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Gustave Le Bons "Psychologie der Massen" ist ein wegweisendes Werk, das sich mit dem Verhalten von Menschen in Massengesellschaften befasst. Le Bon untersucht die psychologischen Mechanismen, die in großen Menschenmengen wirken und ihr Verhalten kollektiv beeinflussen. Durch die Analyse von historischen Ereignissen und sozialen Phänomenen zeigt er auf, wie individuelle Rationalität in Massen irrationalen und impulsiven Strömungen weichen kann. Sein Schreibstil ist akademisch und sachlich, geprägt von einem tiefen Verständnis der menschlichen Psyche und sozialer Dynamiken. In seinem Buch eröffnet Le Bon eine völlig neue Perspektive auf die Psychologie der Massen und liefert wichtige Einsichten für die Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften.
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Seitenzahl: 220
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Meine frühere Arbeit1 war der Schilderung der Rassenseele, gewidmet. Nunmehr wollen wir die Massenseele studieren.
Der Inbegriff der gemeinsamen Merkmale, welche allen Mitgliedern einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden, macht die Seele dieser Rasse aus. Es zeigt sich aber, daß, wenn eine gewisse Anzahl dieser Individuen sich massenweise zum Handeln vereinigt, aus dieser Vereinigung als solcher gewisse neue psychologische Eigentümlichkeiten sich ergeben, die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich von ihnen zuweilen erheblich unterscheiden.
Zu allen Zeiten haben die organisierten Massen eine wichtige Rolle im Völkerleben gespielt, niemals aber in so hohem Maße wie heutzutage. Die an die Stelle der bewußten Tätigkeit der Individuen tretende unbewußte Massenwirksamkeit bildet ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart.
Ich habe versucht, das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu bearbeiten, also methodisch und unbekümmert um Meinungen, Theorien und Doktrinen. Nur so, glaube ich, kommt man zur Auffindung von Wahrheitselementen, besonders wenn es sich, wie hier, um eine die Geister lebhaft erregende Frage handelt. Der um die Festlegung eines Phänomens bekümmerte Forscher hat sich um die Interessen, die durch seine Feststellungen berührt werden können, nicht zu sorgen. Ein ausgezeichneter Denker, Goblet d’Alviela, hat in einer seiner Schriften bemerkt, ich gehörte keiner zeitgenössischen Richtung an und geriete zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller dieser Schulen. Hoffentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil. Zu einer Schule gehören heißt, deren Vorurteile und Standpunkte annehmen müssen.
Ich muß jedoch dem Leser erklären, warum er mich aus meinen Studien wird Schlüsse ziehen finden, die von denen abweichen, welche auf den ersten Anblick daraus resultieren, indem ich z. B. den außerordentlichen geistigen Tiefstand der Massen konstatiere und dabei doch behaupte, es sei ungeachtet dieses Tiefstandes gefährlich, die Organisation der Massen anzutasten.
Eine aufmerksame Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir nämlich stets gezeigt, daß, da die sozialen Organismen ebenso kompliziert sind wie die anderen Organismen, es ganz und gar nicht in unserer Macht steht, sie in jäher Weise tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen. Zuweilen ist die Natur radikal, aber nicht so, wie wir es verstehen; daher gibt es nichts Traurigeres für ein Volk als die Manie der großen Reformen, so vortrefflich diese Reformen theoretisch erscheinen können. Nützlich wären sie nur dann, wenn es möglich wäre, die Volksseelen plötzlich zu ändern. Die Zeit allein hat diese Macht. Die Menschen werden von Ideen, Gefühlen und Gewohnheiten geleitet, von Dingen, die in uns selbst sind. Die Institutionen und Gesetze sind die Offenbarung unserer Seele, der Ausdruck ihrer Bedürfnisse. Von dieser Seele ausgehend, können Institutionen und Gesetze sie nicht ändern.
Das Studium der sozialen Erscheinungen läßt sich nicht von dem der Völker, bei denen sie sich vollzogen haben, trennen. Philosophisch betrachtet, können diese Erscheinungen einen absoluten Wert haben, praktisch aber sind sie nur von relativem Wert.
