Als wir träumten - Clemens Meyer - E-Book
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Als wir träumten E-Book

Clemens Meyer

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Beschreibung

»Ein bewegendes Buch. Das Monument einer Jugend. Ein Stück Zauberei.« Sten Nadolny Nach den Kinderspielen kommen die Kämpfe: Rico, Mark, Paul und Daniel wachsen auf im Leipzig der Nachwendejahre, zwischen Autoklau, Alkohol und Angst, zwischen Wut und Zerstörung. Jede Nacht ziehen sie durch die Straßen. Sie feiern, sie klauen, sie fahren ihr Leben gegen die Wand. Sie sind frei und dem Leben ausgeliefert. Mit direkter, wütender, sensibler und authentischer Stimme erzählt dieser Roman von dem Traum, dass irgendwo ein besseres Leben wartet.

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Seitenzahl: 899

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Clemens Meyer

Als wir träumten

Roman

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Sie träumen vom Aufstieg ihrer Fußballmannschaft, von einer richtigen Liebe und davon, dass irgendwo ein besseres Leben wartet. Rico, Mark, Paul und Daniel wachsen auf im Leipzig der Nachwendejahre, in einem Viertel, dessen Mittelpunkt die Brauerei ist. Jede Nacht ziehen sie durch die Straßen. Sie feiern, sie randalieren, sie fliehen vor den Glatzen, ihren Eltern und der Zukunft. Sie kämpfen mit Fäusten um Anerkennung und schlagen die Zeit tot. Sie saufen, sie klauen, sind cool und fertig und träumen vom eigenen Leben. Alle ihre Fluchtversuche enden auf den Fluren des Polizeireviers Südost.

 

Leidenschaftlich, wild und mutig verspielen sie ihr Leben in einer aussichtslosen Rebellion. Darum lassen einen die Bilder des nächtlichen Leipzig, die Boxkämpfe, die Hoffnungslosigkeit und die Hoffnung dieses Romans nicht mehr los.

 

»Selbstverständlich ist Meyer viel zu jung. Aber so ist das mit guten Schriftstellern. Sie tauchen plötzlich auf und die ergrauten Kollegen kratzen sich am Kopf: Wieso kann der eigentlich schon so viel?«

Sten Nadolny

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Clemens Meyer, geb. 1977 in Halle/Saale, lebt in Leipzig. Nach dem Abitur arbeitete er als Bauhelfer, Möbelträger und Wachmann. Von 1998 bis 2003 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2001 gewann er den MDR-Literaturwettbewerb, 2003 belegte den 2. Platz. ›Als wir träumten‹ war für den Preis der Leipziger Buchmesse 2006 nominiert und zum Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Clemens Meyer erhält den Förderpreis zum Lessing-Preis 2007.

Inhalt

[Widmung]

KINDERSPIELE

ALL DIE BUNTEN MINEN

PALAST-THEATER

STRAHLEN

DAS SCHWARZE LOCH

I Kontakte

II Konkurrenz

III Ausflüge

DIE GROSSEN KÄMPFE

POMMES FRESSEN

IMMER BEREIT

RÜCKKEHR

GRÜNE NÄCHTE

NACHSPIELZEIT

JUGENDARRESTANSTALT ZEITHAIN

ALLE MEINE FRAUEN

EASTSIDE STORY

IN DER »SILBERHÖHE«

TATTOO-THILO

STRASSENKÖTER

SCHÜSSE

RÜCKKEHR, ABSCHIED

»GRÜNE AUE«

GROSSER WAGEN

KLEINER RENNFAHRER

Erste Runde

Zweite Runde

Dritte Runde

VERSAMMLUNGEN

ARBEITSBESCHAFFUNGSMASSNAHMEN

HUNDEHERZ

DER FLIEGER

ABSCHIED

ALS WIR REPORTER WAREN

DANK

Für Jan und Martin

KINDERSPIELE

Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin, wenn alles anfängt, in meinem Kopf verrückt zu spielen. Ich glaube, wir haben ihn gesungen, wenn wir auf Kreidevierecken herumsprangen, aber vielleicht habe ich ihn mir selbst ausgedacht oder nur geträumt. Manchmal bewege ich die Lippen und spreche ihn stumm, manchmal fange ich einfach an zu summen und merke es nicht mal, weil die Erinnerungen in meinem Kopf tanzen, nein, nicht irgendwelche, die an die Zeit nach der großen Wende, die Jahre, in denen wir - Kontakt aufnahmen?

Kontakt zu den bunten Autos und zu Holsten Pilsener und Jägermeister. Wir waren um die fünfzehn damals, und Holsten Pilsener war zu herb, und so soffen wir meistens nationalbewusst. Leipziger Premium Pils. Das war auch preiswerter, denn wir bezogen es direkt vom Hof der Brauerei. Meistens nachts. Die Leipziger Premium Pilsner Brauerei war der Mittelpunkt unseres Viertels und unseres Lebens. Der Ursprung durchsoffener Nächte auf dem Vorstadtfriedhof, endloser Zerstörungsorgien und Tänze auf Autodächern während der Bockbiersaison.

Die Original Leipziger Brauereiabfüllung war eine Art blonder Flaschengeist für uns, der uns sanft an den Haaren packte und über Mauern hob, Autos in Flugmaschinen verwandelte, uns seinen Teppich lieh, auf dem wir davonflogen und den Bullen auf die Köpfe spuckten.

Doch meistens endeten diese seltsam traumartigen Flugnächte mit einer Landung in der Ausnüchterungszelle oder auf dem Flur des Polizeireviers Südost, mit Handschellen an die Heizung gekettet. Als wir Kinder waren (ist man mit fünfzehn auch noch Kind? Vielleicht waren wir es nicht mehr, als wir das erste Mal vorm Richter standen, der meistens eine Frau war, oder als sie uns das erste Mal nachts nach Hause brachten und wir am nächsten Tag zur Schule gingen, oder auch nicht, und die Abdrücke der verfluchten 8 noch an unseren dünnen Handgelenken hatten), als wir liebe Kinder waren, war der Mittelpunkt des Viertels für uns der große »Volkseigene Betrieb Duroplastspielwaren und Stempelsortimente«, aus dem uns ein ansonsten unbedeutender Klassenkamerad, über seine Stempelkissen herstellende Mutter, Stempel und kleine Autos besorgte, weshalb er von uns keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Der große VEB ging 1991 Pleite, und das Gebäude wurde weggerissen, und die Mutter des kleinen Stempel- und Modellautohehlers wurde nach zwanzig Jahren arbeitslos und erhängte sich auf dem Außenklo, weshalb der unbedeutende Junge von uns auch weiterhin keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Jetzt steht dort ein Aldi, und ich könnte mir dort billig Bier oder Spaghetti kaufen.

Das mit der Mutter des Jungen stimmt nicht. Sie fand 1992 in einer neuen Shell-Tankstelle Arbeit und wollte uns immer nicht kennen, wenn wir bei ihr Bier oder Schnaps kauften, weil es Nacht war und die Läden zuhatten und die Mauern der Leipziger Premium Pilsner Brauerei manchmal einfach zu hoch waren.

Das Tollste war, dass die Brauerei da war, auch wenn wir sie nicht sehen konnten, weil wir gerade ein paar Straßen weiter einer alten Frau die Handtasche nach Hause brachten, oder weil es Nacht war (ich meine diese furchtbar dunklen Abendnächte im Winter, wo du nur die Lichter siehst und dich so traurig fühlst), oder weil wir die Augen schlossen, wenn wir vorüberfuhren. Die große alte Leipziger Premium Pilsner Brauerei war da. Wir konnten sie riechen. Sie roch wirklich so was von herrlich scheißgut nach würzigem Hopfen, so wie schwarzer Tee, nur noch viel besser. Wenn der Wind günstig stand, konnten wir es kilometerweit riechen.

Und auch jetzt noch rieche ich es, wenn ich das Fenster aufmache, obwohl ich weit weg bin, aber die anderen wollen davon nichts wissen. Und woher können sie auch wissen, erzählt habe ich es ihnen nicht, und wenn wir nachts schlaflos in unseren Betten liegen, schiebe ich mir einen Zipfel der Bettdecke zwischen die Zähne, um nicht von den wilden Zeiten zu erzählen.

Ich denke in solchen Nächten viel an Alfred Heller, den wir Fred nannten und dessen Gesicht von der Sauferei graublau geworden ist wie allerfeinster Schimmel. Er war ein paar Jahre älter als wir, sah aber aus wie fünfzehn, trug eine runde Brille wie ein lieber Schüler, fuhr aber ohne Führerschein geklaute oder irgendwo billig gekaufte Autos durchs Viertel und die ganze Stadt. Es war seltsam, bei ihm im Auto zu sitzen, denn es gab kaum Platz, weil überall Bierbüchsen lagen, und wir machten die verrücktesten Sachen, wenn wir unterwegs waren. Irgendwas passierte mit uns, wenn wir bei ihm einstiegen, irgendwas ließ uns alle Hemmungen verlieren, wir fühlten eine absolute Freiheit und Unabhängigkeit, die wir nie gekannt hatten und die wir jetzt aus uns herausbrüllten; es schien, als wären Freds verbeulte Autos verzaubert von der Hexe mit den fünf Katzen, die bei mir nebenan wohnte. Manchmal benutzten wir das heruntergekurbelte Seitenfenster als Surfbrett und hielten uns mit einer Hand am Dach fest. Das war wie Karussell fahren nach einer Flasche »Stroh 80«.

