Die Psychologin - Anna Salter - E-Book

Die Psychologin E-Book

Anna Salter

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Beschreibung

Die drei ersten Fälle um die Gerichtspsychologin in einem Band! Fans von True Crime, Nicci French und Bernhard Aichner werden begeistert sein. DUNKLE WASSER: Die junge Gerichtspsychologin Dr. Stone ist schon lange überzeugt, dass Rechtsprechung nicht immer Gerechtigkeit bringt. Sie ist überzeugt, dass Nathan Southworth seine beiden Kinder missbraucht hat – doch trotz ihres Gutachtens wird dem erfolgreichen Chirurgen bei der Scheidung das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen. Am nächsten Tag erhält Stone einen furchtbaren Anruf: Die Kinder sind tot – angeklagt wird ihre Mutter. Doch Dr. Stone hat einen anderen Verdacht … DER SCHATTEN AM FENSTER: Alex Wiley ist ein eiskalter Killer, sein messerscharfer Verstand und einnehmender Charme machen ihn umso gefährlicher. Bloß einer einzigen Person hat er bisher seine Taten in jeder schrecklichen Einzelheit gestanden: Gerichtspsychologin Dr. Stone. Nachts kann sie nur schlafen, weil sie weiß, dass er im Hochsicherheitstrakt sitzt. Doch dann geschieht das Unfassbare: Bis zur Wiederaufnahme seines Verfahrens wird Wiley auf freien Fuß gesetzt … TÖDLICHES VERTRAUEN: Als der gefeierte Arzt Reginald Larsen in ihrer Praxis auftaucht, denkt Dr. Stone zunächst, dass er Hilfe für einen seiner Patienten sucht. Tatsächlich will er ein psychologisches Gutachten … allerdings über sich selbst! Larsen wurde des sexuellen Missbrauchs an einer Patientin angeklagt, sein Ruf steht auf Messers Schneide. Stone soll nun die Wahrheit beweisen … Die schockierenden Fälle ihrer Thriller-Reihe basieren auf Anna Salters eigenen Erfahrungen in der klinischen Psychologie: »Sie schreibt mit schockierender Detailkenntnis!« The New York Times Book Review

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Seitenzahl: 1232

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Über dieses Buch:

DUNKLE WASSER: Die junge Gerichtspsychologin Dr. Stone ist schon lange überzeugt, dass Rechtsprechung nicht immer Gerechtigkeit bringt. Sie ist überzeugt, dass Nathan Southworth seine beiden Kinder missbraucht hat – doch trotz ihres Gutachtens wird dem erfolgreichen Chirurgen bei der Scheidung das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen. Am nächsten Tag erhält Stone einen furchtbaren Anruf: Die Kinder sind tot – angeklagt wird ihre Mutter. Doch Dr. Stone hat einen anderen Verdacht …

DER SCHATTEN AM FENSTER: Alex Wiley ist ein eiskalter Killer, sein messerscharfer Verstand und einnehmender Charme machen ihn umso gefährlicher. Bloß einer einzigen Person hat er bisher seine Taten in jeder schrecklichen Einzelheit gestanden: Gerichtspsychologin Dr. Stone. Nachts kann sie nur schlafen, weil sie weiß, dass er im Hochsicherheitstrakt sitzt. Doch dann geschieht das Unfassbare: Bis zur Wiederaufnahme seines Verfahrens wird Wiley auf freien Fuß gesetzt …

TÖDLICHES VERTRAUEN: Als der gefeierte Arzt Reginald Larsen in ihrer Praxis auftaucht, denkt Dr. Stone zunächst, dass er Hilfe für einen seiner Patienten sucht. Tatsächlich will er ein psychologisches Gutachten … allerdings über sich selbst! Larsen wurde des sexuellen Missbrauchs an einer Patientin angeklagt, sein Ruf steht auf Messers Schneide. Stone soll nun die Wahrheit beweisen …

Über die Autorin:

Anna Salter ist in North Carolina geboren und aufgewachsen. Sie studierte zunächst Literaturwissenschaft und Psychologie, bevor sie sich in Harvard auf klinische Psychologie spezialisierte. Ihre wissenschaftlichen Publikationen gelten als Meilenstein für die Therapie von Sexualstraftätern, sie ist Beraterin bei Gericht und im Strafvollzug. Anna Salter leitet eine Privatpraxis in Wisconsin, reist jedoch immer wieder um die Welt, um Lehrvorträge zu halten, und unterrichtete u. a. an Harvard. Als Schriftstellerin berühmt wurde sie mit ihrer »Psychologin«-Reihe um Dr. Stone.

Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Thriller-Reihe mit den Bänden »Die Psychologin – Dunkle Wasser«, »Die Psychologin – Der Schatten am Fenster«, »Die Psychologin – Tödliches Vertrauen« und »Die Psychologin – Schwarze Seelen«.

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Sammelband-Originalausgabe Oktober 2024

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane, die im Sammelband enthalten sind, finden Sie am Ende dieses eBooks.

This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-373-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Anna Salter

Die Psychologin

Drei Thriller in einem eBook

Aus dem Amerikanischen von Eva Riekert, Karina Krawczyk und Thomas Stegers

dotbooks.

Die Psychologin – Dunkle Wasser

Aus dem Amerikanischen von Eva Riekert

Was, wenn jeder seine eigene Wahrheit hat? Gerichtspsychologin Dr. Stone weiß schon lange: Nicht immer bringt das Gesetz auch Gerechtigkeit. Sie ist überzeugt, dass Nathan Southworth seine beiden Kinder missbraucht hat – doch trotz ihres Gutachtens wird dem erfolgreichen Chirurgen bei der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen. Am nächsten Tag erhält Stone einen furchtbaren Anruf: Die Kinder sind tot – ermordet im Haus ihrer Mutter, die sofort verhaftet wird. Nur Stone ist von ihrer Unschuld überzeugt und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln: Nichtsahnend, dass sie sich damit in das Fadenkreuz eines Täters bringt, der es liebt, mit seiner Beute zu spielen, bevor er zuschlägt!

Kapitel 1

Es gibt wohl nicht viele, die bei einem Leichenfund an der Kaimauer ausgerechnet ihr Kind herbeigerufen hätten, damit es den Toten anschauen könnte. Aber so war Mama. Sie glaubte eben, es würde mich interessieren. Ich war nur froh, daß es nicht Daddy oder ein Verwandter war. Bei Mama wußte man nie. »Wahrscheinlich ein Herzinfarkt«, meinte sie.

»Aber man blutet doch nicht bei einem Herzinfarkt, Mama«, sagte ich. »Vielleicht ist er erstochen oder erschossen worden oder so.«

»Mädchen«, seufzte Mama und wandte die leuchtendblauen Augen himmelwärts. »Wir sind hier nicht in New York.« Damit war die Sache für Mama klar. In New York wurde man ermordet, in Wilsons Pond nicht. Wir waren nicht in New York, also lag hier auch kein Mord vor.

»Aber das Messer da«, sagte ich und deutete auf eine Klinge, die – wenn auch etwas verdeckt – in der Leiche steckte.

»Was?«

»Das Messer, Mama, paßt nicht zu deiner Theorie.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte sie. »Die einen sterben so, die anderen so.« Es war mir nicht klar, was sie damit meinte. Vielleicht, daß manche Leute in Wilsons Pond doch ermordet wurden, oder vielleicht, daß manche Leute eben bluteten, wenn sie einen Herzinfarkt erlitten. Bei Mama wußte man nie so recht.

Eines wußte ich jedoch genau. Wenn Mama mal starb, dann würden ihre Brillantohrringe auf dem Nachttisch liegen. Vierzig Jahre lang hatten sie in ihren Ohren gesteckt, aber Mama hielt nichts davon, wertvolle Brillanten mit unter die Erde zu nehmen, traute aber auch keinem zu, sich im Ernstfall an ihre Einstellung zu erinnern.

Manche Leute waren der Ansicht, daß man nicht wissen könne, wann man sterben würde. Manche glaubten, daß man einfach einschliefe. Aber keiner, der Mama kannte, war der Ansicht, daß solche Regeln auf sie zuträfen. Mama faßte die Dinge schon lange im Voraus ins Auge. Ich persönlich war mir ja nicht sicher, ob Mama überhaupt sterben würde, weil nicht mal der liebe Gott Lust haben dürfte, sie sich aufzubürden.

Ich rieb mir die Augen, die denselben leuchtendblauen Farbton hatten wie die von Mama, und setzte mich auf. Komisch, wenn ich nichts zu tun habe, ertappe ich mich häufig dabei, wie ich an Mama denke. Es kommt zwar nicht so oft vor, daß ich nichts zu tun habe, aber heute war mein Patient zu spät dran. Ich drehte Däumchen und hing meinen Gedanken nach. Die Krankenstation in der Psychiatrischen Abteilung der Jefferson Universität war noch nicht geöffnet, deshalb war ich ganz allein.

Ich bin Gerichtspsychologin – Spezialistin für gerichtsrelevante, psychologische Fälle: Kindesmißhandlung, Sorgerechtsstreitigkeiten, Gewalt in der Ehe – und manchmal bekomme ich schwierige Patienten. Ich ziehe es vor, sie am frühen Morgen zu mir zu bestellen, wenn keine neugierigen Mithörer im Wartezimmer sitzen.

