Die Reise - Marina Lostetter - E-Book

Die Reise E-Book

Marina Lostetter

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2088, und die Menschheit bricht zu den Sternen auf. Ein geheimnisvolles Objekt, das weit jenseits unseres Sonnensystems entdeckt wurde, soll das Ziel der Reise sein. Eine Reise, die Hunderte von Jahren dauern wird. Alle paar Jahrzehnte wird die Crew geklont, doch nicht jeder Klon ist eine perfekte Kopie seines Vorgängers und jede Generation von Klonen hat ihre ganz besonderen Eigenheiten. So wird bereits die Reise selbst zu einem atemberaubenden Abenteuer für jeden von ihnen, und noch wissen sie nicht, welche Geheimnisse sie erst erwarten, wenn sie ihr Ziel erreicht haben ...

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Seitenzahl: 651

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Das Buch

Wir schreiben das Jahr 2125: Mehrere Konvois brechen von der Erde in unerforschte Regionen der Galaxis auf, um wissenschaftliche Erkenntnisse über rätselhafte astronomische Phänomene zu gewinnen. Konvoi Sieben hat zum Ziel, den Planeten LQ Pyxidis zu erforschen, der wie von einem Mantel – oder einer Dyson-Sphäre – umschlossen scheint und einen unerklärlichen Energieausstoß erzeugt. Bemannt sind die Schiffe mit Menschen, deren Genreihen während des Fluges geklont werden, denn selbst mit einem speziellen Antrieb, der sich einer Subdimension der Zeit bedient, dauert der Flug subjektive hundert Jahre – während auf der Erde etwa tausend Jahre vergehen. Bald kommt es unter der Besatzung zu Problemen: Raumkoller und Auflehnung gegen die starre Hierarchie sowie die ebenso starre Festschreibung der Lebensspanne, nach der jedes Mitglied ausscheiden muss. Als LQ Pyxidis endlich erreicht ist, sieht sich die Konvoi-Besatzung mit einer Alien-Technologie konfrontiert, die ihr völlig neue Rätsel aufgibt. Ist die Mission gescheitert? Und wie wird die Erde des Jahres 4100 auf die Forschungsergebnisse reagieren?

Die Autorin

Marina Lostetter, geboren in Oregon, interessiert sich für Kunst, liebt Brettspiele und Reisen und liest gerne Bücher über Naturwissenschaft und Geschichte. Ihre Kurzgeschichten wurden in Magazinen wie Lightspeed, InterGalactic Medicine Show und Shimmer Magazine veröffentlicht. Die Reise ist ihr Debütroman.

Mehr über Marina Lostetter und ihren Roman erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe

NOUMENON

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2019

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2017 by Little Lost Stories, LLC

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von vrx/Shutterstock

und Aphelleon/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-20246-0V002

www.diezukunft.de

Für alle, die um ein besseres Morgen

und ein hoffnungsvolleres Heute ringen. Danke.

Und für Alex: meine Liebe, mein Lachen,

mein Licht in der Dunkelheit.

ERSTER TEIL

WIDERSTÄNDE

1

Reggie: Ein König von unermesslichem Gebiete

14. April 2088 AZ (Allgemeine Zeitrechnung)

T minus 37 Jahre vor Starttag (ST)

Das Konsortium Vereinter Planet wurde geschaffen, um im Interesse der ganzen Erde Projekte im interstellaren Raum zu verfolgen. Jede Mission des Konsortiums ist darauf angelegt, wissenschaftliche Erkenntnisse für die gesamte Menschheit zu gewinnen, deren Aktionsradius über den Heimatplaneten hinaus auszuweiten und eine nachhaltige planetenweite Kooperation sicherzustellen …

Die Hitze der Scheinwerfer trieb Reggie dicke Schweißperlen auf die Stirn. Er konnte die Professorin aus Berkeley kaum hören. Obwohl sie nur drei Plätze von ihm entfernt war, hätte sie auch von der Marsoberfläche senden können.

Der Mars – wäre das nicht eine schöne Alternative zu seinem jetzigen Aufenthaltsort? Auf dem Mars herrschte Stille. Es war menschenleer. Keine Kameras, keine Horden von Wissenschaftlern, Reportern und Politikern, die an seinen Lippen hingen und jedes Wort aufsaugten.

»Es ist Ihre Entdeckung, deshalb werden Sie sie auch präsentieren«, hatte Professor McCloud in seinem Büro gesagt. Er hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen und Reggie angefunkelt wie ein tollwütiger Hund, der zubeißen würde, wenn er seinen Willen nicht bekam.

Von allen Professoren der Welt musste Reggie ausgerechnet den einzigen erwischen, der nicht scharf darauf war, seinen Namen auf sämtliche Forschungsarbeiten seiner Doktoranden verewigt zu sehen. »Sir, meine Doktorarbeit zu verteidigen ist eine Sache, aber das … ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Natürlich können Sie das.« McCloud hustete so kräftig in sein Taschentuch, dass sein dichter weißer Backenbart zusammen mit dem Unterkiefer auf und ab hüpfte. »Es sind doch nur Menschen, Herrgott noch mal! Wenn Sie es ertragen, dass ein Haufen verknöcherter alter Intellektueller über jedes Äh, aber und Ich denke aus Ihrem Mund ein Urteil fällt, dann halten Sie auch ein paar Kollegen und Digitalrekorder aus.«

»Aber …«

»Außerdem wurde die Entdeckung bereits verifiziert. Also wird man Sie nicht auslachen. Die Leute sind nicht einmal Ihretwegen hier. Sie wollen sich die Idee anhören und das Konzept bestaunen. Wenn alles vorbei ist, wird man sich an Sie nicht einmal mehr erinnern. Was zählt, ist die Information, Straifer, nicht Ihr vernuschelter, verhuschter Vortrag.« Er beugte sich weiter vor, sein Doppelkinn wabbelte. »Wenn Sie für diesen rätselhaften stroboskopischen Stern wirklich eine brennende Leidenschaft entwickelt haben, wäre es ein Verbrechen, einen verfressenen Greis wie mich zu zwingen, den Vortrag für Sie zu halten.«

»Das ist ein stichhaltiges Argument«, meldete sich eine elektronische Stimme aus Reggies Tasche. Er zog sein Telefon heraus. Das Icon des Intelligenten Persönlichen Assistenten blinkte – er hatte den Zwischenrufmodus eingestellt. »In den letzten fünfundzwanzig Jahren wiesen Projekte, für die vor der Finanzierung ein vergleichbares Screening-Verfahren erforderlich war, eine um achtundsiebzig Prozent höhere Erfolgswahrscheinlichkeit auf, wenn diejenigen Personen, die die Forschungsarbeit ursprünglich geleistet hatten, ihre Erkenntnisse auch selbst vortrugen. Die Einbeziehung von Dritten …«

»Danke, C.« Reggie schaltete das Telefon ab und starrte den Professor trotzig an.

Zehn Minuten später hatte er widerwillig zugestimmt.

Jetzt stand er vor dieser Menschenmenge und wünschte sich nichts mehr, als dass er Dr. McCloud und dem Computer geraten hätte, sich ihre Ratschläge sonst wohin zu stecken.

Der Professor saß in der dritten Reihe und nickte bei jeder zweiten Silbe, die aus dem Mund der Vortragenden kam. Sein Blick wechselte kurz zu Reggie, und sein Grinsen sagte: Schlag los!

Reggie wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Vortrag zu. Hatte er richtig gehört? Wollte die Professorin aus Berkeley allen Ernstes empfehlen, die Langstreckenforschung ausschließlich auf Regionen mit hoher Dichte von dunkler Materie zu konzentrieren? Was konnten zwölf Untersuchungen von dunkler Materie ergeben, was man nicht mit einer allein in Erfahrung bringen konnte?

Aber dunkel war sexy. Alles, was das Etikett ›dunkel‹ trug: Materie, Energie, Kräfte, etc. Was war an seiner Entdeckung sexy?

Es ist, als wäre der Stern von einer Kruste umgeben, sagte er sich im Geiste immer wieder vor. Er musste die richtigen Worte finden. Die Wortwahl war ausschlaggebend. Sie würde seinen Stern interessant, bemerkenswert machen. Er konnte nur hoffen, dass sie überzeugend genug wäre, um ein Team zugewiesen zu bekommen.

Der variable Stern mit der Bezeichnung LQ Pyxidis war einmalig. Er musste den Leuten hier begreiflich machen, dass er etwas Besonderes an sich hatte. Schließlich wusste er, dass eine große Entdeckung darauf wartete, durch eine Visite vollends enthüllt zu werden.

Er musste die Zuhörer lediglich dazu bringen, das auch so zu sehen.

