Die Psychologie der Massen - Gustave Le Bon - E-Book

Die Psychologie der Massen E-Book

Gustave Le Bon

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Beschreibung

Komplettausgabe Das meist diskutierte Politikwerk seiner Zeit. Auch heute noch missverstanden, umgedeutet, fehlinterpretiert und missbraucht. Unsterblich in seinem verlegerischen Eifer wurde der französische Arzt Gustave Le Bon (1841-1931) durch ein Buch "Die Psychologie der Massen" – Siegmund Freud und Max Weber zählten zu seinen Bewunderern. Aber auch Hitler und Göbbels sollen sich hier ihre Blaupausen zur Manipulation der Massen verschafft haben. Le Bon kämpft mit den Waffen der Freiheit: Aufklärung und Intellekt - gegen die Barbarei der Masse, die, einmal auf den Weg gebracht, nichts aufhalten kann. Er beklagt den "außerordentlichen geistigen Tiefstand der Massen", ihre Triebhaftigkeit, ihren Hass, ihre Wankelmütigkeit, ihre Manipulierbarkeit. Die Politik als Theater, als Schauspiel, als emotionale Inszenierung war Le Bon zuwider. Als radikaler Demokrat, liberaler Freigeist, als Mensch der Vernunft musste Le Bon an den Auswüchsen der Jahrhundertwende 19/20 verzweifeln: Kriege, Massenpsychosen, Aberglauben, Rassenwahn allenthalben. Prophetisch waren seine (nun über 100 Jahre alten) Worte zu den Massenmedien: "… Welches Blatt wäre heute reich genug, seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu können? Und welches Gewicht könnten diese Meinungen bei Lesern haben, die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern?..." – Hört man daraus nicht das "Lügenpresse"-Grölen in Dresden? Kein Buch zur politischen Welt war jemals so zeitlos. Null Papier Verlag

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Gustave Le Bon

Die Psychologie der Massen

Komplettausgabe

Gustave Le Bon

Die Psychologie der Massen

Komplettausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: R. Eisler 1. Auflage, ISBN 978-3-954187-53-9

null-papier.de/368

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Vor­wort zur ers­ten Auf­la­ge

Ein­lei­tung: Das Zeit­al­ter der Mas­sen

Ent­wick­lung des ge­gen­wär­ti­gen Zeit­al­ters

Die Mas­sen als Zer­stö­re­rin­nen der Kul­tur

Die Mas­sen und der Staats­mann

Ers­tes Buch: Die Mas­sen­see­le

1. Ka­pi­tel: All­ge­mei­ne Kenn­zei­chen der Mas­sen.

2. Ka­pi­tel: Ge­füh­le und Sitt­lich­keit der Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Ide­en, Ur­tei­le und Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen

4. Ka­pi­tel: Die re­li­gi­ösen For­men, die alle Über­zeu­gun­gen der Mas­se an­neh­men

Zwei­tes Buch: Die Mei­nun­gen und Glau­bens­leh­ren der Mas­sen

1. Ka­pi­tel: Ent­fern­te Trieb­kräf­te der Glau­bens­leh­ren und Mei­nun­gen der Mas­sen

2. Ka­pi­tel: Un­mit­tel­ba­re Trieb­kräf­te der An­schau­un­gen der Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Die Füh­rer der Mas­sen und ihre Über­zeu­gungs­mit­tel

4. Ka­pi­tel: Gren­zen der Verän­der­lich­keit der Grund­an­schau­un­gen und Mei­nun­gen der Mas­sen

Drit­tes Buch: Ein­tei­lung und Be­schrei­bung der ver­schie­de­nen Ar­ten von Mas­sen

1. Ka­pi­tel: Ein­tei­lung der Mas­sen

2. Ka­pi­tel: Die so­ge­nann­ten ver­bre­che­ri­schen Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Die Ge­schwo­re­nen bei den Schwur­ge­rich­ten

4. Ka­pi­tel: Die Wäh­ler­mas­sen

5. Ka­pi­tel: Die Par­la­ments­ver­samm­lun­gen

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Zum Buch

Uns­terb­lich in sei­nem ver­le­ge­ri­schen Ei­fer wur­de der fran­zö­si­sche Arzt Gu­sta­ve Le Bon (1841-1931) durch ein Buch »Die Psy­cho­lo­gie der Mas­sen« – Sieg­mund Freud und Max We­ber zähl­ten zu sei­nen Be­wun­de­rern. Aber auch Hit­ler und Göb­bels sol­len sich hier ihre Blau­pau­sen zur Ma­ni­pu­la­ti­on der Mas­sen ver­schafft ha­ben.

Le Bon kämpft mit den Waf­fen der Frei­heit: Auf­klä­rung und In­tel­lekt - ge­gen die Bar­ba­rei der Mas­se, die, ein­mal auf den Weg ge­bracht, nichts auf­hal­ten kann. Er be­klagt den »au­ßer­or­dent­li­chen geis­ti­gen Tief­stand der Mas­sen«, ihre Trieb­haf­tig­keit, ih­ren Hass, ihre Wan­kel­mü­tig­keit, ihre Ma­ni­pu­lier­bar­keit.

Die Po­li­tik als Thea­ter, als Schau­spiel, als emo­tio­na­le Ins­ze­nie­rung war Le Bon zu­wi­der. Als ra­di­ka­ler De­mo­krat, li­be­ra­ler Frei­geist, als Mensch der Ver­nunft muss­te Le Bon an den Aus­wüch­sen der Jahr­hun­dert­wen­de 19/20 ver­zwei­feln: Krie­ge, Mas­sen­psy­cho­sen, Aber­glau­ben, Ras­sen­wahn al­lent­hal­ben.

Pro­phe­tisch wa­ren sei­ne (nun über 100 Jah­re al­ten) Wor­te zu den Mas­sen­me­di­en: »… Wel­ches Blatt wäre heu­te reich ge­nug, sei­nen Schrift­lei­tern eig­ne Mei­nun­gen ge­stat­ten zu kön­nen? Und wel­ches Ge­wicht könn­ten die­se Mei­nun­gen bei Le­sern ha­ben, die nur un­ter­rich­tet oder un­ter­hal­ten wer­den wol­len und hin­ter je­der Emp­feh­lung Be­rech­nung wit­tern?...« – Hört man dar­aus nicht das »Lü­gen­pres­se-Grö­len« in Dres­den?

Kein Buch zur po­li­ti­schen Welt war je­mals so zeit­los.