Ich hatte mit diesem Fall schon nicht mehr gerechnet, als ich im Flur Geräusche hörte – keine sehr verheißungsvollen Laute. Sie wurden lauter, und ich starrte gerade die Tür zum Wartezimmer an, als sie auch schon aufgestoßen wurde. Mein Fall, ein kleines Mädchen, wurde strampelnd und kreischend hereingebracht. Die zwei Leute, die sie begleiteten, hatten es kaum durch die Tür geschafft, da riß sie sich bereits los und fiel auf den Boden. Schnell wie ein zurückprallender Gummiball war sie wieder auf den Beinen und hechtete kühn zur Tür. Doch einer ihrer Begleiter, um vieles größer als sie, griff nach dem Türknopf und hielt ihn zu. Sie schrie: »Laß los! Laß los!« und als er ihrer Aufforderung nicht nachkam, fing sie an, gegen die Tür zu treten. Die andere Aufsichtsperson versuchte, sie zu packen, aber sie entwand sich der Frau und fiel dabei wieder hin. Diesmal blieb sie liegen und strampelte wild mit den Beinen. Dann fing sie an, den Kopf auf den Boden zu schlagen und schrie so laut sie konnte – zumindest hoffte ich, daß sie ihr stimmliches Limit erreicht hatte.

Ich beachtete das Kopfschlagen nicht und sprach mit den beiden Aufpassern meiner Patientin. Dazu mußte ich praktisch schreien, damit sie mich bei dem Gekreische überhaupt hören konnten. »Schieben Sie sich Stühle an die Tür, setzen Sie sich, und verhalten Sie sich bitte so unauffällig wie möglich. Sehen Sie niemanden direkt an. Schauen Sie in eine Zeitschrift, und tun Sie so, als wären Sie unsichtbar.« Genau solche Anweisungen funktionierten nie, wenn das Wartezimmer voll war.

Der Mann und die Frau setzten sich und sahen den kleinen Schreihals an, der noch immer kein Anzeichen von Beruhigung zeigte. Es schien also nicht gerade verheißungsvoll anzufangen. Man konnte allerdings auch nicht von Kommunikationsverweigerung reden: Die Kleine machte sich schon verständlich. Ohne viel Worte hatte sie verdeutlicht, was sie von dem Besuch beim Gerichtspsychiater hielt. Das Gericht wollte möglicherweise wissen, ob sie von ihrem Vater sexuell mißbraucht worden war. Das hatte jedenfalls ihr Bruder behauptet, aber die dreijährige Adrienne war da scheinbar ganz anderer Ansicht.

Vielleicht wäre sie in Begleitung ihrer Mutter etwas zugänglicher gewesen. Aber Müttern war die Anwesenheit bei einer Beurteilung der Kinder durch den Gerichtspsychiater nicht gestattet, wenn mitten in einem Sorgerechtsverfahren die Klage wegen sexuellen Mißbrauchs erhoben wurde. Handelte es sich um falsche Anschuldigungen, wurde das Kind schon allein durch die Gegenwart der Mutter im Wartezimmer gezwungen, bei seiner Geschichte zu bleiben, stimmten die Vorwürfe, würde der Anwalt des Vaters die Anwesenheit der Mutter dazu benutzen, Zweifel an der Geschichte anzumelden. Deshalb war Adrienne mit einem Onkel und einer Tante gekommen, die so entfernt verwandt waren, daß sie von beiden Elternteilen als neutral akzeptiert wurden. Mit anderen Worten, Adrienne kannte sie kaum.

Es war offensichtlich, daß sie kein besonders enges Verhältnis zu Adrienne hatten – und für sie nur begrenzte Autoritätspersonen darstellten. Adrienne drehte die Lautstärke noch ein paar Dezibel höher. Ihr Wutanfall war wirklich beeindruckend.

Ehrlich gesagt liebte ich solche Situationen, weil das richtige Herausforderungen waren. Wer immer nur Erwachsene beurteilen mußte, hatte gar keine Ahnung von der Schwierigkeit so einer Aufgabe. Ich hatte schon viele erwachsene Patienten gehabt – dazu gehörten gewalttätige Vietnamveteranen, die dasaßen und murmelten: »Schon wieder dieses komische Gefühl«, genauso wie psychopathische Postangestellte, die sicher waren, von irgendwelchen Außerirdischen mehr Post als andere zum Sortieren zu bekommen, oder auch Leute mit so vielen Persönlichkeitsspaltungen, daß man das Gefühl hatte, es mit einer ganzen Gruppe zu tun zu haben. Aber kein einziger Erwachsener war eine solche Herausforderung wie eine um sich tretende, durchgeknallte, störrische Dreijährige.

Ich mußte also dieses schreiende, außer Kontrolle geratene Kind dahin bringen, mir – einer Fremden – von Vorgängen zu erzählen, über die es – falls diese überhaupt stattgefunden hatten – mit niemandem geredet hatte, nicht mal mit den Menschen, die es am besten kannte und am meisten liebte. Adriennes Bruder Andrew hatte seiner Lehrerin gegenüber etwas von sexuellem Mißbrauch angedeutet. Adrienne selbst hatte davon jedoch nie ein Sterbenswörtchen gesagt, auch nicht, nachdem Andrew ausgesagt hatte, daß er den Vater dabei beobachtet hatte. Jetzt war es an mir, Adrienne zum Reden zu bringen, ohne irgend etwas zu sagen, das von einem der Beteiligten auch nur entfernt als Suggestivfrage ausgelegt werden konnte.

Ich saß einmal neben einem begabten Anwalt, der gerade ein Kind ins Kreuzverhör nehmen mußte. Dieser Jurist hatte im Laufe seiner langen Karriere Hunderte, wenn nicht Tausende von Mandanten und gegnerischen Zeugen befragt. Er war beschlagen genug, jeden ins Kreuzverhör zu nehmen – vom ausgefuchsten Schwindler bis zum College-Direktor. Dennoch hörte ich ihn »Ach du lieber Gott« murmeln, als er sich langsam erhob, um einen sechsjährigen Pimpf zu verhören, dessen Kopf kaum über das Geländer der Zeugenbank ragte.

Ich verstand das Gefühl. Auch für mich würde es jetzt ein hartes Stück Arbeit werden, Adrienne dazu zu bewegen, ihr Schweigen zu brechen. Es wäre schon ein kleines Kunststück, sie überhaupt zum Verlassen des Wartezimmers zu bewegen. Genaugenommen würde es an ein Wunder grenzen, wenn ich sie dazu brachte, mit dem Schreien aufzuhören.

Ich bewegte mich auf sie zu und versuchte zunächst herauszufinden, wo ihr persönliches Distanzbedürfnis lag, das für Kinder anders als für Erwachsene war. Letztere wahren gewöhnlich den gleichen Abstand, egal ob es sich um Freunde oder Fremde handelt und in welcher Verfassung sie sind. Kinder dagegen halten unterschiedliche Distanz zu anderen, je nachdem, wie gut sie miteinander bekannt und in welcher Stimmung sie sind. Wenn man näher als einen Meter an sie herankommt und sie einen nicht unterbringen können, reagieren sie mit Abwehr – vor allem, wenn sie verstört sind. Klar, kennen und mögen sie die Person, dann pflanzen sie sich bei ihr auf den Schoß oder schmiegen sich an ihr Schienbein – was Erwachsene eher selten tun. Vor allem machen Kinder sofort dicht, wenn Erwachsene die unsichtbare Grenzlinie übertreten. Sie wenden sich einfach ab, schauen weg oder erstarren, wenn fremde oder bedrohlich wirkende Erwachsene ihnen zu nahe kommen.

Ich hatte mal ein Video gesehen, auf dem die Therapeutin bei einer gerichtspsychologischen Untersuchung dem Kind immer wieder zu sehr auf die Pelle rückte. Das Kind wich jedesmal zurück, so daß die Therapeutin, die überhaupt nicht bemerkte, daß sie ihm zu nahe kam, das Kind durch den ganzen Raum verfolgte. Am Ende der Sitzung notierte sie ihre Diagnose: Wahrnehmungsstörungen und Hyperaktivität.

Ich war ein bis zwei Meter entfernt, als Adrienne sich von mir abwandte und ihren Kopf zur Wand drehte. Ich trat wieder einen Schritt zurück. Es verblüfft mich immer wieder, daß Erwachsene, die doch eigentlich wissen, daß sie dabei die Intimsphäre eines Kindes verletzen, einfach weiterwalzen.

Ich ließ mich auf die Knie nieder – wenn keine anderen Erwachsenen dagewesen wären, hätte ich mich der Länge nach hingelegt –, zog eine große grüne Stoffschildkröte aus der Tasche und stülpte sie über die Hand. »Ist ja gut«, beruhigte ich die Handpuppe. »Es ist doch nur ein kleines Mädchen. Sie tut dir nichts. Sie will im Spielzimmer mit mir spielen. Du weißt doch, wir haben da Knetmasse, ein Puppenhaus, Marionetten und den kleinen Sandkasten. Die anderen Sachen fallen mir gerade nicht ein. Sie muß selber nachschauen, auf was sie Lust hat.«

Adrienne hatte aufgehört zu schreien, während ich mit dem Stofftier sprach, und sich mir wieder zugewandt. Ich beachtete sie nicht. Kaum hörte ich zu sprechen auf, fing sie wieder mit dem Geschrei an. Ich machte schnell eine Faust und zog den Kopf der Stoffschildkröte darüber. »Schon gut«, beschwichtigte ich, »sie will dir doch keine Angst machen. Sie ist ein liebes kleines Mädchen, das uns einfach besucht und spielen will.«

Adrienne hörte wieder mit Schreien auf und streckte ihre Hand nach der Schildkröte aus. Ich beachtete sie nicht, beruhigte das Stofftier weiter und streichelte es. Adrienne kam näher, und schnell zog die Schildkröte wieder den Kopf ein. »Schon gut, schon gut«, sagte ich beruhigend zu dem Tierchen. Dann wandte ich mich zum erstenmal an Adrienne und erklärte ihr behutsam: »Sie ist so scheu, und große Mädchen machen ihr ein bißchen angst.« Sofort streckte Adrienne wieder die Hand aus, mit einer gebieterisch-fordernden Geste, wie sie Dreijährige an sich haben.