Einmal, als wir nachts durch die Stadt rasten, ließ der besoffene Fred das Lenkrad los und sagte: »Scheiße, ich kann nicht mehr.« Ich saß hinten, neben dem mit Drogen voll gestopften Mark und dem damals noch sauberen Rico, und auch wir konnten nicht mehr und hatten nur Augen für die Lichter unserer Stadt, die an uns vorüberrasten. Und hätte der kleine Walter, der vorn neben dem plötzlich resignierenden Fred saß und dem ich später in einer Nacht zweimal das Leben gerettet habe (und der dann noch viel später, in einer anderen Nacht, trotzdem einfach weggegangen ist), nicht ins Lenkrad gegriffen und sich auf den halb im Sitz versunkenen Fred gesetzt und den Wagen mit viel verbranntem Gummi zum Stehen gebracht, dann wäre ich jetzt tot oder hätte vielleicht meinen rechten Arm verloren und müsste allen Papierkram mit links erledigen.

Fred Heller hatte noch einen Bruder, Silvio. Silvio besaß nicht die kriminelle Energie von Fred, dafür aber spielte er Schach. Die Brüder wohnten zusammen, und während Fred & Co. im Wohnzimmer die übelsten Geschäfte machten, spielte ich mit Silvio in der Küche Schach. Er hatte eine etwas eigene Regelauslegung, aber ich akzeptierte das, weil, so erzählte er mir einmal, während er seinen Läufer auf die Schnapsflasche stellte und mir, beziehungsweise meinem König, von dort aus Schach bot, sie ihn zu Zonenzeiten im Ghetto medizinisch verpfuscht hätten und er nur noch ein paar Jahre zu leben hätte. Da musste was dran sein, denn er zog ein Bein nach, und sein linker Arm war fast lahm. Außerdem machte sein Gesicht manchmal schreckliche Verrenkungen, er verdrehte die Augen, bis das Weiße grün wurde, und schlug mit dem Kopf immer wieder aufs Schachbrett (ich hatte furchtbare Angst, einer der spitzigen Läufer könnte ihm im Auge stecken bleiben). Das Ganze hat mich so beeindruckt, dass sogar in Gewinnstellungen, wenn, nach seiner Regelauslegung, mein Springer seinen König vergewaltigte, ich fix aufgab, das heißt meinem König den Kopf abbiss und ihn ins Vier-Sterne-Tiefkühlfach steckte und zu Fred & Co. ins Wohnzimmer flüchtete und die übelsten Geschäfte machte.

Im Ghetto medizinisch verpfuscht. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was das heißt, »Ghetto«, wenn Fred und sein Bruder erzählten. Die Eltern hatten sie weggegeben, und sie waren jahrelang in einem geschlossenen Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche gewesen, im Ghetto eben, und dort hatte Silvio wohl ein bisschen zu viele Antidepressiva und Ruhighalte-Spritzen bekommen, die Leber und Nieren den Rest gaben, manchmal erzählte er irgendwas von Experimenten, aber ich glaube, das stimmt nicht. Ich habe Fred mal gefragt, ob er noch Kontakt zu seinen Eltern hat. »Nein«, hat er gesagt, »wenn ich die sehe, kriegt mein Messer 'n Ständer.« Jetzt kriegt der alte Fred wahrscheinlich einen Ständer, wenn der Wind bläst, denn er sitzt in irgendeinem beschissenen Knast. Ich weiß nicht genau, was seine letzte Aktion war, die ihn in den Bau gebracht hat, ich weiß nur, dass er zum x-ten Mal auf Bewährung war und dass seine Akte dick war wie »Meyers A-Z«, und weiß auch nur, was erzählt wurde und was mittlerweile fast Legende ist.

Er fuhr durch die Stadt, und die Bullen waren hinter ihm her, es war Nacht, und er hatte seinen normalen Pegel, und irgendwie hat es ihn plötzlich gepackt. Wahrscheinlich hatte er die letzte Show geplant. Stil hatte es ja. Vollbremsung. Den Wagen gewendet. Vollgas. Das erste Bullenauto gerammt. Das zweite Bullenauto gerammt. Rückwärtsgang. Das Gleiche nochmal. Weiß nicht, wie oft. Es heißt, am Ende hätten die Bullen die Türen nicht mehr aufgekriegt. Dann ist er ausgestiegen und hat die Hände gehoben, wie Billy the Kid, und gesagt: »Ich gebe auf.«

Ich weiß nicht, ob die Bullen zur Dachluke aus ihren Ziehharmonikas raus sind, jedenfalls hat er dem Ersten, der auf ihn zugetaumelt ist, mit einem Schlag die Nase gebrochen, und seitdem ist er weg. Dabei hatte er mir vorher gesagt, dass er nie mehr ins Ghetto geht und dass er Schluss machen will mit dem ganzen Mist. Und ich hätte es fast geglaubt. Denn als wir einmal, Fred, ich und mein alter Schulfreund, der damals schon mit Drogen voll gestopfte Mark, in einer Kneipe waren und irgendwelche Typen mit Fred Streit anfingen (es ging wohl um alte Geschäfte), ist er nicht drauf eingegangen, auch nicht, als sie ihm Bier ins Gesicht schütteten. Und als ich nach dem Barhocker griff, hat er gesagt: »Daniel, bleib ruhig, lass die Scheiße, das ist meine Angelegenheit.« Die drei Typen standen neben uns an der Bar, und einer hat Fred angestoßen, sodass er vom Barhocker fiel. Seine Brille zerbrach, und er setzte sie wieder auf, blinzelte durch die zersprungenen Gläser und sagte zu mir: »Daniel, bleib ruhig«, und zu ihnen: »Ich mache nichts, ihr Pisser, ich bin auf Bewährung.« Das hat er immer wieder zu ihnen gesagt, als sie ihn schubsten, und einer schlug ihm ein paar Mal ins Gesicht. Dann zog Fred ein Springmesser aus der Tasche, es klackte kurz, die Klinge stand, er legte die Linke auf die Theke und rammte mit der Rechten die Klinge durch seine Hand ins Holz der Bar. »Ihr dreckigen Mistschwuchteln kriegt mich hier nicht weg!« Sie sind dann auch schnell gegangen, und ich hab einen Arzt gerufen. Und bevor der kam und das Messer, das ziemlich tief im Holz steckte, rauszog, habe ich mit Fred noch ein paar Doppelkörner getrunken, während der Kneiper das erstaunlich wenige Blut wegwischte. Noch nie in seinem Leben, sagte Fred, hat er sich so wohl gefühlt, mit einer Hand an die Bar genagelt.

Mein alter Schulfreund, der halb besinnungslose Mark, der neben uns saß, hat davon nichts mitbekommen. Und auch noch heute kriegt er nichts mit, denn er ist irgendwo in einem leeren weißen Zimmer, ans Bett geschnallt, auf Entzug.

Bett. Entzug. Meine kleine Estrellita. Ich singe, ich träume, meine kleine Estrellita. Sie hieß in Wirklichkeit gar nicht Estrellita, aber ich nenne sie gerne so, das heißt Sternchen auf Spanisch, und als irgendein Arschloch mit ihr auf dem Beifahrersitz gegen einen Baum gefahren ist, lag sie fünf Wochen im Koma, und als sie wieder aufwachte, war sie noch hübscher als zuvor, so klein und so zerbrechlich, und sie hat mir mindestens fünf Paar schöne Augen gemacht. Ich weiß nicht mal mehr, welche Farbe ihre Augen hatten. Ich war wohl so etwas wie verliebt, denn sie war wirklich ein wunderschönes, kleines ... Flittchen. Der ebenfalls kleine, aber nicht so wunderschöne Walter hat mir das erzählt und gesagt, ich soll die Finger von ihr lassen, denn halb Leipzig (inklusive er selbst, dieser Dreckskerl) kenne jede Einzelheit ihres Körpers, ausgenommen die Farbe ihrer Augen. Und so hat mich der kleine Walter vor der Syph bewahrt und sich ein wenig dafür revanchiert, dass ich ihm in einer Nacht zweimal das Leben gerettet habe.

