Die Reise der Wale - Leigh Calvez - E-Book

Die Reise der Wale E-Book

Leigh Calvez

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Beschreibung

Eine fesselnde Erkundung des Lebens der Wale im Pazifischen Ozean Leigh Calvez erforscht als Wissenschaftlerin seit vielen Jahren das Leben der Wale. Hier erzählt sie mitreißend und sehr persönlich die Geschichten dieser Giganten der Tiefsee, darunter familiäre Orcas, weit wandernde Buckelwale oder uralte, tief tauchende Blauwale, die größten Tiere des Planeten. Wir begleiten die Wale auf ihren geheimnisvollen Routen, ergründen ihre Gewohnheiten und Geräusche und kommen ihnen dabei sehr nahe. Die Autorin berichtet sie von ihren Forschungsreisen und den Schlüssen, die sie hieraus ziehen konnte. Ein Buch, das uns staunen und das Leben der Wale verstehen lässt und so unsere Verbundenheit mit der Natur vertieft. Eine spannende Verbindung von wissenschaftlicher Wal-Forschung mit einer sehr persönlichen Erzählebene Das Natur-Sachbuch bietet allen Leser:innen einen interessanten, wissenschaftlich fundierten und gleichzeitig leicht verständlichen Einblick in das Leben und Verhalten von sechs Walarten, darunter Orcas, Buckelwale, Pottwale, Blauwale und Grauwalen, aber auch unbekanntere, wie der Blainville-Schnabelwal oder der Kleine Schwertwal. Wir verfolgen das Leben dieser Tiere und begleiten sie auf ihren geheimen Routen durch die Ozeane. Dabei lernen wir ihre Gewohnheiten kennen, ihre Geräusche und Gesänge, ihre Bewegungsmuster an der Meeresoberfläche und die Besonderheiten, die sie voneinander unterscheiden. Wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig verständlich erfahren Leser:innen viel Neues zu den Meeresgiganten und ihrer Lebenswelt der Ozeane. Die persönlichen Erzählungen der Autorin lockern die wissenschaftlichen Informationen auf und machen den Inhalt zugänglich und emotional. Ihre Faszination für diese atemberaubenden Tiere ist auf jeder Seite spürbar. Leigh Calvez hat ein Buch geschrieben für alle, die sich für die großen Meeressäugetiere interessieren, die Faszination für sie verstehen sowie Näheres über die Kommunikation und das Verhalten von Walen erfahren wollen.

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meine Tochter Ellie

Titel der Originalausgabe: The Breath of a Whale

Erstmals erschienen in englischer Sprache bei Sasquatch Books

Copyright Text © 2019 Leigh Calvez

Copyright Layout und Design © 2019 Sasquatch Books

All rights reserved.

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2024 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Projektleitung: Pia Clemente, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Maria Zettner, Korschenbroich

Lektorat: Dr. Julia M. Nauhaus, Lübeck

Gestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagadaption: Fabian Arnet, Knesebeck Verlag

Illustration Cover: dreamstime.com, Alena Fayankova

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN 978-3-95728-844-8

Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich:

eBook (epub): ISBN 978-3-95728-863-9

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen über die Autorin

Impressum

INHALT

PROLOG

Die Lektion der Delfine

AM ANFANG

Buckelwale (Megaptera novaeangliae)

AUF DER SUCHE NACH RIESEN

Blauwale (Balaenoptera musculus)

FAMILIE

Orcas (Orcinus orca)

IN TIEFEN GEWÄSSERN

Kleine Schwertwale (Pseudorca crassidens) und Blainville-Schnabelwale (Mesoplodon densirostris)

DIE WÜSTENWALE

Grauwale (Eschrichtius robustus)

Epilog

Ein Vergleich der Größenverhältnisse

Dank

Glossar

Bibliografie

Walforschung und Walschutz

Über die Autorin

VORBEMERKUNGDER AUTORIN

 

Dieses Buch ist kein Lehrbuch, auch wenn es Informationen über die größten Säugetiere der Welt enthält. Einige ihrer Geschichten habe ich selbst miterlebt. Es ist daher auch ein bisschen meine eigene Geschichte. Ich hoffe, die Lektüre macht allen Lesern und Leserinnen Freude.

PROLOG

 

DIE LEKTION DER DELFINE

Ich schwamm durch das warme, klare Wasser mitten hinein in die Kealakekua-Bucht auf Hawaiis Leeseite. Auf dem geriffelten Sand unter mir tanzten Regenbogen aus gefiltertem Sonnenlicht. Um mich herum hallten Delfinlaute wider, und mit jedem neuen Schwimmzug stieg meine freudige Erwartung. Ich wollte etwas von ihnen. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, so ein Leben als Delfin im Meer. Andererseits wollte ich sie an dem einen Ort, an dem sie sich in Ruhe erholen konnten, auch nicht mit meinen menschlichen Bedürfnissen belasten. Würde ich ihr Verhalten richtig deuten? Und war es eine günstige Zeit, um mit ihnen zu schwimmen? Wieder einmal schämte ich mich dafür, ein Mensch zu sein. Wir machen ihnen das Leben so schwer, lassen sie als Beifang in Fischernetze geraten, rauben ihnen ihre Nahrungsquellen, ruinieren die Meere mit Giftstoffen und Lärm. Ich spielte schon mit dem Gedanken, zurück zum Strand zu schwimmen. Und dann sah ich sie.

Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, ich erinnere mich nur an die Mutter und ihr Kalb – zwei wunderschöne dreifarbige Delfine. Die Mutter hatte einen schlanken Körper und war oben von der langen, schmalen Schnauze bis zur Schwanzflosse von einem schiefergrauen Cape eingefärbt. Ein blassgrauer Streifen schmückte ihre Seite von der Stirn bis zur Schwanzflosse, und ihr weißer Bauch glänzte. Quer über die Augen zog sich über ihr Gesicht eine dunkelgraue Maske von Flosse zu Flosse. Ein sanftes, hintergründiges Lächeln machte sie gewissermaßen zu einer Madonna des Meeres. Das Kalb, eine Miniaturausgabe seiner Mutter, war noch ein wenig pummelig vom Babyspeck. Als die Mutter ihr Junges zwischen uns schwimmen ließ, hatte ich das sichere Gefühl, dass sie sich nicht von mir bedroht fühlte.