Wir verlassen diese Welt, dachte Reggie aufgeregt. Wir fliegen in den interstellaren Raum. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wollten die Menschen eine Reise zu den Wundern des Universums wagen. Reggie wollte auf irgendeine Weise daran teilhaben. Wichtiger noch, er war sicher, dass LQ Pyx Teil des Unternehmens sein musste. Er konnte es spüren. Dieser variable Stern war von Bedeutung.

Reggie schaltete sein Tablet ein und scrollte durch die Notizen. Wie immer ließ ihn das schlichte Schwarz-Weiß-Bild von seinem Stern, aufgenommen vom JWST 3*, innehalten. Man sah ganz deutlich, dass LQ Pyx asymmetrisch war; auf einer Seite spritzte die Energie nur so heraus, der Ausstoß war um mehrere Größenordnungen höher als auf der entgegengesetzten Hemisphäre. Und die Werte schwankten andauernd. Entweder rotierte der Stern ungewöhnlich langsam für einen derart dramatischen solaren Jet … oder etwas umkreiste ihn und überdeckte die normalen Emissionen.

Es ist, als wäre er von einer Kruste umgeben. Einem Mantel.

Dr. Berkeley – wie hieß sie doch noch mal? Er konnte sich den Namen nicht merken; er hatte das Gefühl, als laufe ihm das Gehirn zu den Ohren heraus. Jedenfalls war sie mit den Zuschauerfragen schon fast durch.

Reggie zog ein Papiertuch aus der Tasche und tupfte sich die Stirn ab. Das Tuch zerriss, und ein paar Teile des feuchten Zellstoffs klebten ihm am Gesicht fest. Er streifte sie hastig ab. Hoffentlich hatte er alle erwischt.

Gleich war er an der Reihe. Er schaute von einem der Vortragenden am Tisch zum anderen. Eine lange Reihe von Veteranen der Forschung. Drei hatten Lehrbücher geschrieben, die er im Studium verwendet hatte. Zwei hatten Bücher verfasst, aus denen er in seiner eigenen Doktorarbeit zitiert hatte. Er könnte jeden Einzelnen davon lobend erwähnen – falls er nicht vor lauter Nervosität ihre Namen vergaß. Alle waren sie bewährte, geachtete Wissenschaftler – selbst diejenigen, deren Theorien umstritten waren; sie profitierten von der Aufregung über die öffentlichen Auseinandersetzungen. Und einer moderierte eine mit viel Beifall bedachte Fernsehserie, Der Kosmos und Du. Alle hatten sie sich einen Namen gemacht, alle standen sie auf dem Gipfel einer fantastischen Karriere.

Alle außer Reggie.

Der Telefonchip vor seinem Trommelfell surrte, und der hinter seiner Iris implantierte Bildschirm erwachte zum Leben. »Sind Sie bereit? Haben Sie alle Notizen? Keine letzten Wünsche? Gleich ist es so weit.«

»Ja«, murmelte er. »Ich bin bereit.«

»Okay, dann stehen Sie jetzt auf. Sie sind in fünf, vier …« Der Countdown wurde nur visuell fortgesetzt. Mit jeder violetten Zahl, die vor seinen Augen erlosch, stolperte sein Herz.

»Vielen Dank, Dr. Countmen«, sagte der Moderator. So heißt sie also. »Als Nächsten möchte ich Ihnen Mr. Reginald Straifer vorstellen.«

Reggie hätte schwören können, unter dem obligatorischen Begrüßungsapplaus ein Kichern zu hören. Hätte ihm der Ausschuss die Doktorwürde nicht vor der Konferenz verleihen können? War denn ein gesichtswahrender Doktortitel zu viel verlangt?

Er zitterte über seine ganzen ein Meter siebzig. Aber es war nur eine leichte Irritation – er hatte alle Muskeln angespannt, um still sitzen zu können. Wie er dastand, schlaksig, mit seinem mausbraunen Wuschelkopf, der breiten Nase und dem schüchternen Blick, gab er nicht gerade ein Bild der Selbstsicherheit ab.

Entspann dich. Tu wenigstens so. Sie sind nicht deinetwegen hier, sondern wegen deiner Arbeit.

»V-v-vielen Dank. Ich … ich möchte hiermit empfehlen, dass einer der Konvois ausdrücklich zu dem Zweck gebaut wird, den variablen Stern LQ Pyxidis aufzusuchen. Licpix, wie ich ihn gerne nenne.« Schweigen. Reggie zerrte an seinem Kragen.

»Tief durchatmen, Sir«, ließ sich C aus Reggies Tasche vernehmen.

Damit erntete er ein leises Glucksen aus der ersten Reihe. »Ruhemodus bitte«, sagte er, um dann dem Rat der KI zu folgen. »Äh, könnten wir bitte die Animation auf den Schirm bekommen?«

Das Licht wurde gedämpft, und auf den Implantaten aller Anwesenden erschien eine farbige Reproduktion von LQ Pyx. Reggie ermahnte sich, nicht ins Fachchinesisch zu verfallen – die Reporter sendeten in alle Welt –, und stürzte sich in seine Präsentation.

Während er den seltsamen Energiejet beschrieb, der möglicherweise gar kein Jet war, fand er allmählich in seinen Rhythmus. Er zeigte auf, inwiefern das Taumeln des Sterns ein Hinweis auf einen ausnehmend massereichen Partner sein könnte, der auf diese Entfernung nicht zu erkennen war. Und er formulierte seine Hypothese darüber, wo sich dieser unsichtbare Trabant befinden könnte – dass er den Stern höchstwahrscheinlich umgab.

»Licpix ist krustig … äh, überkrustet. Als hätte ein Kind im Werkunterricht mit einer Glühbirne gearbeitet. Vielleicht denkt das Kind, mit etwas Farbe und Plastiksteinchen sähe die Birne besser aus. Also kleistert es die Oberfläche mit Flitter zu – nur eine Stelle hat es vergessen. Wenn diese Glühbirne nun brennt, was würden wir sehen? Auch wenn sich die Grundleistung nicht verändert, käme das meiste Licht durch diesen kleinen Bereich an der Oberfläche. Bis auf einen einzigen hellen Punkt wäre alles matt – ganz ähnlich wie bei diesem Stern.

Sein Licht wird einfach verdeckt. Ein unbekanntes Objekt blockiert es, und wir müssen zu LQ Pyx fliegen, um herauszufinden, was für ein Objekt das ist.«

Damit war er zu Ende. Er holte tief Luft und setzte sich. Dann ließ er den Blick über die Zuhörer schweifen und wappnete sich für den Ansturm von kleinlichen, nörgeligen Fragen.

Eine zittrige Hand ging in die Höhe. Ein älterer Herr in Tweedjackett und Fliege stand auf. »Was haben Sie für einen Verdacht, junger Mann?« Reggie konnte seinen Akzent nicht einordnen. »Wenn wir dorthin fliegen, was werden wir vorfinden?«

Reggie ließ sich von einer Hilfskraft ein Glas Wasser reichen und nahm einen tiefen Schluck. Dann antwortete er: »Nun ja, ich, äh … wenn ich das wüsste, könnten wir uns die Reise ja sparen. Eine extrem kleine und dichte Version der Oort’schen Wolke vielleicht. Möglicherweise eine Asteroidenkugel anstelle eines Gürtels. Wäre es nicht wunderbar, neue Möglichkeiten der Orbitalprojektion zu entdecken? Es könnte auch der Anfang eines neuen Systems sein – womöglich ein Stadium, das wir noch nie beobachten konnten. Das könnte unsere Theorien zur Entstehung von Planeten verändern. Ich … ich weiß es wirklich nicht.«

Der Alte nickte, und seine buschigen weißen Augenbrauchen zogen sich zusammen. »Und was ist mit Dyson?«

Reggie war überrascht. »Meinen Sie damit, ob es ein künstliches Objekt sein könnte?« Er überlegte kurz, dann zuckte er mit den Achseln. »Klar, warum nicht?«

Die Zuhörer begannen aufgeregt mit ihren Nachbarn zu tuscheln. Im ganzen Auditorium brodelte es von Spekulationen. In Professor McClouds Augen trat ein hintergründiges Funkeln.

»Ja, warum nicht?«, rief der alte Mann mit der Fliege Reggie zu, und seine faltigen Wangen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Dieser alte Mann hat mich wie einen Schwachkopf aussehen lassen«, klagte Reggie. Er hob sein Glas und kippte den Rest des goldgelben Biers hinunter. Das Zeug roch wie alte T-Shirts. »Ich habe dagestanden wie ein amerikanischer Hinterwäldler, der sich schleunigst wieder in seinem Dorf im Mittelwesten verkriechen sollte.«

Nach der Präsentation hatte ihn Professor McCloud in einen nahe gelegenen Pub eingeladen. Die Auswahl an Kneipen in Oxford war groß, dennoch waren sie in diesem Loch gelandet. Es war dunkel – nicht wegen der Atmosphäre, sondern weil nur die Hälfte der Deckenleuchten brannten. Alles stank nach Zigarrenrauch, auch die Vinylpolsterung in ihrer Nische. Die Einrichtung erinnerte Reggie an eine Spielhölle aus den 1970ern, jedoch ohne deren Charme.