Ich griff erneut in die Tasche und zog eine kleinere Version der gleichen Stoffschildkröte hervor, die auf ihre winzige Hand paßte. Ich zeigte Adrienne, wie man mit der Handpuppe umging. Sie schwieg, setzte sich aber auf und fing an, damit zu spielen.

Das Abstandsproblem war überwunden, oder vielmehr, Adrienne hatte es überwunden, indem sie den ersten Schritt getan hatte. Wäre er von mir ausgegangen, hätte sie es nie zugelassen. Der Trick bestand darin, die Kinder kommen zu lassen und sich nicht aufzudrängen.

Jetzt standen meine Chancen fifty-fifty. Wenn die große grüne Schildkröte Adrienne aufforderte, in mein Zimmer zu kommen, war es möglich, daß sie mitkam, aber sie konnte sich auch immer noch weigern. Und wenn sie erst mal »Nein« entgegnet hatte, war ich in Nöten. Absolut verkehrt wäre es, jetzt mit Nachbohren anzufangen. »Wie geht’s?« Eine total dämliche Frage vom Standpunkt einer Dreijährigen aus. – So was würde sie gar nicht beantworten. Erster Fehlschlag. Dann würde man fortfahren: »Was für ein hübsches Kleid. Ist das deine Lieblingsfarbe?« Auch darauf würde sie nicht reagieren. Zweiter Fehlschlag. Und anschließend vielleicht fragen: »Wie heißt du?« Ebenfalls keine Antwort. Dritter Fehlschlag.

Inzwischen hätte sie sich auf das »Keine-Antwort-Spiel« versteift, nach dem Muster: Die Spielregeln verlangen, auf gestellte Fragen nicht zu antworten. Dabei würde es dann während der ganzen restlichen Sitzung bleiben.

Also wandte ich mich der Wartezimmertür zu. »Schildkröte«, erkundigte ich mich, »hast du nicht auch den Vogel Strauß gehört?« Ich drehte die große Schildkröte zur Tür hin. »Ich glaube, ich hab den dummen Strauß gehört. Ich schau mal nach.« Ich ließ die Schildkröte auf dem Boden liegen und trat in mein Sprechzimmer, das an den Warteraum angrenzte. Dort nahm ich einen Stoffstrauß hoch, der so groß war, daß er gerade noch in eine Babykarre paßte, und zog ihn mir über den Arm. Dann versteckte ich mich seitlich neben dem Türrahmen, ließ den Vogel Strauß um die Ecke schauen und schnell wieder im Sprechzimmer verschwinden. Mit seinen langen, gebogenen Wimpern und dem neugierigen Blick sah der Vogel richtig fesch aus. Mein Aussehen dagegen war nicht eindeutig zu bestimmen, wie ich da so hinter dem Türpfosten hockte und quiekende Laute von mir gab. (Beim letzten Mal war eine Gruppe von offiziellen Besuchern aus dem National Institute of Mental Health vorbeigekommen. »Und das ist eine unserer Kinderpsychies«, sagte der Typ, der die Besucher durch die Abteilung führte, und zeigte auf mich. »Die benehmen sich immer etwas seltsam.«)

Gebannt starrte Adrienne auf den Türpfosten, hinter dem der Strauß verschwunden war. Er lugte noch einmal hervor. Wortlos stand Adrienne auf und kam ins Sprechzimmer, um den frechen Strauß zu fangen. Die kleine Schildkröte hielt sie noch immer umklammert. Sachte schloß ich die Tür – Adrienne schien es kaum zu bemerken – und sperrte die Welt hinter uns aus.

Wie nun das Schweigen brechen? Das Entscheidende war, keine Fragen zu stellen. »Hallo, Adrienne, ich heiße Vogel Strauß und …« Der Stoffvogel brach ab und vergrub seinen Kopf unter meinem Arm.

»Heute sind aber auch alle verschüchtert, Adrienne!« sagte ich und seufzte tief. »Die große Schildkröte ist scheu, die kleine Schildkröte ist scheu, und der Strauß auch. Du kommst ihnen eben wie ein richtig großes Mädchen vor, und sie haben ein bißchen Angst.« Ich wandte mich an den Strauß und versicherte ihm umständlich, daß Adrienne ihm nichts tun würde. Dann zählte ich ihm auf, mit welchen Dingen Adrienne statt dessen spielen könnte. Ich blieb die ganze Zeit auf den Knien hocken, damit mein Kopf Adrienne nicht überragte. Es war einem Gespräch nicht förderlich, wenn man bedrohlich über den Kindern thronte.

Warum kapieren Erwachsene einfach nicht, welche Bedeutung Größe für Kinder hat? Total verrückt. Besonders nervig finde ich, wenn sie zu Vorschulkindern sagen: »Keine Angst, der tut dir nichts« – und dabei springt ein riesiger Köter auf die kleinen Racker zu. Wie solche Leute wohl reagieren würden, wenn ein Pferd über eine Weide auf sie zugaloppierte, um dann zu steigen und die Vorderbeine auf ihre Schultern zu legen? Würden sie sich tatsächlich beruhigen lassen, wenn jemand sagte: »Keine Angst, es tut dir nichts«, während sie von dem Pferd umgeworfen würden? Aber allem Anschein nach verstehe ich den Kinderstandpunkt generell besser als den von Erwachsenen. Meine Freundin Carlotta jedenfalls sagte mal, daß Erwachsene für mich immer noch »die Großen« sind.

Es ist schwierig, keine Fragen zu stellen – viel schwieriger, als man glaubt. Erst mal sprach ich über jedes einzelne Kleidungsstück, das Adrienne anhatte. »Dein rosa T-Shirt gefällt mir. Ich hab auch solche Turnschuhe, nur sind meine …« Über Kleider konnte man endlos reden, vor allem, wenn man die eigenen mit einbezog: Schwarze Leinenhose, schwarzer Rollkragenpulli, knallrote Weste mit vielen gelben Sonnen darauf. In meinem Job zahlte es sich aus, etwas zu tragen, worüber Kinder gerne redeten. Über meine Ohrringe ließen sich auch ein paar Sätze sagen. Nur meine Schuhe gaben leider absolut nichts her. Ich habe keine Ahnung, warum, aber Kinder lieben auffallende Schuhe. Ich besaß ein Paar schwarze Ballerinas, ein Paar braune Halbschuhe, ein Paar Laufschuhe, ein Paar elegante Stiefel, ein Paar warme Stiefel und ein Paar Sandalen. Nichts dabei, wofür sich ein Kleinkind interessieren würde.

Während ich noch meinen Modekommentar runterleierte, ging Adrienne schnurstracks auf das Puppenhaus zu, und ich schlüpfte von der Modeberaterin in eine Sportreporterin. »Ui, der Mann rutscht das Puppenhausdach runter«, kommentierte ich, »und da auf der Couch sitzt ein Mädchen.« Ich beschrieb, was Adrienne mit den Puppen veranstaltete, und war so vertieft in den Spielkommentar, daß ich versucht war zu sagen: »Und hier ist Ihr Reporter von den Boston Celtics«, aber das war nicht witzig für eine Dreijährige.

Eigentlich war ich darauf vorbereitet, ewig in diesem idiotischen Stil weiterzumachen, auch wenn ich wußte, daß Adrienne früher oder später selbst etwas sagen würde. Doch sie überraschte mich, indem sie sofort mitmachte. »Er ist hingefallen«, sagte sie. »Er muß zum Doktor.«

Alle Achtung. Die Kleine war beeindruckend. Sie hatte vielleicht nicht zu mir kommen wollen, aber bestimmt nicht, weil sie schüchtern war. Sie hatte sich von ihrem Wutanfall erholt, sich damit abgefunden, hier zu sein, und sie redete tatsächlich schon – das alles innerhalb kürzester Zeit. Zugegeben: Sie war streitbar, und es würde mir schwerfallen, sie aus der Ruhe zu bringen. Aber streitbar bedeutete gleichzeitig, daß ich die Lage leichter einschätzen konnte. Beißen und Fauchen war nicht halb so schlimm wie verstocktes Schweigen.

Ich hatte sowieso schon eine Theorie, was passiert war, da ich meine Hausaufgaben gemacht und die ganzen Berichte von Polizei, Psychologen und Jugendamt studiert hatte. Mom und Dad hatten jeweils psychologische Gutachten über sich erstellen lassen, für den Kampf um das Sorgerecht, der zwischen beiden wütete.

Adriennes Mutter war entweder eine hysterisch-paranoide Persönlichkeit oder hatte paranoid-hysterische Züge – das hing ganz vom Standpunkt ab. Mit anderen Worten: Sie war emotional labil, theatralisch und eine furchtbare Nervensäge. Außerdem zeigte sie sich davon überzeugt, daß alles, was ihr Mann sagte oder tat, nur ein Trick war, um sie reinzulegen. Die Gutachter waren sich allein darin uneinig, welche ihrer Charakterzüge dominierten – als hätte das einen großen Unterschied gemacht.

Es war ein bißchen so, als würden sich zwei Ärzte darüber streiten, ob ein Patient nun am Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben sei, und dabei vergessen, daß der Patient tot. Übertragen auf meinen Fall: Das Entscheidende war, daß die Mutter mit keiner der beiden Diagnosen Pluspunkte für sich verbuchen konnte.

