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Der vierte und letzte Band der vielfach ausgezeichneten Joel-Reihe von Erfolgsautor Henning Mankell. Solange er denken kann, hat Joel mit seinem Vater Samuel, einem wortkargen Holzfäller, in diesem gottverlassenen Nest hoch oben im Norden Schwedens gelebt. Jetzt ist er fünfzehn und will endlich seine Mutter kennen lernen, die ihn und Samuel verlassen hat, als er noch ganz klein war. Früher, wenn Joel nach seiner Mutter gefragt hat, hat Samuel immer nur den Kopf geschüttelt und gesagt, er wüsste nicht, wo sie sei. Doch plötzlich gibt es einen Brief und mit ihm eine Adresse von seiner Mutter Jenny. Joel und sein Vater machen sich auf, sie in Stockholm zu besuchen. Der Aufbruch aus der Stille der Wälder in den Lärm und die Hektik der Großstadt wird für Joel zur inneren Reise in ein neues, selbstbestimmtes Leben. Warum ist Jenny damals einfach fortgegangen? Was geschieht, wenn er sie nach all den Jahren endlich wieder trifft? Und was wird aus ihm, jetzt, wo er die Schule beendet hat? Wird Samuel wieder zu See fahren und ihn mitnehmen? Als sein Vater das Zusammentreffen mit Jenny hinauszögert, will Joel nicht länger warten. Wie ein Detektiv sucht und findet er seine Mutter und kann ihr endlich die vielen Fragen stellen, die ihn schon so lange beschäftigen ... ›Die Reise ans Ende der Welt‹ ist der unabhängig zu lesende vierte und letzte Band der vielfach ausgezeichneten Joel-Reihe von Erfolgsautor Henning Mankell.
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Seitenzahl: 221
Henning Mankell
Die Reise ans Ende der Welt
Aus dem Schwedischenvon Angelika Kutsch
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe 2010
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41523-1 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-70726-8
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Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Dies ist das vierte und letzte Buch über Joel. Das erste Buch hieß Der Hund, der unterwegs zu einem Stern war. Dann kamen Die Schatten wachsen in der Dämmerung und Der Junge, der im Schnee schlief.
In diesem Buch werden manchmal Personen aus den ersten drei Büchern genannt. Nicht immer erzähle ich im Detail von ihnen. Wie sie aussehen. Oder warum sie tun, was sie tun.
Wer will, kann in den vorangegangenen Geschichten mehr über sie erfahren. Aber es ist nicht unbedingt nötig.
Das meiste, was man wissen muss, steht genau zwischen diesen beiden Buchumschlägen.
Henning Mankell
In einer Nacht im März, in dem Jahr, als Joel fünfzehn wurde, erwacht er aus einem Traum, der ihm Angst gemacht hat. Als er die Augen in der Dunkelheit aufschlägt, weiß er im ersten Augenblick nicht, wo er ist. Aber dann hört er das Schnarchen von Papa Samuel durch die halb offene Tür.
Im selben Augenblick fällt ihm der Traum wieder ein. Er ist draußen gewesen auf dem zugefrorenen Fluss. Warum, weiß er nicht. Aber plötzlich ist das Eis unter seinen Füßen gerissen. Er läuft, so schnell er kann, zum Ufer. Wie durch einen Zauberschlag ist das Eis verschwunden. Nur die Eisscholle, auf der er steht, ist übrig geblieben. Da bemerkt er, dass etwas Sonderbares mit dem Wasser ist. Es ist nicht kalt und schwarz wie sonst. Es kocht. Und die ganze Zeit schmilzt die Eisscholle, auf der er steht. Schließlich ist gar nichts mehr da. Kalte, weiße Krokodile schnappen nach ihm. Und er fällt. Geradewegs in ihre Mäuler . . .
Er ist schweißnass. Der Uhrzeiger des Weckers leuchtet in der Dämmerung. Viertel nach vier. Er ist erleichtert, dass er dem Traum entronnen ist. Er zieht die Decke bis zum Kinn und dreht sich zur Wand und will wieder einschlafen. Noch sind es mehrere Stunden, bis er aufstehen muss, um in die Schule zu gehen.