Alle anderen Gäste waren wie McCloud mindestens sechzig Jahre alt. Reggie hatte den Verdacht, dass es sich um ein Stammlokal von Dozenten mit Festanstellung handelte.

Über diesen Status brauche ich mir von nun an den Kopf nicht mehr zu zerbrechen, dachte er.

»Der Alte hat Sie wie ein Genie aussehen lassen«, konterte McCloud und nahm einen Schluck von seinem Jack Daniels. Dann gab er der Bedienung ein Zeichen, für Reggie ein neues Glas zu bringen. »Warum haben Sie es nicht selbst angesprochen? Sie haben doch schon darüber spekuliert, ob es im Umkreis von Licpix künstliche Konstrukte geben könnte?«

Reggie neigte sein Glas, um die Prägung auf dem Boden sehen zu können. Er hätte sie lieber durch mehr Bier betrachtet. »Weil es albern ist.«

»Die Begründung?«

»Nein, die Idee.«

McCloud lachte spöttisch und nahm Reggie das Glas aus der Hand. »Wenn etwas im Bereich des Möglichen liegt, ist es nicht albern.«

»Ein Konstrukt, das größer – und vielleicht massiver – ist als ein Stern?«, fragte Reggie. »Wer sollte so etwas bauen? Die Milliarden von Lebensformen, die wir da draußen ausfindig gemacht haben?« Sein Sarkasmus war dick aufgetragen, fast schon arrogant, und er wünschte sich noch im Sprechen, sich etwas mehr zurückgehalten zu haben.

»Dass man etwas nicht sehen kann, heißt noch lange nicht, dass es nicht da ist.«

»War das nicht das Argument von Dr. Countmen?«

»Was wollen Sie denn?«, fragte der Professor. »Immerhin hat er Sie ins Gespräch gebracht, nicht wahr?«

»Ihr Antrag ist der einzige, der die Möglichkeit einer Begegnung mit intelligentem Leben oder das Auffinden entsprechender Beweise postuliert«, mischte C sich ein. Reggies Telefon stand zwischen den beiden Männern auf dem Tisch. »Diese Einzigartigkeit könnte rein statistisch seine Attraktivität steigern.«

Er hatte sich ja Aufsehen, Sexappeal gewünscht. Und was wäre wohl sexyer: ein Haufen Felsen oder eine riesige Alien-Maschine?

»Aber es ist so unwahrscheinlich«, nörgelte Reggie. »So unwahrscheinlich, dass …«

»Dass was?«, fragte McCloud.

»Dass es sich wie eine Lüge anfühlt.«

Die Bedienung schlenderte heran und tauschte sein leeres Glas schnell gegen ein volles aus. Sie schenkte den beiden ein strahlendes Lächeln, und Reggie versuchte es zu erwidern. Aber er war überzeugt, dass es nicht dankbar wirkte, sondern eher so kläglich, als hätte er Magenbeschwerden.

McCloud setzte zum Sprechen an, hielt dann inne und hustete in sein Taschentuch. Nachdem er sich Mund und Nase abgewischt hatte, steckte er das Tuch wieder ein. »Wenn ich Ihnen sage, dass Ihnen Ihre Forschungen am Ende entweder eine Dozentenstelle oder den Nobelpreis für Physik eintragen könnten, wäre das gelogen?«

Reggie seufzte und nahm einen Schluck. »Ich werde sicher keinen Nobelpreis gewinnen.«

»Aber es ist eine Möglichkeit – zugegeben eine entfernte. Wenn ich sage, es könnte geschehen, so unwahrscheinlich es auch sein mag, ist das keine Lüge. Anders wäre es, wenn ich sagen würde: Ich glaube, dass es geschieht, ohne wirklich daran zu glauben.«

Reggie zog eine Schnute. »Sie glauben also nicht, dass meine Forschungen den Nobelpreis verdienen?« Er fand sich lächerlich kindisch und nahm noch einen Schluck, um seine Verlegenheit zu kaschieren.

»Habe ich das gesagt?« McCloud knuffte Reggie in die Schulter, und beide lachten. Dann trank der Professor seinen Whisky aus. »Also, wenn Sie nicht an eine Alien-Maschine glauben, wofür halten Sie es denn?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb möchte ich ja, dass jemand hinfliegt und es herausfindet … die Wahrheit feststellt.«

»Wollen Sie, dass jemand hinfliegt, oder wollen Sie selbst hinfliegen?«

Reggie erschauerte innerlich. McCloud hatte einen Punkt berührt, an den Reggie bisher noch nicht einmal zu denken gewagt hatte – einen heimlichen Wunsch, den er für unerfüllbar hielt. Er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Zeitverschwendung, sich damit zu beschäftigen.«

»Haben wir nicht gerade über möglich und unmöglich gesprochen? Sie könnten mitfliegen. Niemand hat bisher das Gegenteil behauptet. Man hat über die Schiffsbesatzungen noch nicht entschieden. Noch weiß man nicht, was für Leute man für den Warp-Antrieb braucht oder wie er heißt.«

»SD-Antrieb«, verbesserte Reggie. »Wir sprechen von subdimensionalem Flug. Subdimensionen, ha! Was für ein verstümmelter Begriff! Fast so schlimm, wie etwas ›dunkel‹ zu nennen, was einfach nur unbekannt war.

Es gab viele Gründe, die Missionen zu diesem Zeitpunkt auf den Weg zu bringen. Die interstellare Raumfahrt war endlich Realität geworden, das weltpolitische Klima entwickelte sich zunehmend positiv, die Zahl der bewaffneten Konflikte war beispiellos niedrig. Ressourcen waren nicht nur in Hülle und Fülle vorhanden, sondern auch so gleichmäßig verteilt wie nie zuvor, und die Weltbevölkerung hatte sich bei neun Milliarden eingependelt (einige Wissenschaftler prophezeiten sogar einen möglichen Rückgang in den nächsten fünfzig Jahren). Nun gedachte die Menschheit in großem Stil die ersten Schritte über das eigene Sonnensystem hinaus zu unternehmen.

Die Menschen wollten endlich wissen, ob sie da draußen, fernab der Wärme und Geborgenheit ihres kleinen Sterns vom TypG überleben konnten.

»Ich würde es nicht erleben«, sagte Reggie. »Es ist zu weit. Sie wissen doch, wie lange es dauern würde, LQPyx zu erreichen. Generationen.«

»Das heißt doch nicht, dass Sie nicht mitfliegen könnten. Um das Unternehmen von Anfang an in die richtigen Bahnen zu lenken.«

»Aber es heißt, dass ich es nie erfahren werde.« Reggie schob das Bier von sich weg. »Ob ich mitfliege oder nicht, ich werde nie erfahren, warum LQPyx so ist, wie er sich uns darstellt.«

»Sie sind also einer, für den das Glas immer halb leer ist?« McCloud klopfte mit den Fingerspitzen gegen das Bierglas.

Reggie zuckte mit den Achseln. »Mag schon sein.«

»Ich glaube, es gibt etwas, was die Leute mit dem halb leeren Glas immer übersehen.« Er hielt inne.

Reggie kräuselte die Lippen und zog fragend eine Augenbraue hoch. »Nämlich?«

Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk griff McCloud nach dem Glas. Im nächsten Augenblick schüttete er Reggie das Bier über die Brust.

»Mann!« Reggie fuhr hoch und wollte hochspringen, doch er war bereits bis auf die Haut durchnässt. »Verdammt, was soll das?«

McCloud lachte. »Was leer ist, hinterlässt keine Spuren, nicht wahr?« Er reichte Reggie sein Taschentuch, doch der lehnte ab – er hatte gesehen, wie es benutzt worden war. Stattdessen zog er das Hemd von der Brust weg und sah sich Hilfe suchend um, aber niemand erbarmte sich. McCloud fuhr fort: »Im Leben geht es nicht um verpasste Gelegenheiten, Mr. Straifer. Es geht um die Augenblicke, in denen wir bis auf die Haut durchnässt werden und vor Erfahrung triefen.« Er deutete auf den hinteren Bereich des Pubs. »Ich glaube, zu den Toiletten geht es dahin.«

»In diesem Stadtviertel gibt es drei chemische Reinigungen«, meldete sichC.

McCloud war verrückt.

Das hieß allerdings nicht, dass er unrecht hatte.

Nachdem Reggie und der Professor in die Staaten zurückgekehrt waren, folgten Monate des Wartens, in denen Reggie lange darüber nachdachte, ob man biernasse Dockers als Metapher für das Leben sehen konnte. Aber er war Wissenschaftler, kein Dichter. Sein Ding war die Mathematik – mit Metaphern hatte er noch nie viel anfangen können.

