Die Reise ins Reich - Tobias Ginsburg - E-Book

Die Reise ins Reich E-Book

Tobias Ginsburg

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Beschreibung

Es sind unterschiedlichste Menschen, Gruppierungen und Extremisten, die derselben Vorstellung anhängen: Deutschland ist kein souveräner Staat und die Deutschen Opfer einer weltweiten Verschwörung! Weshalb gerade diese Verschwörungstheorie so eine große Verbreitung finden konnte und welche Konsequenz sie hat, dass will der Autor herausfinden und schließt sich kurzerhand den Reichsbürgern an. Unter falschem Namen tritt er Gruppierungen bei, wird Mitglied eines selbstausgerufenen Königreichs, plant den Sturz der BRD GmbH und ein germanisches Siedlungsprojekt in Russland. Die Reichsbürger, die er kennenlernt, deren Motive und Ziele er ergründen will, sind weit mehr als Spinner, vereinzelte Verlierertypen, die die BRD nicht anerkennen. Bald führen seine Recherchen ihn auch in Kreise der extremen Rechten. Er trifft Esoteriker, AfD-Mitglieder und Querfrontler. Was Ginsburg über seine "Reise ins Reich" berichtet, erschöpft sich nicht in haarsträubenden Geschichten über Parallelwelten und deren politisch diffuse Akteure samt Gefolgschaft, es sind erhellende Auskünfte über eine Bedrohung, die bis in die Mitte der Gesellschaft reicht.

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Seitenzahl: 301

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ISBN E-Book 978-3-360-50150-9ISBN Print 978-3-360-01331-6

© 2018 Verlag Das Neue Berlin, BerlinUmschlaggestaltung: Tobias Ginsburg / Verlag

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das BuchWer sind diese Reichsbürger und Staatsleugner? Und weshalb findet ihre Vorstellung, die Deutschen seien Opfer einer weltweiten Verschwörung, so viele Anhänger? Der jüdische Autor Tobias Ginsburg schleicht sich bei ihnen ein – und erfährt Seltsames und Beängstigendes über Esoteriker und Neonazis, Verschwörungstheoretiker, Sektierer und prominente AfD-Politiker. Er schließt sich verschiedenen Gruppierungen an, sitzt am Lagerfeuer und an Stammtischen, plant mit bei unheilvollen Projekten und dringt immer tiefer ein in diese gefährliche wie diffuse Bewegung.»Die Reise ins Reich« ist eine Reportage über Macht, Wahnsinn und Rechtsextremismus, das Porträt von verzweifelten Menschen und bösen Verführern, aber auch die Geschichte einer aberwitzigen und grausig komischen Abenteuerreise vom äußersten Rand der Gesellschaft bis in ihre Mitte.

Über den AutorTobias Ginsburg wurde 1986 in Hamburg geboren. Seit seiner Studienzeit schreibt und inszeniert er Theaterstücke, oftmals mit dokumentarischem und politischem Ansatz. Er arbeitet als Autor, Dramaturg und Regisseur und ist Gründungsmitglied der Theatergruppe Fake to Pretend.

»Du siehst, ich bin der Herr! – Auch ich war verzweifelt, da baute ich mir aus den Trümmern meines Gutes ein Reich. – Ich bin der Meister!« (Alfred Kubin, »Die andere Seite«)

Inhalt

Ideologischer Katastrophentourismus

1. Die Reise an den Rand des Wahnsinns. Von Königen, Faschisten und der Esoterik

Das Königreich und die Krankheit

Das Königreich und die Nazis

Patera erwacht

Ernie und die Esofaschisten

Das Königreich und die Zukunft

2. Die Reise an die Querfront. Oder: Der Sturz der BRD GmbH

Staatenlos

Die Verschwörung zu Kassel

Moskau und Frieden

3. Die Reise ins gute, alte Deutschland. Souveränisten, die AfD und das Ende der Welt

»Jawoll!« – Jürgen Elsässers Hassmanufaktur

Zum Beispiel Kahla

Wahlkampf und Weltenbrand

Monaco an der Memel

Ideologischer Katastrophentourismus

Ein gutes halbes Jahr lang war ich auf Reisen. In dieser Zeit schloss ich Freundschaften, studierte Verschwörungstheorien und lernte so richtig gut hassen, nahm eine neue Identität an, trank Mondwasser, ließ meine Chakren einrenken, schmiedete einen Komplott zum Sturz der Regierung, griff nach der Macht, tanzte mit Hippies, soff mit Nazis, aß viele Schnitzel, soff mit dezidierten Nicht-Nazis, aß viele Würste und plante eine neue Heimstätte für das unterjochte deutsche Volk. Und weil ich nie wusste, ob ich schon viel zu viel oder noch viel zu wenig gesehen hatte – das weiß ich übrigens bis heute nicht –, zog es mich immer wieder zurück in das schier grenzenlose Reich der Reichsbürger. Es ist auch wirklich nicht einfach, sich zielstrebig durch eine formlose Sumpflandschaft voller Irrlichter zu navigieren. Erst recht nicht, wenn diese nur von einer Handvoll kruder Ideen zusammengehalten wird.

Es ist nicht lange her, da galten die Reichsbürger bloß als Kuriosum: verwirrte Extremisten, die vom alleräußersten Rand der Gesellschaft herunterbaumeln und die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschland leugnen. Ernst nahm man sie nicht, dafür klang es viel zu sehr nach Realsatire. Aber dann kam der 19. Oktober 2016, und im mittelfränkischen Georgensgmünd fielen Schüsse. Die Polizei stürmte ein Haus, das vom Besitzer zum autonomen »Regierungsbezirk« erklärt worden war. Massenhaft Waffen hatte er gehortet, die sollten sichergestellt werden. Doch der Reichsbürger, der »freie Mensch Wolfgang«, eröffnete das Feuer. Vier Polizisten wurden verletzt, einer von ihnen in die Lunge getroffen. Er starb am nächsten Morgen im Krankenhaus. Der Blick auf die Reichsbürger verschob sich über Nacht.

15000 Reichsbürger und Selbstverwalter soll es laut Verfassungsschutz in Deutschland geben, aber die Zahl wird seit den Schüssen stetig nach oben korrigiert. In der Presse heißt es dann, die Szene wachse rasant, aber das ist nicht das Problem.