Die Schar der Men­schen­schläch­ter um­fass­te un­ge­fähr drei­hun­dert Mit­glie­der und zeig­te voll­kom­men die Grund­form ei­ner un­gleich­ar­ti­gen Mas­se. Ab­ge­se­hen von ei­ner ganz ge­rin­gen An­zahl ge­werbs­mä­ßi­ger Bett­ler, be­stand sie na­ment­lich aus Händ­lern und Hand­wer­kern al­ler Art, aus Schus­tern, Schlos­sern, Perücken­ma­chern, Mau­rern, An­ge­stell­ten, Dienst­män­nern usw. Un­ter dem Ein­fluss der emp­fan­ge­nen Sug­ge­s­ti­on sind sie, wie der oben er­wähn­te Koch, völ­lig über­zeugt da­von, eine va­ter­län­di­sche Pf­licht zu er­fül­len. Sie üben ein dop­pel­tes Amt aus, das des Rich­ters und das des Hen­kers, und hal­ten sich in kei­ner Wei­se für Ver­bre­cher.

Vorwort zur ersten Auflage

Mei­ne frü­he­re Ar­beit war der Dar­stel­lung der Ras­sen­see­le ge­wid­met.1 Hier wol­len wir die Mas­sen­see­le un­ter­su­chen.

Der In­be­griff der ge­mein­sa­men Merk­ma­le, die al­len An­ge­hö­ri­gen ei­ner Ras­se durch Ve­rer­bung zu­teil wur­den, macht die See­le die­ser Ras­se aus. Wenn sich je­doch eine ge­wis­se An­zahl sol­cher ein­zel­nen mas­sen­wei­se zur Tat ver­ei­nigt, so zeigt sich, dass sich aus die­ser Ve­rei­ni­gung be­stimm­te neue psy­cho­lo­gi­sche Ei­gen­tüm­lich­kei­ten er­ge­ben, die zu den Ras­sen­merk­ma­len hin­zu­kom­men und sich zu­wei­len er­heb­lich von ih­nen un­ter­schei­den.

Die or­ga­ni­sier­ten Mas­sen ha­ben zu al­len Zei­ten eine wich­ti­ge Rol­le im Völ­ker­le­ben ge­spielt, nie­mals aber in sol­chem Maße wie heu­te. Die un­be­wuss­te Wirk­sam­keit der Mas­sen, die an die Stel­le der be­wuss­ten Tat­kraft der ein­zel­nen tritt, bil­det ein we­sent­li­ches Kenn­zei­chen der Ge­gen­wart. Ich habe ver­sucht, das schwie­ri­ge Pro­blem der Mas­sen in streng wis­sen­schaft­li­cher­wei­se zu be­han­deln, also me­tho­disch und un­be­küm­mert um Mei­nun­gen, Theo­ri­en und Dok­tri­nen. Nur so, glau­be ich, kommt man zur Er­kennt­nis der Wahr­heit, be­son­ders, wenn es sich, wie hier, um eine Fra­ge han­delt, die die Geis­ter leb­haft er­regt. Der For­scher, der sich um die Er­klä­rung ei­ner Er­schei­nung be­müht, hat sich um die In­ter­es­sen, die durch sei­ne Un­ter­su­chung be­rührt wer­den kön­nen, nicht zu küm­mern. Ein aus­ge­zeich­ne­ter Den­ker, Go­blet d’Al­viel­la, hat in ei­ner sei­ner Schrif­ten ge­sagt, ich ge­hö­re kei­ner zeit­ge­nös­si­schen Kri­tik an und trä­te zu­wei­len in Ge­gen­satz zu ge­wis­sen Fol­ge­run­gen al­ler Schu­len. Hof­fent­lich ver­dient die vor­lie­gen­de Ar­beit das glei­che Ur­teil. Zu ei­ner Schu­le ge­hö­ren heißt: de­ren Vor­ur­tei­le und Stand­punk­te tei­len müs­sen.

Ich muss je­doch dem Le­ser er­klä­ren, warum ich aus mei­nen Stu­di­en Schlüs­se zie­he, wel­che von de­nen ab­wei­chen, die sich auf den ers­ten Blick dar­aus er­ge­ben, z.B. wenn ich den au­ßer­or­dent­li­chen geis­ti­gen Tief­stand der Mas­sen fest­stel­le und doch be­haup­te, es sei un­ge­ach­tet die­ses Tief­stan­des ge­fähr­lich, die Or­ga­ni­sa­ti­on der Mas­sen an­zu­tas­ten.

Sorg­fäl­ti­ge Beo­b­ach­tung der ge­schicht­li­chen Tat­sa­chen hat mir näm­lich stets ge­zeigt, dass es ganz und gar nicht in un­se­rer Macht steht, die so­zia­len Or­ga­nis­men, die eben­so kom­pli­ziert sind wie an­de­re Or­ga­ni­sa­tio­nen, jäh tief­ge­hen­den Um­wand­lun­gen zu un­ter­wer­fen. Zu­wei­len ist die Na­tur ra­di­kal, doch nicht so, wie wir es ver­ste­hen; da­her gibt es nichts Trau­ri­ge­res für ein Volk als die Lei­den­schaft der großen Um­ge­stal­tun­gen, so vor­treff­lich sie theo­re­tisch schei­nen mö­gen. Nütz­lich wä­ren sie nur dann, wenn es mög­lich wäre, die See­len der Völ­ker plötz­lich zu än­dern. Die Zeit al­lein hat die­se Macht. Die Men­schen wer­den von Ide­en, Ge­füh­len und Ge­wohn­hei­ten ge­lei­tet, von Ei­gen­schaf­ten, die in ih­nen selbst ste­cken. Ein­rich­tun­gen und Ge­set­ze sind Of­fen­ba­run­gen un­se­rer See­le, der Aus­druck ih­rer Be­dürf­nis­se. Da die Ein­rich­tun­gen und Ge­set­ze von der See­le aus­ge­hen, wird sie von ih­nen nicht be­ein­flusst.

Das Stu­di­um der so­zia­len Er­schei­nun­gen lässt sich nicht von dem der Völ­ker tren­nen, bei de­nen sie sich ge­bil­det ha­ben. Phi­lo­so­phisch be­trach­tet, kön­nen die­se Er­schei­nun­gen un­be­ding­ten Wert ha­ben, prak­tisch aber sind sie nur von be­ding­tem Wert.