Während meine Beklommenheit ehrfürchtigem Staunen wich, rückte die Mutter, das Kalb im Schlepptau, langsam näher an mich heran. Der Rest der Schule hatte sich inzwischen entfernt, und ich war allein mit den beiden. Sie sah mir in die Augen und begann mich zu umkreisen, ihr Kalb immer noch zwischen uns. Ich bewegte mich behutsam durch das Wasser, um sie nicht zu erschrecken, und drehte mich auf die Seite, damit ich Mutter und Kind besser beobachten konnte. Du hast ein wunderschönes Baby, sagte ich lautlos und unterdrückte ein Lächeln, sonst wäre Meerwasser in meine Schnorchelmaske gelaufen. Stellte sie jetzt mir ihr Kalb vor oder mich dem Kalb? Ich spürte die Anspannung, die sich einstellt, wenn das Herz nichts mehr fassen kann. Ich blinzelte die Tränen weg.

Ich ermahnte mich, Luft zu holen. Mit den tiefen Atemzügen beruhigte sich mein Körper allmählich wieder, und ich trieb, förmlich im Meer schwebend, neben den Delfinen her. Mein Kopf stellte sein beharrliches Denken ein und wurde still wie bei einer Meditation. Da hörte ich eine Stimme in meinem Herzen sagen: Schäme dich nicht dafür, ein Mensch zu sein. Ihr seid die Hüter.

Erschrocken atmete ich weiter tief ein und aus. Dieser Gedanke war mir noch nie von allein gekommen. Ich spürte, wie die warmen Ozeanwellen über meinen Rücken spülten. Die Mutter hielt ihren Blick unverwandt auf mich gerichtet, während ich gebannt blieb von ihrem sanften, vielsagenden Lächeln. Es war, als wäre sie sich ganz sicher, dass ich das Richtige tun würde – als Beschützerin. Und geleitet von so etwas wie einem Urinstinkt, erlaubte ich es mir, mein Menschsein und meinen Platz in der Welt anzunehmen.

Noch einmal umkreisten mich Mutter und Kind, und wir schwammen Seite an Seite weiter, während ich zusah, wie sich das mollige Kalb dicht hinter der Flosse seiner Mutter in Reisestellung begab. Und dann war, so unvermittelt, wie sie den Kontakt hergestellt hatte, unsere Begegnung vorüber. Ich sah die beiden im blaugrauen Dunst des Meeres versinken.

Seit diesem Kontakt habe ich noch oft über die Botschaft Ihr seid die Hüter nachgedacht. Jahrelang habe ich die Bedeutung für mich selbst und für andere Menschen ausgelotet. An einem Punkt wurde mir klar, dass ich als Delfinforscherin sozusagen ihre Interessensvertreterin war. Ich erforschte sie, um zu ihrem Schutz beizutragen. Als Hüterin empfand ich eine Verantwortung, das, was ich über ihr Dasein und ihre Lebensweise herausgefunden hatte, mit anderen zu teilen. Über den ersten Teil der Botschaft, Schäme dich nicht dafür, ein Mensch zu sein, hatte ich jedoch nie richtig nachgedacht – bis jetzt.

AM ANFANG

 

BUCKELWALE (Megaptera novaeangliae)

Das Leben des Buckelwals besteht aus Extremen. Als eins der größten Säugetiere im Ozean kann sein wuchtiger schiefergrauer bis schwarzer Körper mehr als dreizehn Meter lang werden, also länger als ein Linienbus. Ein Buckelwal von etwa dreißig Tonnen (bzw. 30 000 Kilogramm) wiegt so viel wie fünf Afrikanische Elefanten, die größten Landtiere. Mit seinen knapp fünf Meter langen Brustflossen, die er ausstreckt wie ein Adler seine Flügel, gleitet der Buckelwal elegant durch die Meere. Diese Flossen sind die längsten unter den Cetacea – der wissenschaftlichen Ordnung, die Wale, Delfine und Tümmler umfasst. Der wissenschaftliche Gattungsname des Buckelwals, Megaptera novaeangliae, bedeutet so viel wie »der mit den großen Flügeln aus Neuengland«. Im Gebiet von Neuengland sind diese langen »Flügel« weiß und leuchten in den planktonreichen Gewässern des Nordatlantiks grün. Im Pazifischen Ozean dagegen haben die Flossen oben eher die gleiche schiefergraue Färbung wie der Buckelwalkörper und sind nur unten weiß. Die Schwanzflosse eines Buckelwals ist ungefähr so breit, wie ein kleines Auto lang ist, während die Unterseite ein einzigartiges Schwarz-Weiß-Muster aufweist, das wie ein Fingerabdruck eine problemlose individuelle Identifikation ermöglicht.

Buckelwale sind Bartenwale. Das bedeutet, anstelle von Zähnen haben sie 270 bis 400 etwa einen Meter lange Platten aus Keratin, der Substanz, aus der auch unsere Fingernägel bestehen. Jede der vom Gaumen des Buckelwals herabhängenden Barten hat auf der Innenseite Fransen, die ein wenig an kitschige Lampenschirme erinnern. Mit ihrer Hilfe fängt der Wal seine Nahrung ein. Da der Buckelwal aus der Familie der Furchenwale innerhalb der Gruppe der Bartenwale stammt, weitet sich sein Maul wie ein Akkordeon, wenn er mit den bis zu 36 Falten (Furchen) in seiner Kehle seine Beute verschlingt. Buckelwale ernähren sich, indem sie schluckweise Fische samt Wasser aufnehmen. Anhand eines aufgequollenen Walkadavers schätzte man zu früheren Zeiten, dass das Maul eines Buckelwals mehr als 60 000 Liter fassen könne. Heute geht man allerdings im Allgemeinen von knapp 19 000 Litern aus. Mit seiner kräftigen Zunge presst der Buckelwal das Wasser durch die Bartenplatten wieder hinaus, und im Meer ansässige Kleinstlebewesen bleiben zurück. Die knappe Tonne, die ein Wal am Tag für seine Ernährung braucht, setzt sich zusammen aus dichten Schwärmen winzigen Krills von der Größe einer Büroklammer, Junglachsen, Sandaalen, Heringen und Anchovis.