Aber der Schlaf will nicht kommen. Gedanken drängen sich ihm hartnäckig auf. In drei Monaten ist die Schule zu Ende. Zum letzten Mal bekommt er ein Zeugnis. Was soll er dann machen? Wo findet er eine Arbeit? Was will er überhaupt machen? Er merkt, wie schwer es ist, die Gedanken abzuwehren. Noch schwerer wird es, wenn er anfängt über Papa Samuel nachzudenken. Solange er zurückdenken kann, haben sie darüber gesprochen, dass sie aufbrechen und von hier weggehen werden. Wenn Joel nur erst die Schule beendet hat. Samuel will wieder zur See fahren und Joel mitnehmen. Aber die Jahre sind vergangen und Samuel spricht immer seltener vom Meer. Und den Schiffen. Und den Häfen, die draußen in der Welt warten.
Es gibt so vieles, worüber er nachdenken muss. Joel richtet sich im Bett auf und lehnt sich gegen die Wand. Es ist schon März. Bald schmilzt der Schnee. In einem Monat hat er Geburtstag. Er wird fünfzehn Jahre alt. Dann darf er Moped fahren.
Fünfzehn Jahre alt zu werden, das ist ein wichtiges Ereignis.
Aber die Unruhe bleibt. Was erwartet ihn?
Schließlich schläft er doch wieder ein.
Draußen auf der Straße läuft ein einsamer Hund vorbei. Auf dem Weg zu einem Ziel, das nur der Hund kennt.
Aber Joel schläft. In seinen Träumen ist schon der Frühling ausgebrochen.
Und das Eis schmilzt . . .
Joel war mit seinem Fahrrad an der Steigung vorm Pfarrhof, als die Kette absprang. Er war so überrascht, dass er aus dem Gleichgewicht kam. Er kriegte das Rad nicht mehr unter Kontrolle und fuhr geradewegs in die Hecke vom Pferdehändler. Mit dem Kopf voran landete er in den Johannisbeerbüschen. Er holte sich einen Ratscher auf der Wange und bekam einen blauen Flecken auf dem linken Knie. Aber stehen und gehen und sein Fahrrad aufrichten konnte er noch. In der Hecke war ein großes Loch. Da der Pferdehändler ziemlich wütend werden konnte, machte sich Joel schnell davon.
Es war ein Nachmittag Mitte Mai. Immer noch gab es Schneereste entlang der Hauswände und in den Gräben. Frühlingswärme war noch nicht da. Aber jeden Tag, wenn die Schule aus war, fuhr Joel auf seinem Fahrrad im Ort herum. Er war unruhig und rastlos. Was würde passieren, dann, wenn er nicht mehr zur Schule musste?
Einige Tage später, nachdem er vom Fluss mit dem kochenden Wasser geträumt hatte, fragte er Samuel. Er hatte sich gut vorbereitet. Normalerweise aßen sie nur sonntags Kotelett und Bratkartoffeln. Aber da es kein Gericht gab, das Samuel lieber aß, hatte Joel Bratkartoffeln und Kotelett gemacht, obwohl es Dienstag war. Er wusste, der beste Moment, eine wichtige Frage mit Samuel zu besprechen, war der Augenblick, wenn Samuel mit Essen fertig war und den Teller wegschob.
Es war so weit. Samuel legte die Gabel weg, wischte sich den Mund ab und schob den Teller zur Seite.
»Wir müssen uns entscheiden«, sagte Joel.
Obgleich er den Stimmbruch schon hinter sich hatte, konnte es passieren, dass seine Stimme ins Kieksen geriet. Jetzt sprach er absichtlich langsam, damit sie so tief wie möglich klang.
Samuel war meistens müde nach dem Essen. Aus kleinen Augen sah er Joel an.
»Was müssen wir entscheiden?«, fragte er.
Er scheint guter Laune zu sein, dachte Joel. Das war er nicht immer. Manchmal war Samuel grantig und dann wusste Joel, dass es sinnlos war, etwas Wichtiges mit ihm besprechen zu wollen.