Wir sind einfach erst dabei zu begreifen, wer die Reichsbürger eigentlich sind. Was nicht einfach ist. Die wenigsten Reichsbürger wollen als solche erkannt werden. Viele streiten es vehement ab, und viele wissen nicht, dass sie welche sind. Die meisten meiner Bekanntschaften begreifen sich selbst als Systemkritiker.

Wo habe ich mich also rumgetrieben?

Ich war in einem Reich, das es nicht gibt und niemals gab und in dessen Zentrum eine Verschwörungstheorie steht: Die Bundesrepublik ist kein souveräner Staat, die Deutschen sind Opfer einer weltweiten Verschwörung.

Manchmal klingt das so: Das Deutsche Reich hat nie kapituliert und dauert immer noch an, es gelten die Grenzen von 1937!

Oder so: Deutschland hat weder Friedensvertrag noch Grundgesetz! Die Alliierten haben uns in der Hand!

Gerne auch: Die deutschen Politiker sind nur Agenten und Marionetten im Kampf gegen das eigene Volk!

Oder: Die BRD ist bloß eine Firma mit Sitz in Frankfurt am Main!

Oder, oder, oder.

Wer hinter dieser großen Verschwörung stecken soll? Meistens sind es graue Eminenzen der Hochfinanz. Oder mächtige Logen. Manchmal Illuminaten, überraschend häufig Satanisten. Manchmal gar Echsenmenschen, die im Fleischkostüm die menschliche Zivilisation unterwandern. Oder es sind einfach die Juden.

Als ich mich auf meine Reise begeben habe, war mir nicht klar, dass die Wahnvorstellung von der jüdischen Weltverschwörung wieder in so einem Ausmaß grassiert. Ich bin Jude – nach einer Weile nimmt man sowas persönlich.

Ich bin trotzdem eifrig weitergereist. Vielleicht, weil mich die Menschen, denen ich begegnete, einfach interessierten. Weil mir ein paar sogar ein bisschen was bedeuten. Ganz sicher aber auch, weil ihr seltsames Reich unserer Welt oft erschreckend ähnelt – und sich erste Gebiete bereits überlappen.

Es war der große, halbwache Wahlsommer, und viel wurde debattiert über das Erstarken der Rechten. Die ständigen Provokationen der AfD wurden analysiert, ihr Erfolg erklärt, wiedererklärt, ihre Strategien offengelegt: Wie sie sich immer in Opferpose schmeißen. Wie sie ihre Gegner pauschal als Volksverräter oder gar Faschisten beschimpfen. Wie sie ein Bild zeichnen von einem unterdrückten, verratenen, verfolgten Volk im Kampf gegen eine übermächtige Elite.

Und mir Reichsreisendem kam das alles so bekannt vor.

Da raunt die Rechte etwa von einem Bevölkerungsaustausch: Sie fantasiert, die Regierung wolle das deutsche Volk mit muslimischen Migranten nach und nach ersetzen. Ein furchterregender Prozess mit der unheimlichen Bezeichnung »Umvolkung«. Einen »Genozid am deutschen Volk« nennen das manche oder gleich einen Plan zur »Vernichtung der weißen Rasse«. So klingt die Verschwörungstheorie der Stunde. Sie wird uns in diesem Buch noch ein paar Mal über den Weg laufen.

Die Verschwörungstheorien sind aus dem ideologischen Sumpfgebiet ausgebrochen, vom rechtsradikalen und verwirrten Rand rein in die Gesellschaft. Wo das Reich aufhört und das Bürgertum anfängt, ist manchmal schwer zu sagen.

Das Reich ist eben groß. An manchen Ecken ist es exotisch und befremdlich, bewohnt von fundamentalistischen Esoterikern, die sich mitunter auf dem Gerippe einer hohlen Erde im Kampf gegen finstere Verschwörer glauben.

Dann sind da Landstriche, die mir auf den ersten Blick vertraut erschienen. Wo man Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker antrifft, Ökos und Alternative, die aber demselben Verschwörungsglauben verfallen sind und meinen, nicht regiert, sondern von internationalen Eliten verwaltet zu werden.

Und schließlich sind da die Rechten: Die Neonazis, bei denen die Verschwörungstheorie des fremdgesteuerten Deutschland ihren Anfang genommen hat, aber auch Neu-Rechte, Rechtspopulisten und normale »besorgte« Deutsche, die teils bewusst, teils unbewusst auf demselben ideologischen Boden wandeln.

Meine Reisen führten mich so vom äußersten Rand der Gesellschaft immer mehr in ihre Mitte – auch wenn die Grenzen oft verschwimmen. Und ständig trifft man Verirrte, die nicht begreifen, durch was für eine Ideenlandschaft sie da tappen. Ich tappte eine ganze Weile mit ihnen mit. Ich versuchte, die Reichsbürger zu verstehen, ihren Blick auf die Welt und ihren Blick auf uns.

In diesem Buch beschreibe ich all diese Menschen und ihre Gedanken, ich gebe den ganzen Mist wieder, reproduziere ihre Überzeugungen, wie man so sagt. Ich kann nur hoffen, dass es hilft. Vielleicht hilft es im Umgang mit diesen Menschen. Vielleicht hilft es im Kampf gegen ihre Ideologien. Vielleicht hilft der Blick in ihre bizarre Spiegelwelt, etwas über die unsrige zu verstehen.

An den Begebenheiten habe ich nur etwas abgeändert, wenn es mir unbedingt notwendig erschien: Mal wurde ein dreistündiges Telefonat aus dramaturgischen Gründen zu drei Sätzen, mal wurde aus drei Gesprächen eines. Generell habe ich die Namen der Personen verändert, solange sie nicht selbst in der Öffentlichkeit stehen oder sie aktiv suchen, gelegentlich auch Umstände und Lebensläufe leicht umgeformt, um einzelne Identitäten unkenntlich zu machen. Na gut, und zwei-, dreimal habe ich Personen verunklart, weil ich mir Sorgen mache, sie sonst irgendwann vor meiner Haustür wiederzutreffen. Das muss nun auch nicht sein.