Den Sinn hatte er immerhin verstanden.

Reggie stand auf einem bedenklich schwankenden Schemel und wollte gerade sein frisch gerahmtes Doktordiplom aufhängen, als sein Telefon klingelte. Er meldete sich über seine Implantate. Als er hörte, wer der Anrufer war und worum es ging, ließ er das Diplom fallen. Das Glas zerbrach. Die Scherben verteilten sich kreisförmig über seinen Laminatboden.

»Man hat was genehmigt? Meinen Antrag … mein Projekt? Sind Sie sicher? Kein Irrtum möglich? Ja, ja, das bin ich. O mein Gott. Ich kann nicht … ich meine … danke. Vielen Dank!«

Nach vierundzwanzig Wochen hatte das Gremium – Tausende Experten aus knapp einhundert Nationen – endlich abgestimmt. Nach einer weiteren Woche waren die Stimmen ausgezählt. Die zwölf Anträge mit den meisten Stimmen – zwölf Anträge für zwölf Konvois – wurden ausgewählt.

Und sein Antrag war dabei gewesen. Man wollte zu seinem Stern fliegen.

Man wollte zu LQPyx.

Ohne die Scherben aufzulesen, stürzte er zum Kleiderschrank und riss seine Jacke heraus. Mit zwei weiteren Schritten war er an der Wohnungstür, und noch bevor sie hinter ihm ins Schloss gefallen war, hing er bereits am Telefon.

Das verlangte nach einer Party. Einer Party, wie er sie seit Studententagen nicht mehr geschmissen hatte.

»C, schick eine Nachricht an die Truppe: Wir gehen rein!«

Auch Promovierte wissen, wie man sich ordentlich betrinkt.

»Nun komm schon mit, das macht Spaß.« Reggie fasste die junge Frau an der Hand und zog sie in die Nacht hinaus. Mit der anderen Hand streichelte er den Hals seiner Bierflasche, während seine Füße unsicher durch das Gras stolperten. Hinter ihnen tobte die Party weiter

Miguel, einer von Reggies Freunden, bewohnte nicht weit vom Campus ein Haus in den Bergen und hatte sich bereit erklärt, die Fete dort steigen zu lassen. »Es ist für dich wie eine Coming-out-Party«, sagte er und klopfte Reggie auf den Rücken. »Du weißt schon, wie im Süden, wenn die Mädchen zum ersten Mal ihre Periode kriegen.«

»Das ist nicht der Anlass für eine Coming-out-Party«, widersprach Reggie. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, was der Anlass war, aber das konnte es nicht sein. Trotzdem ließ er zu, dass seine Freunde jedem erzählten, er hätte jetzt sein Coming-out. Irgendwie hatten sie es geschafft, ihn mit dem Fest gleichzeitig zu feiern und zu veräppeln.

Licht strömte in den Garten, und die dröhnenden Bässe erschütterten Reggie immer noch bis ins Mark, obwohl sie die Lautsprecher weit hinter sich gelassen hatten.

Bei ihm war eine rassige junge Frau mit den welligen Haaren und den schwellenden Kurven einer griechischen Göttin – sie hatte sich als Abigail vorgestellt.

Abigail. Das hörte sich gut an. Und es gefiel ihm, ihre Hand in der seinen zu spüren.

Er wusste bloß nicht mehr so genau, wie ihre Hand eigentlich dahin gekommen war …

Auf der Party tummelten sich Scharen von unbekannten Gästen. Freunde von Freunden, Verwandte von Freunden, Leute, die hereingeschneit waren, um zu sehen, woher die Musik kam, und sich ein paar Häppchen zu schnappen. Abby – Moment, nein, sie hatte gebeten, nicht so genannt zu werden – Abigail war die Cousine des Freundes eines Freundes und machte gerade ihren Magister in Englisch.

»Was studierst du denn?«, hatte sie ihn gefragt.

Ach so. Reggie hatte sie sofort an der Hand genommen und sie durch die Hintertür nach draußen geführt. »Ich zeig’s dir.«

Hinter der wackligen Gartenpforte ging es steil bergauf –sie blieben kurz stehen, damit sie ihre Schuhe ausziehen konnte – und um einen kleinen Felsvorsprung herum. Dann hatten sie die Kuppe eines Hügels erreicht. Unter ihnen breitete sich die öde Kleinstadt mit ihrem College aus, über ihnen spannte sich der weite Himmel in seiner ganzen Pracht.

»Leg dich hin«, sagte er und deutete auf eine Stelle mit weichem Gras.

Sie verschränkte die Arme und zog skeptisch eine Augenbraue noch. »Sonst noch was?«

Er war tief geknickt, bis ihm klar wurde, wie sich das angehört hatte. »O mein Gott, nein! Entschuldige … nicht wie … tut mir leid … nein. Schau. Ich meine nur so.« Er war beschwipst und ließ sich ziemlich schwerfällig zu Boden fallen. Dann breitete er die Arme aus und erschauerte kurz, als hätte er sich soeben in ein bequemes Bett gelegt. »Von da oben kannst du die Sterne nicht sehen«, sagte er, als sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt, über ihn beugte.

Sie hatte wohl entschieden, dass Reggie keine bösen Absichten hegte, zuckte mit den Achseln und setzte sich neben ihn. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, um alles auf sich wirken zu lassen.

»Da!«, sagte er und deutete nach oben. »Das ist es, was ich studiere.«

»Die Sterne?«

»Ja. Ich bin Astrophysiker.« Der Physiker ging ihm nur mit Mühe über die Lippen.

»Oh, dann ist das deine Party. Glückwunsch. Eine Mission des Konsortiums Vereinter Planet ist eine Riesensache.«

Reggie war fast sicher, dass sie sich über ihn lustig machte. Riesensache?, dachte er. Riesensache? Es ist die riesigste Sache der Geschichte.

Es war auch eine große Verantwortung. Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Verantwortung war kein Thema für eine Party.

»Noumenon wird die größte Mission aller Zeiten.« Eine Äußerung mit etwas mehr Tiefgang wäre ihm lieber gewesen, doch das Bier vernebelte ihm das Gehirn. Er wollte nach seiner Flasche greifen, konnte sie aber nicht finden. Er musste sie auf dem Weg vom Haus hierher wohl irgendwo abgestellt haben.

»Noumenon?«, hakte sie nach.

»Man hat mir erlaubt, selbst einen Namen für die Mission auszuwählen.« Er rümpfte die Nase, weil sie ihn juckte. »Nostromo war bereits vergeben, außerdem bin ich ziemlich sicher, dass die zum Scheitern verurteilt sind, deshalb …«

Sie boxte ihn zur Strafe für den Scherz leicht in den Arm. »Und deshalb hast du Noumenon gewählt? Warum? Was heißt das? Hört sich an wie einer der Liebhaber von Achilles – du weißt schon, Agamemnon, Patroklos, Noumenon …«

»Agamemnon und Achilles waren kein …«

Sie zwinkerte ihm zu, und er wurde rot. Sie hatte ihn ihrerseits auf den Arm genommen.

»Nun denn. Ein … ein Noumenon ist etwas, das zwar real ist, aber nicht messbar – der Gegensatz zu einem Phänomen. Ein Phänomen kann man berühren und testen, während ein Noumenon …« Er war nicht sicher, ob er es richtig erklärte. Für einen Moment wünschte er, nüchtern zu sein. »Was ist ein Gedanke? Was ist ein Wert, was ist Moral? Diese Dinge existieren, sie sind real, doch sie lassen sich selbst nicht direkt messen.«

»Und was hat das mit deiner Mission zu tun?«

»Nun ja, der Konvoi soll zu diesem Stern fliegen. Einem variablen Stern, also einem Phänomen. Etwas, das man anstupsen, in dem man herumstochern und das man studieren kann. Ich werde ihn allerdings nie erfassen können. Er ist zwar real, aber unerreichbar. Das macht ihn nicht zu einem Noumenon im eigentlichen Sinn, aber es … ich finde den Namen passend. Es gibt Dinge, die ich niemals erfassen kann, die auch die Menschheit niemals erfassen kann – verdammt, vielleicht irre ich mich, und es gibt gar nichts, was nicht erfassbar, nichts, was nicht messbar wäre. Das hieße dann lediglich, dass sich die noumenale Welt der Erfassung entzieht, dass sie ein ungeheures Grenzgebiet ist.«

Sie nickte vor sich hin. »Noumenon. Okay, ich glaube, das gefällt mir.«

»Ja?«

»Ja.«

»Gut, denn ich habe die Papiere bereits eingereicht, und ich bin ziemlich sicher, dass es zu spät ist, um den Namen noch zu ändern.«

Sie kicherte und schob sich näher an ihn heran. »Was liebst du an ihnen?«, fragte sie leise. Er schaute zu ihr hinüber. Gerade wehte ihr ein leichter Windstoß das Haar ins Gesicht, und sie strich es zurück.