»Was machen wir, wenn ich aus der Schule komme?«
Samuel lächelte. »Wie fallen deine Zensuren aus?«
Joel mochte es nicht, wenn Samuel ihm antwortete, indem er eine Gegenfrage stellte. Den Fehler machten viele Erwachsene. Aber er hatte sich vorbereitet. Für Samuel waren die Zensuren immer wichtig.
»Sie werden besser als im Herbst«, antwortete Joel. »In Geografie gehöre ich zu den drei Besten.«
Samuel nickte.
»Wann ziehen wir um?«, fragte Joel. Die Frage hatte er Samuel mindestens schon tausend Mal gestellt. Während all der Jahre, Wochen, fast jeden Tag. Immer dieselbe Frage.
»Wann ziehen wir um?«
Samuel schaute auf die blaue Wachstuchtischdecke. Joel hielt es für das Beste weiterzureden.
»Du bist kein Waldarbeiter«, sagte er. »Du bist Seemann. Wenn ich nicht mehr zur Schule muss, brauchen wir nicht mehr hier zu bleiben. Dann können wir weggehen. Wir können auf demselben Schiff anmustern. Ich bin jetzt fünfzehn. Dann kann ich auch Seemann werden.«
Er wartete auf die Antwort.
Aber Samuel starrte weiter auf die Tischdecke. Schließlich erhob er sich wortlos und stellte Kaffeewasser auf. Eine Antwort würde er nicht bekommen, das war Joel jetzt klar. Er wurde plötzlich wütend.
Da hatte er sich angestrengt und ein Sonntagsessen zubereitet, obwohl es Dienstag war, und Samuel konnte ihm immer noch keine vernünftige Antwort geben.
Eigentlich müsste er jetzt fluchen und Samuel seine Meinung sagen. Dass er endlich antworten musste. Noch tausend Mal wollte Joel dieselbe Frage wirklich nicht stellen.
Aber er fluchte nicht. Er nahm die Teller, kratzte die Essensreste ab und stellte die Teller in die Spüle.
»Ich geh raus«, sagte er.
»Hast du keine Hausaufgaben?«, fragte Samuel ohne den Kaffeekessel aus dem Auge zu lassen, in dem das Wasser gerade zu kochen begann.
»Die hab ich schon gemacht«, antwortete Joel. »Außerdem hab ich bald keine Hausaufgaben mehr.«
Er wartete. Aber vergeblich. Samuel sagte nichts mehr. Joel nahm seine Jacke und lief die Treppe hinunter.
Auch dieses Mal hatte er keine Antwort bekommen.
Darüber dachte er am nächsten Tag nach, während er die Kette an seinem Fahrrad spannte. Er hatte Samuel nicht noch einmal gefragt. Aber er hatte ein Gefühl, als ob Samuel darüber nachdächte. Woher das Gefühl kam, wusste Joel nicht. Aber es war da. Und es war stark.
Es beunruhigte ihn. Wenn Samuel wortkarg und nachdenklich war, konnte er manchmal seine Anwandlungen kriegen. Dann verschwand er plötzlich und kam nachts betrunken nach Hause. Das letzte Mal war schon ziemlich lange her. Joel wusste, dass es wieder passieren würde. Früher oder später. Und davor fürchtete er sich immer. Wenn er losgehen und nach Samuel suchen und ihn dann nach Hause schleppen musste, wenn er so betrunken war, dass er nicht mehr gehen konnte.
Joel versuchte das Öl von der Fahrradkette mit Zeitungspapierfetzen abzuwischen, die der Wind vorbeigeweht hatte.
Hoffentlich passiert es nicht zum Schulabschluss, dachte er, Samuel darf nicht betrunken in der Kirche erscheinen.
An dem Tag auf keinen Fall.
Er drehte sich um und schaute zum Kirchturm hinauf. Die Uhr zeigte ihm, dass es höchste Zeit war, nach Hause zu fahren und Kartoffeln zu kochen. Er setzte sich aufs Fahrrad und strampelte los. Auf dem Schotterplatz hinter der Tankstelle teilten sich die Jungen gerade in zwei Mannschaften auf. Mehrere aus Joels Klasse waren dabei. Joel trat fester in die Pedale. Immer musste er das Essen kochen, immer hatte er seine eigene Mutter sein müssen. Und manchmal auch für Samuel.