Man muß demnach bei dem Studium einer sozialen Erscheinung dasselbe Ding nacheinander von zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Wir sehen also, daß die Unterweisungen der reinen sehr oft denen der praktischen Vernunft entgegengesetzt sind. Es gibt keine Tatsachen, auch nicht auf physischem Gebiete, worauf diese Unterscheidung sich nicht anwenden ließe. Vom Gesichtspunkte der absoluten Wahrheit aus sind ein Würfel, ein Kreis unveränderliche geometrische Figuren, welche mittels bestimmter Formeln streng definiert werden. Für den Gesichtssinn können diese geometrischen Gestalten sehr mannigfache Formen annehmen. Die Perspektive kann in Wirklichkeit den Würfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat, den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln. Und diese fiktiven Formen sind von viel größerer Bedeutung als die realen Formen, denn sie sind die einzigen, welche wir sehen und welche photographisch oder zeichnerisch sich reproduzieren lassen. Das Irreale ist in gewissen Fällen, wahrer als das Reale. Es hieße, die Natur deformieren und unkenntlich machen, wollte man die Dinge in ihren exakt geometrischen Formen vorstellen. In einer Welt, deren Bewohner die Dinge nur, ohne sie berühren zu können, abzubilden oder zu photographieren vermöchten, würde man nur sehr schwer zu einer exakten Vorstellung ihrer Form gelangen, und die Kenntnis dieser Form, die nur einer geringen Anzahl von Gelehrten zugänglich wäre, würde nur ein sehr schwaches Interesse erwecken.
Der Philosoph, der die sozialen Erscheinungen studiert, muß sich vor Augen halten, daß dieselben neben ihrem theoretischen auch einen praktischen Wert haben und daß der letztere vom Gesichtspunkte der Kulturentwicklung der einzig bedeutsame ist. Dies muß ihn gegenüber den Folgerungen, welche die Logik ihm zunächst darzubieten scheint, sehr auf der Hut sein lassen.
Zu solcher Reserve veranlassen ihn noch andere Beweggründe. Die Kompliziertheit der sozialen Tatsachen ist eine solche, daß man sie nicht in ihrer Gesamtheit umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung voraussagen kann. Auch scheinen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft tausende unsichtbare Ursachen zu verbergen. Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Resultante einer riesigen unbewußten Wirksamkeit zu sein, die nur zu oft unserer Analyse unzugänglich ist. Die wahrnehmbaren Phänomene lassen sich den Wogen vergleichen, welche der Oberfläche des Ozeans die unterirdischen Erschütterungen mitteilen, deren Sitz er ist und die wir nicht kennen. In der Mehrzahl ihrer Handlungen bekunden die Massen zumeist eine absonderlich niedrige Geistigkeit; aber in anderen Handlungen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kräften geleitet, welche die Alten Schicksal, Natur, Vorsehung hießen, die wir die Stimmen der Toten nennen und deren Macht wir nicht verkennen können, so unbekannt uns auch ihr Wesen ist. Oft scheint es, als ob im Schoße der Völker latente Kräfte stecken, die sie leiten. Was gibt es z. B. Komplizierteres, Logischeres, Wunderbareres als eine Sprache? Und woher anders entspringt dennoch dieses so wohl organisierte und subtile Ding als aus der unbewußten Massenseele? Die gelehrtesten Akademien registrieren nur die Gesetze dieser Sprachen, könnten sie aber nicht schaffen. Selbst die genialen Ideen der großen Männer — wissen wir sicher, ob sie ausschließlich deren Werk sind? Gewiß sind sie stets Produkte einzelner Geister, aber die tausenden Körnchen, welche den Boden zur Keimung dieser Ideen bilden, hat nicht die Massenseele sie erzeugt?
Ohne Zweifel wirken die Massen stets unbewußt, aber dieses Unbewußte selbst ist vielleicht eines der Geheimnisse ihrer Kraft. In der Natur vollbringen die nur aus Instinkt tätigen Wesen Handlungen, deren wunderbare Kompliziertheit uns staunen läßt. Die Vernunft ist für die Menschheit noch zu neu und unvollkommen, um uns die Gesetze des Unbewußten zu enthüllen und besonders, um dieses zu ersetzen. In allen unseren Handlungen ist der Anteil des Unbewußten ungeheuer, der der Vernunft sehr klein. Das Unbewußte wirkt wie eine noch unbekannte Kraft.