»An wem?«

Sie lachte lauter. »An den Sternen.«

Er überlegte einen Moment. »Sie sind schön. Warte, lass mich ausreden.« Er hob einen Finger, um sie an weiterem Glucksen zu hindern. »Schön, aber gefährlich. Mächtig. Und … fremd. Ich finde sie rätselhaft. Wie Leuchttürme. Jeder ist anders, und manchmal ist er der einzige Teil eines Systems, den wir sehen können.«

»Leuchttürme«, murmelte sie. »Das gefällt mir.«

»Ich wollte Astronaut werden. Das will ich immer noch.« Das hatte er seit seiner Studentenzeit nicht mehr offen ausgesprochen. Es war sein geheimer Traum, und er hatte lange Zeit niemandem mehr davon erzählt, aus Angst, für kindisch gehalten zu werden. Aber jetzt … »Ins All fliegen, bis die Erde nur noch ein heller Punkt unter vielen ist. Wenn dieser Punkt so viel enthalten und doch von ferne wie alle anderen aussehen kann … Was mag es da draußen sonst noch geben?«

»Du bist ein König von unermesslichem Gebiete«, bemerkte sie versonnen.

Er grinste, obwohl er die Bemerkung nicht verstanden hatte. »Wie bitte?«

»Das ist aus Hamlet. Deine Welt könnte nur so groß sein wie eine Nussschale, doch dein Geist kann durch unendliche Weiten schweifen. Du bist hier auf der Erde, aber das ganze Universum ist deine Spielwiese.«

Der Gedanke gefiel ihm. Er fand ihn tröstlich. Er zog sein Telefon aus der Hosentasche. »C? Ein Vermerk bitte: Hamlet noch einmal lesen. Diesmal von vorn bis hinten.«

Sie lachte noch einmal, und Reggie wusste, dass es keinen Klang auf der Welt gab, den er mehr liebte.

5. Februar 2097 AZ

T minus 28 Jahre vor ST

…wird Konvoi sieben die Mission mit der Bezeichnung Noumenon übertragen. Die Aufgabe lautet, den Stern LQ Pyx aufzusuchen, die Ursache für seine variablen Emissionen zu ergründen, ihn über zwei Jahrzehnte aus nächster Nähe intensiv zu studieren und anschließend zur Erde zurückzukehren, um die hier stationierten Forscher über seinen Ursprung, seine wissenschaftliche Bedeutung und seine Eignung als Ressource zu informieren …

Der süßliche Geruch nach Buttercreme vermischte sich mit dem herben Duft nach schwarzem Kaffee. Im Auditorium des Campus wurden bei Neonbeleuchtung Trinksprüche ausgebracht und Grußworte gesprochen. Man wollte feiern – zum ersten Mal war Reggies Team an einem Ort vollzählig versammelt –, aber Reggie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich endlich ans Werk zu machen.

Sein Team bestand aus dreizehn Vordenkern, die jeweils einer Untergruppe vorstanden – deren Mitglieder Reggie wohl niemals persönlich kennenlernen würde – und deren Ergebnisse zusammenführen sollten.

Jetzt waren alle diese Teamleiter persönlich anwesend. Sie kamen aus fünf Ländern, und zwei Drittel von ihnen litten noch unter dem Jetlag. Schon in wenigen Tagen wurde jeder auf seinem jeweiligen Posten und in seinem Hauptberuf zurückerwartet, deshalb empfand Reggie eine Party – selbst wenn sie so zwanglos war wie diese hier – als unnötige Verschwendung der knappen Zeit.

»Durchatmen, mein Junge. Entspanne dich. Gib ihnen Gelegenheit herunterzukommen, bevor du ihnen neue Lasten aufbürdest«, empfahl ihm Dr. McCloud. Er war in Ruhestand gegangen, nachdem er den Dekan überredet hatte, Reggie anzustellen, war jedoch zurückgekehrt, um an diesem Treffen der führenden Köpfe teilzunehmen.

»Aber wir haben so wenig Zeit. Und Telekonferenzen sind Mist.«

»Oh, ich weiß, ich weiß.« Ein verschmitztes Lächeln, wie Reggie es in seiner Doktorandenzeit oft genug gesehen hatte, umspielte McClouds Lippen.

»Was ist?«, fragte er misstrauisch. »Wenn du mich früher so angesehen hast, hieß das, ich muss mir die Nacht um die Ohren schlagen.«

»Nein, nein. Ich bin … Muss ich alter Narr das wirklich aussprechen?«

»Was aussprechen?«

»Dass ich stolz auf dich bin, Reggie. Du bist so sicher, so zielstrebig. Du hast eine Menge Selbstbewusstsein gewonnen, seit ich dir dein Hemd nass gemacht habe.«

»Manche Leute brauchen eine Ohrfeige – ich brauchte offenbar ein Glas Bier ins Gesicht.«

»Ich glaube nicht, dass dieser kleine Zwischenfall so viel bewirkt hat.«

»Was dann?«

McCloud breitete die Arme aus, als eine stattliche Griechin auf sie zukam. »Selbstbewusstsein, dein Name ist Abigail Marinos.«

»Leonard.« Sie ließ sich mit einem herzlichen Lächeln von ihm umarmen. »Ich freue mich sehr, dass du es möglich machen konntest.«

»Wie? Dachtest du, ich lasse es mir entgehen, unseren Jungen in Aktion zu erleben? Wohl kaum. Er wird mich erst los, wenn ich im Grab liege.«

Sie lachte. »Hoffentlich nicht so bald. Ich bin gleich wieder da, Reggie. Ich muss nur nach ein paar Studenten sehen.«

»Fürchtest du etwa, sie könnten Seiten herausreißen, um Papierflieger draus zu machen?«, fragte McCloud, eine Vorstellung, die ihn sichtlich entzückte.

»Eher, dass sie alle über ihre Implantate miteinander quatschen, anstatt sich mit den Kapiteln zu beschäftigen, die ich ihnen aufgegeben habe. Sie schwärmen zwar in wohlgesetzten Worten von ihrer Liebe zu Büchern, aber die meisten von ihnen haben keine einzige Seite gelesen.«

McCloud schlug Reggie auf den Rücken. »Davon kann ich auch ein Lied singen.«

»Was? Ich war ein Vorzeigestudent!«

McCloud lachte. Abigail beugte sich vor und küsste Reggie. »Ich weiß jedenfalls, wie großartig du bist«, sagte sie und verließ gleich darauf den Raum.

»Hast du ihr schon einen Antrag gemacht? Ich werde auch nicht jünger und möchte auf deiner Hochzeit noch mit ihr tanzen, bevor ich abtrete. Betrachte das als meinen letzten Wunsch.«

Reggie klopfte McCloud auf die Schulter seines Tweedjacketts. »Oh, du wirst dich bestimmt noch eine ganze Weile auf dieser Welt herumtreiben. Wir haben darüber gesprochen … über eine Heirat. Ich hatte mich lange nicht an das Thema herangewagt.«

»Wieso das denn?«

Reggie zeigte in die Runde.

»Wegen des Projekts? Ich habe schon viele lahme Ausreden dafür gehört, dass jemand seine Gefühle nur in sich hineinfrisst …«

Reggie unterbrach ihn mit einer leichten Berührung am Arm. »Wegen der Möglichkeit. Du weißt, dass ich vielleicht …«

»Dass man dich vielleicht mit an Bord nehmen könnte.«

»Genau.«

Aus einer Ecke schallte lautes Gelächter herüber und lenkte sie von diesem trüben Gedanken ab. Beide drehten die Köpfe. Donald Matheson – der Experte für soziale Systeme – war auf einen der wackeligen Klapptische gestiegen und führte eine Art Ententanz auf. Die Zipfel seines blauen Hemds hingen ihm hinten aus der Hose, und mit den Händen bildete er einen Schnabel vor seiner übergroßen und sehr römischen Nase.

»Er wird sich noch wehtun«, murmelte Reggie und strebte in Richtung des Tumults.