Wenn er aus der Schule kam, würde er kein Essen mehr kochen. Das konnte Samuel dann selber machen.
Joel trat die Gartenpforte mit einem Fuß auf und ließ das Fahrrad bis zur Hauswand ausrollen. Dann lief er die Treppen hinauf und riss die Küchentür auf.
Und fuhr erschrocken zusammen.
Samuel saß auf einem Stuhl am Küchentisch. So früh kam er selten nach Hause. Wenn er hin und wieder so früh kam, war er entweder krank oder er hatte wieder angefangen zu trinken. Aber er sah nicht betrunken aus. Seine Augen waren nicht rot und die Haare standen ihm nicht zu Berge. Er sah auch nicht besonders krank aus.
Er saß da, sah Joel an und schien verwundert zu sein.
»Was ist?«, fragte Joel. »Wieso bist du schon zu Hause?« Samuel zeigte auf einen Brief, der auf dem Tisch lag.
»Von wem ist der?«
»Zieh die Jacke aus und setz dich hin, dann werde ich’s dir erzählen.«
Joel zog sich die Gummistiefel aus und hängte seine Jacke über die Stuhllehne. Dann setzte er sich. Er war sehr gespannt. Was konnte so wichtig sein an dem Brief, dass Samuel früher als gewöhnlich von seiner Arbeit im Wald nach Hause kam?
Als er sich gesetzt hatte, merkte er, dass Samuel sehr erregt war. Seine Unterlippe zitterte.
»Ich hab einen Brief von Elinor bekommen«, sagte er. »Von ihr hab ich seit zehn Jahren nichts mehr gehört.«
Joel wartete auf die Fortsetzung, die aber nicht kam.
»Wer ist Elinor?«, fragte er, als es lange genug still gewesen war.
»Elinor hatte ein Café in Göteborg«, sagte Samuel, »zu der Zeit, als ich zur See fuhr.«
Joel seufzte lautlos. Vor einigen Jahren hatte Samuel Sara kennen gelernt, die in der Bierstube im Ort arbeitete. Manchmal hatte Samuel bei ihr übernachtet. Aber dann war es zu Ende gewesen. Sara hatte Schluss gemacht. Und Samuel hatte wieder angefangen zu trinken. Jetzt war offenbar ein Brief von einer anderen gekommen, die auch in so einem Café arbeitete. Vielleicht hatte Samuel früher auch bei ihr übernachtet? Aber warum war das wichtig?
Mitunter ist Samuel komisch, dachte Joel. Komisch wie alle Erwachsenen. Sie denken immer rückwärts, wenn sie vorwärts denken müssten. Da kommt ein Brief von jemandem, von dem er zehn Jahre lang nichts gehört hat. Und schon fängt seine Unterlippe an zu zittern. Aber wenn ich ihn frage, wann gehen wir weg aus diesem Nest, wann gehen wir zur See, dann krieg ich keine Antwort.
Joel sah Samuel an und dachte, dass er vielleicht etwas fragen sollte. So tun, als sei er interessiert.
»Was will sie denn?«, fragte er.
»Sie schreibt, dass sie weiß, wo Jenny wohnt.«
Es dauerte eine Weile, ehe Joel begriff, was Samuel gesagt hatte. Dann war es, als ob es ein Erdbeben gegeben hätte. Er fühlte sich durchgeschüttelt, als ob die Erde und das Haus zusammenstürzten.
Eine Frau, die Elinor hieß, hatte einen Brief über Mama Jenny geschrieben. Sie, die verschwunden war und nie mehr von sich hatte hören lassen.
Samuel hatte sich die Brille aufgesetzt.
»Hier steht es«, sagte er. »Jenny wohnt in Stockholm in einer Straße, die heißt Östgötastraße. Im Stadtteil Söder. Und dass sie als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen irgendwo beim Medborgarplatz arbeitet.«
Joel starrte Samuel an. »Weiter steht da nichts?«
Samuel nahm sich die Brille ab. »Da steht, dass sie geheiratet hat.«
»Aber sie ist doch mit dir verheiratet?«
»Wir haben nie geheiratet. Deshalb brauchten wir uns auch nicht scheiden zu lassen.«
Joel war verwirrt. Samuel und Jenny waren nie verheiratet gewesen? Jetzt war er interessiert. Jetzt wollte er alles wissen, was in dem Brief stand. Er streckte die Hand aus. Aber Samuel legte seine schwere Hand auf das weiße Briefpapier.