Ganz anders stand es mit Adriennes Vater: Er hatte in jedem Test normal abgeschnitten. Was natürlich nicht zweifelsfrei bedeutete, daß er unschuldig war, denn ungefähr vierzig Prozent der Kinderschänder wurden als normal eingestuft.

Aber hier handelte es sich um ein Sorgerechtsverfahren, und dabei kam es besonders oft vor, daß falsche Anschuldigungen erhoben wurden (wenn auch nicht so häufig, wie das die Medien behaupteten). Unter dem Strich blieb – eine verrückte Mutter, ein nichtverrückter Vater und der Vorwurf von sexuellem Mißbrauch mitten in einem Sorgerechtsprozeß. Es erschien durchaus möglich, daß es sich hier um eine Falschaussage handelte. Mir sollte es nur recht sein.

Und zwar aus vielerlei Gründen: Es bedeutete, daß das Kind nicht mißbraucht worden war und nicht mit einem Triebtäter in der Familie fertig werden mußte, der möglicherweise auch noch das Sorgerecht zugesprochen bekam. Bei Gericht ging es nun mal zu wie in der Fußball-Liga: Mal gewann der eine, mal der andere.

Wer konnte heutzutage schon voraussagen, wie eine Verhandlung ausging? Beim letzten Fall, den ich verloren hatte, war ein vierjähriges Mädchen in den Zeugenstand marschiert und hatte in allen Einzelheiten beschrieben, was der Vater ihr angetan hatte. Doch unglücklicherweise war ihr Vater ein angesehener Bürger, von dem jeder nur Gutes hielt. Die Geschworenen entschieden, daß so ein netter Mann nicht in der Lage war, etwas derartig Schreckliches zu tun.

Und überhaupt, argumentierten sie, wenn das Kind wirklich mißbraucht worden sei, hätte es zu geschädigt sein müssen, um so genau aussagen zu können. Hätte das Mädchen andererseits bei ihrer Aussage gestockt oder gezögert, dann wäre von den Geschworenen behauptet worden, daß ihre Nervosität, ihr Unvermögen, dem mutmaßlichen Täter in die Augen zu sehen, nur bedeuten konnte, daß sie log.

Fand man heutzutage heraus, daß es sich um eine falsche Anschuldigung handelte, lag man voll im Trend. Anscheinend war es genau das, was alle – Richter, Geschworene, Presse, Öffentlichkeit, ganz zu schweigen von der Verteidigung – hören wollten.

Wenn man jedoch feststellte, daß eine Anzeige wegen sexuellen Mißbrauchs begründet war, konnte man gleich den Kopf in den Rachen des Löwen legen. Der Vater schaffte es immer, den ausgekochtesten Teufelsanwalt zu bekommen. Er brachte so viele Verwandte und Freunde zur Verhandlung mit, daß der Gang zum Verhandlungsraum ein regelrechtes Spießrutenlaufen wurde. Und die Lokalpresse – meine Güte, die war völlig voreingenommen! Einmal druckte eine der Zeitungen einen so verzerrten Bericht eines Falles ab, daß ich ihn nicht mal als meinen Fall wiedererkannte.

Kurzum: Mir sollte es nur recht sein, wenn die Kleine »nein« sagen würde auf meine Frage, ob jemand sie irgendwann mal auf unzüchtige Weise berührt hatte.

Aber so weit kam ich überhaupt nicht, denn Adrienne nahm fast sofort die männliche Testpuppe und legte deren Kopf in den Schoß der Puppe, die das Kind darstellte. »Adrienne«, fragte ich, »was machen die Puppen da?« Und ich hoffte inständig, daß unsere Beziehung inzwischen reif genug für eine Frage war.

»Er leckt ihre Muschi«, sagte Adrienne mit unbekümmertem Stimmchen, »wie mein Daddy.«

»Daddy macht das? Bei wem?« fragte ich.

»Bei mir«, erwiderte Adrienne, riß ihre Beinchen auseinander und deutete auf ihren weißen Schlüpfer. »Da.«

Großer Gott. Das klang kein bißchen nach ungerechtfertigter Verdächtigung. Spontane körperliche Demonstrationen waren völlig untypisch für irrtümliche Beschuldigungen. Die Gesten waren in solchen Fällen nie so eindeutig. Sie hatten immer etwas Mechanisches, gingen oft mit erwachsener Ausdrucksweise und erwachsenen Ansichten über Schicklichkeit einher. Bei meinem letzten Fall von falscher Anschuldigung hatte das Kind ständig wiederholt: »Daddy macht ungehörige Sachen mit mir.« Ohne erklären zu können, was genau er tat.

Adriennes Äußerung schockierte mich. Wenn das stimmte, war es nicht nur schlimm für Adrienne – auch mir würde es eine ganze Weile das Leben schwermachen. Der Rechtsstreit dürfte sich unendlich lange hinziehen. Es käme dabei zu monatelangen Vorverhandlungsanträgen und Anhörungen. Ich würde tagelang im Zeugenstand stehen und mit jedem erdenklichen Gegenargument konfrontiert werden. Ich machte weiter mit meinem Test, in der Hoffnung, daß Adrienne etwas tun würde, was die Eindeutigkeit ihrer anfänglichen spontanen Reaktion wieder in Frage stellte.

Leider blieb sie dabei, egal, wie ich an die Sache heranging. Ich formte Figuren als Knetmasse. Adrienne deutete auf den Schritt der männlichen Figur und sagte, daß aus dem Pillermann ihres Daddys weißes, klebriges Zeug käme. Im Puppenhaus legte sie die männliche Puppe über das Kind und ahmte die Bewegungen eines Geschlechtsakts nach. Sie zeichnete einen Mann mit drei Beinen, oder so ähnlich, nur daß das dritte Bein nach oben zu stehen schien. Je länger die Sitzung dauerte, desto niedergeschlagener wurde ich.

Kapitel 2

Ihr Bruder war ganz anders, als ich erwartet hatte. Er war viel ordentlicher gekleidet als für einen Sechsjährigen üblich und trat mit ernster Miene in mein Sprechzimmer. Adriennes Besuch lag eine Woche zurück, aber ihre Lebhaftigkeit stand mir noch deutlich vor Augen. Wahrscheinlich hatte ich eine sechs Jahre alte Ausgabe von Adrienne erwartet, ihr Bruder schien jedoch ein völlig anderer Typ zu sein. Er sah sich in dem Spiel- und Sprechzimmer um, entdeckte den Kindertisch, die kleinen Stühle und fragte artig, ob er sich setzen dürfe. Das hatte noch nie ein Kind gefragt, und schon gar nicht ein sechsjähriges.

Ich wollte erst im späteren Verlauf der Sitzung ein paar psychologische Tests mit ihm machen, aber da er einfach nur dasaß, ohne spielen zu wollen, beschloß ich, gleich damit anzufangen. Geregelte Abläufe schienen ihm zu liegen – mal milde ausgedrückt. Ich erklärte, daß ich ihm nun ein paar Bilder zeigen würde, zu denen er eine Geschichte erfinden müsse. Er solle mir erzählen, was die Leute auf den Bildern fühlten und dachten, was vor der Szene passiert war und was als nächstes geschehen würde.

Meistens waren die Geschichten, die sich die Kinder ausdachten, ziemlich banal – drei oder vier Sätze, die beschrieben, was die Person tat. Man mußte ihnen ohne Ausnahme nachhelfen, um etwas über das Innenleben der Leute zu erfahren, und selbst dann fielen die Antworten gewöhnlich kurz aus. »Er ist glücklich«, oder: »Er ist traurig.« So in der Art.

Auf der ersten Karte, die ich Andrew gab, war ein Junge abgebildet, der ein Spielzeugschiff anschaute, das vor ihm auf einem Pult stand. »Also«, begann Andrew, »die Geschichte spielt 1861. Das ist schade. Wenn sie 1860 spielen würde, hätte ich eine tolle Geschichte.« Ich war fassungslos und wartete, aber es kam nichts mehr.

»Was meinst du damit? Was war denn 1861?« fragte ich ihn.

»Der Anfang vom Bürgerkrieg«, antwortete er. »In dem Krieg sind eine Menge Leute gestorben – es waren genau 837 938. Haben Sie gewußt, daß zwei Prozent der Südstaatler in dem Krieg umgekommen sind?«

»Äh, nein, eigentlich nicht.«

»Es stimmt aber. 290 524 Südstaatler. Der Krieg war total doof. Ganz sinnlos. Dabei weiß doch schon ein Kindergartenkind, daß es böse ist, Sklaven zu halten. Es ist gemein. Aber im Süden haben alle gefunden, daß es in Ordnung ist. Es kommt mir echt blöd vor. Wie können Leute so gemein sein?«

»Meinst du, Krieg zu führen oder Sklaven zu halten?«

»Sklaven zu halten. Und deshalb mußte es Krieg geben. Man darf doch nicht zulassen, daß die Leute so was Dummes tun. Meine Mom sagt, daß die Leute im Süden immer noch Dixie spielen und die Südstaatenfahne hochziehen. Wenn ich da wäre, würde ich hingehen und die Fahne runterreißen und fragen, wie sie es denn fänden, wenn sie jemand gehören würden.«

»Und was war 1860 so toll?«

»Ich hab nicht gesagt, daß 1860 toll war«, stellte Andrew richtig. Er klang etwas ungeduldig. »Ich hab gesagt, dann hätte ich eine tolle Geschichte.«

»Und wie geht diese tolle Geschichte?«

»Ich sollte doch eine Geschichte über das Bild erzählen«, erklärte Andrew sorgfältig. »Die Geschichte von dem Jungen auf dem Bild. 1860 war das Jahr, bevor die schlimmen Dinge in seiner Familie passiert sind. Er hätte sein Spielzeugschiff angeschaut und an schöne Sachen gedacht. Aber das kann er nicht mehr, weil schon 1861 ist.« Er starrte das Bild noch einen Augenblick an. »Manchmal kann er sich nicht mal mehr an schöne Sachen erinnern.« Andrew legte das Bild beiseite.