Es war eine Nacht wie ein Traum. Wir saßen in unserem Park, durch den ich bald wieder gehen und den Kindern zuschauen werde, die dort spielen, in demselben Sandkasten, in den wir früher pissten und nicht selten auch kotzten. In dieser Nacht wurde Fred wieder mal geschnappt, als er oben auf der Mauer der Brauerei stand und die Bierkästen nach unten reichte, wo Rico wartete, den wir den verrückten Rico nannten, wenn er nicht dabei war, weil er zu Zonenzeiten einmal unserem Pionierleiter ein Stück der Nasenspitze abgebissen hatte, weil dieser Ricos Captain-America-Comic-Heft konfiszieren wollte, und Rico nur deshalb nicht von der Schule geflogen ist, weil es kurze Zeit später keine Pioniere und damit auch keine Pionierleiter mehr gab. Es stimmt allerdings nicht, dass Rico dem Bullen ein Stück der Nasenspitze abbiss, als dieser den Bierkasten und Rico und Fred konfiszieren wollte. Mark, der eigentlich bei der ganzen Aktion helfen sollte, aber aus irgendeinem Drogengrund, von den Bullen unbeachtet, auf der Bordsteinkante saß und mit Kieselsteinen jonglierte, hat das gesehen und sich an all den Spinnen und Spinnweben vorbei bis in den Park gekämpft, wo Walter, Stefan, der damals schon Pitbull hieß, ich und meine vertripperte Estrellita durstig warteten. Wir waren wirklich wahnsinnig durstig, denn wir hatten kurz vorher, zur Eröffnung des Abends sozusagen, eine von Freds halb legalen Karren geschlachtet. Fred meinte, er braucht das Auto nicht mehr, und dann hat einer gegen die Tür getreten, und dann haben wir alle zusammen die Tür rausgerissen und alle Scheiben zerschlagen, die Reifen zerstochen und so weiter. Ich glaube, hätten wir ähnliche Fähigkeiten gehabt wie dieser Guinessbuch-Franzose, wir hätten das Auto gefressen. Ich weiß nicht, was mit uns passierte, wir gerieten in einen Rausch, sicher, es war auch der Alkohol, aber irgendwas in uns drin machte »klick«, legte den Hebel auf »Gewitter im Gehirn«. Meine kleine Estrellita ist schreiend auf dem Dach des Autos rumgetanzt, mein Gott, habe ich sie geliebt.

Gewitter im Gehirn gab es auch, als uns Mark erzählte, wo Rico und Fred waren. Wir wollten sie rausholen und haben auf dem Weg zum Polizeirevier Südost alle Mülltonnen, Verkehrsschilder, Parkbänke und jedes fünfte Auto kurz und klein geschlagen. Verrückt war, dass die Bullen, als wir brav gegen das große Eisentor traten und unseren Erscheinungsgrund nannten, einfach sagten: »Verschwindet, ihr könnt sie morgen früh abholen«, dabei wäre das Krachen, Splittern, Brüllen, das wir erzeugt hatten, laut genug gewesen, um Ricos taube Großmutter aufzuwecken, die schlecht schlafen konnte, weil Rico, der bei ihr wohnte, nicht nach Hause kam. Ricos Arme waren hinter seinem Rücken, und sie schubsten ihn durch einen langen weißen Gang, in ein helles weißes Zimmer vor eine Schreibmaschine zur Protokollaufnahme, Tatverdacht Diebstahl. Wir hörten ihn von drinnen schreien: »Alles in Ordnung, mir geht's gut, wir sind die Größten!«, als hätte er sich schon damals dran gewöhnt, hinter Gittern zu sitzen.

Draußen kotzte Estrellita auf die Frontscheibe eines einparkenden Bullenwagens, worauf wir sie schnell nach Hause brachten. Und in ihrem Haus sprang dann der kleine Walter aus dem dritten Stock, wegen irgendeiner Schlampe, die ihn nicht lieben und mit ihm ans Meer fahren wollte, und ich erwischte ihn im Fallen noch am Kragen, und der Verrückte schrie, nein, lallte noch: »Anja, ich liebe dich!«, als der Stoff riss und der motorisch nicht mehr handlungsfähige Mark selbst aus dem Fenster hing bei dem Versuch, Walter wieder reinzuziehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir es schafften, dass sich keiner das Genick brach, ich weiß nur noch, dass der kleine Walter es noch mal probierte und sich vor einen LKW warf und wir, nachdem ich ihn kurz vorm Zerquetschtwerden von der Straße gezogen hatte, verwirrt und betrunken nach Hause taumelten. Alles war verrückt wie ein Albtraum in einer Sommernacht bei dreißig Grad.

Es gibt keine Nacht, in der ich nicht von alldem träume, und jeden Tag tanzen die Erinnerungen in meinem Kopf, und ich quäle mich mit der Frage, warum das alles so gekommen ist. Sicher, wir hatten eine Menge Spaß damals, und doch war bei dem, was wir taten, eine Art Verlorenheit in uns, die ich schwer erklären kann.

Es ist Mittwoch, und gleich werden sie die Tür aufschließen und mich zum Doktor Beichtvater bringen. Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin, wenn alles anfängt, in meinem Kopf verrückt zu spielen.

ALL DIE BUNTEN MINEN

Die Schule brannte. Wir lagen im Treppenhaus und in den Gängen, wir konnten nicht mehr raus. Weiter unten schlugen Granaten ein. Mark kam die Treppe hochgestolpert, ein Schild hing um seinen Hals, »Granatsplitterverletzung« stand da in großen schwarzen Druckbuchstaben. Er blieb ein paar Stufen unter mir liegen.

»Scheiße, mich hat's erwischt«, sagte er leise.

»Wo denn genau?« Ich lehnte meinen Kopf ans Treppengeländer.

Er zeigte auf sein Schild. Ganz unten stand in kleiner Schrift und in Klammern »im Bauchbereich«.

»Granatsplitter im Bauch, das war's«, sagte ich, »das is wie 'n Bauchschuss, da gehste drauf. Tot!«

»Quatsch, die holen mich doch gleich raus!«

»Bringt auch nichts, da verbluteste innerlich.«

»Halt die Fresse, Danie!« Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Er war jetzt ganz still, und ich konnte ihn atmen hören. Das Treppengeländer drückte an meinen Hinterkopf, und ich rutschte näher zur Wand. »Wenn du 'ne Knarre hättest«, sagte ich, »dann müsstest du dich selbst erschießen. Würdest du das machen?« Er antwortete nicht, sicher hatte er Schmerzen. Wie der Typ in dem Western, der sich einfach erschossen hat, in den Kopf, weil er wusste, dass er nicht durchkommt. Ich war froh, dass ich nichts am Bauch hatte. Ich hob meinen Kopf und hustete laut, denn ich hatte ja ein paar Brandwunden und eine Rauchvergiftung, obwohl die nicht auf meinem Schild stand. Ich hustete noch lauter, damit sie mich hören und rausholen konnten. Jemand rannte oben durchs Treppenhaus, dort lag Katja. Sie hatte sich neben die Tür auf eine Decke gelegt, und als ich mich neben sie legen wollte, hatten die blöden Sanis mich weggeschickt. »Brandverletzungen und Weichteilwunden im Ersten und Zweiten«, hatten sie gesagt. Auf Katjas Schild stand »Schwere Kopfverletzung (wahrscheinlich Steckschuss)«. Sie war Gruppenratsvorsitzende und hatte sich den besten Platz und die beste Verletzung ausgesucht.

»Brandwunden sind harmlos, da lässt man dich liegen, das ist denen egal, da kommt eh nur bisschen Wasser drauf!« Mark hatte sich wieder umgedreht und tippte grinsend auf sein Schild. »Mich müssen sie aufschneiden, bei mir muss es schnell gehen, da kommen die Mädchen aus der Zehnten, und dann kann ich meinen Kopf auf ihre Titten legen!« Da kamen sie wirklich die Treppe runter, aber ihre Trage war schon voll, sie hatten Katja dabei, ihr Kopfschuss-Schild lag auf ihrer Brust, sie hatte noch keine richtigen Brüste, nur ein ganz kleines bisschen im Sportunterricht und auch bei den Pioniernachmittagen, wenn sie eine Rede hielt und ihren Oberkörper so schön nach vorne bog. Ihr Kopf wackelte auf der Trage hin und her, Mensch, passt doch auf, da ist doch irgendwo 'ne Kugel drin! Sie legte ihre Hand unter ihren Kopf und lächelte mir zu. Ich hielt mein Schild fest und lächelte zurück. Die beiden Mädchen aus der Zehnten trugen braune Armeehemden, die sie über der Brust aufgeknöpft hatten (so groß waren die gar nicht), sie hatten die Ärmel hochgekrempelt und machten ziemlich viel Lärm mit ihren Stiefeln. Mark lag jetzt vor ihnen, mitten auf der Treppe. »He, und ich, was ist mit mir, soll ich hier verrecken, oder was?«

»Na, jetzt mach doch mal Platz, du kommst schon noch dran!«

»Bauchschuss, ich hab 'n Splitter im Bauch, Granatsplitter, riesengroß!«

Die beiden lachten und stiegen einfach über ihn drüber. Ich blickte Katjas Kopf hinterher, der wieder neben der Trage baumelte.

»So 'n Mist, Danie, mir tut langsam der Arsch weh!«

»Siehste, wer bleibt nun liegen?«

»Lass mich doch in Ruhe!« Er drehte sich wieder zur Wand.

»Weißt du, was die mit mir machen? Ich hab doch 'ne Rauchvergiftung, eine schwere sogar. Mundzumundbeatmung, verstehste!«

»Quatsch!« Mark hatte sich aufgerichtet und blickte mit großen Augen zu mir hoch. »Is doch Quatsch, oder?«

»Nee, nee, kannste mir glauben, hat mir einer aus der Sechsten erzählt, der hatte das Gleiche wie ich jetzt, letztes Jahr. Schwere Rauchvergiftung!«

»Du spinnst doch, bei dir steht doch gar nichts von Rauchvergiftung und auch nicht ›schwer‹!«

»Nee, aber Rauchvergiftung, das ist immer schwer, das müssen sie nicht extra draufschreiben. Bei Brandwunden hast du immer 'ne Vergiftung, ich war doch mitten im Feuer drin! Und die müssen ja alles so machen wie in echt!« Ich hustete und röchelte und hielt mich am Geländer fest.