1.DIE REISE AN DEN RAND DES WAHNSINNS. VON KÖNIGEN, FASCHISTEN UND DER ESOTERIK

Das Königreich und die Krankheit

Das Versprechen

Wir sitzen um ein hoch in den Himmel fackelndes Lagerfeuer herum. Wenn das Wetter es zulässt, hocken die Bewohner des Königreichs Deutschland hier jeden Abend. Die Feuerstelle liegt hinter dem Hauptgebäude, zwischen Parkplatz und lichtem Birkenwäldchen, inmitten des neun Hektar großen Staatsgebietes, einem ehemaligen Krankenhausgelände, umgeben von Maschendrahtzaun, umschlossen von der Bundesrepublik Deutschland.

Feindesland.

Betäubende Harmlosigkeit sickert aus jedem milden Lächeln, albernen Witz und verständnisvollen Nicken der knapp dreißigköpfigen Abendgesellschaft. Drei Männer umkreisen mit sachkennerischem Gesichtsausdruck das Feuer und legen übertrieben große Holzscheite nach, die Mädchen piksen sich gegenseitig ihre Finger in die Rippen und lachen quietschend auf, und der Österreicher verteilt ein paar Bierflaschen aus seinem Privatbesitz. Das sind die aufregenden Geschehnisse. Die anderen sitzen in gemäßigter Lustigkeit um das Feuer herum, und Elron der Hund jagt eine Heuschrecke oder etwas Vergleichbares durch das hohe Gras.

Selbst wenn ich nicht wüsste, was hinter diesem einträchtigen Beisammensein steckt (und ich weiß es zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur so halb), selbst dann wäre mir der hart-harmonische Umgangston fürchterlich nervig vorgekommen. Aber dann beginnt Johannes neben mir auf der Bank zu erzählen, und mir wird immer schlechter.

Johannes und ich sind beide Wochenendgäste des Königreichs. Wir haben uns beim Rauchen am Zollhäuschen kennengelernt, denn das Königreich ist ein strenges Nichtraucherreich, und qualmend sind wir dann die deutsch-deutsche Grenze entlangspaziert, haben uns die Vorgärten auf der BRD-Seite angesehen, über unsere Zukunftsängste geredet und über einen ganz abscheulichen Gartenzwerg gelacht. Irgendwie war das sehr nett. Johannes ist zwar völlig irre, aber ich kann ihn gut leiden. Er ist Anfang vierzig, wirkt beim Lachen wie ein kleiner Junge und führt ein normales Leben in Deutschland. Er hat einen guten Job bei einem großen Industriekonzern, verdient sein Geld, zahlt seine Steuern, fährt sein Auto, geht in den Supermarkt, ins Kino und zum Elektrogroßhandel, schaut Fußball, streichelt Hunde, reserviert Tische, leckt an Briefmarken, frühstückt belegte Vollkornbrötchen, wartet an roten Ampeln, geht bei Grün, atmet Sauerstoff ein und Kohlenstoffdioxid aus. Aber dann ist er eben auch aus tiefster Seele davon überzeugt, dass der Staat eine von finsteren Kräften geführte Firma und Foltermaschinerie ist, die ihn und das deutsche Volk bestrafen soll.

Gerne würde er sich wehren, sagt Johannes, eigentlich müsste er sich wehren, sagt er, irgendwas müsse man ja tun, müsse man doch, und er schaut suchend in die Runde und dann auch flehentlich zu mir. Glutfunken sausen durch den dunkelblauen Abend, und Johannes berichtet vom Albtraum, als den er seinen Alltag in der BRD wahrnimmt. Seine Familie, seine Freunde und Bekannten sind alle hirngewaschen und kaputt, völlig kaputt, sagt er, machen sich über ihn lustig, nennen ihn einen Verschwörungstheoretiker. Vor ein paar Monaten hat ihn schließlich seine Frau verlassen. Sie hat ihn und seine Wahrheiten nicht mehr ertragen.Er hatte kurz zuvor beinahe seine gesamten Ersparnisse abgehoben und dafür Gold und Silber gekauft. Der Edelmetallhändler hatte amüsiert den Kopf geschüttelt, seine Frau ihn als dummen Idioten beschimpft. Aber die werden sich noch wundern, sagt Johannes, sobald der große Knall kommt.

Die milden Gesichter der Anwesenden trösten ihn, aber Johannes ist einsam. Er ist verzweifelt. Aufrichtig verzweifelt. Alles Gute, Wahre und Schöne ist ihm von bösen, nein, von dämonischen, nein, satanischen Mächten genommen worden, und er weiß nicht mehr weiter.

Die milden Gesichter nicken und Elron der Hund schnüffelt an einem Blümchen.

Vieles an dieser Situation kann einem Angst einjagen. Zum Beispiel, dass Menschen so einen albtraumfarbenen Mist denken können und dass andere Menschen solche Gedanken teilen – oder, schlimmer noch, solche Gedanken hinnehmen, ohne sie selbst zu glauben. Es kann einem Angst machen, dass Menschen, die sowas denken, so normal aussehen. Und dass die Menschen, die zuhören, dabei so brutal milde rumglotzen können.

Aber am erschreckendsten ist die Verworrenheit, die entsetzliche Ununterscheidbarkeit in diesem Moment. Ich kann nicht zwischen gefährlich und verschroben unterscheiden, zwischen Überzeugung und Psychose, zwischen Wahnsinn und Kalkül.

Wenn ich mit Sicherheit sagen könnte, dass ich hier im Königreich von Spinnern und Geisteskranken umrundet wäre, dann würde es mir bessergehen. Dann wäre es leicht, das alles auszuhalten. Dann könnte man nach Hause fahren. Aber auch wenn die wirren Gedanken im Reich wie Fieberschübe wirken – dahinter steckt System.

Ach, Johannes: Man kann zwar nur mutmaßen, wie es klinisch gesehen um seinen Kopf bestellt ist, aber seine seelischen Schmerzen sind offensichtlich. Das Königreich Deutschland verspricht ihm Linderung: Es ist nicht weniger als die Utopie eines wahren und besseren Landes, in dem all das empfundene Übel dieser Welt keinen Platz mehr hat. In diesem Deutschland wird Johannes’ Goldschatz Millionen wert sein und seine Frau zu ihm zurückkommen. Ganz sicher.