»Was für schlimme Dinge?« wollte ich wissen. »Haben die mit dem Krieg zu tun?«

»Möglich«, sagte er ausweichend. »Zeigen Sie mir noch andere Bilder?«

Das war möglicherweise ein Fehler gewesen. Vielleicht wäre er mir nicht ausgewichen, wenn ich die letzte Frage nicht gestellt hätte. Andererseits war es ohnehin am schwierigsten, von den schlimmen Dingen zu sprechen, ganz gleich, was ich nun sagte.

Es war verlockend, Andrew einfach zuzustimmen, seine Klugheit zu bewundern und über »Kindermund tut Wahrheit kund« nachzudenken. Man konnte es auch ermutigend finden, daß die neue Generation ein bißchen gerechter zu sein schien als die anderen davor. Aber darum ging es hier nicht. Es ging um Andrews Art – seine Abwehr durch Intellektualisierung, sein entwicklungsmäßig unangemessenes Verhalten. Er war völlig zwanghaft – ein Pessimist ersten Ranges. Ich hatte schon öfter solche Fälle gehabt, und sie gingen alle gleich mit ihren Problemen um. In den Lehrbüchern stand, daß Kinder seines Alters konkret seien. Sie machten sich Sorgen, hieß es, ob ihr Baseballteam gewinnt oder nicht. Sie waren noch nicht in der Lage, hieß es, abstrakt zu denken oder sich über theoretische Dinge einen Kopf zu machen.

Auf Kinder wie Andrew traf das jedoch nicht zu. Sie neigten dazu, eine große, abstrakte Sache auf ihre eigenen, ganz persönlichen Probleme zu übertragen. Kinder, die zu Hause nicht genug zu essen bekamen, machten sich Sorgen über die hungerleidenden Kinder in Somalia. Kinder, die Angst hatten, daß sich ihre Eltern scheiden lassen könnten, machten sich Sorgen über verlassene Kinder in Bosnien. Kinder, deren Eltern dauernd stritten, waren besorgt über die Umweltzerstörung. Zwanghafte Kinder waren immer sehr klug, früh entwickelt und bis oben hin voller Sorgen.

Ich wollte gerne glauben, daß Andrew nur über die Scheidung seiner Eltern redete, aber so klang es eigentlich nicht. Die Leute waren gemein zu anderen, hatte er gesagt, und deshalb mußte es Krieg geben. Man konnte den Leuten die gemeinen Dinge nicht durchgehen lassen. Das klang danach, daß die Gemeinheiten vor dem Krieg passiert waren. Wer weiß? Seine Geschichte konnte auf verschiedenste Weisen gedeutet werden.

Ich bekam mehr Klarheit, als ich ihn direkt nach seinem Vater befragte. Da wurde er ganz konkret und genau. Er wisse, daß es unrecht sei, was sein Vater mit ihm mache, sagte er, aber er erzähle es keinem, weil er nicht ins Gefängnis wolle. Sein Vater hätte damit gedroht, er käme ins Gefängnis, wenn er darüber reden würde. Andrew war eines Nachts in das Zimmer seiner Schwester gekommen und hatte seinen Vater dabei überrascht, wie er sich mit heruntergelassenen Hosen über Adrienne beugte, die im Bett lag. Das Gesicht seines Vaters war ganz rot und aufgedunsen, und er rieb seinen Penis an Adriennes Gesicht.

Andrew hatte die ganze Nacht überlegt, berichtete er, ob er seiner Lehrerin davon erzählen soll, und war schließlich zu dem Entschluß gekommen, lieber ins Gefängnis zu gehen, als zuzulassen, daß sein Vater so etwas mit seiner Schwester machte. Sie war noch nicht so groß wie er selbst, sagte er, und er glaubte nicht, daß sie damit fertig würde. Entsetzt stellte ich fest, daß er immer noch dachte, er käme ins Gefängnis und nicht sein Vater.

»Andrew, hast du deiner Mutter davon erzählt?« wollte ich von ihm wissen. »Bevor du mit deiner Lehrerin gesprochen hast?«

»Nein«, sagte er und rückte ein Spielzeug zurecht, das etwas schief auf dem Regal neben ihm stand. »Ich wollte es, aber ich konnte nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich wollte nicht, daß sie sich aufregt«, erklärte er. »Sie regt sich dauernd auf und weint, dann fängt Adrienne auch an zu weinen, und ich weiß nicht, ob ich mit Mom reden oder Adrienne trösten soll. Am Ende sagt Mom, ich soll zum Spielen gehen, aber ich kann nicht spielen, weil ich mir Sorgen um sie mache und Adrienne immer noch weint.«

»Andrew«, bat ich ihn, »ich frage dich jetzt was ganz Wichtiges, und es ist ganz wichtig, daß du ehrlich darauf antwortest. Hast du dir das alles ausgedacht, um deiner Mom irgendwie zu helfen?«

Andrew sah mich voller Erstaunen an. »Wie soll das denn meiner Mom helfen?« fragte er. »Sie regt sich furchtbar darüber auf. Es macht alles nur noch schlimmer.«

Ich blickte in das ernste Gesicht vor mir, das Gesicht eines Kindes, das immer noch glaubte, ins Gefängnis zu kommen, weil es alles erzählt hatte. Ich fand es schrecklich, diejenige zu sein, die ihm erzählen mußte, daß niemand dafür ins Gefängnis kam. Kein Zweifel, die Anzeige wegen Kindesmißbrauchs entsprach den Tatsachen, aber mir war auch vollkommen klar, daß vor Gericht keiner diesem Kind hier glauben würde.

Andrew hatte recht. Das Problem war das Jahr, wenn auch nicht das Jahr 1860. Es gab eine Zeit, die noch nicht allzu lange zurücklag, da hatte man der Aussage eines Kindes, daß es mißbraucht worden sei, eher Glauben geschenkt, vor allem, wenn alle bekannten Stichhaltigkeitskriterien zutrafen – ganz zu schweigen von einer Aussage, die von einem zweiten Kind bestätigt wurde. Aber das gehörte der Vergangenheit an.

Das Problem war, daß die Öffentlichkeit immer noch meinte, Triebtäter seien komisch gekleidet, hätten Dreitagebärte und würden sich schuldig bekennen, wenn sie erwischt wurden. Triebtäter, so dachte der Mann auf der Straße, konnten einem nicht in die Augen sehen und ihre Tat abstreiten, zumindest nicht auf überzeugende Weise. Außerdem waren Triebtäter nicht gebildet und kamen erst recht nicht aus wohlhabenden Verhältnissen. Eine Gruppe, die sich SAM nannte (Schuldlos Angeklagte Männer), hatte Untersuchungen veröffentlicht, die Einkommenshöhe und Urlaubsgepflogenheiten ihrer Mitglieder darstellten. Triebtäter seien ärmer, ging daraus hervor, und machten nicht so tolle Urlaubsreisen.

Und ganz sicher würden Triebtäter nicht in der Lage sein, so vehement zu leugnen, schon gar nicht mit einer derartig selbstgerechten Empörung, die zum Beispiel einen Priester, gegen den ich aussagen mußte, veranlaßt hatte, seine Opfer – zwölf Kinder – zu verklagen, nachdem sie ihn angezeigt hatten. In dem Verfahren kam der Priester mit einem vierzigseitigen, engzeilig getippten Schriftstück an, das die Schilderungen der Kinder widerlegen sollte. Doch im Verlauf der Verhandlung brach er zusammen und gestand, die Kinder sexuell mißbraucht und die Widerlegungsschrift erfunden zu haben.

Ich hatte das ungute Gefühl, daß der jetzige Verdächtige dem Priester in nichts nachstand: Nathan Southworth, Thoraxchirurg, Stütze der Gesellschaft, Mitglied der freiwilligen Feuerwehr und Vater von Adrienne und Andrew. Er würde nicht mit einem Dreitagebart vor Gericht erscheinen und mit Sicherheit alles abstreiten. Außerdem handelte es sich zunächst um ein Sorgerechtsverfahren, bei dem Anzeigen wegen sexuellen Mißbrauchs erfahrungsgemäß einen schweren Stand hatten.

Aber wenn auch mit Ärger vor Gericht zu rechnen war, zumindest hatte Andrew seine Mutter auf seiner Seite. Rund fünfundneunzig Prozent der Täter waren männlich, also der unschuldige Elternteil gewöhnlich die Mutter. Bei noch bestehenden Ehen hielt ich immer den Atem an, wenn ich mit der Frau sprach. In ungefähr der Hälfte von allen Fällen stellte sie sich hinter ihren angeklagten Gatten und beschuldigte das Kind, die Unwahrheit zu sagen. In Sorgerechtsverfahren stand wenigstens einer auf der Seite des Kindes.