Man muss also beim Stu­di­um ei­ner so­zia­len Er­schei­nung die­sel­be Sa­che nach­ein­an­der von zwei ganz ver­schie­de­nen Ge­sichts­punk­ten aus be­trach­ten. Wir se­hen dem­nach, dass die Leh­ren der rei­nen Ver­nunft sehr oft de­nen der prak­ti­schen ent­ge­gen­ge­setzt sind. Es gibt kei­ne Tat­sa­chen, auch nicht auf phy­si­schem Ge­biet, auf die sich die­se Un­ter­schei­dung nicht an­wen­den lie­ße. Vom Ge­sichts­punkt der un­be­ding­ten Wahr­heit aus sind ein Wür­fel, ein Kreis un­ver­än­der­li­che geo­me­tri­sche Fi­gu­ren, die mit­tels fest­ste­hen­der For­meln ge­nau zu be­stim­men sind. Für den Ge­sichts­sinn kön­nen die­se geo­me­tri­schen Fi­gu­ren sehr man­nig­fa­che For­men an­neh­men. In der Wirk­lich­keit kann die Per­spek­ti­ve den Wür­fel in eine Py­ra­mi­de oder in ein Qua­drat, den Kreis in eine El­lip­se oder Gera­de ver­wan­deln. Und die­se an­ge­nom­me­nen For­men sind von viel grö­ße­rer Be­deu­tung als die wirk­li­chen; denn sie sind die ein­zi­gen, die wir se­hen und die sich fo­to­gra­fisch oder zeich­ne­risch wie­der­ge­ben las­sen. Das Un­wirk­li­che ist in ge­wis­sen Fäl­len wah­rer als das Wirk­li­che. Es hie­ße, die Na­tur um­for­men und un­kennt­lich ma­chen, woll­te man sich die Din­ge in ih­ren streng geo­me­tri­schen For­men vor­stel­len. In ei­ner Welt, de­ren Be­woh­ner die Din­ge nur ab­bil­den oder fo­to­gra­fie­ren könn­ten, je­doch nicht be­rüh­ren, wür­de man nur sehr schwer zu ei­ner ge­nau­en Vor­stel­lung ih­rer Form ge­lan­gen, und die Kennt­nis die­ser Form, die nur ei­ner ge­rin­gen Zahl von Ge­lehr­ten zu­gäng­lich wäre, wür­de nur schwa­ches In­ter­es­se we­cken.

Der Phi­lo­soph, der die so­zia­len Er­schei­nun­gen stu­diert, muss sich vor Au­gen hal­ten, dass sie ne­ben ih­rem theo­re­ti­schen auch prak­ti­schen Wert ha­ben und dass die­ser vom Ge­sichts­punkt der Kul­tur­ent­wick­lung der ein­zig be­deut­sa­me ist. Das muss ihn sehr vor­sich­tig ma­chen ge­gen die Fol­ge­run­gen, wel­che die Lo­gik ihm zu­nächst ein­zu­ge­ben scheint. Auch an­de­re Grün­de ver­an­las­sen ihn zur Zu­rück­hal­tung. Die so­zia­len Tat­sa­chen sind so ver­wi­ckelt, dass man sie in ih­rer Ge­samt­heit nicht um­fas­sen und die Wir­kun­gen ih­rer wech­sel­sei­ti­gen Be­ein­flus­sung nicht vor­aus­sa­gen kann. Auch schei­nen sich hin­ter den sicht­ba­ren Tat­sa­chen oft Tau­sen­de von un­sicht­ba­ren Ur­sa­chen zu ver­ber­gen. Die sicht­ba­ren so­zia­len Tat­sa­chen schei­nen die Fol­gen ei­ner rie­si­gen, un­be­wuss­ten Wir­kungs­kraft zu sein, die nur zu oft un­se­rer Un­ter­su­chung un­zu­gäng­lich ist. Die wahr­nehm­ba­ren Er­schei­nun­gen las­sen sich den Wo­gen ver­glei­chen, wel­che der Ober­flä­che des Ozeans die un­ter­ir­di­schen Er­schüt­te­run­gen mit­tei­len, die in sei­nen Tie­fen vor­ge­hen, und die wir nicht ken­nen. In den meis­ten Fäl­len zeigt die Hand­lungs­wei­se der Mas­sen eine au­ßer­or­dent­lich nied­ri­ge Geis­tig­keit; aber in an­de­ren Hand­lun­gen schei­nen sie von je­nen ge­heim­nis­vol­len Kräf­ten ge­lenkt zu wer­den, wel­che die Al­ten Schick­sal, Na­tur, Vor­se­hung nann­ten, die wir als die Stim­men der To­ten be­zeich­nen, und de­ren Macht wir nicht ver­ken­nen kön­nen, so un­be­kannt uns auch ihr We­sen ist. Oft scheint es, als ob die Völ­ker in ih­rem Schoß ver­bor­ge­ne Kräf­te tra­gen, von de­nen sie ge­führt wer­den. Kann et­was ver­wi­ckel­ter, lo­gi­scher, wun­der­ba­rer sein als eine Spra­che? Und ent­springt nicht dies wohl­ge­ord­ne­te und fei­ne Ge­bil­de der un­be­wuss­ten Mas­sen­see­le? Die ge­lehr­tes­ten Hoch­schu­len ver­zeich­nen nur die Re­geln die­ser Spra­chen, wä­ren aber nicht im­stan­de, sie zu schaf­fen. Wis­sen wir si­cher, ob die ge­nia­len Ide­en der großen Män­ner aus­schließ­lich ihr ei­ge­nes Werk sind? Zwei­fel­los sind sie stets Schöp­fun­gen ein­zel­ner Geis­ter, aber die un­zäh­li­gen Körn­chen, die den Bo­den für den Keim die­ser Ide­en bil­den, hat die Mas­sen­see­le sie nicht er­zeugt?

Ge­wiss üben die Mas­sen ihre Wir­kungs­kraft stets un­be­wusst aus. Aber viel­leicht ist ge­ra­de dies Un­be­wuss­te das Ge­heim­nis ih­rer Kraft. In der Na­tur gibt es We­sen, die nur aus In­stinkt han­deln und Ta­ten voll­brin­gen, de­ren wun­der­ba­re Man­nig­fal­tig­keit wir an­stau­nen. Der Ge­brauch der Ver­nunft ist für die Mensch­heit noch zu neu und zu un­voll­kom­men, um die Ge­set­ze des Un­be­wuss­ten ent­hül­len zu kön­nen und be­son­ders, um es zu er­set­zen. Der An­teil des Un­be­wuss­ten an un­se­ren Hand­lun­gen ist un­ge­heu­er und der An­teil der Ver­nunft sehr klein. Das Un­be­wuss­te ist eine Wir­kungs­kraft, die wir noch nicht er­ken­nen kön­nen. Wol­len wir uns also in den en­gen, aber si­che­ren Gren­zen der wis­sen­schaft­lich er­kenn­ba­ren Din­ge hal­ten und nicht auf dem Fel­de un­be­stimm­ter Ver­mu­tun­gen und nich­ti­ger Voraus­set­zun­gen um­her­ir­ren, so dür­fen wir nur die Er­schei­nun­gen fest­stel­len, die uns zu­gäng­lich sind, und müs­sen uns da­mit be­gnü­gen. Jede Fol­ge­rung, die wir aus un­se­ren Beo­b­ach­tun­gen zie­hen, ist meis­tens vor­ei­lig; denn hin­ter den wahr­ge­nom­me­nen Er­schei­nun­gen gibt es sol­che, die wir un­deut­lich se­hen, und hin­ter die­sen wahr­schein­lich noch an­de­re, die wir über­haupt nicht er­ken­nen.