In den Sommermonaten fressen sich die Buckelwale in den nördlichen Breiten ihres Aktionsradius satt, bevor sie auf ihren alljährlichen Ausflügen nach Hawaii und Mexiko ganz ohne Nahrung auskommen. In nur dreißig Tagen schwimmen sie die knapp 5000 Kilometer für die eine Sache, die ihnen wichtiger ist als ihr Futter: Sex und ein Ort, an dem sie gebären können. Während in den folgenden vier bis sechs Monaten die Männchen miteinander um Gefährtinnen kämpfen und die Weibchen ihre knapp eine Tonne schweren Jungen zur Welt bringen und säugen, können die erwachsenen Buckelwale bis zu dreizehn Tonnen an Körpergewicht verlieren. Die klaren tropischen Gewässer haben den Walen so gut wie nichts an Nahrung zu bieten.

Meinen ersten Buckelwal bekam ich beim Whalewatching vor der Küste von Gloucester in Massachusetts zu Gesicht, als sich die Wale in ihren Nahrungsgründen für ihre Winterwanderung rüsteten. Es war ein herrlicher Sommertag Ende Juni 1992. Über der Stellwagen Bank vierzig Kilometer östlich von Boston herrschte ein ruhiger Seegang. Ich saß mit meinem damaligen Mann, Van Calvez, auf dem Oberdeck und genoss die kühle Meeresbrise, während ich meinem ersten Wal entgegenfieberte. Alle Fakten, die uns der Meeresbiologe auf der langen Fahrt zu dem Unterwasserplateau über Wale erläuterte, sog ich begierig in mich auf. Dann zog sich die Zeit hin. Ich versuchte, mich zu entspannen, den Wellen zuzusehen und mich an dem für ein Landkind aus Ohio eher ungewöhnlichen Ozeanabenteuer zu erfreuen. Doch ich rutschte auf der harten Bank herum und hatte Mühe, mich zu beherrschen. Dieser Ausflug zum Whalewatching war die Erfüllung eines Traums. Und dennoch konnte ich kaum glauben, dass es überhaupt möglich sein würde, einen Wal zu sehen. Vielleicht war es ja doch nur ein Mythos, der durch meinen Kopf spukte.

Als jemand rief: »Blas!«, sprangen alle auf und liefen auf diese Seite des Boots. Ich suchte das Wasser ab, hatte aber keine Vorstellung davon, wonach ich eigentlich Ausschau hielt. Der Meeresbiologe hatte von der Nebelfontäne aus dem Atem des Wals gesprochen. Aber wo war sie? Ich konnte nichts erkennen. Ich blickte auf die anderen um mich herum. Auch sie schienen noch zu suchen. Wo war der Wal denn nun?

Dann blies er ein weiteres Mal – einen kräftigen Atemzug, wie wenn man an einem kalten Tag seinen Atem sieht. Und da war er endlich, gemächlich und lautlos schwamm er durchs Wasser. Mein erster Wal! Vor Aufregung kribbelte es in meinem Bauch, und das Herz schlug mir bis zum Hals. In aller Eile prägte ich mir jedes Detail ein, falls dies mein einziger flüchtiger Anblick bleiben sollte. Ich hakte »einen Wal sehen« auf der Checkliste in meinem Gehirn ab, weil ich es für ein einmaliges Erlebnis hielt, und packte die kalte Stahlreling auf dem Oberdeck des Boots.

Als der fünfzehn Meter lange Wal auf das Boot zu glitt, dachte ich: Das Tier sieht nicht mal echt aus. Auf den beiden Seiten fielen mir die langen weißen Brustflossen auf, die durch das Wasser grün schimmerten. Als der Wal noch näher herankam, konnte ich den kräftigen Atem hören. Es klang wie eine gedämpfte Explosion, gefolgt von einem hohen Heulton, wie wenn ein Reifen gefüllt wird. Tief in meinem Innern fühlte ich mich von einer uralten Weisheit berührt. Ich erkannte, dass diese gigantischen Tiere mich etwas lehren konnten. Millionen winziger Nebeltröpfchen regneten um den Wal herum als sanfter Schauer auf das ruhige Meer hinab. Ein wohliges Empfinden von Frieden überkam mich, und ich konnte mich entspannen.

Der Wal holte noch einmal Luft, wölbte seinen Rücken und hob in einer einzelnen anmutigen Bewegung die Schwanzflosse (Fluke) aus dem Wasser, bis sie senkrecht zur Wasseroberfläche stand. Ich konnte den einzigartigen »Fingerabdruck« auf der Unterseite der Flosse sehen. Ehrfürchtig sah ich zu, wie dieser Koloss in den Tiefen verschwand, in die ihm nur meine Fantasie noch folgen konnte.

An diesem Tag waren mehrere Wale unterwegs. Ich war von allen wie gebannt und folgte jeder ihrer Bewegungen. Auf der Rückfahrt zum Hafen von Gloucester schienen alle an Bord beflügelt. Während die Sonne mein Gesicht erwärmte, ließ ich im Geiste noch einmal unsere erste Sicht auf den Wal Revue passieren. Ich hatte miterlebt, wie erwachsene Männer sich so lebhaft gebärdeten wie kleine Kinder. Ich hatte eine Mutter ihrer Tochter etwas zuflüstern sehen. Dann sah ich das Mädchen lächeln, während es aufgeregt hochsprang und auf den Wal zeigte.

Jetzt lachten die Leute und erzählten einander, wie ihnen zumute gewesen war, als der erste Wal auftauchte.

»Haben Sie ein gutes Bild bekommen?«, erkundigte sich ein Mann mit zwei Kindern bei der Frau neben ihm.

»Nein, ich habe meine Kamera oben liegen lassen. Aber ich werde es niemals vergessen«, erwiderte sie.

Ich konnte es zwar nicht erklären, aber mir schien es, als würden Wale die Menschen freundlicher machen. Ich lächelte in mich hinein. Ich hatte nicht erwartet, dass mich mein erster Blick auf einen Wal so bewegen würde.