»Der Brief ist an mich gerichtet«, sagte er.
»Jenny ist meine Mama«, antwortete Joel.
»Aber Elinor hat mir geschrieben. Elinor ist eine Freundin von Jenny. Deshalb hat sie geschrieben.«
Joel versuchte nachzudenken.
»Aber was steht da sonst noch drin?«
»Dass Elinor Rückenschmerzen hat.«
»Steht da nicht mehr über Mama? Auf Elinor scheiß ich doch.«
Joel erschrak. Samuel sah ihn erstaunt an. Joel merkte, dass er Angst bekam. Angst, Samuel könnte wütend werden. Manchmal konnte er plötzlich aufbrausen. Auch wenn er sich selbst nicht immer fein ausdrückte, mochte er es nicht, wenn Joel so redete.
»Elinor ist nett«, sagte Samuel. »Sie hat ihr Leben lang hart gearbeitet. Servieren ist eine schwere Arbeit. Denk dran, was für Schwierigkeiten Sara mit ihren Beinen hatte.«
»Ich hab’s nicht so gemeint«, murmelte Joel. »Aber steht da noch was über Mama?«
»Nichts.«
»Mit wem ist sie verheiratet?«
»Das schreibt Elinor nicht.«
Das Gespräch war zu Ende. Samuel setzte sich die Brille wieder auf und las den Brief noch einmal. Joel konnte an seinen Lippen sehen, wie er langsam Wort für Wort formte. Er versuchte zu begreifen, was eigentlich passiert war.
Zum ersten Mal konnte ihnen jemand sagen, wo Mama Jenny wohnte. Früher, wenn Joel gefragt hatte, hatte Samuel nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass er es nicht wusste.
Plötzlich war alles ganz anders. Mama Jenny hatte eine Adresse und eine Arbeit. Und leider auch einen Mann.
Joel fing an Kartoffeln zu schrubben. Samuel las den Brief zum dritten Mal.
»Kannst du ihn nicht laut vorlesen?«, fragte Joel.
»Der Brief ist an mich gerichtet«, sagte Samuel.
Sie aßen schweigend. Gekochte Kartoffeln und Blutwurst. Die Preiselbeermarmelade war alle.
Die Blutwurst hatte Joel anbrennen lassen.
Nach dem Mittagessen ging Samuel in sein Zimmer. Er stellte das Radio an und legte sich auf sein Bett. Da er die Tür zugemacht hatte, war Joel gezwungen durchs Schlüsselloch zu gucken. Er sah, dass Samuel sich die einzige Fotografie von Jenny anschaute, die er besaß.
Joel ging in sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Wenn Erwachsene über etwas Wichtiges nachdenken mussten, streckten sie sich häufig auf ihren Betten aus. Da er selbst nun bald erwachsen war, sollte er es sich auch langsam angewöhnen. Aber er war viel zu ruhelos. Er sprang wieder auf und guckte aus dem Fenster. Draußen war es immer noch hell. Er versuchte sich das Haus vorzustellen, in dem Mama Jenny wohnte. Dann fiel ihm ein, dass er ja einen Stadtplan von Stockholm besaß. Den hatte er vor ein paar Jahren im Papierkorb auf dem Bahnhof gefunden. Die Frage war nur, wo er ihn gelassen hatte. Er fing an zu suchen. Schließlich fand er ihn ganz hinten im Kleiderschrank. Er nahm ihn mit in die Küche und breitete ihn auf dem Tisch aus. Die Tür zu Samuels Zimmer war geschlossen. Joel hörte Radiomusik. Er bückte sich und spähte noch einmal durchs Schlüsselloch. Samuel hielt immer noch das Foto von Mama Jenny in der Hand. Aber er starrte zur Decke. Joel beugte sich über den Stadtplan auf dem Tisch und versuchte sich daran zu erinnern, was Samuel gesagt hatte. Mama Jenny wohnte in der Östgötastraße. Außerdem arbeitete sie in einem Lebensmittelladen in der Nähe vom Medborgarplatz.