Le Bon

Psy­cho­lo­gi­sche Ge­set­ze der Völ­ker­ent­wick­lung.  <<<

Einleitung: Das Zeitalter der Massen

Ent­wick­lung des ge­gen­wär­ti­gen Zeit­al­ters — Die großen Kul­tur­wen­den sind die Fol­ge von Wand­lun­gen im Den­ken der Völ­ker — Der Glau­be der Neu­zeit an die Macht der Mas­sen — Er ver­än­dert die her­ge­brach­te Po­li­tik der Staa­ten — Wie sich das Em­por­kom­men der Volks­klas­sen voll­zieht und wie sie ihre Macht aus­üben — Die Syn­di­ka­te — Not­wen­di­ge Fol­gen der Macht der Mas­sen — Sie kön­nen nur eine zer­stö­re­ri­sche Rol­le spie­len — Durch sie vollen­det sich die Auf­lö­sung der zu alt ge­wor­de­nen Kul­tu­ren — All­ge­mei­ne Un­kennt­nis der Psy­cho­lo­gie der Mas­sen — Wich­tig­keit des Stu­di­ums der Mas­sen für Ge­setz­ge­ber und Staats­män­ner

Entwicklung des gegenwärtigen Zeitalters

Die großen Er­schüt­te­run­gen, wel­che den Kul­tur­wen­den vor­an­ge­hen, schei­nen auf den ers­ten Blick durch be­deut­sa­me po­li­ti­sche Ver­än­de­run­gen be­stimmt zu sein: durch Völ­ke­rin­va­si­on oder durch den Sturz von Herr­scher­häu­sern. Eine auf­merk­sa­me Un­ter­su­chung die­ser Er­eig­nis­se ent­hüllt je­doch hin­ter ih­ren schein­ba­ren Ur­sa­chen als wah­re Ur­sa­che eine tief­ge­hen­de Ver­än­de­rung in den An­schau­un­gen der Völ­ker. Das sind nicht die wah­ren his­to­ri­schen Er­schüt­te­run­gen, die uns durch ihre Grö­ße und Hef­tig­keit ver­wun­dern. Die ein­zi­gen Ver­än­de­run­gen von Be­deu­tung — die ein­zi­gen, aus wel­chen die Er­neue­rung der Kul­tu­ren her­vor­geht — voll­zie­hen sich in­ner­halb der An­schau­un­gen, der Be­grif­fe und des Glau­bens. Die be­mer­kens­wer­ten Er­eig­nis­se der Ge­schich­te sind die sicht­ba­ren Wir­kun­gen der un­sicht­ba­ren Ver­än­de­run­gen des mensch­li­chen Den­kens. Wenn die­se großen Er­eig­nis­se so sel­ten sind, so hat das sei­nen Grund dar­in, dass es nichts Be­stän­di­ge­res in ei­ner Ras­se gibt als das Erb­gut ih­rer Ge­füh­le.

Das ge­gen­wär­ti­ge Zeit­al­ter bil­det einen je­ner kri­ti­schen Zeit­punk­te, in de­nen das mensch­li­che Den­ken im Be­griff ist, sich zu wan­deln.

Da die Ide­en der Ver­gan­gen­heit, ob­wohl halb zer­stört, noch sehr mäch­tig, und die Ide­en, die sie er­set­zen sol­len, erst in der Bil­dung be­grif­fen sind, so ist die Ge­gen­wart eine Pe­ri­ode des Über­gan­ges und der An­ar­chie.

Was aus die­sem not­wen­dig et­was chao­ti­schen Zeit­raum ein­mal her­vor­ge­hen wird, ist im Au­gen­blick nicht leicht zu sa­gen. Auf wel­chem Grund­ge­dan­ken wird sich die künf­ti­ge Ge­sell­schaft auf­bau­en? Wir wis­sen es noch nicht. Schon jetzt aber kann man vor­aus­se­hen, dass sie bei ih­rer Or­ga­ni­sa­ti­on mit ei­ner neu­en Macht, der jüngs­ten Herr­sche­rin der Ge­gen­wart, zu rech­nen ha­ben wird: mit der Macht der Mas­sen. Auf den Rui­nen so vie­ler, einst für wahr ge­hal­te­ner und jetzt to­ter Ide­en, so vie­ler Mäch­te, die durch Re­vo­lu­tio­nen nach und nach ge­bro­chen wor­den sind, hat die­se Macht al­lein sich er­ho­ben und scheint bald die an­de­ren auf­sau­gen zu wol­len. Wäh­rend alle uns­re al­ten An­schau­un­gen schwan­ken und ver­schwin­den und die al­ten Ge­sell­schafts­stüt­zen eine nach der an­de­ren ein­stür­zen, ist die Macht der Mas­sen die ein­zi­ge Kraft, die durch nichts be­droht wird und de­ren An­se­hen im­mer mehr wächst. Das Zeit­al­ter, in das wir ein­tre­ten, wird in Wahr­heit das Zeit­al­ter der Mas­sen sein.

Vor kaum ei­nem Jahr­hun­dert be­stan­den die Haupt­trieb­kräf­te der Er­eig­nis­se in der über­lie­fer­ten Po­li­tik der Staa­ten und dem Wett­streit der Fürs­ten. Die Mei­nung der Mas­sen galt in den meis­ten Fäl­len gar nichts. Heu­te gel­ten die po­li­ti­schen Über­lie­fe­run­gen, die per­sön­li­chen Be­stre­bun­gen der Herr­scher und de­ren Wett­streit nur noch we­nig. Die Stim­me des Vol­kes hat das Über­ge­wicht er­langt. Sie schreibt den Kö­ni­gen ihr Ver­hal­ten vor. In der See­le der Mas­sen, nicht mehr in den Fürs­ten­be­ra­tun­gen be­rei­ten sich die Schick­sa­le der Völ­ker vor.

Der Ein­tritt der Volks­klas­sen in das po­li­ti­sche Le­ben, ihre fort­schrei­ten­de Um­wand­lung zu füh­ren­den Klas­sen, ist ei­nes der her­vor­ste­chends­ten Kenn­zei­chen uns­rer Über­gangs­zeit. Die­ser Ein­tritt wird nicht durch das all­ge­mei­ne Stimm­recht ge­kenn­zeich­net, das lan­ge Zeit so we­nig ein­fluss­reich und an­fangs so leicht zu len­ken war. Die Ge­burt der Macht der Mas­se ent­stand zu­erst durch die Ver­brei­tung ge­wis­ser Ge­dan­ken­gän­ge, die lang­sam von den Geis­tern Be­sitz er­grif­fen, so­dann durch die all­mäh­li­che Ve­rei­ni­gung der ein­zel­nen zur Ver­wirk­li­chung der bis­her theo­re­ti­schen An­schau­un­gen. Die Ve­rei­ni­gung er­mög­lich­te es den Mas­sen, sich, wenn auch nicht sehr rich­ti­ge, so doch we­nigs­tens ganz be­stimm­te Ide­en von ih­ren In­ter­es­sen zu bil­den und das Be­wusst­sein ih­rer Kraft zu er­lan­gen. Sie grün­den Syn­di­ka­te, de­nen sich alle Macht­ha­ber un­ter­wer­fen, Ar­beits­bör­sen, die al­len Wirt­schafts­ge­set­zen zum Trotz die Be­din­gun­gen der Ar­beit und des Loh­nes zu re­geln su­chen. Sie ent­sen­den in die Par­la­men­te Ab­ge­ord­ne­te, de­nen al­ler Un­ter­neh­mungs­geist, alle Selbst­stän­dig­keit fehlt, und die oft nur zu Wort­füh­rern der Aus­schüs­se, die sie ge­wählt hat­ten, her­ab­ge­wür­digt wur­den.

