inhalieren, schweigen und ziehen gierig an den Zigaretten, neben ihnen die Eisenbahnschienen, doch kein Zug rumpelt über die Gleise, über den Fluss, der Abend wird nun schnell zur Nacht, und die drei Glutpunkte wären gut zu erkennen für Scharfschützen der Partisanen, aber so nah an der Stadt und der Festung agieren sie nicht, auch wenn wenige Tage, fast schon Stunden später, anderes behauptet, die Stadt durchkämmt werden wird, Gerüchte sich in Hysterie verwandeln, sich alles verwandelt wie in einem bösen, bösen Traum.
»Die sind aber gut, Ihre Zigaretten«, sagt der junge Soldat und hält die Halbgerauchte prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger vor sein Gesicht, »woher haben Sie denn so was Feines?«
»Kriegsbeute«, sagt der Mann mit dem Pelzmantel und wirft seine runtergerauchte Kippe über das Geländer der Brücke in den Fluss, beziehungsweise auf das Eis, das ihn bedeckt.
Warum halten sie hier Wache, denkt er, wenn doch jeder über den Strom kommen kann. Ein heller Mantel, und keiner würde mich erkennen auf dem Eis.
Aber dann flammen die Scheinwerfer oben auf der Festung auf und beleuchten die Ufer und bewegen sich über den Schnee, wandern über die Äste der kahlen Bäume.
»Kriegsbeute?« Auch der alte Soldat wirft seine Kippe weg, und nur noch der Junge raucht. »Waren Sie drüben in Dünkirchen, oder sind die Engländer nun schon hier?« Er lacht kurz auf. »In Ungarn, bei unserem Reichsverweser Horthy.« Das Licht der Scheinwerfer streicht über die Brücke.
»Der Führer wird sie besiegen, mit unserer Hilfe!, er ist kurz davor, sie zu besiegen!« Der junge Soldat mit dem Schnurrbart hält die filterlose Zigarette, von der kaum noch etwas übrig ist, zwischen Daumen und Zeigefinger, nimmt noch ein paar hastige Züge, bevor die Glut ihm die Fingerspitzen verbrennt und er die Zigarette in den Schnee fallen lässt.
»Was erzählst du für einen Unsinn!« Der alte Soldat gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, auf die Rückseite der Feldmütze, und der junge Soldat schreckt zusammen, protestiert aber nicht. »Wir stehen zu unserer Pflicht, aber wir kämpfen für unser heiliges Magyar Királyság, nicht für den Führer!« Das Licht der Scheinwerfer streicht über die Brücke.
»Der Führer hasst das Rauchen«, sagt der Mann mit dem Pelzmantel dann plötzlich und reicht den beiden Soldaten wieder die flache Schachtel, »er nennt den Tabak, also auch das Rauchen, die Rache des roten Mannes.«
»Indianer?«, fragt der junge Soldat und reibt sich den Hinterkopf. »Was hat der Führer mit den Indianern zu tun? Er ist doch kein Mann der Friedenspfeife.« Er lächelt, scheint sich an irgendetwas zu erinnern, wahrscheinlich an irgendein Spiel, ein Ritual seiner eben erst vergangenen Kindheit und Jugend. Cowboys und Indianer.
»Und was hat der Tabak mit den Indianern zu tun?« Der alte Soldat nimmt die Zigarette, die er hinter sein Ohr geschoben hatte, überlegt es sich dann aber anders und zieht eine aus der Schachtel, die der Mann mit dem Pelzmantel ihm immer noch hinhält. »Die rauchten doch Kräuter. Der richtige Tabak kommt doch wohl aus dem Orient, nicht wahr? Hier irrt der Führer!« Der alte Soldat zündet seine Zigarette mit dem großen Metallfeuerzeug an und stößt den Rauch aus. Am anderen Ufer schimmert das Stadtzentrum von Novi Sad schwachgelb in den Abend, in die Kuppel der Nacht. Die Pfiffe der Lokomotiven.