Joel begann mit dem Finger zu suchen. Zuerst fand er den Medborgarplatz. Sein Herz schlug schneller. Es war, als ob Mama Jenny noch wirklicher geworden wäre, nachdem er den Platz gefunden hatte, wo sie arbeitete. Er suchte weiter.
Als er den Finger gerade auf die Östgötastraße legte, öffnete sich die Tür und Samuel kam in die Küche. Joel zuckte zusammen, als ob er mit etwas Verbotenem beschäftigt wäre. Vielleicht wollte Samuel nicht, dass er nach Mama Jennys Straße suchte. Aber Samuel kam zu ihm und stellte sich neben ihn.
»Ich wusste ja gar nicht, dass du einen Stadtplan von Stockholm hast«, sagte er erstaunt.
»Ich hab ihn in einem Papierkorb gefunden«, antwortete Joel. »Ich wollte mal nachsehen, ob diese Elinor auch die Wahrheit schreibt.«
»Sie hat nicht gelogen«, sagte Samuel. »Jedenfalls nicht oft.«
Joel zeigte auf den Medborgarplatz. Und dann auf die Östgötastraße. Samuel ging in sein Zimmer und holte seine Brille. Dann guckte er genau auf den Plan und nickte.
»Dann hat sie es nicht weit«, sagte er. »Von der Östgötastraße, wo sie wohnt, bis zum Medborgarplatz, wo sie arbeitet.«
Plötzlich wusste Joel, dass er unbedingt etwas sagen musste.
»Können wir sie nicht besuchen fahren?«, fragte er. »Jetzt wissen wir doch, wo sie wohnt.«
Samuel setzte sich an den Tisch. Er sah Joel an.
»Meinst du?«
»Vielleicht freut sie sich, wenn wir kommen«, sagte Joel. »Nach all diesen Jahren. Vielleicht möchte sie wissen, wie ihr Sohn aussieht. Jetzt, wo er fünfzehn Jahre alt ist und gute Zensuren gekriegt hat. Jedenfalls in Geografie.«
Samuel sah ihn zweifelnd an.
»Wir können doch mal hinfahren und sie uns ansehen«, fuhr Joel fort. »Durchs Fenster im Laden, in dem sie arbeitet. Mich kann sie ja wohl kaum erkennen. Und du kannst eine Sonnenbrille aufsetzen.«
Samuel fing an zu lachen. Das kam unerwartet. Es kam immer unerwartet. Samuel lachte nicht oft. Er lächelte mehr. Aber lachen? Joel konnte sich kaum erinnern, wann er zuletzt gelacht hatte.
»Du hast natürlich Recht«, sagte Samuel. »Sobald deine Schule zu Ende ist, fahren wir hin.«
Joel fragte sich, ob er richtig gehört hatte. Samuel bemerkte seinen Zweifel sofort.
»Sobald deine Schule zu Ende ist«, wiederholte er. »Ich melde sofort ein paar Tage Urlaub an.«
»Vielleicht sollten wir ihr doch vorher schreiben, dass wir kommen«, sagte Joel.
Samuel dachte nach, bevor er antwortete. Dann schüttelte er den Kopf.
»Sie hat uns ja auch nicht vorher erzählt, wann sie weggehen wollte«, sagte er. »Also brauchen wir ihr auch nicht zu erzählen, wann wir sie besuchen wollen.«
An diesem Abend stand Joel wieder auf, nachdem Samuel zu Bett gegangen war. Er hatte sich nicht ausgezogen, nahm seine Schuhe und Jacke in die Hand und schlich hinaus.
Es war immer noch hell, als er auf den Hof kam. Er schob sein Fahrrad durch die Pforte und fuhr, so schnell er konnte. Er fuhr hinunter zur Brücke, und als er anhielt, war er außer Atem und verschwitzt.
Er hatte Gertruds Haus erreicht. Die nasenlose Gertrud, die in ihrem merkwürdigen Haus in ihrem wilden Garten am Südufer des Flusses wohnte. Joel hatte das Gefühl, dass er ihr alles erzählen musste, was passiert war. Gertrud war seine Freundin. Ihr hatte er einmal von Mama Jenny erzählt, die weggegangen war, als er noch sehr klein war.