Dieses Heilsversprechen wird ihm überbracht vom Freiherrn Benjamin von Michaelis.

Der Adelstitel hat es verraten: Freiherr Benjamin ist eine große Nummer in dem kleinen Land. Seit der König im Juni 2016 in Untersuchungshaft kam, steht von Michaelis gemeinsam mit Vizekönig Martin an der Spitze des neun Hektar großen Staates. Freiherr Benjamin ist jung, drahtig und geschniegelt. Er trägt Gel im dünnen Haar, ein Henri-Quatre-Bärtchen im Gesicht und ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen. Er hat sich zu uns gesetzt und aufmerksam Johannes’ Wehklagen gelauscht.

Die übrigen Untertanen widmen sich ihren eigenen Gesprächen, während Benjamin auf Johannes einredet. Mit weichgespülter Sprache und öligem Timbre präsentiert er dem verwirrten Johannes Antworten: Man müsse nur an das Königreich glauben. Egal wie schlimm die Welt jenseits des Maschendrahtzauns auch sein mag: Das Böse könne besiegt werden, allein mit Liebe und mit Glaube an das wahre Deutschland. Das wiederum könne niemand niemals nie vernichten.

Das sagt der Freiherr mit furchtbar vielen Worten. Mit langsamen und präzise gesetzten Bewegungen spiegelt er dabei sein Gegenüber. Er fixiert Johannes mit intensivem Blick und blinzelt nur an Satzenden oder wenn er einen Punkt ganz besonders hervorheben will. Von Zeit zu Zeit berührt er Johannes’ Schulter und nickt ein ungeheuer langsames Nicken. Ich kenne solche suggestiven Kommunikationspraktiken in erster Linie von Weiterbildungsseminaren, die gerne überambitionierten BWL-Studenten und Unternehmensberatern angeboten werden. Aber für den Anwendungsbereich Psychosekte eignen sie sich offensichtlich auch hervorragend.

Und warum leidet Johannes so? Der Freiherr gibt die Antwort: Weil Johannes nicht genug an die gemeinsame Vision glaube und nicht genug dafür tue, so spricht der junge Aristokrat, und Johannes schrumpft vor ihm zusammen. »Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin … Ich bin so wütend«, murmelt er mit verblüffend leerem Gesichtsausdruck. Benjamin wirkt im flackernden Licht des Feuers mit seinen weit aufgerissenen Augen wie ein regelrechter Bösewicht. Er, der Fantasieadelige, hat den verzweifelten Mann jetzt fest in der Hand, und ich bin begeistert, gleich an meinem ersten Tag hier einen skrupellosen Demagogen kennenzulernen.

Irgendwann später wird Benjamin mir erzählen, dass seine Mutter von Anfang an eine glühende Verehrerin des Königs war und ihn bald hinzuholte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dazuzugehören. Täter und Opfer: Noch so eine Kategorie, die sich hier auflöst … Oder es fällt mir bloß schwer, die Existenz skrupelloser Demagogen zu akzeptieren. Besonders wenn man mit ihnen zusammen am Lagerfeuer sitzt und die Grillen so nett zirpen.

Johannes und der Freiherr sprechen noch lange miteinander. Über die Unmöglichkeit, da draußen zu leben, über die Schwierigkeiten, es hier drinnen zu tun, über die Notwendigkeit, es dennoch zu versuchen und sich nicht von der ganzen Anti-Reichsbürger-Propaganda fertigmachen zu lassen. Manchmal bricht die Wut aus Johannes, und die Worte zischen zwischen seinen Zähnen hervor: »Wir sind doch die Friedlichen«, schäumt er dann etwa, »die suchen doch den Kampf! Da muss man doch …« Aber der Freiherr Benjamin beruhigt ihn gleich wieder mit kontrolliert-sanfter Körpersprache und geradezu postkoitalem Tonfall. Er bestätigt Johannes in all seinen Ängsten und bietet ihm Hoffnung. Im Austausch für Hingabe. Und finanzielle Unterstützung, versteht sich.

»Aber wir können ja nicht alle im Königreich leben«, traue ich mich irgendwann zu sagen. »Wie soll man denn friedlich bleiben, wenn man da draußen im Feindesland leben muss? Wenn du recht mit allem hast, dann müssen wir uns doch irgendwann wirklich wehren.«

Benjamin verzieht keine Miene, aber er hat offensichtlich bemerkt, dass ich weder die richtige Lingo noch den korrekten Umgangston beherrsche. »Es gibt weder Freund noch Feind«, belehrt er mich. »Das Universum spiegelt gute Energien zurück, das ist das Resonanzprinzip. Behalte deine Hoffnung, dann hast du nichts zu befürchten.« Das Problem sei nur meine Denke, »und auf lange Sicht sind natürlich alle Menschen im Königreich willkommen. Das wird auch möglich werden, wenn die Menschen endlich aufwachen und aufhören, so skeptisch zu sein.«

»Aufwachen« soll ich. Um dieses Wort dreht sich viel, nicht nur im Königreich, sondern in der ganzen Verschwörungstheoretikerszene. Wir sind die Aufgewachten. Die da draußen schlafen tief und fest. Das sind die »Schlafschafe«. Sheople auf Englisch: die dummen, gutgläubigen Schafsmenschen, die nicht sehen wollen oder können. Und dann sind da natürlich noch die Verschwörer selbst, die mächtigen Drahtzieher und ihre Lakaien. Denen müssen wir die Stirn bieten, wir Wenigen. Wir wachen, wahren Deutschen.

Johannes knufft mich aufmunternd in die Seite: »Ist doch fantastisch hier, oder?« Dann verkündet er, dass er in einigen Monaten genug Geld beisammenhabe, vielleicht schon Ende des Sommers, dann werde er seine Wohnung verkaufen, seinen Job kündigen, die letzten Verbindungen zu seinem bürgerlichen Leben kappen und herziehen. »Wenn ihr mich haben wollt«, fügt er an.

So einfach ist das nicht, sagt der Freiherr und lächelt zufrieden, es gibt da natürlich eine Probezeit. Aber er sei da ganz optimistisch.