»Wahrscheinlich«, der Mann mit dem Pelzmantel nickt, »die Orientalen hatten doch schon Klospülung«, dieses Wort spricht er deutsch aus, »während wir …«
»Nein, nein«, protestiert der junge Soldat mit dem Schnurrbart, der wie angemalt aussieht, »der Führer hat doch recht, der Tabak kommt aus Süd- und Nordamerika!«
»Woher willst denn du das so genau wissen?«, grummelt der alte Soldat und zieht an seiner Zigarette. »Auf manchen Schachteln steht doch was von Orienttabaken.«
»In der Schule in Györ hab ich’s gelernt«, sagt der junge Soldat nun leise, als würde er sich schämen für seine Bildung, »unser Lehrer auf dem Gymnasium liebte den Tabak und rauchte auch im Unterricht seine Pfeife …« (Wenig später, Tage, oder Stunden nur?, würde der Mann mit dem Pelzmantel den Jungen an einem der Eislöcher stehen sehen, zusammen mit anderen Soldaten, Schatten auf dem Wasser, im Wasser, die Pfiffe der Lokomotiven, die aus aufgerissenen Mündern dringen.)
Die Feuerkörbe auf der Brücke brennen nun, der Mann mit dem Pelzmantel sieht weitere Soldaten, er hört eine Glocke schlagen in der Stadt, in die andere Glocken mit einstimmen, er sieht die spitzen Türme der Kirchen zwischen und hinter den eisernen Gitterbögen der Brücke, nein, er und die Soldaten (die Soldaten und er!) stehen doch auf dem Holz der Behelfsbrücke, die große eiserne Brücke, die einst nach Kaiser Franz Joseph benannt wurde, dann den serbischen Königsnamen Karađorđević erhielt, liegt doch im Fluss seit April letzten Jahres, 1941, als das Königreich Jugoslawien sich verzweifelt gegen den Führer stemmte, die Trümmer sind nun mit dem Eis verwachsen, er starrt über die hölzerne Brüstung, wo genau spannte sich die alte Brücke über den Strom?, die Pfeiler müssten doch noch zu sehen sein, die Züge fuhren im Schritttempo über die schmiedeeisernen Gitterbögen, helle Glockentöne, dunklere aus den Vororten und Dörfern, verweht, aber die Glocke, die er zuerst gehört hat, bleibt bei ihm, ist nah, und er zählt. Fünf Uhr am Abend und dunkle, dunkle Nacht.
Er wirft seine Zigarette aufs Eis, hebt grüßend die Hand zu den beiden Soldaten, die seine Papiere kontrolliert haben und mit denen er seit der Dämmerung geplaudert und geraucht hat, und stapft durch den Schnee in Richtung der Stadt. Die beiden Soldaten starren ihm eine Weile hinterher, den würzigen Geschmack der Dunhill-Zigaretten noch auf den Lippen.