Als ich mich in dieser Nacht schlafen legte, spürte ich immer noch das sanfte Schaukeln des Boots. Ich fiel in einen Halbschlaf und war wieder auf dem Meer. In diesem Niemandsland zwischen Wachsein und Traum brach mit einem Mal ein dunkler Schatten durch die Wasseroberfläche. Ein Wal sprang aus dem Ozean heraus und verdeckte den Himmel. Wasser strömte von seinem Körper herunter, während er sich wie in Zeitlupe im Uhrzeigersinn drehte, die langen Flossen ausgebreitet wie die Arme eines Tänzers. Weiß und schäumend entlud sich das Wasser, als der gewaltige Körper zurück ins Meer krachte und mit seiner Wucht mein unbedeutendes Alltagsleben erschütterte. Neue Möglichkeiten eröffneten sich.

Meine Augen sprangen auf. Gerade hatte ich das Breaching eines Wals erlebt! Mit klopfendem Herzen setzte ich mich auf. Ein Energieschub strömte durch meinen Körper, vom Kopf bis in die Zehen, und ich fiel zurück auf mein Kissen. Während ich von dem Schock noch schwer atmete, bemühte ich mich, aus dem, was gerade geschehen war, schlau zu werden. Mein Herz wurde ruhiger, und ich ließ das erstaunliche Bild immer wieder vor meinem geistigen Auge ablaufen.

Solche lebhaften Träume im Zustand des Halbschlafs waren mir nicht unbekannt. Meist gingen sie zurück auf ein Erlebnis an dem entsprechenden Tag, aber diesmal war es anders. Das Bild von dem Wal-Breaching hatte bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, als wäre die Macht des Tiers über mich hinweggespült, wie eine Welle, die mich auf eine neue Ebene beförderte. Ich fühlte mich wie verwandelt von der Erscheinung eines dieser überirdischen Meeressäuger. Bis dahin, so wurde mir bewusst, hatte ich mein Leben wie in Trance gelebt. Ein Grizzlybär hätte nicht ausgereicht. Es musste schon ein Wal sein – mit all seiner Macht und Majestät inmitten seines ozeanischen Königreichs –, um mir neue Möglichkeiten für mein Leben zu eröffnen, mich zu Größerem zu berufen.

Aus reiner Neugier schaute ich die spirituelle Bedeutung des Wals in dem Buch Animal Speak. Krafttiere in deinem Leben von Ted Andrews nach, das die Symbolik der Tiere in unserem Leben erläutert. Ich erfuhr, dass Wale für Kreativität, die Wirkmacht des Gesangs und die Aktivierung innerer Stärke stehen. Damals konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr die Wale mein Leben beeinflussen würden. Was ich allerdings wusste, war, dass ich alles, was es über diese Tiere zu wissen gab, in Erfahrung bringen wollte.

Es dauerte neun Monate, bis ich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Wir zogen von Ohio, wo ich meine gesamte Kindheit verbracht hatte, nach Newport, Rhode Island. Ich nutzte jede sich bietende Gelegenheit zum Whalewatching. Erfüllt von Begeisterung und Energie für mein neues Leben mit den Walen sicherte ich mir einen Praktikumsplatz am Plymouth Marine Mammal Research Center. Zu meinen Aufgaben gehörte das Zusammentragen von Verhaltensdaten von Whalewatching-Booten aus. Ich unternahm von Plymouth, Massachusetts, aus Exkursionen auf den Captain-John-Booten und saugte so viele Informationen wie möglich von den erfahrenen Meeresbiologen an Bord auf. Ich blieb lange genug dabei, um am Ende als Naturforscherin eingestellt zu werden – mein Traumjob.

Von da an war ich in der Welt der Wale zu Hause, arbeitete als Naturforscherin, nahm an Seminaren und Konferenzen teil, wo ich Walforscher und Fotografen traf, las Bücher über Wale und die Experten, die mit ihnen arbeiteten, und eignete mir einfach alles, was ich konnte, über das Leben der Wale an. Ich fing an, mich wie eine Wissenschaftlerin zu verhalten, und hielt mit meinem Interesse an der Metaphysik der Wale hinterm Berg, um nicht verspottet zu werden für meinen Glauben an »andere Wege der Erkenntnis«.

Im Januar 1995 nahm ich dann, während eines Hawaii-Urlaubs, an der Whales Alive-Konferenz auf Maui teil, an einem Ort, an dem man Buckelwale vom Strand aus sehen kann – kurzum, ein Walparadies. Auf der Konferenz lernte ich Marsha Green kennen, eine Psychologie-Professorin am Albright College in Reading, Pennsylvania, die viele meiner metaphysischen Überzeugungen teilte. Sie hatte das Ocean Mammal Institute (OMI) gegründet, um die Auswirkungen von Schiffsverkehr und von Menschen verursachtem Lärm auf Buckelwale in ihren Kalbgründen zu untersuchen. Als die Studie im Winter 1996 begann, nahm ich eine ehrenamtliche Stelle als Forschungsleiterin beim OMI an.

Ich verbrachte viele glückliche Forschungstage in einem klapprigen Gartensessel in der prallen Sonne auf dem Olowalu-Berg südlich von Lahaina an Mauis Nordwestküste. In weißem T-Shirt, Shorts und Baseballkappe und mit Sonnenmilch Faktor 15 auf allen entblößten Stellen, saß ich mit einem Fernglas vor den Augen da und suchte das blaue Wasser im Auau-Kanal zwischen Maui und Lanai nach Buckelwalen ab. Aus der Perspektive, die uns unsere erhöhte Position bot, und mithilfe von Ferngläsern waren die Wale deutlich auszumachen, wann immer ein Atemzug die Wasseroberfläche durchbrach. Es war faszinierend, das Verhalten der Schulen von Müttern mit ihren neugeborenen Kälbern, ausgewachsene Tiere, allein oder als Paar, und auch die heftigen »Heat Runs« zu beobachten, wenn rasende, blutige Bullen im Wettstreit um eine bestimmte Kuh miteinander raufen.

Ich bildete Gruppen von Praktikanten im Collegealter dafür aus, diese Fokusschulen in Vier-Stunden-Schichten für unsere Studie zu beobachten. Jedes Team bestand aus zwei Spottern zur Aufspürung der Wale und Erfassung ihrer Verhaltensweisen, jemandem, der mithilfe eines Theodoliten, ein für die Walforschung umfunktioniertes Vermessungsinstrument, die Wanderrouten nachvollzog, sowie einer Person, die alle gesammelten Daten (Verhalten, Routen und Zeiten) aufschrieb. Sobald unser Team für den Tag instruiert und ausgerüstet war, suchten wir uns eine Walherde aus und dokumentierten ihr Verhalten.