Wollen wir uns also in den engen, aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde vager Vermutungen und nichtiger Hypothesen umherirren, dann müssen wir einfach die uns zugänglichen Phänomene feststellen und uns damit begnügen. Jede aus unseren Beobachtungen gezogene Folgerung ist meist vorzeitig; denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche, die wir schlecht sehen, und vielleicht hinter den letzteren noch andere, die wir überhaupt nicht gewahren.
1 Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, 1894. Vgl. L’homme et les sociétés, 1878; Psychol. du socialisme, 1902 u. a. — Vgl. Eisler, Philosophen-Lexikon, Berlin 1912. Philosophie des Geisteslebens, Stuttgart, 1908. ««
Die großen Erschütterungen, welche, wie der Fall des Römischen Reiches und die Begründung der Araber-Herrschaft, den Kulturveränderungen vorangehen, scheinen auf den ersten Anblick besonders durch bedeutsame politische Veränderungen bestimmt zu sein: durch Völkerinvasionen oder durch den Sturz von Dynastien. Eine genauere Untersuchung dieser Ereignisse zeigt aber, daß sich zumeist hinter deren scheinbaren Ursachen als wirkliche Ursache eine tiefgehende Modifikation in den Ideen der Völker findet. Nicht jene, die uns durch ihre Größe und Heftigkeit verwundern, sind die wahren historischen Erschütterungen. Die einzigen Veränderungen von Bedeutung — jene, aus welchen die Erneuerung der Kulturen entspringt — vollziehen sich auf dem Gebiete der Ideen, der Gedanken und Überzeugungen. Die bemerkenswerten Ereignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veränderungen des menschlichen Denkens. Wenn diese großen Ereignisse so selten stattfinden, so hat das seinen Grund darin, daß es nichts Stabileres in einer Rasse gibt, als das Erbgut ihrer Gedanken.
Das gegenwärtige Zeitalter bedeutet einen jener kritischen Momente, in denen das menschliche Denken im Begriffe ist, sich umzubilden.
Dieser Umwandlung liegen zwei Hauptfaktoren zugrunde: Erstens die Zerstörung der religiösen, politischen und sozialen Überzeugungen, aus denen alle Elemente unserer Zivilisation entspringen. Zweitens die Schaffung völlig neuer Existenz- und Denkbedingungen infolge der neuen Entdeckungen der Wissenschaft und der Industrie.
Da die Ideen der Vergangenheit, obwohl halb zerstört, noch sehr mächtig, und die Ideen, die sie ersetzen sollen, erst in der Bildung begriffen sind, so stellt die Gegenwart eine Periode des Überganges und der Anarchie dar.
Was aus dieser notwendig etwas chaotischen Periode einmal entspringen wird, ist nicht leicht zu sagen. Auf welchen Grundideen werden sich die künftigen Gesellschaften aufbauen? Wir wissen es noch nicht. Schon jetzt aber sehen wir, daß sie bei ihrer Organisation mit einer neuen Macht, der jüngsten Herrscherin der Gegenwart, zu rechnen haben werden: mit der Macht der Massen. Auf den Ruinen so vieler einst für wahr gehaltener und jetzt toter Ideen, so vieler Mächte, die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind, hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die anderen absorbieren zu wollen. Während alle unsere alten Anschauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstützen eine nach der anderen einstürzen, ist die Macht der Massen die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen nur wächst. Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit die Ära der Massen sein.
Vor kaum einem Säkulum bestanden die Hauptfaktoren der Ereignisse in der traditionellen Politik der Staaten und in den Rivalitäten der Fürsten. Die Meinung der Massen zählte wenig oder meist gar nicht. Heute zählen die politischen Traditionen, die individuellen Bestrebungen der Herrscher und deren Rivalitäten nichts mehr, während im Gegenteil die Volksstimme das Übergewicht erlangt hat. Sie diktiert den Königen ihr Verhalten, und sie ist es, was diese zu vernehmen streben. Nicht mehr in den Fürstenberatungen, sondern in den Seelen der Massen bereiten sich die Völkerschicksale vor.