»Das war so ein schöner Tag«, sagt später einer der aufgewachten Untertanen und guckt romantisch in das kleiner werdende Feuer. »Manchmal glaube ich, ich träume.« Der Freiherr Benjamin pfeift Bobby McFerrins »Don’t Worry, Be Happy«. Dann ein leises Donnern und erste Regentropfen, ein Gewitter zieht auf. Das ist mir viel zu dramatisch. Aus Protest gehe ich sofort ins Bett.

Es war aber auch wirklich ein langer erster Tag.

Hinter Hitlers Sprengstofffabrik

Aber noch mal von vorne.

Das Königreich liegt in Sachsen-Anhalt, Lutherstadt Wittenberg, Apollensdorf-Nord, Bushaltestelle Hirschsprung. Wenn man der Busfahrerin die Haltestelle nennt, dann grunzt sie verächtlich. Ein Schild am Waldrand: »Vorsicht Lebensgefahr!« Es ist munitionsbelastetes Gebiet, das man dort passiert: Das Gelände der ehemaligen Westfälisch-Anhaltischen-Sprengstoff-AG. Seit 1894 wurde hier TNT hergestellt. Hitler ließ die Fabrik 1933 ausbauen. Zwei Jahre wurde hier auf Hochtouren produziert, dann gingen 27 Tonnen Sprengstoff in die Luft und rissen fast einhundert Arbeiter in den Tod. Das Waldstück ist »Kampfmittelverdachtsfläche. Betreten verboten!« Hier muss ich also hin: hinter Hitlers zerstörter Sprengstofffabrik gleich rechts.

Der Bus hält am Rand einer Wohnsiedlung. Deutschlandflaggen in Vorgärten, Backsteinhäuser, ein zerbrochener Kaugummiautomat. Der Bus fährt ab, gibt den Blick frei auf das Königreich Deutschland in seiner ganzen Pracht.

Das Königreich ist die bekannteste Gruppierung der Reichsbürgerbewegung, in jedem Fall die medienwirksamste. Unzählige Journalisten und Kamerateams wurden im Königreich empfangen. Bild-Zeitung, Spiegel TV, MDR und Vice scheinen in Apollensdorf-Nord ganze Dependancen errichtet zu haben. Aktivistengruppen warnen vor den gefährlichen Wahnsinnigen, und knallbunte Esoterikseiten im Internet machen Werbung bei Aussteigern. Das riesige Interesse an der Politsekte ist nicht zuletzt der lautstarken Öffentlichkeitsarbeit des Königs zuzuschreiben. Wenn Peter Fitzek eine Sache kann, dann Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Fitzek war Koch, Karatelehrer, Videothekenbesitzer und betrieb einen Esoterikladen in Wittenberg, aber eigentlich begriff er sich schon immer als Diener Gottes und des Menschen. Sagt er zumindest. Die BRD hingegen begreift er als Lügenkonstrukt der Besatzer und Hort der Ungerechtigkeit. Und weil er ein Macher ist, machte er sich an die Arbeit.

2009 gründete er zunächst den Verein »NeuDeutschland«, dann eine Gesundheitskasse für Homöopathie, Geistheilung und ähnlich fantasievolle Verfahren. Es folgten eine Haftpflichtversicherung, eine Rentenkasse, eine Internet-Handelsplattform, die Königliche Reichsbank samt Filiale in der Wittenberger Fußgängerzone und eine eigene Währung: der Engel oder auch E-Mark. Im September 2012 wurde der gelernte Koch zum Souverän, zum Imperator Fiduziar, zu König Peter I. Und davon gibt es ein Video.

Seinen beeindruckenden Titeln entsprechend trägt Peter bei der Gründungszeremonie seiner Mikronation einen Hermelinmantel, auch wenn der arg nach Karneval und Polyester aussieht. Die Bühne ist in ein grünlich dämmerndes Scheinwerferlicht gehüllt und von Klassikradiohits beschallt, die Wittenberger Industriehalle mit zweihundert zahlenden Gästen gefüllt. Alle schauen sie bedeutsam drein, aber keiner so bedeutsam wie Peter. Ein Mann mit ausgeprägter Nase und markantem Kinn, dünnen dunkelroten Lippen und forderndem Blick, sein verbliebenes Haar am Schädel festgegelt und zu einem unappetitlichen Pferdeschwanz gebunden, der ihm wie ein nasses Seil vom Hinterkopf baumelt. Mit einem Stab schlägt ein Zeremonienmeister dreimal auf den Boden, und Fitzek lässt sich Reichsapfel, Krone und Schwert überreichen. Alles passiert mit großen Gesten und stocksteifen Bewegungen. »In dem Bestreben, den Deutschen nach über sechzig Jahren wieder eine Heimat in wahrer Freiheit« zu geben, ruft Peter Fitzek seinen neuen deutschen Staat aus. Nur zwanzig Minuten und einen Kniefall dauert es, schon ist die Monarchie gegründet. Später gibt es warmes Büffet und eine musikalische Darbietung eines wahrheitsbewegten Hiphop-Duos, das über die 9/11-Verschwörung rappt. Besonders wichtig sei ihm gewesen, sagt Peter, dass der Gründungsakt »in der juristisch korrekten Reihenfolge« abgehalten werde.

Geholfen hat das nicht. Peter Fitzek sitzt im Gefängnis. Gut 1,3 Millionen Euro sind aus seinen Kassen verschwunden. Wo das Geld hin ist? Nicht mehr nachzuvollziehen. Die Engel sind einfach weggeflogen. Die Bank wurde geschlossen, die buntbedruckten Banknoten beschlagnahmt. Der Regent kam für illegale Bankgeschäfte und Veruntreuung ins Gefängnis. Zwei Wochen bevor ich sein Reich besuche, spricht das Landgericht Halle das Urteil: drei Jahre, acht Monate. Er legte natürlich sofort Berufung ein.

Ich nähere mich dem Zollhäuschen mit dem weiß-rot gestrichenen Grenzbaum. »Königreich Deutschland« prangt da in goldener Schnörkelschrift, wie auf einem Groschenroman über verliebte Fürsten. Vom Dach des Hauptgebäudes weht mir die Landesflagge fröhlich entgegen: Gold, rot, schwarz mit einer weißen aufgehenden Sonne, die einundzwanzig weiße Strahlen über die patriotischen Farben wirft.