Einmal vor langer Zeit war Gertrud operiert worden und die Operation war misslungen. Da hatte sie ihre Nase verloren. Sie hatte nicht viele Freunde. Joel war einer der wenigen.
Als er sein Fahrrad gegen ihren verfallenen Zaun lehnte, kam sie hinaus auf die Treppe. Sie hatte ihn durchs Küchenfenster gesehen.
»Du kommst so selten«, sagte sie.
»Ich hab viel in der Schule zu tun«, antwortete Joel. »Die Hausaufgaben.«
Aber das stimmte nicht. Und sie wussten es beide. Manchmal fand Joel es schwierig, einen Menschen zu besuchen, der keine Nase hatte. Und Gertrud wusste genau, was er dachte.
Manchmal jedoch musste er sie einfach besuchen. Wie jetzt. Manchmal konnte er mit niemand anders reden als mit Gertrud.
Wie jetzt. Wenn eine Mama, die Jenny heißt, plötzlich wieder auftaucht, nachdem sie schon so lange weg war, dass er sich gar nicht mehr erinnern konnte, wie es gewesen war, als sie noch bei ihm wohnte.
Joel folgte Gertrud in die Küche. Dort herrschte ein einziges Durcheinander. Nichts war wie in einer normalen Küche. Aber Gertrud war so. Sie möblierte ihr Haus, wie sie wollte, nähte sich ihre Kleider selbst und kümmerte sich nicht darum, was die Leute von ihr dachten.
Mit ihr würde sich Joel niemals draußen zeigen. Aber hier, spät am Abend in ihrer Küche, konnte er sie treffen. Außerdem konnte er schon für die Zukunft trainieren. Das hatte er gelesen. Dass man, wenn man erwachsen war, sich manchmal im Geheimen mit einer Frau treffen musste.
»Wir fahren nach Stockholm«, sagte er. »Samuel und ich. Wir wollen sie besuchen. Ich bin gespannt, wie sie reagiert.«
Gertrud dachte nach, während sie sich ein neues Taschentuch in das Loch steckte, wo einmal ihre Nase gewesen war.
»Sie freut sich bestimmt«, sagte sie dann. »Das muss sie einfach.«
Aber als Joel später am Abend mit dem Fahrrad wieder nach Hause fuhr, fand er, dass Gertruds Stimme nicht richtig überzeugend geklungen hatte.
Er merkte, dass eine neue kleine Unruhe in seinem Bauch nagte. Wenn Mama Jenny nun einmal weder ihn noch Samuel treffen wollte. Vielleicht wurde sie sogar böse, wenn sie erfuhr, dass Elinor in einem Brief verraten hatte, wo sie arbeitete und wo sie wohnte.
Es war dunkel in der Küche, als Joel nach Hause kam. Die Tür zu Samuels Zimmer war geschlossen. Aber er schnarchte nicht. Wahrscheinlich war er noch wach und dachte über den Brief nach.
Joel ging ins Bett. Er konnte nicht einschlafen, sah sich und Samuel schon eine Straße in Stockholm entlanggehen.
Samuel schnarchte immer noch nicht.
Wir liegen beide wach, dachte Joel. Jeder in seinem Bett. Aber wir denken an dasselbe.
An eine Frau und Mama, die es plötzlich wieder gibt.
Als Joel das Rollo hochzog, sah er, dass es in der Nacht geschneit hatte. Die Erde war ganz weiß.
Er starrte hinaus und konnte es fast nicht glauben.
Es war Anfang Juni. Heute war der letzte Schultag. Sie würden »Geh aus mein Herz und suche Freud’ in dieser schönen Sommerzeit« singen. Und draußen lag Schnee.
Ihm kam ein Gedanke. Ein Gedanke, den er früher noch nie gedacht hatte. Vielleicht war Mama Jenny damals wegen des Schnees weggegangen, der manchmal noch Anfang Juni fiel? Vielleicht hatte sie das einfach nicht ausgehalten? Die Kälte und die Dunkelheit und den Schnee, der noch fiel, obwohl es eigentlich schon Sommer war?