Es war an einem Nachmittag im Januar, während der Ausbildung einer neuen Gruppe. Ich konzentrierte mich auf eine freie Stelle im Ozean und wartete darauf, dass die Wale, die ich soeben gesehen hatte, wieder an die Oberfläche kamen. »Also schön, was haben wir?«, fragte ich.

»Mutter und Kalb auf 90.38, 2 55.54«, nannte der Theodolit-Bediener die Koordinatenangaben für die Position der Wale.

»Verstanden«, rief die Datenprotokollantin.

»Keine Boote in Sicht«, vermeldete der zweite Spotter.

»Gut. Versuchen wir, dieser Schule mindestens eine Stunde lang zu folgen«, sagte ich mit einem Lächeln. Ich war begeistert, eine Mutter mit Kalb so nah am Ufer beobachten zu können.

Wenn erst die Einweisung vorüber war und das Experiment begonnen hatte, würde ich die schwere Entscheidung treffen müssen, ob wir eine solche Schule überhaupt in die Studie aufnehmen durften. Zur Studie gehörte, dass wir während einer fünfzehn bis zwanzig Minuten langen »Vor-dem-Boot«-Phase alle Verhaltensweisen und Positionen verzeichneten. Dann würden wir eins unserer Boote anfunken, damit es bis zu hundert Meter heranrückte und auf die Wale »einwirkte« beziehungsweise sie belästigte. In der fünfzehn- bis dreißigminütigen »Nach-dem-Boot«-Phase würden wir weiter Positionen und Verhalten dokumentieren, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Wenn ich eine Mutter mit ihrem Kalb auswählte, würde ich die Mutter-Kind-Bindung während der entscheidenden frühkindlichen Phase gefährden. Heute aber, in der Trainingseinheit, konnten wir dem intimen Umgang von Mutter und Kalb zuschauen, ohne sie zu stören.

»Blas«, riefen der zweite Spotter und ich gleichzeitig, als unsere Schule an die Oberfläche zurückkehrte.

»Baby-Flossenklatschen«, riefen wir. Das Kalb spielte auf dem Wasser und planschte mit seinen Flippern im Babyformat, während die Mutter sich unmittelbar unter ihm aufhielt.

»Baby Breach!«, meldeten wir als Nächstes, als das Kalb sein Spiel fortsetzte.

»Baby Breach!«, riefen wir, als es wieder zum Sprung ansetzte.

»Breach!«, brüllten wir wie mit einer Stimme, als die Mutter ihren vierzig Tonnen schweren Körper vollständig aus dem Wasser beförderte wie ein Lachs, der aus einem Fluss springt. Sie landete mit einem misstönenden Platscher, der kurz darauf an unsere Ohren drang wie ein Feuerwerk aus der Ferne. Das Herz klopfte mir vor Begeisterung bis zum Hals bei diesem atemberaubenden Anblick, als die Mutter noch einmal gemeinsam mit ihrem Kind sprang. Ich konnte mich niemals sattsehen an diesem Naturschauspiel, dem Breaching eines Buckelwals. Ich lächelte, während die Praktikanten jubelten und applaudierten.

Wir hielten das Verhalten der beiden weiter gewissenhaft fest und riefen »Fluke oben!« oder »Peduncle arch«, die Bezeichnung für einen Sprung, bei dem der Wal seine gewaltige schwarz-weiße Schwanzflosse zeigt oder einfach nur seinen grauen Rücken wölbt und abtaucht. Am amüsantesten anzusehen sind die Aktionen an der Wasseroberfläche, etwa der »tail throw«, wenn ein Wal seine Schwanzflosse aus dem Wasser wirft »flipper slap« und »tail slap«, bei dem er seine fünf Meter langen Brust- oder Schwanzflossen aufs Wasser knallt, und schließlich das Breaching, wie es diese Mutter getan hatte.

Am Ende kam bei unserer Studie heraus, dass Buckelwale vor lauten Booten – mit Motorenlärm ab 120 Dezibel – eilends die Flucht ergreifen, wie vor unserem Forschungsschlauchboot mit Namen Spyhop. Des Weiteren lernten wir, dass Wale sich »verbergen«, indem sie längere Tauchgänge um leise Boote wie Segelboote herum unternehmen, als wollten sie ergründen, wo sich die Boote befinden und wohin sie unterwegs sind.

Ein anderes Mal befand ich mich auf dem Wasser, um zu Saisonbeginn Spyhops Seetauglichkeit zu testen, bevor wir das Schiffskommunikationsexperiment starteten, für das ich die Praktikanten anlernte. Das brachte es mit sich, dass wir uns an einem der großen Vorzüge der Walforschung erfreuen konnten, dem gelegentlichen Schnorchelabenteuer.

»Es ist heiß hier draußen. Wie wär’s mit Schwimmen in Turtle Town?«, schlug Ted Plume vor, ein professioneller Fotograf mit Kapitänspatent und ehrenamtlicher Walforscher.

»Ja«, riefen Leslie und ich einstimmig. Leslie Steger, Massagetherapeutin und Hebamme, war ebenfalls als Freiwillige dabei.

»Festhalten«, schrie Ted über das Dröhnen des Motors hinweg, während er in die Vollen ging und uns auf dreißig Stundenkilometer brachte – ein ziemliches Tempo für ein kleines offenes Boot mitten im Pazifik. Sobald wir auf die kleinste Welle trafen, fiel mir auf, dass sich der Boden aus Aluminiumplatten zwischen den Lötstellen bog. Aber es war ein windstiller Tag, und wir kamen problemlos vorwärts. Später machte ich dann die Erfahrung, wie sehr jegliche Fahrt mit der Spyhop in allem, was über eine ruhige See hinausging, die Knochen durchrütteln konnte.

»Sie scheint gut zu laufen!«, schrie Leslie, während wir so dahinrauschten.