Der Eintritt der Volksklassen in das politische Leben, d. h. in Wahrheit ihre progressive Umwandlung zu leitenden Klassen, ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen der Übergangszeit. Dieser Eintritt wurde nicht durch das allgemeine Stimmrecht, das lange Zeit so wenig einflußreich und anfangs so leicht zu lenken war, markiert. Die progressive Geburt der Massenmacht entstand zuerst durch die Verbreitung gewisser Ideen, die langsam von den Geistern Besitz ergriffen, sodann durch die allmähliche Assoziation der Individuen zur Verwirklichung der theoretischen Anschauungen. Die Assoziation ist es, wodurch die Massen sich, wenn auch nicht sehr richtige, so doch wenigstens sehr bestimmte Ideen von ihren Interessen gebildet und das Bewußtsein ihrer Kraft erlangt haben. Sie gründen Syndikate, vor welchen der Reihe nach alle Machtfaktoren kapitulieren, Arbeitsbörsen, die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen. Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete, denen alle Initiative, alle Unabhängigkeit fehlt und die oft nur die Wortführer der Ausschüsse sind, von denen sie gewählt wurden.
Heute werden die Ansprüche der Massen immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus, als auf den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft, um sie jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Zivilisation der normale Zustand aller menschlichen Gruppen war. Begrenzung der Arbeitszeit, Expropriation der Minen, Eisenbahnen, Fabriken und des Bodens, gleiche Verteilung aller Produkte, Ausmerzung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw. — das sind diese Ansprüche.
Die Massen sind für das Räsonnieren wenig, desto mehr aber für das Handeln geeignet. Durch ihre Organisation ist ihre Kraft ins Ungeheure gestiegen. Die Dogmen, die wir auftauchen sehen, werden bald die Macht der alten Dogmen besitzen, d. h. die tyrannische und herrische Kraft, welche sich aller Diskussion entzieht. Das göttliche Recht der Massen wird das göttliche Recht der Könige ersetzen.
Die Lieblingsschriftsteller unserer jetzigen Bourgeoisie, jene, welche am besten deren ein wenig beschränkte Ideen, deren etwas kurzsichtige Ansichten, deren etwas summarischen Skeptizismus und oft exzessiven Egoismus darstellen, geraten völlig vor der neuen Macht, die sie heranwachsen sehen, in Verwirrung und richten, um die Verwirrung der Geister zu bekämpfen, einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kräfte der Kirche, die sie einst so gering schätzten. Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns, als reuige Büßer aus Rom kommend, an die Lehren der geoffenbarten Wahrheiten. Aber diese Neubekehrten vergessen, daß es zu spät ist. Hat die Gnade sie wirklich berührt, so hat sie doch nicht die gleiche Macht über die Seelen, die sich um die Besorgnisse, welche diese neuen Frommen quälen, nicht bekümmern. Die Massen wollen heute nicht die Götter, welche jene selbst gestern nicht mochten und zu deren Falle sie beigetragen haben. Es liegt nicht in der Macht der Götter oder der Menschen, die Flüsse zu ihren Quellen zurückfließen zu lassen.
Die Wissenschaft hat mit nichten Bankerott gemacht und hat nichts mit der gegenwärtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht, die in deren Schöße emporwächst, zu tun. Sie hat uns die Wahrheit oder wenigstens die Erkenntnis der unserer Intelligenz zugänglichen Beziehungen verheißen, nie aber Frieden und Glück. Mit souveräner Gleichgültigkeit gegenüber unseren Gefühlen, hört sie nicht unsere Klagen. An uns ist es, mit ihr zu leben und zu suchen, da nichts die Illusionen wiederbringen kann, die sie verjagt hat.
Allgemeine Symptome, die bei allen Nationen ersichtlich sind, zeigen uns das rapide Anwachsen der Macht der Massen und verbieten uns die Annahme, diese Macht werde bald aufhören, zu wachsen. Was sie auch bringen mag, wir werden es ertragen müssen. Alles Gerede dagegen ist nur leerer Wortschwall. Gewiß, vielleicht bedeutet das Heraufkommen der Massen eine der letzten Etappen der Zivilisationen des Okzidents, die völlige Rückkehr zu jenen Perioden verworrener Anarchie, die allezeit dem Aufsteigen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen. Aber wie wollen wir dies hindern?