»Seltsamer Typ.«
»Seltsame Zeiten.«
»Woher er wohl die Zigaretten hat, so gute habe ich noch nie …«
»Hat er doch gesagt.«
»Aber Kriegsbeute, was meint er damit?«
»Was schert es uns.«
»Aber du warst doch misstrauisch vorhin.«
»Das ist unser Beruf, misstrauisch zu sein. Seine Papiere waren in Ordnung.«
»Solche Dokumente habe ich noch nie gesehen.«
»Kriegst du auch nicht oft zu sehen.«
»Was er sich so für die Toten interessiert hat.«
»Die Toten?«
»Er wollte doch wissen, wo wir die Toten gefunden haben, mit den Flugblättern …«
»Wir haben sie ja nicht gefunden, wir haben nur von ihnen gehört.«
»Von den Toten, ja. Ob es stimmt?«
»Was?«
»Na dass die Kommunisten, die Partisanen, ihnen ihre Parolen auf den lebendigen Leib genagelt haben.«
»Dann waren es keine Toten.«
»Na meinetwegen Schwerstverletzte. Und wo sollen die denn die Nägel hergehabt haben. Und nagele du mal bei dieser Schweinekälte einer Leiche … oder einem Schwerstverletzten …«
»Du glaubst es also nicht, Junge.«
»Es wird schon stimmen.«
»Stell nie in Frage, was die Offiziere dir sagen.«
»Es wird schon stimmen. Und sie haben unsere Rekruten erschossen, diese Kommunistenschweine.«
»Es wird noch schlimmer kommen, Junge.«
»Sie müssen bezahlen, diese Mörder.«
»Einer wird bezahlen, Junge, verlass dich drauf. Am Ende vielleicht alle.«
»Wie meinst du das?«
»Vergiss es.«
»Warum er immer nach den Toten gefragt hat …«
Und der Mann, der nach den Toten fragte, geht langsam durch die Altstadt, Richtung Bahnhof. Er macht einige Umwege, ist eine Weile nicht in der Stadt gewesen, die Häuser sind dunkel, die ganze Stadt scheint ihm dunkel, Gesichter hinter den Fenstern, Scherenschnitte in der Nacht, Patrouillen in den Straßen, in den Gassen, sind die Straßen schmaler geworden und die Häuser geduckter?, Angst liegt über der Stadt Novi Sad, drückt von oben und drückt von den Seiten, Grenzjäger, Militärpolizei, Matrosen der ungarischen Donauflotte, ungarisches Heer, Fahrradbrigaden, die ihre Räder durch den Schnee schieben, schwarze Ustascha-Uniformen, deutsche Verbindungsoffiziere, Hakenkreuze, Schattenschnitte in der Nacht, Patrouillen in den Straßen, der Mann mit dem Pelzmantel zählt stumm in sich hinein, eine hell erleuchtete Konditorei taucht plötzlich vor ihm auf, er betrachtet die Torten und Kuchen in den Auslagen, fast wie in Wien, denkt er, die alten Habsburger Schlemmer, er ist noch nie in Wien gewesen. Er überquert den Marktplatz, kein Schnee unter seinen Füßen, die Straßenkehrer kehrten den ganzen Tag, auf Befehl des Ritters Ferenc Bajor, der sich als ungarischer Bürgermeister der alten Stadt in der Tradition der alten ungarischen Ritterorden sieht, während der Rest der Stadt im Schnee versinkt.
Soldaten vor der Rathausfassade. Manche tragen Stahlhelme, andere hohe schwarze Pelzmützen, irgendeine Spezialeinheit traditionsbewusster Magyaren, die Bajonette aufgepflanzt, und der Mann mit dem Mantel aus Wolfspelz fragt sich, ob der Generalleutnant Feketehalmy-Czeydner hier residiert, oder hat er sich wie die anderen Generäle oben auf der Festung Petrovaradin verkrochen, wie manche der Einwohner mutmaßen, aus Angst vor Angriffen der Partisanen.
»Moment mal, Freunde, der Rakija in allen Ehren, aber eben erzählt ihr dies und das und es wäre so und so, und jetzt auf einmal ist alles wieder anders?«, ja, ja, die Serben hätten auf der anderen Flussseite noch großen Rückhalt, und es kursieren Gerüchte, dass die Partisanen sich in den Katakomben eingenistet haben, der Mann im Pelzmantel weiß, dass das nicht stimmt, noch nicht, noch waren die Besatzer stark, Ungarn, Deutsche, Ustascha, noch funktioniert das Geflecht aus großen und kleinen Generälen, Stadtkommandanten und Militärverwaltern, Zivilverwaltern und alten und neuen Rittern, Donauflottenkapitänen und Verbindungsoffizieren, die Deutschen sind Meister im Verwalten, und die Ungarn haben ein wenig Chaos mitgebracht.