»Also die knutschen dich ab, ich meine richtig, und dabei pressen sie dir Luft rein?«

»Genau, aber natürlich nicht zu viel Luft, weil du ja in Ordnung bist, aber sie müssen's ja üben. Sie stecken dir auch die Zunge rein, weil sie ja gucken müssen, ob du deine Zunge nicht verschluckt hast, so was kommt nämlich vor.«

»Danie, du veräppelst mich!«

»Nein, Ehrenwort. Pionierehrenwort!« Ich hob meine Hand. »Sie wühlen mit ihrer Zunge in deinem Mund rum, und pass auf, vielleicht gefällt ihnen das sogar, klar, das gefällt denen. Bei mir auf jeden Fall, da kenn ich mich aus, Mark, und dann können sie nicht mehr aufhören damit!«

»Und ihre Brüste, Danie?«

»Klar, die liegen auf dir drauf, die fühlst du dann richtig!«

»Los komm, wir tauschen!« Er nahm sein Schild ab und hielt es mir vors Gesicht.

»Nee, vergiss es!«

»Danie, jetzt hör doch mal, Bauchschuss ist auch schön, da tasten sie deinen Wanst ab, da wirste richtig gestreichelt, das machen nur die Weiber, verstehste, das dürfen nur die Mädchen machen, weil sie doch geschicktere Finger haben!«

»Nee, Mark, vergiss es!«

»Jetzt guck doch mal, was hier steht: Bauchbereich! Verstehste, Danie, Bauchbereich!«

»Ich will nicht, Mark, nee, ich will nicht tauschen. Hau doch ab mit deinem blöden Splitter!« Ich rutschte von ihm weg zur Wand. Er kam mir langsam hinterher.

»He, jetzt warte doch mal, jetzt hör mir doch mal zu, Bauchbereich, verstehste, da müssen die alles kontrollieren!«

Ich schubste ihn weg. »Ich will dein scheiß Schild nicht, kapierste! Is meine Rauchvergiftung! Lass mich jetzt in Ruhe mit deinem scheiß Bauchschuss!«

»Bitte, Danie, jetzt gib's mir doch, jetzt tausch doch, wir sind doch Freunde!« Er griff nach mir und meinem Schild, und ich schlug seine Hand weg. Sofort war seine andere Hand an meinem Pullover, ich stand auf, trat nach ihm, er hielt mein Bein fest, wir rollten die Treppe runter. Der Strick von meinem Schild verdrehte sich um meinen Hals, Mark fiel auf mich drauf, und sein Knie bohrte sich in meinen Bauch. »Mark!« Ich konnte nicht richtig schreien, weil ich keine Luft mehr bekam. »Mein Schild, Danie, gib's her! Immer willst du alles für dich!« »Mark, bitte!« Jetzt ließ er endlich los, wahrscheinlich war ich schon ein bisschen blau im Gesicht. Ich holte tief Luft. »Biste verrückt, Alter!«

Zwei Beine. Zwei braune Lederschuhe. Zwei Bügelfalten direkt vor meinem Gesicht. Ich drehte mich weg und blickte nach oben. Der Direktor. Mark rollte sich von mir runter, die Schnur von meinem Schild war gerissen, und es fiel mir vom Hals, als ich aufstand.

»Name, Klasse.«

»Mark Bormann, Klasse 5 b.«

»Daniel Lenz, Klasse 5 a.«

»Wir kennen uns, Daniel, nicht wahr?« Er sah mir direkt in die Augen, und ich nickte und blickte an ihm vorbei an die Wand. »Ihr wisst doch, dass wir heute Besuch haben?« Wir nickten. »Ihr wisst also, dass wir heute Besuch haben.«

»Ja, Herr Direktor«, sagten wir leise.

Er beugte sich runter und hob mein Schild auf. »Du hast also Brandverletzungen, Daniel.«

»Ja«, sagte ich, wieder ganz leise.

»Also, Daniel, stell dir mal ein Kind vor ... in Nikaragua. Du weißt doch sicher, was in Nikaragua passiert?«

»Ja«, sagte ich, obwohl ich nicht so genau wusste, was in Nikaragua passierte.

»Ein Kind mit einer Brandverletzung wartet auf Hilfe. Es wartet auf ausgebildete Hilfskräfte. Und es hat Schmerzen, und es versucht, ruhig liegen zu bleiben.« Der Direktor knotete die Schnur wieder zusammen und hängte mir das Schild um den Hals. »Du bist doch ein guter Schüler und Pionier, Daniel. Du weißt doch, dass unser Wehrkundeunterricht für unsere FDJler und FDJlerinnen sehr wichtig ist, damit sie lernen, verletzten Kindern zu helfen.«

»Ja«, sagte ich leise.

Er trat einen Schritt zur Seite und stellte sich vor Mark.

»Mark, du weißt doch sicher auch, wer heute in unserer Schule zu Besuch ist.«

Mark hatte eine Hand in seiner Hosentasche und zog sie wieder raus. »Die Nationale Volksarmee, Herr Künzel!«

»Ein Offizier der Nationalen Volksarmee, Mark. Unsere Schule ist bekannt für ihren guten Wehrkundeunterricht. Und unsere FDJler und FDJlerinnen sind auf eure Zusammenarbeit angewiesen, und ich erwarte«, er drehte sich wieder zu mir, »ich erwarte, dass ihr in Zukunft, und damit meine ich ab jetzt sofort, derartige Störungen unterlasst und diszipliniert mitarbeitet.«

»Ja, Herr Künzel«, sagte Mark, »ja«, sagte ich.

Er nickte ein paar Mal und rieb sich mit der Hand übers Kinn, dann ging er die Treppe nach oben. Bevor er durch die Tür auf den Gang trat, drehte er sich nochmal um. »Denkt daran: diszipliniert wie gute Pioniere!« Er lächelte und verschwand.

»Einen Splitter wünsch ich dem«, flüsterte Mark, »nein, am besten zwei, genau in den Wanst. Eine Granate, die genau neben ihm hochgeht!«

»Du«, sagte ich und setzte mich wieder auf meine Treppenstufe, »das mit den Mädchen hab ich mir doch nur ausgedacht ...«

»Ach komm, das sagst du doch jetzt bloß, damit du sie für dich alleine haben kannst.« Er hockte sich drei Stufen unter mich und drehte sich zur Wand. Ich hörte auf die Geräusche im Schulhaus. Über uns liefen welche, irgendwo rief jemand was, es klang wie »Brennt's hier?« und hallte in den Gängen, Türen wurden zugeknallt. Dann kamen wieder ein paar Sanis an uns vorbei, diesmal waren es Jungs und Mädchen, sie unterhielten sich und lachten und beachteten uns gar nicht, denn alle Tragen waren besetzt.

»Richtig scheiße ist das«, sagte Mark, und seine Stimme klang ganz dumpf, weil er gegen die Wand sprach, »sollen sie uns doch liegen lassen, diese Stinker, sollen sie uns doch den ganzen Tag hier liegen lassen, mir ist das egal!«

»Nicht so laut, der schnüffelt bestimmt wieder irgendwo rum.«

»Du, Danie, ich sag dir, wenn Rico hier wäre ...«

»Bitte, hör auf mit Rico ...«

»Tut mir Leid, Danie, meinte doch bloß ...«

Ich kroch ein paar Stufen weiter nach oben, von dort konnte ich aus dem Fenster blicken. Ich sah die Sanis mit ihren Tragen über den Schulhof laufen, am Hintergebäude vorbei, Richtung Sportplatz. Dort waren die Zelte aufgebaut, in denen wir behandelt werden sollten. Ich konnte sie sogar sehen, wenn ich den Kopf ein wenig hob; sie waren grün, und wenn ich blinzelte, sah es aus, als wäre dort ein dichter Wald. Ich schloss die Augen. Unten knallte eine Tür, dann kamen sie die Treppe hoch. »Hier«, schrie Mark, »hier sind wir, Mensch, jetzt holt uns doch endlich raus!« Zwei Mädchen kamen zu mir, es waren die beiden von vorhin, bei Mark blieben zwei Jungs stehen. »Nein«, sagte er, »das ist ungerecht, Danie, jetzt sag doch mal was!« »Mach nicht so 'n Krach«, sie packten ihn am Kopf und an den Füßen und rollten ihn auf die Trage, die sie neben ihn gestellt hatten. »Brandverletzungen.« Die beiden Mädchen beugten sich über mich, eine hielt mein Schild. Sie hatten beide dunkle Haare, fast schon schwarz. »Brandverletzungen sind nicht so schlimm, das müssen wir erst mal kühlen.« »Rauchvergiftung«, sagte ich und rutschte auf die Trage, »ich hab noch 'ne richtige Rauchvergiftung!« Die beiden lachten, dann rückten sie mich zurecht, und ich blickte in die Ausschnitte ihrer Hemden, sie hatten ihre Brüste nicht gut verpackt. »Glaubt dem kein Wort«, rief Mark eine Treppe tiefer, »der lügt, der lügt doch nur mit seiner Vergiftung!« Die beiden lachten wieder, dann hoben sie die Trage an und gingen langsam die Treppe runter. Ich lag mit den Füßen nach vorn und blickte auf die Brüste über mir, die sich bei jeder Treppenstufe im Hemd bewegten. Dann waren wir unten, und sie trugen mich über den Hof. Die beiden Jungs liefen viel schneller mit Mark, sie waren schon fast am Hintergebäude. Neben mir sah ich das Podest mit dem Rednerpult aus Stein und den drei Fahnenstangen, die jetzt leer waren. Die Fahnen wurden erst beim Appell an den Stricken festgemacht und dann hochgezogen, ganz langsam, zu irgendeiner Marschmusik. Die Trage schwankte leicht, die Sonne schien, und ich schloss die Augen. Der Schulhof war ganz still, irgendwo kehrte jemand, bestimmt der Hausmeister. Auf meinem Gesicht wurde es warm, und der dunkle Raum vor meinen Augen wurde heller, und weiße Punkte waren darin. Ich legte die Hand auf meine geschlossenen Augen. Ich war müde, ich war spät eingeschlafen gestern Abend. Vater war bis eins in der Kneipe gewesen, denn er hatte zwei Tage frei. Ich wollte auch freimachen und nicht mehr zur Schule, aber das ging nicht, und außerdem sah ich Katja in der Schule, jeden Tag, sie saß vor mir, und ihr Hals war so schön.