Als wir uns Turtle Town näherten, suchte ich das Wasser nach Walen ab und sah zu, wie das Ufer immer weiter heranrückte. Eine Krone aus Wolken, ähnlich dem Kopfschmuck einer Hula-Tänzerin, hing über dem Haleakala, dem Vulkan, der sich etwa 3000 Meter über dem Meeresspiegel vor uns erhob. Ich spürte die warme Brise auf meinem Gesicht und genoss ihre sanfte Berührung – ein gewaltiger Kontrast zu der Situation, in der ich mich genau ein Jahr zuvor befunden hatte: bekleidet mit einem roten Überlebensanzug auf einem Forschungsschiff bei der Walzählung im Nordatlantik, wo der Wind einem nicht so wohlgesonnen ist. Ein Schauer überkam mich.

Bei der Anfahrt auf Turtle Town wurden wir langsamer und manövrierten mit gedrosselter Geschwindigkeit an eine Stelle, die frei war von Touristenbooten und anderen Schnorchlern. »Da wären wir«, verkündete Ted und holte mich damit zurück in die Wärme der Tropen. »Gehst du rein?«

»Und ob!«, erwiderte ich, zog mich bis auf den Badeanzug aus, streifte mir die Flossen über und ließ mich über die Bootsseite ins Meer gleiten. Warmes Wasser umfing mich wie eine Decke und war doch wohltuend kühl auf meiner Haut. Ich rückte meine Schnorchelmaske zurecht und bekam Salzwasser in den Mund, als ich mir den Schnorchel hineinsteckte. Und dann tauchte ich ein in die Zauberwelt der Korallenriffe. Durch den dünnen blauen Schleier des Meerwassers sah ich in dem Wald baumartige Hirschkorallen wachsen, dazwischen überall felsbrockengroße Hirnkorallen und gelbe Fächerkorallen, die sich sanft in der Strömung wiegten. Unzählige blaue, gelbe und orange Minifische sausten in den schützenden Wald hinein und wieder heraus, während größere schwarz-gelb gestreifte Segelflosser und clowneske Diamant-Picassodrückerfische mit leicht gespitzten Fischmäulern vorüberschwammen.

Als ich an die Oberfläche zurücktrieb, hörte ich von fern ein Geräusch. Es war beharrlich, so, als würde jemand meinen Namen rufen. »Leigh, Leigh …«

Ich hob den Kopf aus dem Wasser und sah Leslie winken.

»Meeresschildkröte«, rief sie und zeigte aufs Wasser. Ich bewegte mich näher heran und sah eine grüne Schildkröte vor blauem Hintergrund.

»Cool«, bemerkte ich in dem knappen Gesprächsstil von Schnorchlern, die sich möglichst schnell wieder ihrem Geschäft widmen wollen. Ich ließ mich im Wasser treiben und sah zu, wie nur etwa sechs Meter entfernt die Schildkröte leicht mit ihren grünen Flügeln schlug. Ihr Panzer und ihr Gesicht schienen im Sechseckmuster zerfurcht zu sein. Ich konnte ihre großen schwarzen Augen erkennen und erahnte ihre lange Abstammungslinie. Gemächlich trieb sie an die Oberfläche, öffnete ihre beiden Nasenlöcher und holte Luft. Dann tauchte sie ab und begab sich langsam wieder in die Tiefe. Ich atmete tief ein und folgte ihr die ersten zwei Meter weit.

Während sie davonschwamm, hörte ich weiter weg einen Laut. Leslie muss mich zum Boot zurückgerufen haben, dachte ich.

»Hast du das gehört?«, fragte Leslie, nachdem ich aufgetaucht war und Luft geholt hatte.

»Ja, ich dachte, du hättest mich noch mal gerufen.«

»Ich geh wieder runter«, erklärte sie, schob sich das Mundstück ein und tauchte ab.

Ich folgte ihr und bemühte mich, reglos zu schweben und angestrengt zu lauschen, während mein Körper an die Oberfläche drängte. Ein tiefes Stöhnen, gefolgt von einem hohen Heulton drang leise an meine Ohren. Leslie bekam große Augen.

»Wale!«, schrie sie, während wir aus dem Wasser schossen.

»Ich habe sie noch nie gehört!«, entgegnete ich skeptisch. Ich hatte immer davon geträumt, hautnah Wale im Ozean singen zu hören. Wir tauchten wieder ab. Dieses Mal behinderte mich das ärgerliche Blubb-blubb meines Schnorchels, in den Meerwasser lief, was mich wertvolle Hörzeit kostete. Ich wartete, hörte jedoch nur ein Konzert aus leisen Klicks von Tausenden winziger Meeresbewohner. Dann vernahm ich ein fernes Ächzen, Heulen und Grollen. Ich hastete an die Oberfläche für einen dringend benötigten Atemzug.

Ein Wusch, wie der Atemzug eines Delfins, erklang aus meinem Schnorchel, als ich Wasser aus dem Schlauch presste, um dahinter Luft holen zu können, bevor ich wieder abtauchte. Ich beugte meinen Körper nach unten, wie ich es bei den Walen gesehen hatte, und stieß meine Flossen besonders kräftig in die Höhe. Indem ich einen Delfin nachahmte und rhythmisch die Hüften bewegte, glitt ich problemlos in drei Meter Tiefe hinunter. Der Druck der Wassertiefe lastete auf meinen Ohren, und ich flachte ab und blieb bei meinem Delfinkick. Und wieder wurde ich von Walgesang eingehüllt. Ich bewegte mich langsam und lauschte, indem ich meinen Körper an die Klangwelle anpasste, während tiefe Jauchzer, gefolgt von langen Trillern, um mich herumtanzten. Ich blieb, solange ich konnte, und horchte hinein in die Welt der Wale, bevor ein zunehmendes Brennen in meiner Lunge mich an die Oberfläche zwang.

»Hab’s wieder gehört!«, sagte ich zu Leslie, als wir uns über dem Wasser trafen. »Er ist allerdings ziemlich weit weg.«

»Wollen mal sehen, ob wir nicht näher ran können«, sagte Leslie und schwamm in Richtung Boot. »Wir haben Wale gehört«, schrie sie, als Ted uns bemerkt hatte. Minuten später hielten wir vom Boot aus am Horizont nach den wogenden Fontänen von Buckelwalen Ausschau, während wir ein weiteres Mal die ruhige Wasseroberfläche durchpflügten.