McCloud hielt ihn zurück. »Jeder erntet, was er sät. Erwachsene sind wie die Kinder; lass sie einmal auf die heiße Herdplatte fassen, und sie tun es nie wieder. Du wolltest mir gerade erklären, warum du die Klippe zum Eheglück noch nicht übersprungen hast.« Reggie versuchte halbherzig, sich loszumachen, aber der Professor hatte ihn fest im Griff. »Wenn er fällt, fängt ihn schon jemand auf, Reggie. Verdammt, ich kriege dich mittlerweile nicht mehr so oft zu sehen, Straifer. Raus mit der Sprache.«

Reggie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und schob die Hände in die Taschen. »Ich habe vor Jahren angefragt, ob sie mitkommen könnte. Das Konsortium hat unmissverständlich erklärt, nur missionsrelevantes Personal würde zugelassen. Wenn ich mitfliege, muss sie zurückbleiben.« McCloud nickte; Reggie fuhr fort. »Und es ist nicht wie bei einem Soldaten, der immerhin geringe Chancen hätte, aus einem Krieg zurückzukehren. Es wäre das Ende.«

»Und was hattest du nun vor? Die Beziehung abzubrechen? ›War schön, dich kennenzulernen, Kleines, doch jetzt ruft die Pflicht‹?«

McCloud wollte, dass Reggie ihm in die Augen sah, aber der wich ihm aus. »So in etwa. Verdammt, die meisten Beziehungen scheitern schon an einer Staatsgrenze. Wie soll man da mit Entfernungen von vielen AEs zurechtkommen, ohne jede Aussicht auf ein Wiedersehen?«

»Du hast also nicht vom Heiraten gesprochen, weil du Angst hattest, dich auf eine Beziehung einzulassen, die womöglich bald keine Grundlage mehr hätte.«

»Genau. Das wäre für keinen von uns beiden fair. Besonders für sie nicht. Sie müsste hier genauso weiterleben wie zuvor, nur ohne mich. Ohne irgendjemanden. Ich wollte sie nicht der Chance berauben, einen richtigen Partner zu finden, verstehst du? Ich wollte nicht, dass sie sich an einen Geist gebunden fühlt, wenn es so viele Möglichkeiten für ein leibhaftiges Zusammenleben …«

»Aber jetzt habt ihr darüber gesprochen. Was hat sich geändert? Hast du dich zum Bleiben entschlossen?«

Reggie lächelte. »Man hat mir die Entscheidung abgenommen. Das Konsortium weiß inzwischen, wie es die Konvois besetzen will, und ich stehe nicht auf der Liste.«

»Aha. Dann wirst du ihr nun endlich einen Antrag machen.«

»Ja. Und ich bin auch sicher, dass sie Ja sagt. Ich muss nur noch den richtigen Ring und den richtigen Zeitpunkt finden.«

»Komm mir nicht damit. Wenn man seine Wahl einmal getroffen hat, ist der richtige Zeitpunkt immer jetzt. Ich bin schließlich nicht der Einzige, dem die Zeit im Nacken sitzt. Falls du Kinder mit ihr haben willst, solltest du nicht allzu lange warten.«

Reggie runzelte die Stirn; innerlich amüsierte er sich, aber das brauchte McCloud wahrhaftig nicht zu erfahren. »Das ist jetzt hart an der Grenze, Professor.«

»Ich bin kein Professor mehr. Nur ein altes Großmaul, das seinen Mund nicht halten kann und hofft, mit seinem Geschwätz etwas zu erreichen. Was meinst du, wollen wir uns ein Stück Kuchen holen, um den Zuckerspiegel in die Höhe zu treiben, und uns mit einigen von deinen Kollegen unterhalten? Ich weiß ja, dass du mit den Hufen scharrst. Sieh nur, Mr. Matheson weilt noch unter uns – und sogar in einem Stück.«

Ein paar Minuten später hatte Reggie sein Team um sich geschart, skizzierte auf einer Serviette ein Diagramm und erläuterte es mit vollem Mund. C lief auf seinem Tablet, und das war mit einem Wandbildschirm synchronisiert. »Der Konvoi wird aus neun Schiffen bestehen, ist das richtig?«

»Das ist richtig, Sir.« C skizzierte Konzeptvorschläge für einen Teil der Zuhörer und zeichnete einfache Schaltbilder für all jene, die im Geist bereits bei der Fertigung waren.

»Danke, aber die Frage ging an Nakamura.«

Nakamura Akane, Leiterin des Teams für Spezialschiffbau, nickte knapp. Die goldbraunen Augen schauten tiefernst unter den schnurgeraden Ponyfransen hervor, und ihre energischen, zielgerichteten Bewegungen hätten in Reggies Augen eher zu einem strammen männlichen Russen als zu einer zierlichen Japanerin gepasst.

Matheson deutete spöttisch auf das Tablet. »Sie verwenden immer noch einen IPA? Ich dachte, der Typ wäre längst ausgestorben. Keiner mag sie. Zu geschwätzig.«

»Der Name ist C – es ist kein indisches Bier**«, sagte Reggie. »Und ich mag ihn. Er begleitet mich schon seit Langem. Sorgt dafür, dass ich meine Termine einhalte, und leistet mir im Labor Gesellschaft.«

»Kein Grund, wegen seiner Freunde auf dem Jungen herumzuhacken«, rief McCloud dazwischen.

»Können wir wieder zu den Schiffen kommen?«, fragte Dr. Sachta Dhiri in ihrem dicken, gaumigen Akzent. Ihr Spezialgebiet waren Observationstechniken und -strategien. Sie war ziemlich rundlich und trug ihr geliebtes Salwar Kameez in Grün und Gold; die lange Tunika und die weiten Hosen waren vom jahrelangen Waschen ausgebleicht. »Wozu um alles in der Welt – verzeihen Sie den Ausdruck – brauchen wir neun Schiffe? Dazu die Shuttles, um hin und zurück zu kommen. Denken Sie bloß an den zusätzlichen Treibstoff, der dafür erforderlich wäre. Ganz zu schweigen von dem anfallenden Verschleiß. Wäre es nicht praktischer, alles in ein einziges Schiff zu stecken?«

»Nein«, sagte Matheson lakonisch.

»Geht es etwas ausführlicher?«

»In den Planungsteams sind wir der Meinung, dass jede Forschungsabteilung ein eigenes Schiff haben sollte«, schaltete sich Akane ein. »Außerdem geht es um die Vorräte. Es ist nicht machbar, dass sich jedes Schiff vollständig selbst versorgt. Man braucht sich nur vor Augen zu führen, wie viele Crewmitglieder für jeden Konvoi vorgesehen sind: sechzig- bis hunderttausend. Man wird also eine gewisse Menge an Nahrungsmitteln, Wasser etc. auf jedem Schiff vorhalten, aber der größte Teil der Vorräte muss separat gelagert und verwaltet werden. Sonst bräuchten wir größere Schiffe, als wir sie derzeit bauen können.«

»Einhunderttau… Das … das sind ja mehr als eine Million Menschen. Zwölf Konvois und eine Million Menschen?«, rief Dr. Dhiri. »Die wollen eine Million Menschen ins All schicken? Woher nehmen sie so viele Freiwillige, noch dazu Fachleute? Will man etwa so viele von unseren Wissenschaftlern, Technikern und kreativen Köpfen von der Erde abziehen, wie man finden kann, in der Hoffnung, dass die anderen die Lücken füllen?«

Reggie und Akane wechselten einen Blick. »Ich weiß.« Reggie leckte sich einen Rest Buttercreme aus dem Mundwinkel. »Auch ich hielt das zunächst für verrückt. Bevor ich mit Matheson gesprochen und erfahren habe, was genau das Konsortium sich vorstellt.«

Alle Augen wanderten zu Matheson. Der wurde rasch wieder nüchtern. »Hm, ja. Vor dem Projekt habe ich mich mit sozialer Stabilität in isolierten Gesellschaften beschäftigt. Und wo wäre man isolierter als in einem Haufen Blechkisten im Weltall? Natürlich wird die Beständigkeit einer Gesellschaft durch Tausende von Faktoren bestimmt, aber die Größe ist einer davon. Größe der Bevölkerung und Größe des Lebensraums. Bei zu vielen Menschen auf kleiner Fläche kommt es zu klaustrophobischen Reaktionen. Leben zu wenige Menschen auf zu großer Fläche, dann entwickeln sich Untergruppen, die sich wie rivalisierende Stämme verhalten.

Unsere Vorstellung ist ein in sich geschlossener Konvoi. Aber niemand soll sich eingesperrt fühlen, deshalb halten wir es aus sozialen Gründen für wichtiger, mehrere Schiffe zu haben, auch wenn es technisch praktischer wäre, alles in eine Einheit zu packen. Die Menschen müssen das Gefühl haben, sich frei bewegen zu können, sonst werden sie sich bald vorkommen wie in einer Gruft. Bei mehreren Schiffen, zwischen denen man verkehren kann, entsteht ein Eindruck von Weite und Bewegung, der anders nicht zu erreichen wäre.