Heu­te wer­den die For­de­run­gen der Mas­sen nach und nach im­mer deut­li­cher und lau­fen auf nichts Ge­rin­ge­res hin­aus als auf den gänz­li­chen Um­sturz der ge­gen­wär­ti­gen Ge­sell­schaft, um sie je­nem pri­mi­ti­ven Kom­mu­nis­mus zu­zu­füh­ren, der vor dem Be­ginn der Kul­tur der nor­ma­le Zu­stand al­ler mensch­li­chen Ge­mein­schaft war. Be­gren­zung der Ar­beits­zeit, Ent­eig­nung von Berg­wer­ken, Ei­sen­bah­nen, Fa­bri­ken und Bo­den, glei­che Ver­tei­lung al­ler Pro­duk­te, Ab­schaf­fung al­ler obe­ren Klas­sen zu­guns­ten der Volks­klas­sen usw. — das sind ihre For­de­run­gen.

Je we­ni­ger die Mas­se ver­nünf­ti­ger Über­le­gung fä­hig ist, umso mehr ist sie zur Tat ge­neigt. Die Or­ga­ni­sa­ti­on hat ihre Kraft ins Un­ge­heu­re ge­stei­gert. Die Glau­bens­leh­ren, die wir auf­tau­chen se­hen, wer­den bald die Macht der al­ten Glau­bens­leh­ren be­sit­zen, d.h. die ty­ran­ni­sche und her­ri­sche Kraft, wel­che sich al­ler Aus­ein­an­der­set­zung ent­zieht. Das gött­li­che Recht der Mas­sen wird das gött­li­che Recht der Kö­ni­ge er­set­zen.

Die Lieb­lings­schrift­stel­ler der jet­zi­gen Bour­geoi­sie, die am bes­ten de­ren et­was be­schränk­te Ide­en, ihre kurz­sich­ti­gen An­schau­un­gen, ih­ren all­ge­mein­ge­hal­te­nen Skep­ti­zis­mus und oft über­mä­ßi­gen Ego­is­mus schil­dern, ge­ra­ten vor der neu­en Macht, die sie her­an­wach­sen se­hen, völ­lig au­ßer Fas­sung und rich­ten, um die Ver­wir­rung der Geis­ter zu be­kämp­fen, einen ver­zwei­fel­ten Ap­pell an die sitt­li­chen Kräf­te der Kir­che, die sie einst so ge­ring schätz­ten. Sie spre­chen vom Bank­rott der Wis­sen­schaft und er­in­nern uns an die Leh­ren der geof­fen­bar­ten Wahr­hei­ten. Aber die­se Neu­be­kehr­ten ver­ges­sen, dass die Gna­de, wenn sie sie wirk­lich be­rühr­te, doch nicht die glei­che Macht über jene See­len hat, die sich we­nig um das Jen­seits küm­mern. Die Mas­sen wol­len heu­te die Göt­ter nicht mehr, die ihre ehe­ma­li­gen Her­ren ges­tern noch ver­leug­ne­ten und zer­stö­ren hal­fen. Die Flüs­se flie­ßen nicht zu ih­ren Quel­len zu­rück.

Die Wis­sen­schaft hat mit­nich­ten Bank­rott ge­macht und hat nichts mit der ge­gen­wär­ti­gen An­ar­chie der Geis­ter oder mit der neu­en Macht zu tun, die in ih­rem Scho­ße em­por­wächst. Sie hat uns die Wahr­heit ver­hei­ßen oder we­nigs­tens die Er­kennt­nis der Zu­sam­men­hän­ge, die uns­rem Ver­stan­de zu­gäng­lich sind; sie hat uns nie­mals den Frie­den und das Glück ver­spro­chen. In über­le­ge­ner Gleich­gül­tig­keit ge­gen uns­re Ge­füh­le hört sie uns­re Kla­gen nicht, und nichts ver­mag uns die Täu­schun­gen wie­der­zu­ge­ben, die sie ver­trieb.

Die Massen als Zerstörerinnen der Kultur

All­ge­mei­ne Sym­pto­me, die bei al­len Na­tio­nen er­kenn­bar sind, zei­gen uns das rei­ßen­de An­wach­sen der Macht der Mas­sen. Was es auch brin­gen mag, wir wer­den es er­tra­gen müs­sen. Alle An­schul­di­gun­gen sind nur nutz­lo­ses Ge­re­de. Vi­el­leicht be­deu­tet der Auf­stieg der Mas­sen eine der letz­ten Etap­pen der Kul­tu­ren des Abend­lan­des, die Rück­kehr zu je­nen Zei­ten ver­wor­re­ner An­ar­chie, die stets dem Auf­blü­hen ei­ner neu­en Ge­sell­schaft vor­an­zu­ge­hen schei­nen. Aber wie wäre er zu ver­hin­dern?

Bis­her be­stand die Auf­ga­be der Mas­sen of­fen­bar in die­sen großen Zer­stö­run­gen der al­ten Kul­tu­ren. Die Ge­schich­te lehrt uns, dass in dem Au­gen­blick, da die mo­ra­li­schen Kräf­te, das Rüst­zeug ei­ner Ge­sell­schaft, ihre Herr­schaft ver­lo­ren ha­ben, die letz­te Auf­lö­sung von je­nen un­be­wuss­ten und ro­hen Mas­sen, wel­che recht gut als Bar­ba­ren ge­kenn­zeich­net wer­den, her­bei­ge­führt wird. Bis­her wur­den die Kul­tu­ren von ei­ner klei­nen, in­tel­lek­tu­el­len Ari­sto­kra­tie ge­schaf­fen und ge­lei­tet, nie­mals von den Mas­sen. Die Mas­sen ha­ben nur Kraft zur Zer­stö­rung. Ihre Herr­schaft be­deu­tet stets eine Stu­fe der Auf­lö­sung. Eine Kul­tur setzt fes­te Re­geln, Zucht, den Über­gang des Trieb­haf­ten zum Ver­nünf­ti­gen, die Vor­aus­be­rech­nung der Zu­kunft, über­haupt einen ho­hen Bil­dungs­grad vor­aus — Be­din­gun­gen, für wel­che die sich selbst über­las­se­nen Mas­sen völ­lig un­zu­gäng­lich sind. Ver­mö­ge ih­rer nur zer­stö­re­ri­schen Macht wir­ken sie gleich je­nen Mi­kro­ben, wel­che die Auf­lö­sung ge­schwäch­ter Kör­per oder Lei­chen be­schleu­ni­gen. Ist das Ge­bäu­de ei­ner Kul­tur morsch ge­wor­den, so füh­ren die Mas­sen sei­nen Zu­sam­men­bruch her­bei. Jetzt tritt ihre Haupt­auf­ga­be zu­ta­ge. Plötz­lich wird die blin­de Macht der Mas­se für einen Au­gen­blick zur ein­zi­gen Phi­lo­so­phie der Ge­schich­te.