»Hast wohl geschlafen?« Ich öffnete die Augen, wir waren in einem Zelt, Katja saß ein paar Meter von mir entfernt auf einem Hocker und wickelte einen Verband um ihren Kopf. Nein, sie wickelte ihn wieder ab und legte die Mullbinden schon zusammen, während sie noch wickelte.

»Is wohl schon verheilt, dein Kopfschuss?«

»Ach, Mensch, Danie.« Sie lächelte, und ich blickte an die Decke. Schöner grüner Stoff.

»Mach dich mal leicht.« Die beiden Mädchen hoben mich auf eine Liege, neben der sie mich abgestellt hatten. »Du, Tina, hol mal das Brandpaket!« Tina war die mit den Brüsten, unter denen ich gelegen hatte, sie lief zu einem Klapptisch, auf dem Verbände und Taschen und kleine Koffer lagen. Sie nahm einen der Koffer, auf dem war ein großes rotes Kreuz drauf und oben in der Ecke eine kleine Flamme. Sie stellte den Koffer auf die Liege und setzte sich neben mich. »Wo brennt's denn?«, fragte sie, und dann lachten sie beide, so, wie nur Mädchen aus der Zehnten lachten. Tina hielt die Hand vor den Mund, die andere war ganz rot geworden, sie öffnete den kleinen Koffer und kramte drin rum. »Ich meine, wo hast du denn deine Brandwunden?«

»Am Bein«, sagte ich und blickte zu Katja. Sie hatte den Verband jetzt ganz abgewickelt und schüttelte ihre Haare, dann kämmte sie sie mit den Fingern.

»Da musste dich jetzt aber ausziehen.«

»Am Hals, mein ich doch, der ganze Hals ist verbrannt, gar keine Haut mehr drauf!«

»Dann ziehen wir jetzt dein Hemd aus, das wird sonst nichts.«

Ich richtete mich auf und hob die Arme. Sie nahmen mir das Schild ab, dann fingerten sie an mir rum, Tina knöpfte mein Hemd auf. »Wo is'n überhaupt Mark?«

»Anderes Zelt.« Tinas Brüste stießen an mein Kinn. Ich sah Katjas Gesicht zwischen den Armen der beiden. Sie blickte mich an und drehte dann den Kopf zur Seite.

»Aua«, sagte ich, als sie mir das Hemd auszogen, denn es hing an meinem Ohr fest, und sie zerrten dran rum.

»Stell dich nicht so an.«

»Seid doch nicht so wild«, sagte ich laut, damit Katja es hörte.

»Das hättest du gerne, was!« Tina faltete das Hemd zusammen und legte es neben mich auf die Liege.

»Du, Daniel.« Katja stand jetzt vor mir. Ich blickte an mir runter, mein Unterhemd war sauber.

»Du darfst heute keinen Blödsinn machen, Daniel.«

»Jawohl, Frau Lehrerin.«

»Ach, du.« Sie lächelte. »Du weißt doch, was ich meine. Du musst kommen heute Nachmittag, sonst kriegst du doch noch den Klassenleitertadel ...«

»Den krieg ich doch sowieso.«

»Ach, Mensch, Danie ...«

Tina und ihre Freundin wickelten mir einen Verband um den Hals, dann nahm Tina einen kleinen Plastiktopf aus dem Koffer und hielt ihn mir vors Gesicht. »Das hätten wir dir jetzt draufgeschmiert, ich meine, wenn's richtig wäre. Das kühlt und so. Und nicht an der Wunde jucken, sonst kommen Keime rein, und es entzündet sich.« »Hab keine Keime«, sagte ich, »jetzt könnt ihr's doch wieder abwickeln.« Katja legte ihre Hand auf meine nackte Schulter. Sie war ganz kühl. »Danie, hörst du, ihr müsst heut Nachmittag kommen, du und Mark.« Sie trat näher an mich ran, ihr Mund war an meinem Ohr. »Ich weiß, dass ihr wieder ins Kino gehen wollt, Danie, du musst kommen, mir zuliebe.«

»Na jetzt schau mal die zwei! Wie die flüstern, richtig verliebt!« Tinas Freundin klatschte in die Hände, und dann lachten sie beide. Katja trat ein paar Schritte zurück. Über ihrer Nase waren zwei Falten. »Das könnt ihr euch sparen, euer Gerede! Sonst erzähl ich's mal Herrn Dettleff, mit eurer Schlamperei!«

Die beiden lachten nicht mehr, sie fummelten an meinem Hals rum. »Kleine Schlange!«, flüsterte Tina. Sie nahm eine Sicherheitsnadel und steckte sie in meinen Verband. Ihre Brüste stießen an mein Kinn. Katja drehte sich um und lief zum Ausgang des Zeltes. »Du, Katja!« Ich schob die Hände und Brüste von mir weg, stand auf und ging ihr hinterher. Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um, und ich stellte mich hinter sie. Ich senkte meinen Kopf und flüsterte in ihre Haare: »Du, ich komm heut Nachmittag, ganz bestimmt!« Der Verband hing von meinem Hals runter und lag auf ihrer Schulter. »Versprochen?«

»Ja, ich versprech's.«

»Pionierehrenwort, Danie.« Sie drehte ihren Kopf und blickte mir in die Augen.

»Pionierehrenwort«, sagte ich, und dann lächelte sie, schob die Plane zur Seite und ging nach draußen. Eigentlich wollte ich die Finger hinterm Rücken kreuzen, denn erst am Morgen, auf dem Weg zur Schule, hatte ich Mark versprochen, dass wir heute ins Kino gehen, aber ich konnte es nicht. Auch wenn im Palast-Theater »Old Surehand« lief, den ich schon dreimal mit Mark gesehen hatte und immer wieder sehen wollte, wegen dem Eisenbahnüberfall am Anfang, bei dem Old Surehand im letzten Augenblick die Zündschnur zerschießt, aber auch das war jetzt egal.

Vorm Zelt hörte ich Schritte und Stimmen, die Plane vorm Eingang wurde zur Seite geschlagen, zwei Mädchen kamen rein, auf ihrer Trage lag ein Typ aus der Vierten, er grinste und winkte mir zu. »Verschüttet« stand auf seinem Schild. Sie hoben ihn hoch und legten ihn auf die Liege. Ich verschränkte die Arme vor meinem Unterhemd und rieb an meinen Schultern. »Warum biste denn noch hier? Wir haben Stress, siehst du doch!« Tina hielt einen Gummischlauch in der Hand, vorne war eine Art Maske dran. »Mein Hemd«, sagte ich leise. »Da drüben.« Sie zeigte auf einen Klappstuhl und schob mich zur Seite. Ich wickelte den Verband von meinem Hals und legte ihn auf den Stuhl. Ich nahm mein Hemd und zog es an. »Verschüttet«, rief eines der Mädchen hinter mir, »der atmet schon 'ne Weile nicht mehr!« Ich steckte mir das Hemd in die Hose und lief nach draußen.