Bisher haben diese großen Zerstörungen der zu alten Zivilisationen die offenbare Funktion der Massen ausgemacht. Nicht bloß heutzutage tritt diese Funktion in der Welt auf. Die Geschichte lehrt uns, daß in dem Augenblicke, da die moralischen Kräfte, auf denen eine Zivilisation beruhte, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewußten und rohen Massen, welche recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, bewerkstelligt wird. Bisher wurden die Zivilisationen stets nur von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Phase der Barbarei. Eine Zivilisation setzt feste Regeln, eine Disziplin, den Übergang des Instinktiven zum Vernunftmäßigen, die Voraussicht der Zukunft, einen hohen Kulturgrad voraus — Bedingungen, welchen die sich selbst überlassenen Massen niemals zu entsprechen vermochten. Vermöge ihrer bloß zerstörerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung der geschwächten Körper oder der Leichen zu Ende führen. Ist das Gebäude einer Zivilisation morsch geworden, so sind es stets die Massen, welche dessen Zusammensturz herbeiführen. Jetzt tritt ihre Hauptfunktion zutage, und die Philosophie der Menge erscheint für einen Augenblick als die einzige Philosophie der Geschichte.
Wird es mit unserer Zivilisation sich ebenso verhalten? Wir können es befürchten, aber noch nicht wissen.
Wie immer es sein mag, wir müssen uns bescheiden, die Herrschaft der Massen zu ertragen, da der Voraussicht bare Elemente allmählich alle Schranken, die jene zurückhalten konnten, umgestürzt haben.
Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt so viel spricht, sehr wenig. Die Psychologen von Fach, welche entfernt von ihnen leben, haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen dann nur in bezug auf die Verbrechen, zu denen sie fähig sind, beschäftigt. Zweifellos gibt es kriminelle, aber auch tugendhafte, heroische und andere Massen. Die Massenverbrechen bilden nur einen Sonderfall ihrer Psychologie, und wenn man bloß die Verbrechen der Massen studiert, so kennt man deren geistige Beschaffenheit nicht besser als jene eines Individuums, dessen Laster man bloß studiert.
Seien wir aber gerecht: alle Herren der Erde, alle Religions- und Reichsstifter, die Apostel aller Glaubensrichtungen, die hervorragenden Staatsmänner und, in einer bescheideneren Sphäre, die einfachen Häupter kleiner menschlicher Gemeinschaften waren stets unbewußte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele; weil sie diese gut kannten, wurden sie so leicht die Herren. Napoleon erfaßte wunderbar das Seelenleben der Massen des Landes, das er beherrschte, aber er verkannte oft völlig die Seele der fremden Rassen angehörenden Massen2, und deshalb unternahm er — in Spanien und in Rußland namentlich — Kriege, in denen seine Macht Stöße erlitt, durch die sie bald niedergehen sollte.
Die Kenntnis der Massenpsychologie ist heute die letzte Zuflucht des Staatsmannes, der nicht etwa sie beherrschen — das ist zu schwierig geworden —, aber wenigstens nicht zu sehr von ihnen beherrscht werden will.
Nur mittels einer Vertiefung der Massenpsychologie versteht man, wie wenig Einfluß Gesetze und Institutionen auf die Massen haben, wie unfähig sie zu Meinungen außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden, sind, wie man sie nicht mit Regeln, welche auf rein theoretischer Billigkeit beruhen, sondern nur mittels dessen, was auf sie Eindruck macht und sie verführt, leitet. Will z. B. ein Gesetzgeber eine neue Steuer auflegen, soll er da jene, die theoretisch die gerechteste ist, wählen? Keine Spur. Die ungerechteste kann praktisch für die Massen die beste sein. Ist sie zugleich die unauffälligste und als leichteste erscheinende, dann wird sie auf das leichteste durchgehen. Auf diese Weise wird eine noch so große indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden, weil sie, wenn täglich pfennigweise für Konsumartikel entrichtet, die Gewohnheiten nicht hindert und beeinflußt. Man setze an ihre Stelle nur eine den Löhnen oder anderen Einkommen proportionale, auf einmal zu entrichtende Steuer, mag diese theoretisch auch zehnmal weniger hart als die andere sein, so wird sie einstimmige Proteste erregen. An Stelle der Pfennige eines jeden Tages, die man nicht spürt, tritt nämlich eine relativ hohe Geldsumme, welche an dem Zahltage als riesig und folglich sehr eindrucksvoll erscheinen wird. Sie würde als gering nur dann erscheinen, wenn sie Pfennig für Pfennig zur Seite gelegt worden wäre; aber dieses wirtschaftliche Gebahren stellt ein Maß von Voraussicht dar, dessen die Massen unfähig sind.