Wird es sich mit uns­rer Kul­tur eben­so ver­hal­ten? Es ist zu be­fürch­ten, aber wir wis­sen es noch nicht.

Wir müs­sen uns da­mit ab­fin­den, die Herr­schaft der Mas­sen zu er­tra­gen, da un­vor­sich­ti­ge Hän­de all­mäh­lich alle Schran­ken, die jene zu­rück­hal­ten konn­ten, nie­der­ge­ris­sen ha­ben.

Wir ken­nen die­se Mas­sen, von de­nen man jetzt so viel spricht. Die Psy­cho­lo­gen von Fach, die nicht in ih­rer Nähe le­ben, ha­ben sie stets igno­riert und sich mit ih­nen nur in Be­zug auf die Ver­bre­chen be­schäf­tigt, zu de­nen sie fä­hig sind. Zwei­fel­los gibt es ver­bre­che­ri­sche Mas­sen, aber es gibt auch tu­gend­haf­te, he­ro­i­sche und noch vie­le an­ders­ar­ti­ge Mas­sen. Die Mas­sen­ver­bre­chen bil­den le­dig­lich einen Son­der­fall ih­res See­len­le­bens und las­sen ihre geis­ti­ge Be­schaf­fen­heit nicht bes­ser er­ken­nen als die ei­nes Ein­zel­we­sens, von dem man nur sei­ne Las­ter kennt.

Doch of­fen ge­stan­den: Alle Her­ren der Erde, alle Re­li­gi­ons- und Reichs­s­tif­ter, die Apos­tel al­ler Glau­bens­rich­tun­gen, die her­vor­ra­gen­den Staats­män­ner und, in ei­ner be­schei­de­neren Sphä­re, die ein­fa­chen Häup­ter klei­ner mensch­li­cher Ge­mein­schaf­ten wa­ren stets un­be­wuss­te Psy­cho­lo­gen mit ei­ner in­stink­ti­ven und oft sehr si­che­ren Kennt­nis der Mas­sen­see­le; weil sie die­se gut kann­ten, wur­den sie so leicht Macht­ha­ber. Na­po­le­on er­fass­te wun­der­bar das See­len­le­ben der fran­zö­si­schen Mas­sen, aber er ver­kann­te oft völ­lig die Mas­sen­see­le frem­der Ras­sen.1 Die­se Un­kennt­nis ver­an­lass­te ihn, na­ment­lich in Spa­ni­en und Russ­land, Krie­ge zu füh­ren, die sei­nen Sturz vor­be­rei­te­ten.

Üb­ri­gens ver­stan­den sich sei­ne klügs­ten Rat­ge­ber nicht bes­ser dar­auf. Tal­ley­rand schrieb ihm, Spa­ni­en wür­de sei­ne Sol­da­ten als Be­frei­er emp­fan­gen. Es emp­fing sie wie Raub­tie­re. Ein mit den Er­bin­stink­ten der Ras­se ver­trau­ter Psy­cho­lo­ge hät­te die­sen Empfang leicht vor­aus­se­hen kön­nen.  <<<

Die Massen und der Staatsmann

Die Kennt­nis der Psy­cho­lo­gie der Mas­sen ist heu­te das letz­te Hilfs­mit­tel für den Staats­mann, der die­se nicht etwa be­herr­schen — das ist zu schwie­rig ge­wor­den —, aber we­nigs­tens nicht all­zu sehr von ih­nen be­herrscht wer­den will.

Die Mas­sen­psy­cho­lo­gie zeigt, wie au­ßer­or­dent­lich we­nig Ein­fluss Ge­set­ze und Ein­rich­tun­gen auf die ur­sprüng­li­che Na­tur der Mas­sen ha­ben und wie un­fä­hig die­se sind, Mei­nun­gen zu ha­ben au­ßer je­nen, die ih­nen ein­ge­flö­ßt wur­den; Re­geln, wel­che auf rein be­griff­li­chem Er­mes­sen be­ru­hen, ver­mö­gen sie nicht zu lei­ten. Nur die Ein­drücke, die man in ihre See­le pflanzt, kön­nen sie ver­füh­ren. Darf z.B. ein Ge­setz­ge­ber, der eine neue Steu­er auf­le­gen will, die theo­re­tisch ge­rech­tes­te wäh­len? Kei­nes­falls. Die un­ge­rech­tes­te kann prak­tisch für die Mas­sen die bes­te sein, wenn sie am un­auf­fäl­ligs­ten und leich­tes­ten in Er­schei­nung tritt. Auf die­se Wei­se wird eine noch so hohe in­di­rek­te Steu­er al­le­zeit von der Mas­se an­ge­nom­men wer­den. Wenn sie täg­lich pfen­nig­wei­se für Kon­sumar­ti­kel ent­rich­tet wird, stört sie die Ge­wohn­hei­ten nicht und be­ein­flusst sie we­nig. Man lege an ih­rer Stel­le eine pro­por­tio­na­le, auf ein­mal zu ent­rich­ten­de Steu­er auf die Löh­ne oder an­de­ren Ein­kom­men, mag sie auch theo­re­tisch zehn­mal we­ni­ger hart sein als die an­de­re, so wird sie hef­ti­gen Wi­der­spruch er­re­gen. An Stel­le der täg­li­chen Pfen­ni­ge, die man nicht spürt, tritt näm­lich eine ver­hält­nis­mä­ßig hohe Geld­sum­me, die am Zahl­tag rie­sig groß er­scheint und sehr nach­drück­lich emp­fun­den wird. Sie wäre nur dann un­be­merkt ver­braucht wor­den, wenn sie Pfen­nig für Pfen­nig zur Sei­te ge­legt wor­den wäre; aber ein so wirt­schaft­li­ches Ge­ba­ren wür­de ein Maß von Voraus­sicht be­wei­sen, des­sen die Mas­sen un­fä­hig sind.

Dies Bei­spiel ent­hüllt son­nen­klar ihre geis­ti­ge Ver­fas­sung. Ei­nem Psy­cho­lo­gen wie Na­po­le­on ist sie nicht ent­gan­gen, aber die Ge­setz­ge­ber, wel­che die Mas­sen­see­le nicht be­ach­ten, wür­den sie nicht ver­ste­hen. Die Er­fah­rung hat ih­nen noch nicht ge­nü­gend be­wie­sen, dass die Men­schen sich nie­mals von den Vor­schrif­ten der rei­nen Ver­nunft lei­ten las­sen.