Und der Mann, der nach den Toten fragte, wirft den Kopf zurück und lacht, und einige Passanten bleiben stehen und blicken ihn an, was gibt es denn zu lachen im Januar 1942 in Novi Sad?, und auch einige der Soldaten mustern ihn, obwohl er noch weit entfernt steht, aber er kann nicht aufhören zu lachen, weil ihm der Gedanke gekommen ist, nein, er sieht es direkt vor sich, wie die Soldaten unter der Säulenfassade des Magistratsgebäudes einmal in der Stunde ihre Kopfbedeckungen tauschen, Kameraden im Winter, es muss höllisch kalt sein unter einem dieser Stahlhelme, und er stellt sich vor, wie sie darüber in Streit geraten, die Soldaten des Heeres und die Traditionseinheit, laute Stimmen auf dem Marktplatz von Novi Sad: »Und wenn sie auf euch schießen, seid ihr sofort kaputt mit euren lächerlichen Mützen!«
»Als ob euer Helm eine Kugel abhalten könnte!«
»Aber Granatsplitter, Kameraden!«
»Als ob die verdammten Partisanen Kanonen hätten!«
»Aber sie könnten mit Handgranaten angreifen, direkt hier auf dem Marktplatz!«
»Hier? Nein. Sie würden doch eher die Militärverwaltung angreifen!«
»Den Palast? Sollen sie es ruhig wegsprengen, dieses hässliche …«
»Pass auf, was du sagst, Kamerad, gegen das heilige Ungarn!«,
»Was hat denn der Palast mit uns Ungarn zu tun, die Jugos… die Serben haben ihn gebaut!«
»Alles, was das heilige Magyar Királyság erobert, gehört auch zum heiligen Magyar Királyság!«
»Mir ist jedenfalls schön warm unter meiner Mütze!«
»Aber wir hatten es doch ausgemacht, dass wir tauschen!«
»Ja, ja, nur die Ruhe, das kostet Schnaps!«
Und der Mann im Wolfspelz, der nach den Toten fragte und still in sich hineinzählte bei seinen Rundgängen durch die Stadt, sieht, immer noch lachend, den Wechsel der Mützen und Helme, die nicht so recht zu den jeweiligen Uniformen passen, sieht die Streitereien dieser zusammengewürfelten Wachmannschaft (und radelten nicht die ungarischen Soldaten auf der Suche nach Ruhm, ausgesandt vom Reichsverweser Horthy, mit den deutschen Truppen beziehungsweise hinter den deutschen Truppen gen Moskau, die berühmte Velosiped-Brigade?), sieht all das wie in einem Stummfilm, die Stimmen der Soldaten auf Texttafeln gebannt.
Und er liest die harten und dennoch komischen Worte des Streits auf diesen Texttafeln, sieht die Soldaten die Mützen tauschen und nach den Helmen greifen, scheppernd (stumm!) fällt ein Helm zu Boden, flimmerndes Schwarzweiß, er sieht, wie er ein Kino betritt, ein Bioskop, hier in Novi Sad, ein Schalter, ein Kassenhäuschen, in dem eine alte Frau sitzt, ihm ein kleines Pappticket gibt, das ihn an ein Eisenbahnbillet erinnert, ein langer Gang, den er immer weiter läuft, dem Kinosaal zu, und ungläubig staunend blickte er in das Licht des Projektors, vor fast zwanzig Jahren.
Er hatte Verwandte in der Stadt gehabt, die wollten ihn verkuppeln. Irgendeine Bäckerstochter.
»Komm zu uns in die goldene Vojvodina, hier backen die Bäcker bis zum Ende aller Tage, es wird dein Schaden nicht sein!«
Er war siebenundzwanzig Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Novi Sad kam, und er war noch nie in einem Kino gewesen. Was lief dort? Er kann sich nicht genau erinnern, Bilder und Stimmen der Vergangenheit, Stummfilme, Tonfilme, das Rattern des Projektors.