Doch damit nicht genug. Die Crewmitglieder werden zwar verschiedenen Abteilungen zugewiesen, aber die sollen nicht in Konkurrenz zueinander treten. Deshalb ist es wesentlich, eine Heimatbasis zu haben, einen Ort, dem sich alle zugehörig fühlen. Ein Gemeinschaftszentrum, wenn Sie so wollen. Das heißt, ein Schiff ausschließlich zu Wohnzwecken. Des Weiteren bekommt jede Forschungsabteilung ein eigenes Schiff. Und schließlich braucht man ein Schiff, das ausschließlich für die Versorgung zuständig ist – für die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Wasser. Durch die Spezialisierung ist gewährleistet, dass jedes Schiff auf optimale Effizienz getrimmt wird. Es braucht nicht vielseitig einsetzbar zu sein.«

»Schön«, unterbrach ihn Dhiri, »aber wozu braucht man dafür hunderttausend Menschen? Wären zehntausend nicht ausreichend? Oder zweihundert?«

C meldete sich zu Wort. »Den Dossiers zufolge, die ich mit Größenstudien eins bis dreiundsechzig bezeichnet habe, wäre ein psychischer Zusammenbruch der gesamten Crew mit Halluzinationen, Meuterei und Mord als möglichen Folgen bei zweihundert Personen um siebenunddreißig Prozent wahrscheinlicher als bei zehntausend. Es ist die perfekte Größe für die Entstehung eines Mobs.«

»Wie der PA bereits sagte: Nein«, erklärte Matheson. »Nicht für unsere Zwecke. Es geht um gegenseitige Kontrolle. Man braucht eine gewisse Anzahl von Personen, um Druck auf mögliche Störenfriede auszuüben. Und eine gewisse Anzahl von Ersatzleuten, falls etwas Drastisches passiert.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Crewmitglieder nicht aus einer Gesellschaft kommen, die immer schon isoliert war. Die Gruppe muss eine dramatische Trennung von ihrer Herkunftskultur verkraften, einer Kultur, die noch sehr gegenwärtig sein wird. Die Crewmitglieder werden viel Gewohntes entbehren müssen. Psychische Identitätskrisen werden nicht ausbleiben. Das könnte die Besatzungen auseinanderreißen, aber wir werden ihnen jeden Anlass geben, sich zusammenzuschließen.«

»Mehr Menschen bedeuten mehr Zusammengehörigkeitsgefühl«, fügte Reggie hinzu. »Auf jede Person, die sich gegen eine Situation auflehnen möchte, müssen Hunderte von anderen direkt einwirken können, damit sie die Situation akzeptiert.«

»Und die neun Schiffe könnten einer so großen Population genügend Bewegungsfreiheit bieten«, ergänzte C. An der Wand leuchteten blaue Skizzen für jedes Schiff auf, die nicht nur die Entfernung von einem Ende zum anderen, sondern auch die Flächen angaben, die den Passagieren zur Verfügung standen.

»Woher wollen Sie wissen, dass innere Spannungen und äußerer Druck in einem vertretbaren Verhältnis stehen? Angenommen, alle kriegen gleichzeitig den Lagerkoller und fangen an, den Putz von den Wänden zu kratzen? Wahnsinn kann ansteckend sein.« McCloud tupfte sich mit seinem Taschentuch den Mundwinkel ab.

»Das ist tatsächlich ein Problem. Neben der ungeheuren Zahl von erforderlichen Freiwilligen. Wir glauben jedoch eine Lösung gefunden zu haben. Noch gibt es keine Erfolgsgarantie, aber unsere Chancen verbessern sich damit beträchtlich.« Matheson hatte einen zuversichtlichen Ton angeschlagen, dennoch hielt er inne und kratzte sich verlegen am Kinn.

»Eine Lösung, jawohl.« Nakamura nickte, auch sie wirkte nicht allzu glücklich darüber. »Eine höchst umstrittene Lösung.«

»Sechsundachtzig Prozent der Experten, denen man diese Idee vorlegte, lehnten sie spontan ab«, meldete C.

»Wollen Sie uns nun sagen, worum es geht, oder wollen Sie weiterhin um den heißen Brei herumreden?«, fragte McCloud.

»Die Lösung …«

»Um dir eine halbe Antwort zu geben, Professor: Genetik.« Reggie brachte C zum Schweigen, indem er den Feed von seinem PA vorübergehend unterbrach. »Die Auswahl der Crew erfolgt weitgehend aufgrund ihrer DNA und ihrer Histone. Darüber hinaus lässt das Konsortium umfassende Psychogramme und Familienanamnesen erstellen. Gewisse Veranlagungen werden aussortiert. Gewaltbereite Personen kommen ebenso wenig an Bord wie Individuen mit Loyalitätsdefiziten oder sprunghaftem Temperament …«

»Kein Zutritt für Anarchisten, wie?«

Reggie nickte. »Auch nicht für Diktatoren, Psychopathen, Frauenhasser etc. Sie können intellektuell noch so brillant sein, ohne die passenden emotionalen Faktoren – emotionale Intelligenz, wenn man so will – würden sie die gesellschaftliche Stabilität behindern und könnten den Erfolg der Mission gefährden.«

»Utopia?«, ließ sich McCloud vernehmen.

»Ich glaube nicht. Aber hoffentlich ein geringeres Risiko für Dystopia.«

»Interessant.« McCloud verlor sich für einen Moment in seinen Gedanken. »Wenn wir also über Stabilität und die Sicherstellung positiver Interaktionen sprechen, heißt das wohl, dass das Konsortium vorhat, die Crew – die gesamte Crew – ununterbrochen wach sein zu lassen? Keine tiefgefrorenen Embryonen, keine automatischen Gebärsysteme oder dergleichen?«

»Richtig. Ich war ein Befürworter von mechanisch gesteuerten automatisierten Geburten, aber diese Option wurde inzwischen verworfen. Angeblich waren das Pannenrisiko und die Gefahr für die Mission zu hoch.« Reggie zuckte mit den Achseln.

Der alte Professor war sichtlich entschlossen, an seiner Skepsis festzuhalten. »Hunderttausend Menschen, alle wach, lauter Freiwillige, alle so gründlich wie irgend möglich auf intellektuelle und emotionale Stabilität getestet, richtig?«

»Das ist der Plan«, bestätigte Matheson.

»Und wie will das Konsortium all diese wunderbaren Menschen an einem Ort zusammenführen?«

»Es gibt keine Garantien«, räumte Reggie ein. »Das System ist nicht hundertprozentig sicher.«

»Was ist das schon?«, fragte Nakamura.

»Genau«, nickte Reggie.

McCloud zog die Stirn in Falten und schaute ironisch von einem zum anderen. »Da haben sich die Genetiker einiges vorgenommen. Wollen sie wirklich alle neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten testen, in der Hoffnung, am Ende die erforderliche Zahl von Freiwilligen mit den passenden Charakterzügen zu bekommen?«

»Das liebe ich so an dir, Professor«, sagte Reggie und schlug dem Alten auf die Schulter.

»Dass ich das Offensichtliche ausspreche?«

»Genau«, wiederholte Reggie, diesmal augenzwinkernd. »Wenn wir ganze Generationen aufeinanderfolgen lassen, können wir auf dem größten Teil der Reise nicht kontrollieren, wer sich im Konvoi befindet. Tiefgefrorene Embryonen gestattet man uns nicht, und um Erwachsene einzufrieren und wieder aufzutauen, fehlt uns die Technologie. Ob das Konsortium eine Million Menschen findet, die den ausnehmend strengen Kriterien entsprechen, ist ohnehin nicht gesichert. Wie also lautet die Antwort?«

»Ich mag keine Rätsel«, beklagte sich McCloud. »Du, Matheson und Nakamura, ihr seid offenbar bereits im Bilde, also heraus damit.«

Nakamura senkte respektvoll den Kopf. »Ich bitte um Vergebung, aber Sie müssen unsere Bedenken verstehen … Der Plan wird erst in mehreren Jahren an die Öffentlichkeit gelangen. Das Konsortium möchte nicht, dass er schon jetzt bekannt wird, denn das könnte zu Komplikationen führen. Die Lösung, die man dort bevorzugt, bringt uns nämlich in einige Gewissensnöte.«

»Inwiefern?« McCloud beugte sich vor.

Sie sah Reggie an. Der nickte aufmunternd und versicherte ihr: »Er wird den Mund halten. Wenn nicht, weiß ich, wo er zu finden ist.«

Sie wandte sich abermals McCloud zu. »Das Konsortium will Klone entsenden.«

Reggie schaltete bei C den Ton wieder an, und der Assistent sagte prompt: »Ist das nicht interessant?«

29. Mai 2099 AZ

T minus 26 Jahre vor ST

Als Reggie in London Heathrow aus dem Zoll trat, rief C: »Er ist da drüben, da drüben!«

Reggie hatte das Telefon mit seinen Implantaten synchronisiert. Während er noch den Blick über die Menge schweifen ließ – Familien in T-Shirts mit aufgedrucktem Union Jack, Geschäftsleute in grauen Anzügen und Sicherheitspersonal mit Drogenschnüffelhunden –, hatte C mit seiner Gesichtserkennungssoftware seinen Schöpfer bereits ausfindig gemacht: Jamal Kaeden.