So lie­ße sich die Mas­sen­psy­cho­lo­gie noch auf vie­les an­de­re an­wen­den. Ihre Kennt­nis wirft hells­tes Licht auf zahl­rei­che his­to­ri­sche und öko­no­mi­sche Er­schei­nun­gen, die ohne sie völ­lig un­ver­ständ­lich blei­ben.

Selbst wenn es le­dig­lich das In­ter­es­se uns­rer Neu­gier be­frie­dig­te, ver­dien­te das Stu­di­um der Mas­sen­psy­cho­lo­gie in An­griff ge­nom­men zu wer­den, denn es ist eben­so in­ter­essant, die Trieb­kräf­te der mensch­li­chen Hand­lun­gen zu ent­rät­seln, wie die ei­nes Mi­ne­rals oder ei­ner Pflan­ze.

Un­ser Stu­di­um der Mas­sen­see­le wird nur einen kur­z­en Über­blick, eine blo­ße Zu­sam­men­fas­sung uns­rer Un­ter­su­chun­gen bie­ten kön­nen. Man darf von ihr nicht mehr als ei­ni­ge an­re­gen­de Ge­sichts­punk­te ver­lan­gen. An­de­re wer­den das Ge­biet bes­ser be­ar­bei­ten.1 Heu­te ist es noch jung­fräu­li­cher Bo­den, den wir be­a­ckern.

Die we­ni­gen Au­to­ren, die sich mit dem Stu­di­um der Psy­cho­lo­gie der Mas­sen ab­ge­ben, ha­ben ihre Un­ter­su­chun­gen nur hin­sicht­lich der Ver­bre­chen an­ge­stellt. Da ich die­sem Stoff­ge­biet nur ein kur­z­es Ka­pi­tel ge­wid­met habe, so ver­wei­se ich den Le­ser auf die Ar­bei­ten von Tar­de und die Schrift von Sig­he­le: »Die ver­bre­che­ri­sche Mas­se«. Die letz­te­re Ar­beit ent­hält kei­nen ein­zi­gen neu­en Ge­dan­ken des Au­tors, gibt aber eine Zu­sam­men­stel­lung von Tat­sa­chen, die der Psy­cho­lo­ge ver­wer­ten kann. Üb­ri­gens sind mei­ne Schluss­fol­ge­run­gen be­treffs der Kri­mi­na­li­tät und Mora­li­tät der Mas­sen de­nen der bei­den Au­to­ren, die ich nann­te, ganz ent­ge­gen­ge­setzt. Man wird in mei­nen ver­schie­de­nen Ar­bei­ten, be­son­ders in mei­ner Schrift »Die Psy­cho­lo­gie des So­zia­lis­mus« ei­ni­ge Er­geb­nis­se aus den Ge­set­zen fin­den, wel­che die Mas­sen­psy­cho­lo­gie be­herr­schen. Die­se Ge­set­ze las­sen sich au­ßer­dem auf den ver­schie­dens­ten Ge­bie­ten an­wen­den. Der Di­rek­tor des Kö­nig­li­chen Kon­ser­va­to­ri­ums in Brüs­sel, A. Ge­vaert, hat von den Ge­set­zen, die ich in ei­ner Ab­hand­lung über Mu­sik dar­leg­te, wel­che er tref­fend als »Mas­sen­kunst« be­zeich­ne­te, eine be­mer­kens­wer­te An­wen­dung ge­macht. »Ihre bei­den Schrif­ten«, schrieb mir die­ser aus­ge­zeich­ne­te Leh­rer bei Über­sen­dung sei­ner Ab­hand­lung, »ha­ben mir die Lö­sung ei­nes von mir frü­her als un­lös­lich be­trach­te­ten Pro­blems ge­bracht: die er­staun­li­che Eig­nung je­der Mas­se, ein neu­es oder al­tes, ein ein­hei­mi­sches oder frem­des, ein ein­fa­ches oder zu­sam­men­ge­setz­tes Ton­stück zu emp­fin­den, vor­aus­ge­setzt, dass es schön ge­spielt wird, und dass die Mu­si­ker einen be­geis­ter­ten Di­ri­gen­ten ha­ben.« Herr Ge­vaert zeigt vor­treff­lich, warum »ein Werk, wel­ches aus­ge­zeich­ne­ten Mu­si­kern bei Durch­sicht der Par­ti­tur in der Ein­sam­keit ih­res Zim­mers un­ver­ständ­lich blieb, oft von ei­nem je­der tech­ni­schen Bil­dung er­man­geln­den Au­di­to­ri­um ohne wei­te­res er­fasst wird«. Eben­so aus­ge­zeich­net er­klärt er, wes­halb die­se äs­the­ti­schen Ein­drücke kei­ner­lei Spu­ren hin­ter­las­sen.  <<<

Erstes Buch: Die Massenseele

1. Ka­pi­tel: All­ge­mei­ne Kenn­zei­chen der Mas­sen — Das psy­cho­lo­gi­sche Ge­setz von ih­rer see­li­schen Ein­heit

Was kenn­zeich­net eine Mas­se vom psy­cho­lo­gi­schen Ge­sichts­punkt — Eine zah­len­mä­ßi­ge Men­ge von Ein­zel­nen bil­det noch kei­ne Mas­se — Be­son­de­re Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der psy­cho­lo­gi­schen Mas­sen — Un­ver­än­der­li­che Rich­tung der Ge­dan­ken und Ge­füh­le der ein­zel­nen, die sie bil­den, und Aus­lö­schung ih­rer Per­sön­lich­keit — Die Mas­se wird stets vom Un­be­wuss­ten be­herrscht — Zu­rück­tre­ten des Ge­hirn­le­bens und Vor­herr­schen des Rücken­markle­bens — Ver­min­de­rung des Ver­stan­des und völ­li­ge Um­wand­lung der Ge­füh­le — Die ver­än­der­ten Ge­füh­le kön­nen bes­ser oder schlech­ter sein als die der ein­zel­nen, aus de­nen die Men­ge be­steht — Die Mas­se wird eben­so­leicht hel­den­haft wie ver­bre­che­risch

2. Ka­pi­tel: Ge­füh­le und Sitt­lich­keit der Mas­sen

§ 1. Trieb­haf­tig­keit, Be­weg­lich­keit und Er­reg­bar­keit der Mas­sen — Die Mas­se ist der Spiel­ball al­ler äu­ße­ren Rei­ze, de­ren un­auf­hör­li­che Schwan­kun­gen sie wi­der­spie­gelt — Die An­trie­be, de­nen sie ge­hor­chen, sind so ge­bie­te­risch, dass der per­sön­li­che Vor­teil zu­rück­tritt — Bei den Mas­sen ist nichts vor­be­dacht — Wir­kungs­kraft der Ras­se