Sie ist sehr hässlich.

Vision und Tat

Kalt-strenges Lächeln, entschlossener Händedruck. Freiherr Benjamin bringt mich über die Grenze, die Einreiseformalien können wir später regeln, sagt er, denn das Treffen hat schon begonnen. Auf dem Vorplatz, dem »Petersplatz«, wie ein Straßenschild in gotischen Lettern verrät, steht eine Gruppe von knapp vierzig Menschen, die Hälfte davon Gäste.

Ich versuche, die Menschen zu kategorisieren. Da sind drei proper gekleidete junge Männer mit selbstsicherem Blick, das Emblem des Königreichs auf die Hemden gestickt. Ansonsten ältere Herrschaften in bunten Funktionsjacken, fusselige Öko-Typen, kleinbürgerliche Flanellhemdenträger und noch mehr erstaunlich, entsetzlich normal ausschauende Leute. Johannes ist einer von ihnen. Er strahlt mich an, als habe er auf mich gewartet. Leises Geplapper, Ferienlageratmosphäre.

»Wir fangen hier in der Regel pünktlich an«, schimpft ein glatzköpfiger Mann mit Klemmbrett. Er weist die anstehenden Arbeiten zu: Holz sägen, Böden schrubben, Küchendienst, Pflanzen umtopfen. Man besucht das Königreich nicht einfach so, man arbeitet hier ganz praktisch an der besseren Welt. »Vision und Tat« nennen sich diese Wochenenden.

Optisch liegt das Reichsgelände zwischen bürgerlicher Spießigkeit und ruinösem Zerfall, durch und durch schwer einzuschätzen, nicht viel anders als seine Bewohner und Besucher. Auf der nördlichen Seite ist der Komplex gepflegt, das Gebäude sauber, der Rasen gemäht. Der Südflügel hingegen verwittert, Wildwuchs und halb kompostierte Laubhaufen auf braungeflecktem Rasen.

Abenteuerspielplatz, Schrebergarten, Ruine. Alles zugleich.

»Also an die Arbeit! Wir sehen uns um halb eins beim Mittagessen.«

Der Österreicher und die Romantik

Der Österreicher, der mich zu meinem Zimmer führt, ist ein massiver Mann mit Herrendutt. Ein verwaschenes Tattoo schlängelt sich bis unter seinen Kiefer. »Wir leben Alternativen«, steht auf seinem Shirt. Er lächelt liebenswürdig.

Wir passieren einen langen und sterilen Gang, den ersten von sehr vielen. Das Reich besteht zu einem guten Teil aus einer Reihe solch langer und steriler Gänge. Einzelne, kurios platzierte Sessel und Stühle sollen dem Ganzen wohl eine heimelige Atmosphäre verleihen. Heimelig und unheimlich liegen bekanntlich nah beieinander.

Der Österreicher redet ununterbrochen, erzählt von Gott und der Welt, wobei der Fokus klar auf Gott liegt. Seit er im Königreich lebt, sagt er, spürt er wieder den göttlich-kosmischen Funken in seiner Seele. Seine Schuhsohlen quietschen bei jedem Schritt. Er deutet auf die Türen: Verwaltungsbereich. Filmstudio. Büros. In einer kleinen Bibliothek stehen Bücher wie »Machtwechsel auf der Erde«, »Der Kult mit der Schuld« oder »Das schwarze Reich. Templerorden – das Dritte Reich – CIA«. Dazu ein halbes Regal voll mit juristischen Standardwerken. Und »Wege zur Entdeckung feinstofflicher Welten. Praxisbuch zur Entwicklung medialer Fähigkeiten«. Das hat Peter Fitzek selbst verfasst.

»Wir machen weiter, auch ohne Peter. Besonders ohne Peter«, sagt der Österreicher. »Das sind wir ihm schuldig.« Seine Stimme beginnt zu hüpfen, wird zu einem zärtlichen Singsang. »Ich habe nie einen Menschen wie Peter kennengelernt, mit so viel Liebe. Und Geschäftsgeist!«

Im Treppenhaus zwei dekorative Holzgiraffen. Sie schauen mich mit blicklosen Augen an und wirken immens deplatziert. Ich kann mich gut mit ihnen identifizieren. Dann Topfpflanzen, Traumfänger und bunte Bilder von lichtumspülten Engelsgestalten im Wohnbereich, handbeschriebene Namensschilder an den Türen. Auch an meiner.

Im Vorfeld eines Besuchs hat man per »E-Post« eine Kopie des Reisepasses ans Königliche Meldeamt zu senden. Ich schaue auf meinen Namen und ärgere mich. Was, wenn mir so ein Österreicher irgendwann aufs Maul geben will? »Das Königreich ist ein Ort des Friedens«, sagt er, ganz so, als wolle er mich beruhigen. »Ich freue mich für dich. Der erste Besuch ist was ganz Besonderes. Für mich war das wie Nachhausekommen«, und er führt mich ins cremig rosafarbene Zimmer, ein ehemaliges Patientenzimmer, lehnt sich in den Türrahmen und stellt die Frage, vor der ich mich ein wenig gefürchtet habe.

»Jetzt erzähl mal. Was machst du so? Was hat dich zu uns geführt?«

Über diese Frage habe ich viel nachgedacht, vielleicht auch zu viel. Aber ich kann die Romantik nachvollziehen. Die Romantik des Aussteigens, der Verweigerung, des Rückzugs. Nach dem Abitur saß ich auch irgendwann mit meinem riesigen Rucksack vor einer altersschwachen Bretterbude in Christiania. Der autonome Stadtteil liegt mitten in Kopenhagen, zwischen Hafen und Festungsgraben, zwischen Kommune, Drogenparadies und Touristenattraktion. Dreadlock-Studenten aus Spanien reichten mir einen speichelfeuchten Joint. Mit einem einheimischen Bildhauer diskutierten sie gerade die Abschaffung der Nationalstaatlichkeit. Man sprach über Urbanisierung und Regionalisierung, ein großes Ganzes voller Kommunen und ohne Grenzen. Ein Spanier mit besonders filzigen Wursthaaren kam dann irgendwann auf Fela Kuti: Der legendäre nigerianische Aktivist und Musiker hatte im Kampf gegen die Militärdiktatur seine Kommune zur befreiten Republik erklärt. Man könne dem Establishment kein größeres Fuck You entgegensetzen, als sein eigenes Land zu gründen, sagte der Wursthaarspanier. Ich weiß nicht mehr, wie schlau das Gespräch wirklich war, aber damals hustete ich süße Haschischwolken und war schwer angetan.