Die Sonne schien, aber es war ziemlich windig. Ich lief zwischen den Zelten rum und suchte nach Mark. Frau Seidel stand vor einem der Zelte, ich drehte mich um und lief zurück, aber sie hatte mich schon gesehen. »Daniel!«, rief sie, und ich blieb stehen. »Daniel!« Ich hörte ihre Schritte hinter mir und drehte mich zu ihr um. Sie trug ihre guten grauen Hosen und eine Armeejacke mit Schulterklappen, die sie oben offen gelassen hatte, damit jeder ihr blaues Hemd sehen konnte. »Hast du deine Aufgabe beendet, Daniel?« Sie blickte mich über ihre Brille hinweg an. »Ja, Frau Seidel.« »Gut«, sie nickte, ihre Brille war auf ihre Nasenspitze gerutscht, und sie schob sie wieder hoch, »dann melde dich beim Gruppenratszelt, bis um eins ist ja noch Zeit.« Sie blickte auf die Uhr. Dann nickte sie wieder und trat ein paar Schritte zurück. »Und, Daniel, heut Nachmittag möchte ich, dass du dein Halstuch trägst ...« Ich berührte mit der Hand meinen Hemdkragen. »Ja«, sagte ich, »natürlich, Frau Seidel.« »Gut, Daniel.« Sie nickte, dann lief sie zurück zum Zelt. Ihre Hosenbeine waren zu weit und bewegten sich im Wind. »Daniel!« Sie hatte sich noch mal umgedreht und winkte. »Komm mal mit.« Sie ging zu dem Zelt, und ich lief langsam hinter ihr her. »Warte hier.« Sie schob die Plane zur Seite und ging rein. Ich konnte ein paar Stühle sehen, auf manchen saßen Lehrer. Ich malte mit dem Fuß ein Gewehr in den Kies des Sportplatzes, dann nahm ich es, ich zielte, nein, ich brauchte nicht richtig zu zielen, war ja ein Maschinengewehr, ich richtete es einfach aufs Zelt und drückte ab. Nichts. Ich hatte vergessen, den Sicherungshebel zu ziehen. Ich feuerte das ganze Magazin durch die Zeltplane, die leeren Patronenhülsen flogen mir um die Ohren.

Frau Seidel kam wieder raus. In ihrer Schulter waren zwei Einschusslöcher. Sie hielt eine Armeejacke in der Hand und reichte sie mir rüber. »Hier, zieh das an, Daniel, sonst erkältest du dich. Wieso hast du deine Jacke nicht an, ich hab es euch doch vorhin gesagt, es ist frisch draußen!«

»Ich ...«

»Gib die Jacke wieder hier ab, bevor du nach Hause gehst.« Sie rückte ihre Brille zurecht, dann ging sie wieder ins Zelt. Jemand lachte dort drinnen.

Ich zog mir die Jacke an, sie war viel zu groß für mich und reichte mir bis übers Knie. Jemand fasste mir auf die Schulter, die Hand war ganz leicht. »Wie siehst du denn aus!« Katja lachte. »Ist doch viel zu groß.«

»Na und, die haben sonst nur Soldaten an!«

»Du, Danie, ich wollt dir bloß sagen, dass ihr Jungs jetzt die Tragen wegbringen sollt, nicht dass du schon gehst, es ist ja noch nicht eins.« Sie schob ihren Ärmel hoch und blickte auf die Uhr an ihrem dünnen Arm. »Nein, Mutti«, sagte ich und strich mit dem Finger über das Glas ihrer schönen Uhr, »ich geh noch nicht nach Hause.« »Katja, kommst du mal!« Auf dem Platz zwischen den Zelten stand ein Mädchen vom Gruppenrat und winkte zu uns rüber. Katja drehte sich um. Sie nahm meine Hand und zog dran. »Du, Danie, und such mal Mark, dass er mitmacht. Ich glaub, der ist schon wieder weg. Ihr sollt euch am Lehrerzelt zwei melden. Heute muss doch alles ordentlich sein.« »Zu Befehl.«

Sie lächelte, dann winkte sie dem Mädchen vom Gruppenrat und lief zu ihr rüber. »Daniel.« Sie drehte sich nochmal um. »Du denkst doch an dein Versprechen!«

Ich nickte, dann knöpfte ich meine Jacke bis zum Hals zu und ging langsam zwischen die Zelte. Eine Gruppe aus der Vierten marschierte im Gleichschritt an mir vorbei, und ich drehte mich weg und schob die Hände in die Jackentaschen. Ich lief zur Mauer und setzte mich auf die kleine Bank. Ganz hinten auf dem Sportplatz standen welche in einer Reihe, ich konnte ihre grünen Uniformen erkennen. Jetzt schmissen sie irgendwas, kleine rote Bälle, das waren Übungshandgranaten, von denen hatte ich mal eine gefunden und mit nach Hause genommen. Ich hatte das geriffelte Metall mit schwarzer Lackfarbe angemalt, und jetzt sah sie echt aus. Neben dem Hintergebäude lief Mark, ich konnte ihn an seiner gelben Jacke erkennen. Er lief über den Schulhof vor zum Tor. Ich wollte aufstehen und rufen, aber ich blieb sitzen und beobachtete, wie er sich bückte und was aufhob, vielleicht einen Stein oder einen Pfennig. Wir wollten uns Viertel drei am Piratenschiff treffen, auch das hatten wir am Morgen ausgemacht. Mark lief durch das große Tor und verschwand.

Ein paar Typen aus der c kamen an meiner Bank vorbei, hinter ihnen lief der kleine Walter, er schleifte eine leere Trage und war rot im Gesicht und hatte seine Jacke aufgeknöpft. Er sah mich und nickte, dann blieb er vor mir stehen. »Tag, Danie, wie geht's?«

»Geht so. Wo hast'n die Trage her?«

»Die liegen vorm Gruppenratszelt, die sollen wir doch alle wegräumen, Danie. Die sollen doch ins Hintergebäude, in den Keller.«

»Weiß ich doch.«

»Du machst doch mit, Danie, du weißt doch, der Gruppenrat ...« »Ja, ich weiß.« Ich stand auf, ganz langsam, dann streckte ich mich und strich meine Jacke glatt. »Soll ich mit anfassen?«

»Nee, Danie, lieber nicht, danke. Das schaff ich alleine, sieht doch blöd aus sonst, verstehst du ...«

»Ja, versteh ich.« Ich drehte mich um und lief zum Gruppenratszelt. »Du, Danie, ich warte hier, da können wir zusammen gehen.« »Klar, können wir.«

Vorm Gruppenratszelt standen ein paar Lehrer im Kreis um die Tragen herum. Ich blickte zu Boden und lief zwischen ihnen durch. Ich hockte mich vor die Tragen und zog die oberste runter.

»Immer fleißig, unsere Pioniere!«

Zwei braune Lederschuhe. Zwei Bügelfalten direkt vor meinem Gesicht. Ich hielt den Griff der Trage mit beiden Händen fest und blickte nach oben. Der Direktor lachte, neben ihm stand ein Mann in Uniform, er sah ein bisschen aus wie Ricos Vater, der ja auch Offizier gewesen war, aber auf der Brust des Mannes hingen mehr Orden, und er war schon ziemlich alt. Auf einem Orden war eine Faust mit einer Fackel, den musste er von Herrn Singers Jackett geklaut haben, aber jetzt sah ich auch Herrn Singer neben den beiden, und sein Orden war noch da, zusammen mit all den anderen. Ich zerrte an der Trage, sie war schon zusammengerollt, ich stand auf und klemmte sie mir unter den Arm.

»So ist's richtig«, sagte der Mann mit der Uniform, »du wirst mal ein guter Soldat, stimmt's?« Er klopfte mir auf die Schulter und lächelte mit geschlossenem Mund.

»Das ist unser Daniel«, sagte der Direktor, und Herr Singer nickte, ein-, zwei-, dreimal, »er war letztes Jahr auf dem Talentwettbewerb, Gedicht aufgesagt. Prädikat ›sehr gut‹, Daniel, weißt du noch?«

»Ja«, sagte ich. Mein Fuß malte einen Kreis in den Kies.

»So ist's richtig, Daniel«, sagte der Mann mit der Uniform, »immer aktiv sein, sich immer aktiv im Kollektiv betätigen. Immer dranbleiben, immer mit dem Kollektiv vorneweg! Hast ja eine richtig schöne Jacke an.« Er legte seine Hand auf meine Schulter und lächelte mit geschlossenem Mund, und der Direktor und Herr Singer nickten.

»Ja, Daniel«, sagte Herr Singer mit seiner tiefen Stimme, »da kannst du was lernen, von dem Genossen Oberst.«

»Immer dranbleiben«, sagte der Oberst und nahm seine Hand von meiner Schulter, sie war groß und schwer, »da kommen schon deine Kameraden.«

»Ja«, sagte ich, »danke«, dann lief ich los. Die Typen aus der c kamen an mir vorbei, sie liefen sehr schnell, sie rannten fast. »Unsere Pioniere«, sagte Herr Singer hinter mir mit seiner tiefen Stimme. Ich lief zwischen den Zelten durch, an der Mauer entlang. Ich blickte auf die grauen Häuser auf der anderen Seite. Eine Frau beugte sich aus einem der Fenster. Sie hatte lange weiße Haare und schüttelte ein Kissen, als würde sie mir winken.

Walter stand immer noch alleine auf dem Sportplatz. Er stützte sich auf die beiden Stangen der zusammengerollten Trage wie auf eine doppelte Lanze, jetzt hob er sie ein Stück hoch und stampfte kleine Staubwolken in den Boden. »Da bist du ja endlich, Danie.«

»Schön, dass du gewartet hast.«

»Na klar, Danie.« Wir liefen zum Hintergebäude, Walter hatte die Trage auf seine Schulter gelegt und lief ganz schief. »Guck mal, Danie, wie ein Bauarbeiter.« »Ja«, sagte ich, »nicht schlecht.« Wir liefen die Kellertreppe runter, vor uns flackerten die Neonröhren. Hinten im Kellergang stand der Hausmeister. »Links«, sagte er, »ins Sportkabuff.« Walter nahm die Trage von der Schulter. Es knallte.