§ 2. Be­ein­fluss­bar­keit und Leicht­gläu­big­keit der Mas­sen — Ihre Emp­fäng­lich­keit für Be­ein­flus­sun­gen — Die in ih­rem Ge­müt her­vor­ge­ru­fe­nen Bil­der wer­den für Wirk­lich­keit ge­hal­ten — Wa­rum die­se Bil­der für alle ein­zel­nen, aus de­nen eine Mas­se be­steht, gleich­ar­tig sind — An­glei­chung der Ge­lehr­ten und des Ein­fäl­ti­gen in ei­ner Mas­se — Ver­schie­de­ne Bei­spie­le von Täu­schun­gen, de­nen alle Mit­glie­der in ei­ner Mas­se un­ter­lie­gen — Un­mög­lich­keit, der Zeu­gen­schaft der Mas­sen ir­gend­wel­chen Glau­ben bei­zu­mes­sen — Die Ein­mü­tig­keit zahl­rei­cher Zeu­gen ist ei­ner der schlech­tes­ten Be­wei­se, den man zur Er­här­tung ei­ner Tat­sa­che bei­brin­gen kann — Ge­rin­ger Wert der Ge­schichts­wer­ke

§ 3. Über­schwang und Ein­sei­tig­keit der Mas­sen­ge­füh­le — Die Mas­sen ken­nen we­der Zwei­fel noch Un­ge­wiss­heit und er­ge­hen sich stets in Über­trei­bun­gen — Ihre Ge­füh­le sind stets über­schwäng­lich

§ 4. Un­duld­sam­keit, Herrsch­sucht und Kon­ser­va­tis­mus der Mas­sen — Ur­sa­chen die­ser Ge­füh­le — Un­ter­wür­fig­keit der Mas­sen vor ei­ner star­ken Macht — Die au­gen­blick­li­chen re­vo­lu­tio­nären Trie­be der Mas­sen hin­dern sie nicht, höchst rück­stän­dig zu sein — Sie sind in­stink­tiv Fein­de von Ver­än­de­rung und Fort­schritt

§ 5. Sitt­lich­keit der Mas­sen — Die Sitt­lich­keit der Mas­sen kann je nach den Ein­flüs­sen viel nied­ri­ger oder viel hö­her sein als die der ein­zel­nen, die sie bil­den — Er­klä­rung und Bei­spie­le — Die Mas­sen wer­den sel­ten durch den Ei­gen­nutz ge­lei­tet, der meist den ein­zi­gen An­trieb für den ein­zel­nen bil­det — Ver­sitt­li­chen­de Wir­kung der Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Ide­en, Ur­tei­le und Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen

§ 1. Die Ide­en der Mas­sen — Grund­le­gen­de und ne­ben­säch­li­che Ide­en — Wie ent­ge­gen­ge­setz­te Vor­stel­lun­gen gleich­zei­tig be­ste­hen kön­nen — Wand­lun­gen, die die hö­he­ren Ide­en durch­ma­chen müs­sen, um für die Mas­sen an­nehm­bar zu wer­den — Die so­zia­le Be­deu­tung der Vor­stel­lun­gen ist un­ab­hän­gig von dem Wahr­heits­ge­halt, den sie in sich tra­gen kön­nen.

§ 2. Die Ur­tei­le der Mas­sen — Die Mas­sen sind nicht durch Be­weis­grün­de zu be­ein­flus­sen — Die Ur­tei­le der Mas­sen sind stets sehr nied­ri­ger Art — Die Vor­stel­lun­gen, die sie as­so­zi­ie­ren, ha­ben nur den Schein von Ana­lo­gie und Fol­ge­rich­tig­keit

§ 3. Die Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen — Macht der Mas­sen­fan­ta­sie — Sie den­ken in Bil­dern, die ohne jeg­li­che Ver­bin­dung auf­ein­an­der fol­gen — Die Mas­sen nimmt be­son­ders die wun­der­ba­re Seit der Din­ge ge­fan­gen — Das Wun­der­ba­re und das Sa­gen­haf­te sind die wah­ren Trä­ger der Kul­tu­ren — Die Volks­fan­ta­sie war stets der Stütz­punkt der Macht al­ler Staats­män­ner — Auf wel­che Wei­se die Tat­sa­chen auf die Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen Ein­druck ma­chen kön­nen

4. Ka­pi­tel: Die re­li­gi­ösen For­men, die alle Über­zeu­gun­gen der Mas­se an­neh­men

Wo­durch das re­li­gi­öse Ge­fühl ge­bil­det wird — Es ist un­ab­hän­gig von der An­be­tung ei­ner Gott­heit — Sei­ne Merk­ma­le — Macht der Über­zeu­gun­gen, die re­li­gi­öse For­men an­ge­nom­men ha­ben — Ver­schie­de­ne Bei­spie­le — Die Volks­göt­ter sind nie ganz ver­schwun­den — Neue For­men ih­rer Wie­der­ge­burt — Re­li­gi­öse For­men des Athe­is­mus — Be­deu­tung die­ser Be­grif­fe in his­to­ri­scher Hin­sicht — Die Re­for­ma­ti­on, die Bar­tho­lo­mäus­nacht, die Schre­ckens­ta­ge und alle ähn­li­chen Er­eig­nis­se sind die Fol­gen der re­li­gi­ösen Ge­füh­le der Mas­sen und nicht des Wil­lens ein­zel­ner Per­sön­lich­kei­ten

1. Kapitel: Allgemeine Kennzeichen der Massen.

Das psy­cho­lo­gi­sche Ge­setz von ih­rer see­li­schen Ein­heit — Was kenn­zeich­net eine Mas­se vom psy­cho­lo­gi­schen Ge­sichts­punkt — Eine zah­len­mä­ßi­ge Men­ge von Ein­zel­nen bil­det noch kei­ne Mas­se — Be­son­de­re Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der psy­cho­lo­gi­schen Mas­sen — Un­ver­än­der­li­che Rich­tung der Ge­dan­ken und Ge­füh­le der ein­zel­nen, die sie bil­den, und Aus­lö­schung ih­rer Per­sön­lich­keit — Die Mas­se wird stets vom Un­be­wuss­ten be­herrscht — Zu­rück­tre­ten des Ge­hirn­le­bens und Vor­herr­schen des Rücken­markle­bens — Ver­min­de­rung des Ver­stan­des und völ­li­ge Um­wand­lung der Ge­füh­le — Die ver­än­der­ten Ge­füh­le kön­nen bes­ser oder schlech­ter sein als die der ein­zel­nen, aus de­nen die Men­ge be­steht — Die Mas­se wird eben­so­leicht hel­den­haft wie ver­bre­che­risch

Was ist eine Masse?

Im ge­wöhn­li­chen Wort­sinn be­deu­tet Mas­se eine Ve­rei­ni­gung ir­gend­wel­cher ein­zel­ner von be­lie­bi­ger Na­tio­na­li­tät, be­lie­bi­gem Be­ruf und Ge­schlecht und be­lie­bi­gem An­lass der Ve­rei­ni­gung.