Kapitel 3

Für den nächsten Tag hatte ich mich mit Sharon Southworth, der Mutter der Kinder, verabredet. Zum einen brauchte ich nähere Informationen darüber, wie Adrienne und Andrew aufgewachsen waren, und zum anderen wollte ich so viel wie möglich über etwaige Äußerungen der Kinder zu dem Mißbrauch erfahren. Hatte Sharon schon vor Andrews Eröffnung einen Verdacht in dieser Richtung gehegt? Hatte sie die Kinder jemals gedrängt oder direkt gefragt, ob etwas vorgefallen sei? Hatte sie mit anderen im Beisein der Kinder über das Thema gesprochen? Ich hatte wenig Hoffnung, eine andere Erklärung für die ausführlichen und bildlichen Beschreibungen zu finden, aber ich mußte alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Da ich für das Gespräch keine Probleme befürchtete, ging ich ohne besondere Wachsamkeit vor, die ich habe, wenn ich weiß, daß ein Vulkanausbruch vor mir liegt.

Sharon schüttelte mir schlaff die Hand. Sie war so groß wie ich – ungefähr eins siebzig – aber rundlicher, ein richtig mütterlicher Typ. Die langen dunklen Zöpfe, das weite Kleid aus handgewebtem Stoff, die Sandalen – das alles erinnerte mich angenehm an meine Hippie-Zeit. Mit dem Unterschied, daß ich damals natürlich arm wie eine Kirchenmaus gewesen war und das edle handgewebte Kleid, das Sharon trug, keinerlei Ähnlichkeit mit meinen alten, abgetragenen Klamotten von früher hatte. Meine Autos aus dieser Zeit waren wahrscheinlich billiger gewesen als der indianische Schmuck um Sharons Hals.

Auch als reiche Arztfrau hatte sie die typische bodenständige Art der Leute aus Vermont an sich. Pelze konnte man sich an ihr nicht vorstellen. Bestimmt war sie Mitglied in einer Kontratanz-Gruppe – der Hippie-Version vom Squaredance, der ja in Neuengland so beliebt war – und kaufte biodynamisches Gemüse im Naturkostladen.

»Der Richter bestand auf ein psychologisches Gutachten. Ich übrigens auch«, fügte sie hinzu. »Ich möchte die Sache so schnell wie möglich geklärt haben.«

»Leider bin ich nicht sicher, ob sie richtig geklärt werden kann«, erwiderte ich. »Aber ehe ich über meinen Eindruck von den Kindern rede, möchte ich, daß Sie mir ein wenig über ihr Leben erzählen.«

Das erwies sich jedoch als schwierig. Sharon war zwar alles andere als auf den Kopf gefallen, aber sie schweifte immer wieder ab und landete bei ihrem Exmann. Die Scheidung würde ein erbitterter Kampf werden, so schien es.

»Gab es Schwierigkeiten während der Schwangerschaft?« Wir hatten schon zehn Minuten geredet und waren noch nicht einmal bei der Geburt des ersten Kindes angekommen. Ich begann zu wünschen, daß Andrew jünger wäre – es hätte die Angelegenheit beschleunigt.

»Es war eine schreckliche Schwangerschaft. Nathan war nie zu Hause. Er sagte immer wieder, daß er so viel Arbeit hätte, aber man kann doch nicht immer arbeiten, verdammt noch mal.«

»Er war doch damals Assistenzarzt an einer Klinik? Das war bestimmt schwierig. Der Zeitplan von jüngeren Chirurgen ist ziemlich brutal.«

»Nathan hat seine Arbeit als Ausrede für alles genommen. Aber ich weiß genau, daß das alles Blödsinn war. Egal wann ich anrief, immer hat er gerade operiert.«

Ich zögerte, denn ich verstand nicht ganz. »Wie meinen Sie das? Er war Chirurg an einer Klinik. Die meisten Chirurgen operieren nun mal den ganzen Tag. Warum glauben Sie, daß er gelogen hat?«

»Ich habe ihn dabei erwischt. Eines Tages bin ich einfach aufgetaucht.« Ich haßte solche Gespräche. Sharon beantwortete meine Fragen einfach nicht. Sie war wie eine Dampfwalze, die einfach weiterlief.

»Und was ist passiert?« Warum fragte ich eigentlich? Sie redete ja sowieso weiter. Bei solchen Gesprächen stellt man permanent Fragen, von denen man weiß, daß sie beantwortet werden, ob man nun fragt oder nicht, sonst würde man sich total überflüssig vorkommen.

»Zwanzig Minuten mußte ich warten – genug Zeit für ihn, von dort herzukommen, wo er gerade steckte. Es war zum Totlachen. Ich war im Wartezimmer und machte ein Höllenspektakel. Plötzlich kommt er rein, in der komischen grünen Verkleidung, die Hände in den blutverschmierten Handschuhen von sich gestreckt, und schreit mich an, daß ich auf der Stelle verschwinden soll. Stellen Sie sich das mal vor. Ein absoluter Witz.«

Ich konnte es nicht fassen. Hörte ich richtig? Hatte sie wirklich eine derartige Szene gemacht, daß er aus dem OP gekommen war, um sie rauszuschmeißen? Das konnte doch nicht sein. Die Operationsstab hätte das nie zugelassen. Aber wer weiß? »Sharon, behaupten Sie tatsächlich, daß er die Operation unterbrochen hat, um mit Ihnen zu reden?«

»Natürlich nicht«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Sie sind vielleicht naiv. Er war gar nicht im OP. Es war nur eins seiner Spielchen.«

»Sharon, irgendwie komme ich da nicht mit«, sagte ich langsam. »Nathan kommt im grünen OP-Kittel raus, hält die blutigen Finger in Handschuhen von sich gestreckt und rührt nichts an. Wie kommen Sie darauf, daß er nicht im OP war?«

»Sie kennen eben Nathan nicht. Die Szene ist ganz typisch für diesen Scheißkerl.«

Wenn ich Paare vor mir hatte, die vor Scheidungshaß bebten, versuchte ich mir manchmal vorzustellen, wie sie zu dem gemeinsamen Kind gekommen waren. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie Leute, die mal Sex miteinander gehabt hatten, sich irgendwann so total hassen konnten. Aber es gibt ja auch viele Paare, die sich hassen, wenn sie miteinander schlafen.

Unser Gespräch schleppte sich von einer feindseligen Spitze über ihren Ex zur nächsten. Wenn Sharon nicht über Nathan sprach, klang sie recht vernünftig. Die Entwicklungsphasen ihrer Kinder konnte sie präzise beschreiben, und sie wußte viel über ihr Großwerden zu erzählen.

»Sie unterscheiden sich von ihrem Naturell her genauso voneinander«, sagte sie, »wie durch ihr Aussehen. Andrew war schon immer eine Bohnenstange und Adrienne von Anfang an ein kleines Energiebündel.« Sharon fuhr weiter fort: »Im Sommer sind wir oft mit dem Dreierlift den Killington raufgefahren, zum Picknicken. Als ich Andrew das erste Mal mitgenommen habe – er war vielleicht zwei – saß er ganz ruhig da, mit gefalteten Händen, die ganze Strecke rauf und runter. Ich weiß noch, wie ich staunte, daß der Fahrtwind nicht mal sein Haar durcheinanderbringen konnte.

Als ich dagegen Adrienne in diesem Alter das erste Mal mitnahm, hat sie sich im letzten Moment geweigert, in den Lift zu steigen. Wir standen bereit, während der Sessellift um die Kurve schwang, da beschloß sie, nicht zu fahren, fing zu schreien und zu strampeln an. Ich mußte sie schließlich vom Boden hochheben, mich mit ihr in den Lift setzen und aufpassen, daß sie mir nicht ins Gesicht trat – und das alles in ungefähr zwei Sekunden. Beim Runterfahren hatte sie sich natürlich schon an den Lift gewöhnt, und es lief anders ab. Während Andrew immer noch so ruhig dasaß wie mit zwei Jahren, versuchte Adrienne bereits, mit wehenden blonden Locken aufzustehen und herumzutanzen.«

Ihre Stimme klang warm, wenn sie von den Kindern sprach, und ihre Gesichtszüge wurden dabei so weich, daß ich unwillkürlich lächeln mußte. Ich hatte zwei ganz verschiedene Frauen vor mir – die Ehefrau und die Mutter. Ich betrachtete ihre Hände. Hände sagen oft viel über Menschen aus. Ihre machten fließende Bewegungen, kamen ohne aggressive Gesten aus, selbst wenn sie über Nathan sprach. Vielleicht war ihre mütterliche Seite die wahre Sharon.

Ich mußte noch ansprechen, was mir die Kinder erzählt hatten. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß beide Kinder ziemlich überzeugend davon gesprochen haben, von Ihrem Mann sexuell mißbraucht worden zu sein.«

»Das ist wieder mal typisch für ihn«, fuhr sie zornig auf.

»Was, die Kinder mißbraucht zu haben?« entgegnete ich überrascht. Ihre Reaktion war ungewöhnlich. Die meisten Mütter, sogar diejenigen, die ihre Exehemänner verabscheuten, konnten es einfach nicht glauben, daß diese sich an ihren Kindern vergriffen.