Er stand vor dem Bioskop von Novi Sad, trug seinen guten Anzug, den sein Vater vor langer Zeit in einem der großen Herrenateliers von Zagreb gekauft hatte und der ein bisschen zu knapp saß, wie soll ihm der noch passen, wenn er eine Bäckerstochter heiraten würde?, er zerdrückte einen kleinen Strauß Blumen, den er für die Bäckerstochter gekauft hatte, nervös an seinem Jackett. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis er die Unbekannte, von der er nur ein unscharfes Foto in einem Brief erhalten hatte (sie wirkte recht dünn für eine Bäckerstochter, aber das konnte täuschen), im Haus seiner Verwandten treffen würde, und die wohnten gleich um die Ecke, genug Zeit für einen Film. Und er strich die Aufschläge seines Jacketts glatt, betrat das Bioskop, ging zum Ticketschalter, ging durch einen langen Gang, Filmplakate an den Wänden.
Was genau hat er gesehen damals? Er versucht sich zu erinnern, während er immer noch die Soldaten beobachtet. Chaplin, der Hitler so ähnlich sieht? Nein. Der Mann mit dem weißen Gesicht? Nein. Der Mann, der an den Zeigern einer Uhr hing, oben an einem riesigen Turm? King Kong? Der junge John Wayne? Nein. Die kamen doch erst später. Johnny und der Affe? Dieser Deutsche, Harry Piel? Nein, die hat er Anfang der dreißiger Jahre gesehen, in einem anderen Bioskop. Aber hier in Novi Sad? Der Fuhrmann des Todes?
Der Fuhrmann ist verdammt, die Seelen der Verstorbenen in seiner Kutsche mitzunehmen, der letzte Tote am letzten Tag des Jahres wird der neue Fuhrmann, wer zuletzt stirbt, fährt!, zieht ein Jahr ruhelos über die Erde, sammelt die Seelen, ein Geist und sein Pferd, Kutsche in der Zwischenwelt, Männer, die auf einem Friedhof trinken und über diese Legende lachen, eine unglückliche Frau wartet woanders auf einen der Männer, todkrank durch seine Schuld, Silvesternacht, ein Mann schreit laut auf, ruft in die Musik, die den Saal erfüllt, ruft in die Bilder, der Fuhrmann kommt durch den Nebel mit seiner Kutsche, fährt ins Bioskop von Novi Sad … Ja. Vielleicht. Lange her.
Und die Filme und Bilder und Spieler schieben sich ineinander, Chaplin, Cowboys, große Dramen, Autos und Kutschen, Komödien, denn er hat nach diesem ersten Film Tage im Bioskop von Novi Sad verbracht. Er hatte auf dem harten Klappstuhl aus Holz gesessen, der bei jeder seiner Bewegungen knarrte, inmitten einiger anderer knarrender Bioskopbesucher, und als der Film begann, ein alter Mann saß an einer kleinen Orgel neben der Leinwand und spielte seltsame Melodien, die mal zu den stummen Bildern passten und mal nicht, da wusste er, dass er nie wieder etwas ähnlich Überwältigendes sehen und spüren würde, die Wirklichkeit verschwand, und die Wirklichkeit erschien.