Dieses Beispiel ist eines der einfachsten, die Richtigkeit desselben ist leicht einzusehen. Einem Psychologen, wie Napoleon es war, ist sie nicht entgangen, aber die Gesetzgeber, welche die Massenseele nicht kennen, werden sie nicht bemerken. Die Erfahrung hat ihnen nicht genug dargetan, daß die Menschen sich niemals nach den Vorschriften der reinen Vernunft verhalten.
Noch viele andere Anwendungen ließen sich von der Massenpsychologie machen. Die Kenntnis derselben wirft das hellste Licht auf eine große Menge historischer und ökonomischer Erscheinungen, die ohne sie völlig unverständlich bleiben. Ich werde Gelegenheit haben, zu zeigen, daß, wenn der hervorragendste moderne Historiker, Taine, die Ereignisse der großen Revolution zuweilen so unvollkommen verstanden hat, dies darin seinen Grund hat, daß er niemals an die Erforschung der Massenseele gedacht hat. Er hat sich bei dem Studium dieser komplizierten Periode der beschreibenden Methode der Naturwissenschaft bedient; aber unter den Erscheinungen, welche den Gegenstand der Naturforschung bilden, finden sich die seelischen Kräfte nicht. Diese aber sind es eigentlich, welche den wahren Bereich der Geschichte bilden.
Schon im Hinblick auf ihre praktische Seite verdient demnach die Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden, aber auch dann, wenn sie nur ein rein theoretisches Interesse darböte. Es ist ebenso interessant, die Triebfedern der menschlichen Handlungen aufzudecken, als ein Mineral oder eine Pflanze zu beschreiben.
Unsere Studie der Massenseele wird nur eine kurze Synthese, eine bloße Zusammenfassung unserer Untersuchungen bieten können. Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen. Andere3 werden das Gebiet weiter bearbeiten. Heute ist es noch ein jungfräulicher Boden, den wir beackern4.
2 Übrigens verstanden sich seine klügsten Ratgeber nicht besser darauf. Talleyrand schrieb ihm, »Spanien würde seine Soldaten als Befreier empfangen«. Es empfing sie wie Raubtiere. Ein mit den erblichen Instinkten der Rasse vertrauter Psycholog hätte diesen Empfang leicht voraussehen können.
3 Die wenigen Autoren, die sich mit dem psychologischen Studium der Massen abgaben, haben sie, wie gesagt, nur in kriminologischer Hinsicht untersucht. Da ich diesem Gegenstande nur ein kurzes Kapitel dieses Werkes gewidmet habe, so verweise ich den Leser hinsichtlich dieses Spezialgebietes auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele: »Die kriminellen Massen«. Letztere Arbeit enthält keinen einzigen originellen Gedanken, gibt aber eine Zusammenstellung von Tatsachen, die der Psycholog verwerten kann. Übrigens sind meine Folgerungen betreffs der Kriminalität und Moralität der Massen jenen der von mir genannten Autoren durchaus entgegengesetzt. In meiner Schrift »Die Psychologie des Sozialismus« findet man einige Folgerungen aus den die Massenpsychologie beherrschenden Gesetzen. Diese Gesetze finden übrigens auf den verschiedensten Gebieten Anwendung. Der Direktor des Königlichen Konservatoriums in Brüssel, A. Gevaert, hat von den Gesetzen, die ich in einer musikalischen Abhandlung darlegte — er nennt die Musik treffend eine »Massenkunst« — eine bemerkenswerte Anwendung gemacht. »Ihre beiden Werke,« schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Übersendung seiner Arbeit, »haben mir die Lösung eines von mir früher als unlöslich betrachteten Problems geboten: die erstaunliche Eignung jeder Masse, ein neues oder altes, einheimisches oder fremdes, einfaches oder zusammengesetztes Tonstück zu empfinden, vorausgesetzt, daß es schön gespielt wird und daß die Musiker einen begeisterten Dirigenten haben.« Herr Gevaert zeigt vortrefflich, warum »ein Werk, welches von ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsamkeit ihrer Stube unverstanden blieb, oft von einem jeder technischen Bildung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaßt wird«. Ebensogut zeigt er, weshalb diese ästhetischen Eindrücke spurlos verlaufen.
4 Vgl. die Schriften von Rossi, Vierkandt, Michels, O. StoII, Simmel, Orano u. a.
Im gewöhnlichen Wortsinne bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher Individuen von beliebiger Nationalität, beliebigem Berufe und Geschlecht und beliebigem Anlasse der Vereinigung.
Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und bloß unter diesen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue Merkmale, ganz verschieden von denen der diese Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die wohl transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen (loi de l’unite mentale des foules).
Augenscheinlich ist es nicht der Umstand allein, daß viele Individuen sich zufällig zusammenfinden, wodurch sie die Eigenschaften einer organisierten Masse annehmen. Tausend zufällig auf einem öffentlichen Platze vereinigte Individuen ohne bestimmten Zweck bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne. Zur Erlangung der speziellen Merkmale dieser gehört der Einfluß gewisser Reize, deren Wesen wir zu bestimmen haben.
Das Schwinden der bewußten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, das die ersten Merkmale der sich organisierenden Masse bildet, erfordert nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Individuen an einem einzigen Orte. Tausende getrennte Individuen können in gewissen Momenten unter dem Einflusse gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines großen nationalen Ereignisses, die Merkmale einer psychologischen Masse gewinnen. Es braucht dann nur ein Zufall sie zu vereinigen, damit ihre Handlungen sogleich die spezifischen Merkmale der Massenhandlungen annehmen. In gewissen Momenten kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse konstituieren, während Hunderte zufällig vereinigter Menschen sie nicht konstituieren können. Andererseits kann ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Einfluß gewisser Faktoren zu einer Masse werden.
Hat sich eine psychologische Masse gebildet, so erwirbt sie provisorische, aber bestimmbare allgemeine Merkmale. Diesen gesellen sich besondere Merkmale veränderlicher Art hinzu, je nach den Elementen, aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch welche deren geistige Struktur modifizierbar ist.
Die psychologischen Massen sind also einer Klassifikation zugänglich, und wir werden, wenn wir zu einer solchen gelangen, sehen, daß heterogene, d. h. aus ungleichartigen Elementen zusammengesetzte Massen, mit den homogenen, d. h. aus mehr oder minder ähnlichen Elementen zusammengesetzte Massen (Sekten, Kasten, Klassen) Merkmale gemein haben und außerdem noch Besonderheiten aufweisen, durch die sie sich voneinander unterscheiden lassen.
Bevor wir uns aber mit den verschiedenen Kategorien der Masse befassen, müssen wir zuerst die allen gemeinsamen. Merkmale untersuchen. Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen, der mit der Beschreibung der allgemeinen Merkmale, welche allen Individuen gemein sind, beginnt, bevor er sich mit den besonderen Merkmalen befaßt, welche die Unterscheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermöglichen.
Die genaue .Schilderung der Massenseele ist nicht leicht, weil ihre Organisation nicht bloß je nach Rasse und Zusammensetzung der Gesamtheiten, sondern auch je nach der Natur und dem Grade der Anreize, denen diese Gesamtheiten unterliegen, variiert. Aber dieselbe Schwierigkeit besteht für das psychologische Studium jeglicher Individuen. Nur in Romanen sieht man die Individuen mit einem konstanten Charakter durchs Leben gehen. Die Gleichförmigkeit des Milieu allein schafft die sichtbare Gleichartigkeit der Charaktere. Ich habe anderwärts gezeigt, daß alle geistigen Konstitutionen Charaktermöglichkeiten enthalten, die sich bei einem jähen Wechsel des Milieu offenbaren können. So fanden sich unter den wildesten, grausamsten Konventmitgliedern gutmütige Bürger, die unter normalen Verhältnissen friedliche Notare oder ehrsame Beamte gewesen wären. Nach dem Sturm nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Bürger wieder an. Unter ihnen fand Napoleon seine willigsten Diener.
Da wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren können, werden wir sie besonders in der Phase ihrer vollständigen Organisation ins Auge fassen. Wir werden derart sehen, was sie werden können, nicht, was sie immer sind. Diese fortgeschrittene Organisationsphase allein ist es, in der sich auf dem unveränderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale aufbauen und wo sich die Orientierung aller Gefühle und Gedanken der Gesamtheit nach einer identischen Richtung vollzieht. Hier nun zeigt sich, was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habe.
Es gibt unter den psychischen Merkmalen der Massen solche, welche sie mit isolierten Individuen gemein haben können, während andere wieder für sie durchaus spezifisch und nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind. Die spezifischen Merkmale wollen wir zunächst studieren, um ihre Bedeutung so recht darzutun.