»Nein, nicht, sie mißbraucht zu haben.« Sie wurde ärgerlich. »So was überhaupt in die Welt zu setzen.«

»Was?«

»Na, diese Falschanzeige«, polterte sie los. »Das ist doch ganz offensichtlich, oder nicht? Sonst kommt doch niemand in Frage.«

»Sie halten es also für eine gezielte Falschanzeige?« Ich war immer noch durcheinander. »Das glaube ich nicht. Allem Anschein nach stimmt die Beschuldigung.«

»Großer Gott, dieser Mann ist ja so ausgekocht«, erwiderte sie. »Er hat sogar Sie überzeugt.«

Der liebe Gott, schoß es mir durch den Kopf, hatte diesen Kindern mit keinem der beiden Eltern einen Gefallen getan. »Mrs. Southworth«, holte ich aus, »kein Mensch würde sich doch selbst mit einer Falschanzeige belasten.«

»Warum nicht?« meinte sie. »Es ist die beste Art, um mich auszutricksen. Ich höre doch auch Nachrichten und weiß, wie das läuft. Wem wirft man denn meistens eine falsche Anzeige vor? Den Müttern!« So verrückt es klang – sie hatte nicht einmal unrecht. Keine Frage: Eine Mutter, deren Kind mitten in einem Sorgerechtsstreit sexuellen Mißbrauch durch den Vater anzeigte, saß in der Klemme. Mit ziemlicher Sicherheit wurde der Mutter vorgeworfen, eine solche Anzeige in die Welt gesetzt zu haben, ganz gleich, was sie von nun an sagte oder tat.

Sharon war noch nicht fertig. »Das hat er getan, um sich an mir zu rächen. Es hat nichts mit den Kindern zu tun, gar nichts. Er heckt einfach eine Gemeinheit nach der anderen aus, und keiner kann ihn daran hindern. Aber diesmal hat er sich geschnitten. Ich laß ihm das nicht durchgehen.«

Wo sollte ich anfangen? »Selbst wenn jemand verrückt genug wäre, eine Falschaussage gegen sich selbst in die Welt zu setzen«, wandte ich ein, »dann würde es bei einem Sechsjährigen nicht funktionieren. Andrew steht mit beiden Beinen in der Welt und ist ein kluges Kerlchen.«

»Nathan hat ihm bestimmt mit etwas gedroht«, entgegnete sie. »Andrew würde nie lügen, außer in einer absoluten Notlage. Dieser Scheißkerl hat mein armes Schätzchen bestimmt unter Druck gesetzt. Und wieso? Kapieren Sie denn nicht, warum er das getan hat? Weil er mich als verrückt hinstellen will, darum!«

O nein, dachte ich. Wenn er so schlau war, wie sie dachte, dann wußte er ja, daß man ihr dabei nicht nachhelfen mußte.

Kapitel 4

Sechs Monate später

Ich haßte diesen Fall. Ich haßte die Tatsache, daß die Kinder die Leidtragenden waren, egal, wer nun das Sorgerecht erhielt. Ich haßte die Tatsache, daß ihre Mutter verrückt war – oder zumindest nicht ganz normal – und daß ihr Vater ein Kinderschänder war. Ich haßte die Tatsache, daß ich vor Gericht für eine Frau aussagen mußte, der kein Richter auf Erden glauben würde.

In Fällen wie diesem wurden die Mütter gewöhnlich für verrückt erklärt, was sie meistens gar nicht waren. Häufig waren sie nur frustriert und zornig, weil sie glaubten – oft zu Recht – daß ihre Kinder von den Exgatten belästigt worden waren. Aber ich mußte nun gerade an einen Fall geraten, bei dem die Mutter tatsächlich so verrückt war, wie alle behaupteten.

Die Frau war der Traum eines jeden Verteidigers. Die Geschichte ihrer Wahnvorstellungen bezüglich ihres damaligen Ehemannes reichte zurück bis in die Zeit, als sie noch verheiratet waren, und – konnte es noch schlimmer kommen!? – sie hatte ihn öffentlich beschuldigt, Dinge zu tun, die er gar nicht tat. Was alles nur halb so schlimm gewesen wäre, wenn es sich tatsächlich um einen unbestätigten Vorwurf gehandelt hätte, aber daran glaubte ich leider ganz und gar nicht.

Die Sache erinnerte mich an einen Fall, der so richtig vermasselt worden war – und zwar im Jefferson Memorial, dem Krankenhaus, das zur medizinischen Fakultät gehörte, bei der ich angestellt war. Ein Assistenzarzt hatte einen Hypochonder untersucht und war zu dem Ergebnis gekommen – nur, weil der Patient als eingebildeter Kranker galt –, daß er keinen Tumor habe. Der Mann hatte aber doch einen. Keiner nahm die Sache ernst, bis es zu spät war.

»Auch Hypochonder können einen Tumor kriegen«, hatte der Oberarzt den Assistenzarzt angeschrien. »Vergessen Sie das nie«, hatte er gebrüllt. »Vergessen Sie niemals wieder, daß Hypochonder und Hysteriker und alle Verrückten, die es sonst noch so gibt, die gleichen Krankheiten kriegen wie Normalsterbliche. Sie sind nicht davon befreit, nur weil sie verrückt sind.« Und vergiß nie, sagte ich mir, daß Dad, nur weil Mom Wahnvorstellungen hat, nicht automatisch unschuldig ist. Übrigens gab es in der Fachliteratur jede Menge Hinweise darauf, daß Kinderschänder Frauen bevorzugten, die krank waren oder irgendwelche anderen Macken hatten.

Aber Paranoiker machten sich vor Gericht besonders schlecht, sie klangen schrill und wirkten verrückt. Ganz im Gegensatz zu Kinderschändern, die den größten Teil ihres Lebens damit zubrachten, der Umgebung etwas vorzumachen. Das Gericht zu verschaukeln war nur die Fortführung einer Vorgehensweise, die sie seit langem perfektioniert hatten. Sie konnten alles vortäuschen: Unschuld und Ahnungslosigkeit, Verwirrung und Schmerz. Sie konnten sogar die Tränen kullern lassen angesichts des Unrechts, das man ihnen tat.

Der letzte Kinderschänder, gegen den ich ausgesagt hatte, war ein Zahnarzt, der bis zu seiner Verurteilung praktiziert hatte. Warum hatte die Ärztekammer nicht gehandelt? Offensichtlich, weil keiner in dem Verband über Kinderschänder Bescheid wußte. Der Zahnarzt hatte sich noch zwei Stunden vor dem Gerichtstermin an einem neuen Opfer vergangen – und bei der Verhandlung legte er ein leidenschaftliches Bekenntnis seiner Unschuld ab. Er erzählte, was für ein vorbildliches Leben er führte, wieviel er für die Gesellschaft getan hatte, wie ungerecht und unwahr die Anklage sei. Seine Stimme versagte genau an den richtigen Stellen. Mehrere der Anwesenden im Saal hatten Tränen in den Augen. Pech für den Zahnarzt, daß der Richter das Theater durchschaute.

Meine These, daß es leicht für Kinderschänder sei, andere zu täuschen, klang vielleicht zynisch, aber die meisten Leute waren einfach hoffnungslos naiv. Für sie war alles ganz einfach. Kinderschänder waren Ungeheuer. Ihr netter Nachbar, Pfarrer, Ehemann, Bruder, Hausarzt war kein Ungeheuer, deshalb konnte er auch kein Kinderschänder sein. Und der nette Mann dort im Zeugenstand, dem die Tränen über die Wangen liefen, war gewiß ebenfalls kein Kinderschänder.

Die öffentliche Meinung jedenfalls machte seit einiger Zeit meine Arbeit nicht leichter. Man hielt jeden, der mit mißbrauchten Kindern arbeitete, automatisch für einen »Kinderrechtler«, einen Idealisten, der glaubte, Kinder würden niemals lügen und alle Enthüllungen über sexuellen Mißbrauch seien wahr. Man nahm außerdem an, daß er ununterbrochen auf nicht mißbrauchte Kinder einredete, bis sie aus lauter Verzweiflung eine fingierte Anschuldigung hervorbrachten. Ich hatte zwar noch nie so jemanden kennengelernt, war aber ihrer Legende vor Gericht schon oft begegnet. Es war wie bei den Einhörnern – man sah sie nie, aber der Mythos lebte weiter.

Viel ist über die »neuen Hexenprozesse von Salem« geschrieben worden. Es heißt, daß »beeinflußbare« Kinder heutzutage aufgrund von Falschaussagen unschuldige Männer und Frauen wegen sexuellen Mißbrauchs hinter Gitter bringen, ähnlich wie einst jene Kinder in Salem, die mit Lügen von Teufelskulten unschuldige Leute in den Tod schickten. Um zu erklären, warum die Kinder von heute so unglaubliche Geschichten von sexuellem Mißbrauch erfinden, beschuldigen Verteidiger und Angeklagte immer wieder Therapeuten, Polizisten, Sozialarbeiter und Ärzte – kurz, jeden, der die Kinder verhört hatte –, daß man ihnen die Falschaussage eingeredet habe. Aber von meiner Warte aus sah die Sache anders aus: Meistens wurde ich von der Anklägerin zur Angeklagten und kam als Therapeutin auf den Scheiterhaufen.

Dieser Fall war nicht zu gewinnen. Dad war zu glaubwürdig und Mom zu unglaubwürdig, und keiner hörte auf die Kinder. Wir steckten in der Tinte. Vielleicht war es das, was mich am meisten nervte. Die einzigen, die ich nicht haßte an dem ganzen Fall, waren die Kinder. Nein, die Kinder haßte ich nicht.

Ich hatte die sechs Monate mit Vorverhandlungen, Anträgen, Anhörungen und Beweisaufnahmen, die Anrufe der hysterischen Sharon und alle möglichen rechtlichen Winkelzüge überstanden – mit Mühe überstanden. Ich hatte weder Sharon noch die Kinder gesehen, seit meine Gutachten fertiggestellt waren, hatte aber Sharons Stellungnahme gelesen. Kinder mußten in Sorgerechtsverfahren fast nie aussagen. Das war auch in diesem Fall so, weshalb von ihnen keine Aussage vorlag.