Die Verwandten, die vor der Scheibe des Kino-Cafés standen, in dem er zwischen den Filmen saß, die Bäckerstochter hinter ihnen, ein unscharfer blasser und unglücklicher Strich, die Verwandten, die an die Scheibe des Cafés schlugen. Waren das Schüsse? »Ihre Papiere, bitte!«
Er sucht das Kino, das Bioskop, auf seinen Gängen durch die Altstadt. Fährt ein Stück mit der Trambahn, nur ein paar Fahrgäste stehen mit ihm in dem kleinen Waggon, die Gesichter mit Schals verhüllt, steigen aus, verschwinden in den Straßen, der Mann steht allein, direkt hinter der Fahrerkabine, wo ist der Fahrer?, springt dann ab, rutscht fast aus auf dem vereisten Gleis, schaut der Trambahn hinterher, Elektrizität knistert und funkt in den Oberleitungen, wird dann abgestellt, die Lichter der Trambahn erlöschen, die Wagen stehen dunkel und leer an den Haltestellen, auf den Straßen. Er sucht das Kino, das Bioskop auf seinen Gängen durch die Altstadt. Es gab nichts mehr zu beobachten am Magistratsgebäude von Novi Sad, Helme und Mützen wurden getauscht, Wachmannschaften abgelöst. Doch er kann das Bioskop nicht finden. Sieht die dunklen Trambahnen, Gesichter hinter den Scheiben. Fiel sicher auf, als er wieder und wieder seine Runden drehte in der dunklen kalten Stadt. Er wollte doch eigentlich zum Bahnhof, zur stanica.
An der Synagoge bleibt er stehen. Warum sind hier keine Soldaten zu sehen? Auch keine Uniformierten der Gendarmerie. Die große Kuppel, der kleine seitliche Turm.
Von dem angeblich Leuchtzeichen gegeben wurden, zu den Partisanen in der Ebene, zur Festung Petrovaradin, wo die Partisanen in den Katakomben lauerten. Er hat seit Tagen den Gerüchten gelauscht. In der Stadt, vor der Stadt. Notierte sie in sich hinein.
Er tritt näher an das große Gebäude heran. Nimmt sich eine Zigarette aus der flachen Schachtel und zündet sie an. Er braucht fünf Streichhölzer, bis der Tabak brennt.
Es ist vollkommen ruhig in der Straße. Wie kalt es wohl war? Mindestens zwanzig Grad unter null, eher noch kälter, sonst wäre der Fluss nicht zugefroren. Die Ruhe vor der Synagoge ängstigt ihn. Hat er nicht vorhin Schüsse gehört? Immer wieder ist er durch die nächtliche Stadt gelaufen. Stimmen und Geräusche von allen Seiten, mal laut, mal leise, doch meist gedämpft, ihm war, als könnte er in die Häuser hineinhören, er schüttelte den Kopf, hatte das Gefühl, jede seiner Bewegungen würde sich verlangsamen in dieser unfassbaren Kälte, Stimmen und Geräusche, die sich dehnten, wie von einer gebremsten Schallplatte an sein Ohr drangen, »Hör auf, Vater, nimm den Finger von der Schallplatte. Wir wollen die Geschichte wieder normal hören!«, was war das? Lachen und Stimmen und Musik, die er gehört hatte, als er an einer der großen Villen am Stadtrand vorbeigekommen war, hier wohnten die angesehenen Familien von Novi Sad, aber was hatte das heute schon zu bedeuten. Und was gab es zu lachen im Januar 1942?, man muss sich die Zeit vertreiben, bevor es ganz dunkel wird.