Joel schüttelte missmutig den Kopf. Es war ein großer Tag. Sein letzter Schultag. Und da lag Schnee!
Er zog sich an und ging in die Küche. Samuel hatte schon Kaffee getrunken. Außerdem hatte er sich rasiert. Joel sah ihn erstaunt an. Es geschah sehr selten, dass Samuel sich mitten in der Woche rasierte. Nur wenn er zum Arzt wollte oder in das Büro des Forstamtes gerufen wurde, um sich sagen zu lassen, wo im Wald er arbeiten sollte.
Außerdem hatte er sich sehr ordentlich rasiert. Manchmal rasierte er sich zu Joels Ärger nachlässig. Dann ließ er immer ein paar Bartstoppeln unterm Kinn stehen.
»Heute Nacht hat es geschneit«, sagte Samuel und lächelte. »In dieser Gegend weiß man nie, wie das Wetter wird.«
»Auf jeden Fall weiß man, dass man nicht hier wohnen sollte«, antwortete Joel und gab sich gar keine Mühe zu verbergen, dass er wütend war.
»Ich hab mir heute freigenommen«, sagte Samuel. »Warum das denn?«
»Ich will bei deiner Schulabschlussfeier dabei sein.«
Joel strich sich gerade eins der drei Butterbrote, die er jeden Morgen aß. Er sah Samuel fragend an. Hatte er richtig gehört?
»Warum?«, fragte er.
»Es ist ein großer Tag«, sagte Samuel einfach. »Dein letzter Schultag. Das gehört sich doch so, dass ich dabei bin, oder?«
Samuel war noch nie mit auf einer Schulabschlussfeier gewesen. In den ersten Jahren hatte Joel das nicht gut gefunden. Der Einzige in der Klasse zu sein, von dem nicht ein einziger Elternteil zur Abschlussfeier kam. Dann hatte er sich daran gewöhnt und es war ihm egal. Joel überlegte rasch, was es bedeuten könnte. War es gut oder schlecht? Er beschloss, dass es gut war, da Samuel sich ausnahmsweise ordentlich rasiert hatte. Er merkte, dass es ihn außerdem froh machte. Nachdem der Brief von Elinor gekommen war, hatte sich etwas verändert. Nicht, dass sie jetzt abends immer über Mama Jenny und die Reise redeten, die sie in wenigen Tagen machen würden, aber Samuel wusste, dass Joel an nichts anderes dachte. Und Joel wusste, dass es Samuel genauso ging.
»Du darfst aber erst um zehn kommen«, sagte Joel. »Vorher üben wir noch. Und bereiten den Klassenraum vor.«
Eigentlich hätte er schon gestern Abend Blumen pflücken müssen. Aber das hatte er nicht geschafft. An der Ecke der Kirchstraße und dem Snällmansweg waren zwei Autos zusammengestoßen. Joel war in der Nähe gewesen und hatte neugierig beobachtet, wie sich die beiden Fahrer stritten.
Joel ging zum Küchenfenster und stellte sich auf Zehenspitzen. Unter einem Baum, wohin kein Schnee gefallen war, leuchteten ein paar gelbe Blumen.
Er aß seine Butterbrote und putzte sich die Zähne. Dann fiel ihm ein, dass er wohl sein bestes Hemd und eine andere Hose zum Schulabschluss anziehen sollte. Er musste sich beeilen, wenn er nicht zu spät kommen wollte.
Samuel saß am Küchentisch und sah ihn an.
»Vielleicht sollten wir ein Geschenk mitnehmen«, sagte er.
Joel verstand nicht, was er meinte. Ein Geschenk für wen? Für die Lehrer in der Schule? Dann wurde ihm klar, dass Samuel Mama Jenny meinte. An ein Geschenk für sie hatte er auch schon gedacht.
»Wir müssen was mitnehmen«, sagte Samuel. »Beeil dich jetzt, damit du nicht zu spät kommst.«
Joel polterte die Treppe hinunter. Manchmal konnte Samuel ihn überraschen. Natürlich mussten sie ein Geschenk für Mama Jenny haben.