Von Al-Bagdadi und seinem Islamischen Staat hatten wir damals alle noch nichts gehört. Und was ein Reichsbürger sein soll, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können.

»Was hat dich zu uns geführt?«, fragt der Österreicher, und ich überlege mir, was in meinem Leben hätte anders laufen müssen, um mich zum Aussteiger zu machen, um mich aus der BRD und vor meinem Leben fliehen zu lassen.

Die Antwort: Gar nicht mal so viel.

Meine Misserfolge mache ich etwas größer, meine Erfolge kleiner. Wo ich Glück hatte, streu ich Pech drüber, und zum großen Glück habe ich eine klinische Depression, die hilft bei meinen Ausführungen ungemein. Klingt alles ganz plausibel. Ich mag die Vorstellung, nicht lügen zu müssen, sondern mich, oder eine Version von mir, in dieses Reich fallenzulassen. Jetzt sei ich eben auf der Suche nach Alternativen, sage ich, nach einem Leben, in dem ich wieder atmen kann.

Der Österreicher hört mir lange zu, nickt, schaut, schweigt und spielt an den riesigen Steckern in seinen Ohrläppchen herum. »Peter hat mein Leben gerettet«, sagt er, lächelt sein liebenswürdiges Lächeln, diesmal ganz besonders warm, schaut mich voll Verständnis an und lacht dann. Lang, laut und ansteckend, und ich lache mit. Gerne würde ich wissen, wie seine Lebensrettung aussah und worüber wir eigentlich lachen, aber da marschiert er schon wieder los. »Komm, ich bring dich runter. Am Anfang verläuft man sich hier leicht.«

Der Österreicher legt mir fürsorglich seine Hand auf die Schulter. Wir stehen wieder vor der Klinik in der Sonne, und er sagt etwas über eine göttliche Schöpfungsordnung. Allein um die gehe es in der Welt. Also in seiner Welt. In Fitzeks Welt. Und er will mir Mut machen, glaube ich, er redet mir jedenfalls gut zu. »Das ganze System da draußen soll uns von der Wahrheit abbringen, aber das schaffen die nicht«, oder sowas in die Richtung sagt er, und ohne dass ich gefragt hätte, beginnt er mir aufzuzählen, wie Die-da-draußendie göttliche Ordnung vernichten wollen: Mit ihrer Bundesrepublik, ihren Behörden, ihrem Kapitalismus. Der Österreicher verliert sich in den Beispielen, spricht von genmanipuliertem Essen und der Kirche und von Impfungen, besonders von Impfungen, die unsere Kinder krankmachen und willenlos …

Es sind nur Bruchstücke von Verschwörungstheorien, aber sie reichen aus, um ihn in Aufregung zu versetzen. Kaum hat er einen Gedanken gefasst, wird der schon vom nächsten verdrängt. Diese seine Welt ist voller Gefahren, zu viele, um sie gedanklich zu ordnen. Alles hängt zusammen. Die Welt hat sich verschworen. »Du verstehst das schon, oder?«

»Ich glaube schon«, antworte ich. Das Gefühl, überwacht zu werden, ausgebeutet, verfolgt, das kennt man. Mehr oder weniger. Zumindest abstrakt. Aber der Österreicher wacht jeden einzelnen Morgen mit diesen Überzeugungen auf. Er hat sich in seinem Albtraum eingerichtet, hat ihn zur Realität werden lassen. Er quasselt weiter, immer noch und immer schneller, ganz so, als wolle er so dieses albtraumhafte System aus seinem Schädel bekommen. Aber er schafft es nicht.

Der Österreicher hat Kafka im Kopf.

Irgendwann stoppt er. Schaut mich wieder an, so wie oben im Patientenzimmer, und umarmt mich. Fest und herzlich.

»Es ist gut, dass du da bist. Wir müssen an der Vision arbeiten, dann wird das alles gut.«

Er löst die Umarmung und lächelt sein liebenswürdiges Lächeln. Er wirkt ganz zuversichtlich.

Die Prinzessin

Den Großteil der Tage verbringe ich damit, den gläsernen Vorbau des verlotterten Südflügels auf Vordermann zu bringen. An meiner Seite ein Mädchen, Anfang zwanzig vielleicht, die mit großer Euphorie und Wischmop zur Sache geht, und ein älterer Herr, der sorgfältig Quadratzentimeter um Quadratzentimeter des Treppengeländers poliert.

Das Mädchen ist erst vor drei Wochen ins Königreich immigriert, um bei ihrem Freund zu sein. Sie ist nicht mit irgendwem zusammen, sondern mit dem Vizekönig, Freiherr Martin von Schulz, der Nummer zwei im Staat. Die beiden haben sich auf einem Homöopathieseminar kennen und lieben gelernt, und wer träumt nicht davon, in ein Königshaus einzuheiraten? Also packte sie ihre Koffer und bezog eines der creme-, minz- oder pfirsichfarbenen Patientenzimmer.

»Du bist also quasi von Adel. Die Prinzessin des Königreichs!«

»So ein Quatsch!«, lacht sie und grinst bis über beide Ohren.

Die Prinzessin mag es hier. Sie mag die Spiritualität. Sie mag die Gemeinschaft. Sie mag den streng geregelten Tagesablauf: Für die 24 ansässigen Untertanen ist es eine ganze Menge Arbeit, das Gelände instandzuhalten, aber sie macht es gerne. Irgendwann will sie hier im Reich ein Yogazentrum oder ein Café aufmachen. Oder ein Yogazentrum mit angeschlossenem Café. Mit italienischem Kaffee! Das Wort italienisch gefällt ihr besonders gut, sie sagt es oft und lässt es über ihre Zunge gleiten wie warmen Milchschaum.