Schüsse? Nein, noch nicht. Stimmen und Bilder und Menschen, und er notierte all das in sich hinein, Zahlen, Zahlen, Menschen, »Einer wird bezahlen, am Ende vielleicht alle«, und als er in der beginnenden Nacht am Banschaftspalast vorbeigekommen war, die Kälte des Flusses noch unter seinen Kleidern, auch hier Truppen, Soldaten, Stahlhelme und Pelzmützen, die Blauen der Gendarmerie, die Grauen und Grünen des Heers, Glutpunkte ihrer Zigaretten, schien es ihm, die Wände und Mauern aus Beton würden die Melodien und Lieder und Märsche und das Klappern der Hufen der Pferde und das Knallen der Absätze der Soldaten wozu ist die Straße da, zum Marschieren, zum Marschieren um die weite Welt zu ihm werfen, halblaut, denn es lag ja Monate zurück, und die Vergangenheit dämpfte die Töne, aber dennoch deutlich zu vernehmen all das, ein immerwährendes Echo der Parade der Sieger, vor mehr als einem halben Jahr, Lieder und Märsche und Stimmen und Hufgeklapper zwischen den Mauern, kalt hatte er ausgesehen, der Banschaftspalast, die Betonwände wirkten wie mit Raureif überzogen, obwohl ja Sommer gewesen war, 1941, endlose Kolonnen, die den Betonpalast passierten, Fahnen, Menschen unter Fahnen, Tausende Bajonette an den Läufen der Gewehre, und die Pferde dampften, als würden sie die kommende Kälte schon spüren, und der Mann stand ohne Pelzmantel am Rand der Parade. Danach hatte er die Stadt verlassen, und nun scheint es ihm, er wäre das ganze letzte halbe Jahr, das zwischen der Parade der Sieger und dem Januar 1942 lag, in einem großen Halbkreis wieder zurück in die Stadt marschiert, durch Dörfer, an kleinen Flüssen vorbei, bunten Laubwäldern, die kahl wurden, kleinen Weihern, dem Winter zu.
Eine Brücke am Fluss. Ein Dorf in der Nähe, in dem auch die Kinder getötet wurden, immer noch und wieder Januar, »Fünfzig Leichen?«, »Nein«, »Siebzig?«, »Nein«, »Wie viele?«, »Ich muss in mich horchen«, Kinder, was sollten sie auch leben ohne ihre Eltern?, Stimmen, Tote, die über den Fluss in die Stadt kamen, ins JETZT.
Er steht vor der Tür der Synagoge, blickt auf das kreisförmige Fenster unterm Dreieck des Portals, die große Kuppel weit über ihm in der Nacht. Sterne. Er legt den Kopf in den Nacken. Wo ist der Mond? Seit Tagen hat er keinen Mond mehr gesehen. Er wanderte am Ufer des Stroms entlang. Kleinere Flüsse mündeten in den Strom. Kleinere Flüsse, die sich zuvor verzweigten, durch Dörfer flossen, deren Namen der Mann noch nie gehört hatte und tief in sich notierte, auf das noch frische Papier seiner Erinnerungen, das schon fleckig zu werden begann, aber wirkliche Notizen waren verdächtig, konnten gefunden werden, und so bewegte er die Lippen, während er durch die verschneite Ebene kam, früher Januar 1942, sprach flüsternd die Namen der Dörfer, die ihm so fremd klangen, wieder und wieder, bis sie ihm leicht von der Zunge gingen und er nachts im Schlaf noch die Lippen bewegte, näher führten ihn die Namen an Novi Sad heran, so wie die Flüsschen sich dem Strom näherten, und dann doch weg von der Stadt, die nun wieder Új-Vidégh genannt wurde, und zu jedem der Namen gehörte eine Zahl, die größte würde noch kommen, Zahlen, die ihm fremd waren, Menschen in Flüssen, nur selten fand er ihre Namen, und so notierte er alles in sich hinein, er hatte in seiner Jugend recht viel Schach gespielt, und sein Gedächtnis war noch gut, obwohl er schon über vierzig war, und er glaubte fest, dass er, wenn er jünger gewesen wäre in diesen kalten Tagen und Monaten und Jahren, schreiend durch die verschneite Vojvodina gerannt wäre, er hätte so sein Gedächtnis geleert unterwegs, zurück in seine Stadt, die in wärmeren Gefilden lag, oder zu seinem Bruder, der in einem Gebirge lebte, über dem fast immer die Sonne schien, aber so zählte und notierte er, Namen und Namen und die Zahlen der Toten, wann hatten die Aktionen begonnen?, wann sah er die ersten Menschen in einem der Flüsse?, Namen von Dörfern, Namen von Flüssen und Flüsschen, Zahlen, »Was hast du gesehen, alter Mann?«, aber der alte Mann, der nur einen Bauernkittel trug, schwieg und blickte auf