Im Jahr 1967 nahm Roger Payne, einer der frühen Pioniere in der Walforschung, den Walgesang auf, der die Welt auf den Kopf stellte. Ein Jahr zuvor hatte Payne, ein Bioakustiker, der bis dahin zu Fledermäusen und Eulen geforscht hatte, von dem Tontechniker Frank Watlington eine Tonaufnahme bekommen. Watlington hatte bei dem Versuch, vor der Küste von Bermuda Aufnahmen von Dynamitexplosionen unter Wasser zu machen, Geräusche eingefangen, die er nicht zuordnen konnte. Sie entpuppten sich als Gesänge von Buckelwalen während ihrer Paarungszeit im Nordatlantik. Payne hörte sich die Aufnahme wieder und wieder an und stellte fest, dass sie sich wiederholte.

In Buckelwalgesängen sind alle Noten, Phrasen und Themen enthalten, die ein echter Komponist verwenden würde. Die Gesänge gehören zu den komplexesten Klängen im Tierreich. Aus der Komplexität des Gesangs, den er von Watlington bekommen hatte, schloss Payne auf den Intelligenzgrad der Buckelwale, die ihn von sich gegeben hatten. Diese Walart war so selten geworden, dass 1965 die Internationale Walfangkommission, die über die Jagd auf Wale in aller Welt wacht, ein Fangverbot aussprach.

Payne wusste, was er zu tun hatte. Er musste den Walgesang an die Öffentlichkeit bringen, die Menschen mit diesen musikalischen Naturtalenten bekannt machen. Von seinem Segelboot vor Bermuda aus, wo er, wie er es später schilderte, »den Mast über riesige Sternenfelder streifen sah«, installierte er ein sogenanntes Hydrofon, ein Unterwassermikrofon, und nahm den Gesang auf. In den folgenden Jahren ging er mit dem Gesang zu allen Komponisten, Musikern und Liedermachern, die ihn haben wollten. Am Ende stieß er auf Judy Collins, die den Klang nach eigenem Bekunden als »sehr bewegend« empfand. Sie bezog Paynes Aufnahme in den Song »Farewell to Tarwathie« auf ihrem Album Whales and Nightingales von 1970 ein. Im gleichen Jahr noch wurde der Gesang selbst von Capitol Records als Schallplatte mit dem Titel »Songs of the Humpback Whale« herausgebracht. Bis zum heutigen Tag ist es das meistverkaufte Album mit Naturaufnahmen aller Zeiten. Auch andere Musiker wie Pete Seeger und Paul Winter bereicherten ihre Musik mit dem Gesang der Wale.

Doch die Popularität des Walgesangs ging noch weiter. 1972 hörte Greenpeace, eine Gruppe von Friedensaktivisten auf der Suche nach einem Umweltprojekt, das Album. Sie spielten daraufhin die Musik bei Demonstrationen und Veranstaltungen, riefen, davon inspiriert, die Save the Whales-Kampagne und, so kann man wohl sagen, auch die Umweltschutzbewegung als solche ins Leben. 1977 nahm der Astronom Carl Sagan den Walgesang zusammen mit gesprochenen Texten in 55 Sprachen, Musik von Mozart und Beethoven sowie Chuck Berrys »Johnny B. Goode« in die Datenplatten Golden Record auf, die als Grußbotschaften an mögliche außerirdische Zivilisationen mit den beiden Voyager-Sonden ins All geschickt wurden. Und so segelt nun Walgesang von unserem »blauen Planeten« Erde zwischen den Sternen umher, die Roger Payne einst des Nachts von seinem Segelboot aus betrachtete.

Seinerzeit auf der Spyhop brauchten wir nicht lange zu warten, bis wir den Atem eines Buckelwals zu Gesicht bekamen. Während der Paarungszeit im Winter kann Hawaii mit der höchsten Dichte an Buckelwalen weltweit aufwarten.

»Blas auf zwei Uhr!«, brüllte ich über das Motorengeräusch hinweg.

»Verstanden!«, rief Ted im selben Augenblick, in dem sich der Nebel auflöste. Er richtete das Boot auf den Wal hin aus, der noch eine Meile entfernt war.

»Blas!«, riefen wir ein paar Sekunden später alle gemeinsam, als der Wal seinen nächsten Atemzug tat. Und dann richtete er, in einer gewaltigen Wölbung seines Rückens von dem charakteristischen Buckel der Rückenflosse – von der man annimmt, dass sie die Tiere im Wasser stabilisiert – bis zur Schwanzflosse, seinen Körper nach unten und streckte die Schwanzflosse aus dem Wasser.

»Da geht er hin«, sagte Ted, während er die Entfernung des Tauchgangs bestimmte. Wir drosselten unsere Geschwindigkeit und kamen bis auf etwa 450 Meter an die Stelle heran, an der der Wal zuletzt gesehen wurde. Dann fuhren wir langsam auf den kreisförmigen Umriss des »Fußabdrucks« zu, eines glatten, von der senkrechten Bewegung der Schwanzflosse geschaffenen Abschnitts auf der Wasseroberfläche, der auch Minuten später noch sichtbar war. Um uns herum tauchten weitere Blasen von Walen auf und verschwanden wieder, Walkörper, die aussahen wie schwarze Schläuche, hoben und senkten sich am Horizont, und hoch in die Luft gestreckte dreieckige Schwanzflossen segelten für einen kurzen Augenblick übers Wasser. Inzwischen war es mitten am Nachmittag, und die Wale schienen an diesem Bummeltag eine Verschnaufpause einzulegen.

Nur die männlichen Buckelwale singen und auch nur an ihren Brutplätzen. Es ist ein entscheidender Bestandteil ihres Paarungsrituals. Sie hängen dabei mit dem Kopf nach unten im Wasser und haben ihre langen weißen Flipper etwa dreißig Meter unter der Oberfläche weit ausgestreckt. Fünfzehn bis dreißig Minuten lang trällern sie das aktuell angesagte Lied des Jahres, an das sie sich noch vom Vorjahr erinnern. Im Lauf des folgenden Jahres schleichen sich kleine Veränderungen in den Gesang ein. Wenn ein Männchen etwas verändert, dann übernehmen das alle anderen Männchen im Nordpazifik, bis der Gesang ein ganz anderer ist als der, mit dem die Wale die Paarungszeit begonnen haben.