Der Herr, der mit unsagbarer Bedacht- und Langsamkeit am Treppengeländer beschäftigt ist, heißt Arjun. Früher hieß er Uwe. Er spricht mit sanfter Stimme, trägt eine dünnrandige Brille und eine unauffällige Steppjacke. Sanft, dünn, unauffällig. Für spirituelle Menschen ist das Königreich ein wichtiger Ort, sagt er. Ein Guru habe es ihm auf einem Esoterikseminar ans Herz gelegt. Wie oft er mittlerweile hier gewesen ist, kann er nicht mehr sagen. Er fährt, wann immer er das Geld beisammen hat. Nur im Winter nicht. »Die heizen hier sehr wenig«, flüstert er mir zu, »das geht nicht mit meinem Rücken.« Arjun ist siebzig Jahre alt, man sieht es ihm nicht an. Er lebt aber auch sehr gesund. Seit einer Woche ernährt er sich ausschließlich von Fruchtsaft und Meditation.

Ich stehe auf einer Leiter und schabe die Schichten verkrusteter Vogelscheiße vom Dach. Die Prinzessin redet viel und gerne, und bald schon sagt sie etwas, das mich sehr überrascht, obwohl ich es schon wusste: Das Königreich liegt im Sterben. Ganz so hart sagt sie es natürlich nicht, aber sie weiß, dass das Gelände nie ganz abbezahlt wurde und dass »die verbrecherischen Abwickler« nun das ganze Reich weiterverkaufen wollen. In fröhlicher Gleichmütigkeit sprudelt es aus ihr heraus, während Arjun sich vor Schock am Geländer festkrallen muss.

Sie zuckt mit den Schultern und fegt das Schmutzwasser die Stufen hinab. Im schlimmsten Fall würde man einen noch besseren Ort finden. Aber so ein Projekt wie das Königreich werde so schnell nicht verschwinden, »egal wie brutal die Kräfte gegen uns vorgehen! Hier ist so eine superpositive Energie und ein superschönes Gemeinschaftsgefühl, und Geld ist hier superegal«, findet die Prinzessin. »Das ist völlig einzigartig!« Ich überlege kurz, ob ich ihr von Hippiekommunen erzählen soll, Wagenburgen, Öko-Dörfern, Hausbesetzern, Aussteigerkolonien oder Kibbuzim. Ich lass es bleiben. Sie würde eh nicht gehen. Und was wäre schon ein Königreich ohne Prinzessin?

Arjun kennt die Schikanen des Establishments noch von früher. In den Achtzigerjahren war er Teil der Bhagwan-Bewegung, lebte mit hunderten Gleichgesinnten in einem Berliner Mietshaus und studierte die Worte von Meister Osho.

»›Jugendsekte‹ haben die uns damals genannt. Die Deutschen hassen alles, was sie nicht verstehen. Das war auch nichts anderes, als was sie jetzt mit Peter machen.« Er sagt das ganz sachte, wie alles ganz sachte ist, was er sagt und tut.

Als sich die Kommune auflöste, zog Arjun in ein Meditationszentrum. Ein Leben ohne spirituelle Gemeinschaft war für ihn nicht mehr möglich. Im Zentrum schaute er nach dem Rechten und kochte gelegentlich. Und er hatte Atma, seinen kleinen grauen Kater. Jetzt gibt es auch das Meditationszentrum nicht mehr. Arjun lebt nun in der Stadt von ein paar hundert Euro Grundsicherung. Den Kater musste er zurücklassen. Seine Wohnung ist nicht groß genug für einen alten Mann und eine Katze.

Arjun ist nicht wütend, hat auch kein Problem mit dem Staat, so wie er mit niemandem ein Problem hat: »Die Welt ist doch nur ein Traum, und alles wird irgendwann lange her sein.« Manchmal fährt er mit dem Bus raus zum ehemaligen Meditationszentrum, dann sitzt er da und streichelt Atma. Vielleicht wird er das ja auch noch dürfen, wenn die neuen Mieter kommen. Und wenn Peter dann auch wieder freigelassen wird, sagt er, dann wäre er völlig zufrieden. Er beguckt sich das Treppengeländer und beginnt, den nächsten Quadratzentimeter zu putzen. Ich schau ihm dabei zu, frage mich, ob hinter der sanften Tristesse womöglich wirklich sowas wie Glück steckt.

Die Prinzessin hat hingegen ein ganz massives Problem mit der BRD. Sie lehnt eine zweite Leiter an das Dach und steigt zu mir herauf. »Die Normalos da draußen sind doch alle krank.«

»Alle?«

»Absolut. Geht es dir da draußen etwa gut?« Sie wartet keine Antwort ab und lässt den nassen Wischmop auf das Dach klatschen. »Aber die Normalos wollen auch nichts anderes. Die wollen krank sein. Oder vielleicht sind die noch nicht so weit. Wenn du denen von alternativen Heilmethoden erzählst, dann rümpfen die nur die Nase.« Und dann, weil ich ihr gestehen muss, von alternativer Medizin keinerlei Ahnung zu haben, gibt sie mir einen kleinen Crashkurs. Voller Freude erzählt sie von Radionik und Chakren, von Blutzapping, regelmäßigen Einläufen und gewaltigen Darmparasiten, groß wie Zwergpudel, aber von der Schulmedizin verschwiegen!

Ich gebe mir redlich Mühe, aber ein wenig lachen muss ich doch. Es ist unmöglich, ihre an Dämlichkeit grenzende Naivität nicht charmant zu finden. Mit einer immensen Lust stolpert sie von Satz zu Satz, und immer wieder springt ihre Stimme für bestimmte Sentenzen in den Vortragsmodus eines auswendig gelernten Schulreferats: »Durch eine radionische Untersuchung lassen sich die Chakren und Auren nicht nur bestimmen, sondern auch diagnostizieren.« Dann freut sie sich über diesen Satz und fügt hinzu, sie selbst habe supergute Auren und höchstens zwei oder drei verrutschte Chakren. Sie strahlt mich an, als erwarte sie eine Eins plus und einen Keks. Aber einen veganen. Mit Globuli-Streuseln.

»Darum unsere königliche Gesundheitskasse. Da kannst du zu echten Heilern gehen.«

»Wie schön.«

»Über eintausend Menschen sind bei uns versichert! Und kein einziger hat bisher Krebs bekommen.«