Glassplitter waren in der Luft und fielen auf unsere Köpfe. »Mist!« Ich duckte mich. Walter hatte mit seiner Trage eine von den Neonröhren erwischt. Der Hausmeister kam auf uns zugerannt. »Euch soll wohl der Arsch platzen«, schrie er und fuchtelte mit beiden Händen vor unseren Gesichtern rum. »Mensch, eu- eu- euch soll doch der Arsch platzen!« Das schrie er immer, wenn es irgendwelchen Ärger gab, er fuchtelte mit den Armen, und sein Gesicht wurde ganz rot. Ich wusste, er würde sich gleich wieder beruhigen. Der Hausmeister war in Ordnung, alle konnten ihn leiden, obwohl er bisschen verdreht war. Jemand hatte mir mal erzählt, dass er vor Jahren aus dem ersten Stock gefallen war, als er dort das Fenster putzen wollte, genau auf den Kopf, und seitdem war er ein bisschen verdreht und stotterte, aber auch nur ein bisschen, und nur, wenn er aufgeregt war. Ich hatte auch gehört, dass er davor richtig schön gewesen war, die Lehrerinnen hatten ihn heimlich in den Pausen geküsst, bestimmt auch hier unten im Keller. Jetzt hatte er eine Nase wie ein Boxer, und sein Kinn war ganz schief.

»Eu-euch ... soll doch- soll doch der ... der A-A-Arsch soll euch d-doch ... Ach, na ja, ist nicht so schlimm, da mach ich nachher 'ne Neue rein.« Ich wischte mir das Glas aus den Haaren. Walter hatte sich hingehockt und sammelte ein paar Glassplitter auf seine Handfläche. »Tut mir Leid, Herr Schädlich.«

»Hör doch auf, hör-hör doch auf Junge, Russenmist, da schneischneidest du dich kaputt. Da-da hinten ist doch der Besen, Mensch, da-da kehrst du ordentlich!«

»Ja, mach ich, Herr Schädlich.« Walter stand auf und lief den Gang hinter zur Besenecke. Ich nahm seine Trage und klemmte sie mir unter den anderen Arm. »Mensch, Kleiner, jetzt gib doch her den Russenmist!« Herr Schädlich zerrte mir die Trage aus der Hand und schleifte sie hinter sich her zu dem Kabuff mit den tausend Bällen. Er schmiss die Trage einfach rein und blieb in der Tür stehen. »Na, willste mal da reingucken? Weiß ich doch, dass euch das interessiert!« Er lächelte und trat aus der Tür, und als ich an ihm vorbeiging, lag seine Hand ganz kurz auf meiner Schulter. Ich schob die Netze mit den Fußbällen, die von der Decke hingen, zur Seite und legte meine Trage vorsichtig zu den anderen. »He«, flüsterte der

Hausmeister hinter mir, »da sind Tischtennisbälle, da hinten, einein-ein ganzer Eimer voll, die richtig guten, mein Junge, steck dir paar ein, spielst doch gerne, weiß ich doch. Fünf Sterne, mein Junge, die haben alle vier oder fünf Sterne!« Ich hörte, wie Walter im Flur das Glas zusammenkehrte. »Na schnell, Junge, schnell, schnell, die anderen kommen gleich. Muss doch kei-kei-keiner sehen, Junge. Ich seh's nicht, Junge. Fünf Sterne!« Sein Kopf war neben mir und grinste mich schief an. Ich lief an den Regalen vorbei, Seile, Speere, rote Handgranaten, ich hockte mich vor den Eimer und stopfe ein paar Hände voll kleiner weißer Bälle in die Taschen meiner Armeejacke. »Wettkampfbälle«, flüsterte der Hausmeister hinter mir, »fünf Sterne ... kannste schmettern, bis die Suppe spritzt.«

»Danke, Herr Hausmeister«, sagte ich, weil ich wusste, dass er sich freute, wenn man ihn »Herr Hausmeister« nannte, und auch jetzt lächelte er und wischte mit der Hand über sein schiefes Kinn. »Klar«, sagte er, »verrottet doch sonst alles, verrottet doch hier.«

Auf dem Gang waren Schritte, ich hörte Walters Stimme und andere Stimmen und lief am Hausmeister vorbei nach draußen. »Warte ... warte doch, Junge«, sagte er hinter mir, aber ich lief weiter, denn die Typen aus der c standen mit ihren Tragen um Walter rum. Sie lachten. »Haste wieder Mist gebaut, Kleiner.« Walter hatte aufgehört zu kehren und stützte sich auf seinen Besen. »Haltet doch die Klappe, ihr Ärsche!« Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn »Kleiner« nannte, er wurde richtig wütend, obwohl er seit der ersten Klasse wirklich kaum gewachsen war.

»Schön kehren, Kleiner, schön alles wegkehren!«

»Verpiss dich, du stinkst!« Walter stieß den Größten von ihnen mit beiden Händen gegen die Brust. Der Größte, das war Friedrich, der beste Freund von Maik, dem Schläger, er war zwar nicht so stark wie Maik, aber es reichte, und er bewegte sich nicht mal, als Walter ihn schubste. Er blickte auf ihn runter, und ich sah, wie sich seine Backen und sein Mund bewegten. Aus seinem Mund kam Spucke, die noch an einem Faden hing wie eine Spinne, dann klatschte sie auf Walters Haare.

»Du dummes Schwein, du dummes, ekliges Schwein!« Walter rannte mit seinem Kopf gegen Friedrichs Brust, Friedrich stolperte gegen die Wand, die anderen traten ein paar Schritte zurück und legten ihre Tragen auf den Boden. »Hau ihn um, Fried!« Ich lief zwischen ihnen durch und schob sie zur Seite, Thomas aus der c stellte sich mir in den Weg, ich knallte meinen Ellenbogen gegen seine Schulter, und er machte Platz. Friedrich hatte eine Faust gehoben, genau über Walters Gesicht, er hatte riesige Fäuste, aber er war trotzdem ein Feigling, er legte sich nur mit Leuten an, die kleiner waren als er. Einmal hatte ich es ihm gegeben, obwohl auch ich ein bisschen kleiner war als er, aber das war nicht einfach gewesen und hatte lange gedauert. Rico hatte damals daneben gestanden und zugeschaut und mir Tipps zugerufen, während Friedrich und ich aufeinander einschlugen. Jetzt stand ich neben Walter und Friedrich, aber Walter hatte keine Chance, auch wenn ich ihm Tipps zugerufen hätte, er war einfach zu klein. Friedrich hielt ihn mit seiner anderen Hand am Hals gepackt, er brauchte nur einmal zuzuschlagen, dann hatte er ihn. Ich hielt seine Faust fest. »Lass ihn los.«

»Was mischst'n dich ein?«

»Lass ihn los!«

Friedrich ließ ihn los. Walter lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und hielt seinen Kopf gesenkt. Der Hausmeister stand plötzlich zwischen uns und schob uns auseinander. »Das geht doch nicht, geht doch nicht, Jungs. Kei-kein Streit. Schafft den Russenmist hier weg!« Er stieß mit dem Fuß gegen die Tragen.

»Die kleine Heulsuse hat angefangen!«

»Mm-mir egal. Schafft den M-Mist weg und geht nach Hause.«

Friedrich und die anderen hoben ihre Tragen auf und schafften sie in den Raum mit den tausend Bällen. Der Hausmeister lief hinter ihnen her und schimpfte. »So 'n Mist hier in meinem Keller.«

Ich legte meine Hand auf Walters Schulter, er schob sie weg, dann wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Ich wollt nicht heulen, Danie.« »Hast du doch nicht.«

Dann kamen sie wieder an uns vorbei, der Hausmeister klapperte hinten im Gang mit dem Schlüssel. »Du kommst noch dran!« Friedrich machte eine Faust, als er an Walter vorbeiging. Ich rannte ihm hinterher und stellte mich vor ihm auf die Kellertreppe. »Hör mal«, flüsterte ich in sein Ohr und legte meine Hand auf seinen Arm, »den lässt du in Zukunft in Ruhe, o. k.?« Friedrich blickte an mir vorbei, trat einen Schritt zur Seite und lief rückwärts die Treppe hoch. Vor der Tür blieb er stehen. »Denkst du, ich hab Schiss vor dir? Jetzt ist dein Rico nämlich nicht mehr da, und wenn Maik, wenn Maik nämlich ...« Ich lief zu ihm hoch und blieb eine Treppenstufe unter ihm stehen. »Maik weiß genau, dass Rico manchmal am Wochenende nach Hause kommt ... und außerdem würde ich lieber die Fresse halten, wegen der Sache im Park, das Halstuch ... Rico trainiert jetzt jeden Tag ... dort.«

»Werden wir ja sehen, Danie!«

»Dich mach ich ganz alleine fertig, du dummes Schwein!«

Es krachte, er hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

»Tut mir Leid, Danie.« Walter tippte mir auf die Schulter, sein Gesicht war noch ganz rot.

»Ist schon gut.« Ich suchte in meinen Hosentaschen und gab ihm ein Taschentuch. »Na komm, wir gehen nach Hause.«

Wir liefen über den Schulhof zum Vordergebäude. Friedrich war schon an der Straße. Walter blickte ihm hinterher und lächelte, vielleicht, weil Friedrich so klein aussah, als er vorne um die Ecke bog. »Kommste kurz mit hoch, ich muss noch meine Jacke holen.« »Klar, Danie.«

Im Vordergebäude war jetzt alles ruhig. Wir liefen nach oben in den dritten Stock. Wir sahen keine Verwundeten mehr. Frau Seidel stand vor uns auf dem Treppenabsatz. »Da kannst du mir gleich die Jacke geben, Daniel. Ich muss doch sowieso auf den Sportplatz.« Sie hielt eine große silberne Thermoskanne in der Hand.