Sechs Monate bis zur Verhandlung war eine kurze Frist, aber Richter Fishbein hatte den Vorsitz am Familiengericht und daher war der Zeitpunkt nicht verwunderlich. Fishbein als Vorsitzenden zu haben war, wie mit Schlittschuhen einen gefrorenen Wasserfall runterzusausen. Nichts konnte einen Verhandlungstermin an seinem Gericht hinauszögern. Es gab keinen Aufschub. Die meisten Anwälte versuchten es nicht einmal. Es kursierte der Witz, daß ein Aussetzen der Verhandlung bei Fishbein ganz einfach war: Ein Attest vom Arzt genügte. Doch sogar dieser Witz war hinfällig, als ein Anwalt eine Herzoperation vor sich hatte und den Antrag stellte, die Verhandlung auf sechs Wochen nach der Operation zu verschieben. Fishbein sagte dem Anwalt, er sei doch in einer Gemeinschaftskanzlei, oder etwa nicht? Wolle er dem Gericht etwa weismachen, daß keiner seiner Kollegen kompetent genug sei, um für ihn einzuspringen? In diesem Fall, sagte er, würde das Gericht vorschlagen, der geschätzte Verteidiger solle sich rasch selbst um einen Ersatz kümmern, denn den würde er benötigen, damit jemand in seiner Abwesenheit den Fall übernehme.

Ich wußte also, daß es keinen Aufschub gab. Ich hatte mich zu Tode geschuftet und bergeweise Dokumente produziert als Antwort auf schriftliche Beweisfragen, mit denen die andere Seite erreichen konnte, daß man alles beantworten und vorlegen mußte, bis hin zum ersten Schulzeugnis. Dads Rechtsanwälte hatten Auskunft über jeden einzelnen Fall verlangt, an dem ich jemals beteiligt war. Sie hatten gefordert, mein Kriterienprotokoll einzusehen, nach dem ich Fälle von Kindesmißbrauch beurteilte, und wollten jedes einzelne Buch kennenlernen oder jeden Artikel, den ich gelesen hatte und auf den ich mich stützte. Sie wollten wissen, wieviel ich an den gerichtlichen Fällen verdiente (bei weitem nicht genug, gemessen an dem Aufwand). Es war mir nicht klar, ob sie das ganze Zeug lesen oder mich nur schikanieren wollten.

Am Tag der Verhandlung war ich zumindest froh, daß dieser vertrackte Sorgerechtsfall jetzt in die entscheidende Phase ging. Den Kindern würde es danach vielleicht nicht bessergehen, aber wenigstens mir. Ich betrat das Gerichtsgebäude und hatte nichts dagegen, daß man meine Tasche und meine Aktenmappe durchsuchte. Sie hätten von mir aus mitten in der Halle eine Leibesvisitation vornehmen können, so wild war ich darauf, den Fall endlich hinter mich zu bringen.

Als ich in den Gerichtssaal trat, wurden gerade die Anklageschriften verlesen. Einmal wöchentlich trug man alle neuen Fälle vor. Der Richter vergewisserte sich dabei, daß die Angeklagten hörten, wie die Anklage lautete, daß sie einen Rechtsbeistand hatten, und erkundigte sich, auf was sie plädieren wollten. Unser Fall sollte im selben Saal verhandelt werden, in dem die Anklageschriften verlesen wurden, und erst nach Ende dieser Prozedur würden wir aufgerufen werden.

In einer städtischeren Gegend wäre der Gerichtssaal vollständig für das Vorlesen der Anklageschriften, das den ganzen Tag dauern konnte, reserviert worden. Aber wir waren in Vermont, in einem Staat, in dem insgesamt nur fünfhunderttausend Einwohner leben. Das Vortragen der Anklageschriften in unserem Saal würde knapp eine Stunde dauern, einmal wöchentlich, ansonsten fanden hier nur noch Verhandlungen statt.

Ich ließ mich hinten in einen Sitz fallen und sah mich um. Das Vorstellen der Fälle bedeutete, daß der Gerichtssaal voll war mit den angsterfüllten Gesichtern von Jugendlichen. Es war einfach so, daß die meisten Straftaten, vor allem Gewaltverbrechen, von jungen Leuten begangen wurden. Je mehr mir klar wurde, daß die meisten, die hier endeten, jung und arm waren, desto unsympathischer fand ich das Gericht.

Ich war nur im Saal, um mich zu akklimatisieren. Ein Gerichtssaal hatte immer was Förmliches und Fremdes an sich, auch wenn man schon hundertmal dagewesen war. Deshalb kam ich zu Aussagen immer etwas zu früh und versuchte mich in die Stimmung eines Gerichtssaals hineinzufühlen. So ungefähr wie ein Reiter, der den Parcours ja auch vorher abläuft, ehe er mit dem Pferd über die Hindernisse springt.

Na ja, es gab einen Unterschied. Auf dem Parcours konnte man beim Abgehen erkennen, wie hoch und wie tief die Hindernisse waren. Sie wurden nicht verändert, während man das Pferd bestieg. Aber vor Gericht mußte man immer blind reiten.

Ein Name wurde aufgerufen, und vor mir erhob sich ein Jugendlicher. Ein älterer Mann, der dieselbe Haltung hatte wie der Junge, stand mit ihm auf. Gut, denn wer einen Familienangehörigen mitbrachte, wurde immer besser behandelt. Der Junge trug die üblichen Klamotten eines Teenagers: alte, zerschlissene Jeans und ein verwaschenes T-Shirt. Möglicherweise aus Trotz, aber wer weiß, vielleicht hatte er auch nichts anderes. Seine Schultern waren verkrampft, und er hielt die Hände vor sich ineinander verknotet. Ohne sein Gesicht zu sehen, wußte ich, daß er die typische Teenager-Pose an den Tag legte, aber ich saß nah genug, um mitzukriegen, daß dabei sein linkes Bein zitterte.

Ich war schon niedergeschlagen genug, flüchtete aus dem Saal und suchte meine Leute. Bald mußten wir in den Ring. Sie hockten in einem der kleinen Konferenzzimmer, die vom Hauptkorridor abgingen. Marv Gleason wandte sich um, als ich eintrat. Marv sah wie der typische Analytiker aus: klein, schütteres Haar, schlecht gekleidet und mit Bauchansatz. Normalerweise schlurfte er gemütlich vor sich hin, aber heute waren seine Bewegungen schnell und ruckartig. »O Gott«, stöhnte er, als er mich sah. »Wieso hab ich mir das alles nur von dir aufschwatzen lassen?«

Das Gesicht vor mir war angstverzerrt. Ich konnte kaum glauben, Marv gegenüberzustehen. Wo war der Mann, der es mit der gesamten psychologischen Welt aufgenommen hatte, als ich ihn kennenlernte? Das war lange bevor er in der Jefferson Medical School gelandet war – lange bevor ich ihn gebeten hatte, ein Zweitgutachten zu erstellen, ob diese Kinder Opfer eines sexuellen Mißbrauchs geworden waren. Ich hatte Marv bei einem Psychologenkongreß kennengelernt. Damals hatte ich das Programm durchgeblättert und nach einem Vortrag gesucht, den ich ertragen konnte, als mir Marvs Thema auffiel: »Mutterschläger aus psychoanalytischer Sicht: Hobby oder Gewohnheit.« Ein Thema, in das ich mich fast augenblicklich verliebte. Ich stürzte in den Vortrag und bekam noch das Ende mit.

Seiner Ansicht nach war die analytische Psychologie Müttern gegenüber voreingenommen. Man vernachlässigte die Rolle unterschiedlicher Veranlagungen, den Einfluß des Vaters und mögliche äußere Traumata. Mir war unklar, wie es jemand wagen konnte, seinen Theorien zu widersprechen – sie waren doch offensichtlich richtig –, aber die Zuhörer stimmten nicht zu.

Ich bemerkte, wie sich langsam eine Stimmung im Saal breitmachte, die wahrscheinlich derjenigen vor einer Lynchjustiz ähnelte. Marv, der in diesem Moment kurz vor einem Panikanfall stand, weil er in einer Verhandlung ein Gutachten abgeben mußte, war dennoch völlig unbeeindruckt von der spürbaren Verärgerung, die bei den Kongreßteilnehmern aufkam. Vergnügt begann er, Fragen zu beantworten.

Also, ich bin ja eigentlich für mein streitbares Wesen bekannt, aber der Mann war wie ein Ein-Mann-Fußballteam gegen den Rest der Liga. Ein älterer Mann – ein wissenschaftlicher Analytiker namens Teichner – stand auf, um ihm eine provokante Frage zu stellen. Zur Freude des Publikums bat Marv seinen Gegner zum Streitgespräch auf das Podium. Teichner machte den Fehler, gleich eingangs zu sagen, daß alle Kinder in erster Linie von ihrer Mutterbeziehung beeinflußt seien.

Marv hielt Teichner vor, seine Theorie sei eindeutig falsch. Er beschäftigte sich gerade mit einer familiären Konstellation, die genau das Gegenteil beweise. Marv skizzierte einen Fall, bei dem die Mutter keine enge Bezugsperson und nicht für die Kinder da war, eine Arbeitssüchtige, die kaum Zeit mit der Familie verbrachte. Als Hausmann war der Vater die Hauptbezugsperson, den Marv als eine erdrückend-dominante Figur darstellte, als einen Mann, der seine unerfüllten Wünsche in die Kinder projizierte. Teichner müsse doch sicher zugeben, daß der beherrschende, allgegenwärtige Vater größeren Einfluß auf die Kinder habe als die Mutter, die sie selten sahen.