Einer Theorie zufolge verbreitet sich der Gesang durch die tiefen Kaltwasserkanäle über die rund 11 000 Kilometer des gesamten pazifischen Beckens, und die Männchen hören die Änderungen von Brutpopulationen in den Philippinen bis nach Japan, Hawaii und Mexiko. Das hat mir allerdings noch nie eingeleuchtet. Diese Theorie basiert auf der Kommunikation von Blauwalen. Blauwale machen im Tierreich den größten Krach – laute, niederfrequente Geräusche (unterhalb unserer Hörschwelle), die in den heutigen geräuschvollen Ozeanen nur etwa 160 Kilometer weit reichen. So laut und so hoch ist der Gesang der Buckelwale nicht. Mexiko, Hawaii und Japan sind zudem viel weiter voneinander entfernt. Wie sollten sie da über den Ozean hinweg feine Veränderungen im Gesang vernehmen?

Meine eigene Theorie über die Art und Weise, wie Wale die Veränderungen vollziehen, basiert auf dem Konzept der morphischen Resonanz, die der Biologe Rupert Sheldrake erstmals 1981 in seinem Buch Das schöpferische Universum erläuterte. Sheldrake zufolge besitzen alle Organismen unsichtbare morphische Felder ähnlich magnetischen oder Gravitationsfeldern, die auf einer Art über Zeit und Raum hinwegreichenden und in der Natur verankerten Erinnerung basieren. Diese Erinnerung, die nicht im Gedächtnis gespeichert ist, schafft innerhalb einer Spezies ein Feld der morphischen Resonanz. Sie erstreckt sich auf entwicklungsrelevante, mentale, soziale und verhaltensbezogene Felder und erklärt zum Beispiel, wieso Vogelschwärme alle zur gleichen Zeit radikale Richtungsänderungen vornehmen. Oder warum Hunde wissen, wann sie an der Tür die Rückkehr von Herrchen oder Frauchen von der Arbeit erwarten können. Ein von einem Studenten Sheldrakes vorgenommenes Experiment wies zudem nach, dass sich auch Menschen solche morphischen Felder zunutze machen können. Bei dem Experiment wurde die Fähigkeit von Personen getestet, Kreuzworträtsel zu lösen. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die bis zum folgenden Tag warteten, bevor sie das Kreuzworträtsel im London Evening Standard lösten, dies schneller und mit weniger Mühe bewerkstelligten als diejenigen, die es am Tag des Erscheinens versuchten. Sheldrake geht nun davon aus, dass, nachdem ein paar Leute das Rätsel schon gelöst haben, andere die morphische Resonanz nutzen können und leichter auf die Lösungen kommen.

Ich glaube, dass Buckelwale es genauso machen. Sie machen sich das kollektive Gedächtnis ihrer Spezies zunutze, um über Populationen von Mexiko bis Hawaii und Japan hinweg die Gesänge abzuwandeln.

Wir saßen bei abgeschaltetem Motor da und warteten darauf, dass in unserer unmittelbaren Umgebung ein Wal noch einmal auftauchte. Ich beugte mich vor, um mir meine Kameratasche zu nehmen, und hörte das dumpfe Geräusch von Wasser, das gegen den Rumpf klatschte, als ich das Boot zum Schaukeln brachte. »Es ist so ruhig hier draußen«, flüsterte ich mit einem schlechten Gewissen, weil ich die Stille durchbrochen hatte. Leslie nickte und lächelte.

Dass ich mich an einem Ort in vollkommener Stille befinde, geschieht äußerst selten. Ständig kommen von irgendwoher Geräusche: Autos fahren vorüber, aus der Ferne dringt Baulärm, permanent surrt der Lüfter an meinem Computer, die Heizung oder der Kühlschrank, tickt laut eine Uhr. Ich holte so leise wie möglich Luft und lauschte der tiefen Stille um uns herum. Nach ein paar Minuten hörte ich einen knappen Kilometer entfernt den gewaltigen Atemzug eines Wals, zuerst der kraftvolle Ausstoß von Luft aus der Lunge, danach das Einatmen.

Wir saßen reglos da, schauten den Walen in der Ferne zu und sprachen beinahe fünfzehn Minuten lang kein Wort. Und dann hörten wir es. Anfangs nur leise, anschließend lauter. Zuerst dachte ich, jemand im Boot hätte sich bewegt, mit seiner bloßen Haut gegen das Gummi gerieben und dabei ein Quietschen am Ponton ausgelöst. Wir sahen uns an und schüttelten den Kopf. Niemand hatte sich geregt.

»Es ist Walgesang«, stellte Ted leise fest.

»Durch das Boot hindurch?«, fragte ich.

»Ja!« Er nickte lächelnd.

Ich wurde wieder still. Dass Walgesang durch den Rumpf eines Boots widerhallt, hatte ich zwar schon gehört, aber ich hätte niemals gedacht, dass ich das einmal selbst erleben würde. Ich saß auf dem Rand des Gummipontons und beugte mich ein kleines Stück nach vorne. Den Kopf auf das Wasser hin gerichtet, hielt ich mich ganz still und wagte kaum zu atmen, während ich auf den widerhallenden Refrain lauschte. Das harmonische Ächzen, Heulen, Grollen und Zwitschern, das ich bereits zuvor beim Schnorcheln gehört hatte, stieg von irgendwo tief unter uns nach oben – und es war laut.

Ich stellte mir vor, dass der Wal beim Singen mit der Schwanzflosse über dem Kopf reglos im Wasser hing. In seinem eindrucksvollen Lied klangen die Stimmen vieler anderer Tiere mit: das Miauen eines Kätzchens, das tiefe Blöken einer Kuh, das Knurren eines Löwen, die Rufe eines Affen. Jetzt konnte ich auch den Mystikern Glauben schenken, die von den Walen als den Archivaren des Planeten erzählen, als den Hütern der Akasha-Chronik, einer Sammlung aller Ereignisse in der Weltgeschichte, die sie in ihren Zellen speichern. Manche behaupten, Buckelwale sängen die Geschichte der Welt, ähnlich wie indigene Völker ihre Geschichte mittels Liedern von einer Generation an die nächste weitergeben. Ich lauschte der volltönenden Saga des Wals, ganz so wie die Seeleute aus fernen Zeiten, die wie gebannt vom Sirenengesang auf dem Deck ihrer Schiffe standen. Die ergreifende Melodie fesselte mich, während der Wal sang, wie es schon seine Vorfahren getan hatten, lange bevor es Menschen gab.