»Aber ... ich kann dann doch selbst hinter ...«

»Nun gib mir schon die Jacke, Daniel, ich gehe doch wieder ins Zelt. Der Herr Oberst wartet doch auf seinen Kaffee.« Sie lächelte und schob mit der freien Hand ihre Brille zurecht, dann hielt sie mir ihren Arm hin.

» ... aber ... ich kann doch selbst, Frau Seidel.«

»Daniel, die Jacke! Ich hab jetzt keine Zeit für so was!«

Ich zog langsam die Jacke aus und legte sie über ihren Arm. Ich fühlte die Tischtennisbälle in den Jackentaschen. Sie bewegten sich wie kleine Tiere. »Daniel, die Jacke ist ganz weiß hinten, du hättest sie ruhig abklopfen können!« Sie tippte auf die weißen Streifen auf dem Rücken und blickte mich über ihre Brille hinweg an.

»Im Keller«, sagte ich, »die Tragen ...«

Sie stellte die Thermoskanne auf die Treppe und prügelte mit der freien Hand auf die Armeejacke ein. Und dann kamen sie. Die großen Seitentaschen der Jacke hatten keine Reißverschlüsse, und die Tischtennisbälle sprangen aus ihnen raus, »ping« auf die Treppenstufe und »pong« auf die nächste und an mir vorbei. Frau Seidel schrie, ganz kurz nur, aber sehr hoch. Sie ließ die Jacke fallen, Walter beugte sich vor, er wollte sie auffangen, aber er erwischte sie nicht, er war eben doch zu klein, und auch der Rest der Bälle rollte aus den Taschen raus und die Treppe runter. Walter setzte sich auf eine Stufe, er war jetzt sehr blass im Gesicht.

»Daniel, wo hast du die Bälle her, wo kommen die Bälle her?«

»Ich ... die Bälle sind ...«

»Sind meine Bälle«, sagte Walter leise und stand auf, »hab ich im Keller gefunden, bei den Tragen ...«

»Es bringt nichts, wenn du jetzt lügst, Walter.«

»Ich lüge aber nicht, Frau Seidel, die lagen auf dem Fußboden, zwischen den Tragen, ich dachte ...«

»So viele Tischtennisbälle, Walter! Ich werde morgen ...«

»Ich hab gedacht, die braucht keiner mehr ...«

»Unterbrich mich bitte nicht, Walter! Ich muss deswegen mit deiner Klassenlehrerin sprechen, vielleicht auch mit dem Direktor, und natürlich auch mit deinen Eltern. Das ist Diebstahl von Schuleigentum und damit Volkseigentum, Walter! Und du, Daniel ...«, sie blickte mich über ihre Brille hinweg an, »warum machst du diesen Unsinn mit. Du weißt doch, dass wir bald entscheiden, ob wir den Klassenleitertadel gegen dich aussprechen müssen.« Sie holte tief Luft. »Ich bin sehr enttäuscht von euch beiden.«

»Frau Seidel, aber die sind doch ... die sollten doch für die Tischtennis AG ...«

»Walter, bitte, mach es nicht noch schlimmer! Ihr sammelt jetzt die Bälle ein und legt sie in mein Schubfach. Und macht schnell, bevor jemand kommt. Ihr wisst doch, dass wir heute Besuch haben!« Sie hob die Jacke auf, durchsuchte die Taschen, aber die waren jetzt komplett leer. »Ich erwarte«, sagte sie sehr leise, »dass ihr heute Nachmittag diszipliniert mitarbeitet und euren Fehler wieder gutmacht.« Sie legte die Jacke über ihren Arm und nahm dann die Thermoskanne. Sie blickte uns schweigend an, bis wir die Köpfe senkten, dann ging sie die Treppe runter. Sie stieg vorsichtig über die Bälle hinweg, sie schüttelte den Kopf, während sie hinunterging. Ich blickte auf die Bälle, die ganz dicht neben ihren Füßen lagen, ein paar berührte sie mit den Spitzen ihrer Schuhe. Ich sah, dass auch Walter neben mir auf ihre Füße blickte; wir würden ihr ein Schild um den Hals hängen, und Tina und ihre Freundin würden vorbeikommen und sie auf eine Trage heben, und wir würden mit anpacken, denn Frau Seidel war sehr schwer. Aber wir hörten nur ihre Schritte, die leiser wurden. Wir standen immer noch auf der Treppe und bewegten uns nicht. Wir blickten zum Fenster und sahen, wie Frau Seidel sehr schnell über den Schulhof zum Sportplatz lief. Die Thermoskanne blinkte in der Sonne, und ich kniff ein Auge zu. Dann sammelten wir die Bälle ein. Einige waren bis in den ersten Stock gerollt. Wir liefen die Treppe ein paar Mal hoch und runter, bis wir keine Bälle mehr fanden. »Ich hab neun«, sagte Walter, »und du?« »Acht«, sagte ich, obwohl ich elf hatte. Walter lächelte, dann liefen wir nach oben ins Klassenzimmer. Walter öffnete das Schubfach am Lehrertisch und legte seine Bälle rein, ich holte erst meine Jacke von der Garderobe. Zwei der Bälle behielt ich, einen reichte ich Walter. »Für dich«, sagte ich, »da können wir mal zusammen Tischtennis spielen.«

»Nee, Danie, danke. Lieber nicht.«

»Na komm, steck schon ein, das sind die guten, fünf Sterne.«

Er blickte sich um und trat einen Schritt zurück. »Danke, Danie, aber ich spiel nicht gut Tischtennis.«

»Wenn du meinst.« Ich steckte sie in meine Hosentasche. Wir liefen die Treppe runter. Vor der Kellertreppe lag noch ein Ball. Ich trat drauf, es knackte leise, und ich stieß ihn mit dem Fuß die Treppe runter. Er blieb vor der Kellertür liegen, er war ganz platt und bewegte sich noch ein bisschen. Walter hielt mir die Tür auf, wir liefen raus auf den Schulhof, am Vordergebäude vorbei zur Straße.

»Du, Walter, das Piratenschiff«, sagte ich, als wir an der Post gegenüber der Schule waren, »willst du nachher mit zum Piratenschiff?« Er blieb stehen, genau neben dem gelben Briefkasten, und blickte mich mit großen Augen an.

»Echt? Zum Piratenschiff? Aber Danie, das Pioniermanöver ...«

»Ist doch noch Zeit. Vorher, mein ich. So in 'ner Dreiviertelstunde.«

»Aber Danie, Mark will mich doch nicht dort, Mark schimpft doch bestimmt.«

»Wenn ich dich mitbringe, geht das in Ordnung. Da kommste vorher zu mir. Du wolltest doch schon immer ...«

»Ja, Danie, das wollte ich. Danke, Danie.« Er legte seine Hand auf den Briefkasten und bewegte sie hin und her. »Darf ich wirklich mitkommen?«

»Klar, Walter. Wenn ich's sage.«

Wir liefen langsam weiter. Auf der Brücke an der »Silberhöhe« blieben wir stehen und blickten runter auf die Schienen. An der Rampe der Spielzeugfabrik hielt eine Diesellok mit vier Güterwagen, ein paar Männer räumten Kisten aus ihnen raus und liefen hin und her. »Du, Danie, ob die manchmal was mitnehmen, für ihre Kinder, mein ich.«

»Weiß nicht. Kann schon sein.«

»Du, Danie, stimmt das, das mit Henry, dass euch seine Mutter kleine Autos und so ...«

»Wer erzählt'n das?«

»Hab ich nur mal so gehört, Danie.«

»Hörst zu viel.«

»Tut mir Leid.«

»Muss dir nicht Leid tun.«

Er lehnte sich aufs Geländer und malte kleine Häuschen in den Staub.

»In den Kisten, da ist bestimmt jede Menge drin. Autos und Stempel und so. Was findest du besser, Danie, Ritter oder Soldaten?«

»Indianer. Hab ich jede Menge.«

»Ja, Danie, Indianer sind auch nicht schlecht.«

»Hast du Angst?«

»Bisschen. Ob wir viel Ärger kriegen?«

»Glaub ich nicht, Walter. Mach dir keinen Kopp. Wenn die den Hausmeister fragen, der lässt sich schon was einfallen.«

Wir liefen weiter, und dann musste Walter nach rechts, in seine Straße.

»Also dann, in einer Stunde bei mir.« Ich gab ihm die Hand, und er drückte sie lange, bevor er sich umdrehte und nach Hause lief.

 

»Is doch scheiße, Mann, was soll'n der hier!« Mark hatte sich an den Mast gelehnt, eine Hand hatte er in der Hosentasche, mit der anderen schlug er in die Luft.

»Komm, bleib locker, du weißt doch genau, dass Rico auch nichts dagegen gehabt hätte!«

»Rico, Rico! Der ist doch gar nicht hier ... der ist doch ... Bald bringst du die ganze Klasse mit, und dann gibt's wieder Ärger!«