Reggie winkte dem Mann zu, den C ihm zeigte, und die beiden arbeiteten sich, vorbei an Gepäckkarren und Passanten, die so sehr auf ihre Implantate konzentriert waren, dass sie nicht sahen, wohin sie gingen, durch die Menge. Jamal war überschlank und wirkte, obwohl er höchstens fünfzehn Zentimeter größer war als Reggie, wie ein Hüne. Seine sauber gestutzten Dreadlocks hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als sie sich die Hände schüttelten, lächelte er so breit, dass seine strahlend weißen Zähne in dem schwarzen Gesicht förmlich leuchteten.

»Und das ist C.« Reggie hielt sein Telefon hoch und zeigte den PA-Avatar. C präsentierte sich als wechselndes Fraktalmuster in Grün und Violett. Zwar gestattete das System dem Nutzer, irgendeinen Avatar aus einer langen Liste von bearbeitbaren Darstellungen auszuwählen – von menschlichen Gesichtern über Insekten bis zu Galaxien war alles enthalten –, doch Reggie hatte es C überlassen, seine Form selbst zu wählen.

»Alles klar, C?«, begrüßte Jamal das Programm, dann sah er Reggie fragend an. »Sie haben ihm keinen neuen Namen gegeben? C ist nur die Bezeichnung für den Persönlichkeitstyp – Sie können ihn nennen, wie immer Sie wollen.«

»Ich weiß. Aber es fiel mir schwer, einen Namen zu finden, und er schien nichts dagegen zu haben, sich selbst als C zu bezeichnen, deshalb habe ich es dabei belassen. Nicht sonderlich kreativ.«

»C ist ein guter Name«, bestätigte C.

Jamal lächelte wieder. Er war sichtlich geschmeichelt. »Meine Kollegen – manchmal sind sie ziemlich kurzsichtig – fragen mich andauernd, warum ich weiterhin Patches für die Cs erstelle, obwohl KI-Persönlichkeiten inzwischen aus der Mode gekommen sind. Aber ich war sicher, dass irgendjemand da draußen genauso begeistert von ihnen sein musste wie ich. Ich habe lange Zeit Patches für Gs und Ks herausgebracht, doch niemand wollte sie herunterladen. C ist das einzige Modell, das sich noch hält. Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen, C? Du warst immer mein Favorit. Ich verwende heute noch C auf meinem Tablet.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte der Assistent. Er klang aufrichtig erfreut.

Jamal führte Reggie zu seinem kleinen Elektrowagen. Reggie war im Rahmen des Projekts viel unterwegs und hatte gelernt, mit leichtem Gepäck zu reisen. Seine Tasche fand in dem Zweitürer mühelos Platz. Sie fuhren mit offenen Fenstern zu Reggies Hotel. Wenige Stunden zuvor hatte es in der Stadt geregnet, und alles roch feucht und frisch.

»Sie haben einen interessanten Akzent«, bemerkte Reggie während der Fahrt.

»Algerisch«, erklärte Jamal. »Habe bis zu meinem zehnten Lebensjahr dort gelebt. Meine Mutter ist Algerierin.« Sie sei zum Studium ins Vereinigte Königreich gekommen, erklärte er, und habe dort seinen Vater kennengelernt. Nach dem Examen heirateten sie, gingen als Lehrer nach Afrika und blieben dort fünfzehn Jahre. Dann waren Jamals Großeltern väterlicherseits krank geworden, und die Familie war nach London übersiedelt. »Ich habe zwei Nationalitäten.«

Nachdem sie Reggies Gepäck abgestellt hatten, fuhren sie zu Jamals Firma, und Jamal führte den Besucher herum. »Ich dachte, Sie wären nach dem Flug todmüde«, sagte er, als sie seinen Arbeitsplatz erreichten. Vier Monitore standen im Halbkreis auf seinem Schreibtisch, jeder übersät mit Haftnotizen, Umrechnungstabellen und Erinnerungsaufklebern. »Wollte morgen früh noch klar Schiff machen.«

»Ich bin zu aufgedreht. Und C konnte es wahrscheinlich nicht erwarten«, lachte Reggie. »Außerdem ist das ganz in Ordnung. Mein Arbeitsplatz sieht zehnmal schlimmer aus.«

Die Firma für Computertechnik belegte das dreiundvierzigste Stockwerk in einem Hochhaus mit Glasfassade sechs Blocks von dem berühmten Gherkin-Wolkenkratzer entfernt. Es gab eine Gruppe für Hardware- und eine für Softwareentwicklung. Reggie hatte sich eingehend über Mr. Kaeden informiert und wusste, dass er oft grenzüberschreitend arbeitete. In seinen Augen war Jamal der beste KI-Spezialist der Welt.

Was bedeutete, dass die Mission ihn brauchte.

Sie schlenderten hinüber zu der langen Fensterreihe. Jamal zeigte Reggie voll Stolz die Aussicht und wies ihn auf mehrere Londoner Sehenswürdigkeiten hin. »Und warum sind Sie nun gekommen, Dr. Straifer?«, fragte er, als sie lange genug Höflichkeiten ausgetauscht hatten. »Bisher wollte keiner der anderen Projektleiter die Firma besuchen, geschweige denn mit mir persönlich ein Plauderstündchen halten. Am meisten interessieren sich die Schiffstechniker für die Computersysteme.«

»Von meinem technischen Leiter – Dr. Akane Nakamura, Sie haben vielleicht von ihr gehört – weiß ich, dass keiner der Konvois vorhat, intelligente persönliche Assistenten in die Benutzeroberflächen aufzunehmen.«

Jamal zuckte mit den Achseln. »Weil die meisten Leute sie für Klimbim halten. Lästige Dekoration. Entschuldige, C.«

»Was ist ›lästige Dekoration‹?«, wollte C wissen. Beide Männer überhörten die Frage geflissentlich.

»Nun, ich halte sie nicht für, äh, Klimbim. Und ich möchte, dass mein Projekt einen Assistenten bekommt«, erklärte Reggie entschieden. »Genauer gesagt, möchte ich, dass es C bekommt.«

Jamal schwieg für einen Moment. Er schien erfreut, hatte aber offenbar Bedenken. »Das ist fantastisch«, sagte er endlich. »Allerdings wird es sich nicht so leicht einrichten lassen. C’s Produktlinie ist nicht darauf ausgelegt, in dem Umfang personalisiert zu werden, von dem wir hier sprechen – keinPA musste sich jemals auf so viele Nutzer einstellen. Ich könnte nicht einfach Ihre Version von C kopieren und in das System übertragen. Ich müsste ganz von vorne anfangen.«

»Könnten Sie ihn nicht wie C programmieren oder Teile von C verwenden? Es muss doch einen Grund geben, warum er sich so lange gehalten hat, nachdem alle anderen verschwunden sind.«

»Die Basiselemente können natürlich bleiben. Ich weiß allerdings nicht, ob ich die Wachstumsstruktur genauso übernehmen kann. Es ist heutzutage kein Problem, einfache Ant-wortalgorithmen für einzelne Nutzer zu entwickeln, aber … Stellen Sie sich C doch einmal als Person vor. Wir lernen nicht auf die gleiche Weise zu interagieren wie eine KI. Wir sind viel empfänglicher für unterschiedliche Nuancen. Ein intelligenter PA ist anders. Mit je mehr Nutzern er sich verbindet, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er eine unverwechselbare Persönlichkeit entwickelt. Er wird zu einem Konglomerat, das die übergeordnete Struktur nachbildet. Mit anderen Worten: Ich weiß nicht, ob ich Ihnen Ihren C oder den von jemand anderem liefern kann. Selbst wenn er anfangs als Basis-C aus der Kiste kommt, könnte es sein, dass er für immer so primitiv bleibt.«

»Und wenn Sie nun für mehr als zwanzig Jahre die Mittel hätten, um einen Intelligenten Persönlichen Assistenten für eine hunderttausendköpfige über den ganzen Konvoi verteilte Nutzerbasis zu entwickeln? Ich will keinen eigenen PA für jedes Gerät, ich möchte eine einzige KI, die mit jedem interagieren kann.«

»Und das können Sie finanzieren?« Jamal steckte die Hände in die Hosentaschen und kräuselte skeptisch die Lippen.

»Man lässt mir freie Hand bei der Mittelverwendung, damit ich nach hochkarätigen Privatpersonen suche, mit denen ich arbeiten kann. Personen, die das Konsortium vielleicht übersehen hat.«

»Und Sie wollen mich?«

»Ich will Sie und C. Auf diese Weise bekomme ich zwei hochkarätige Personen zum Preis von einer.«

»KIs sind keine Personen.«

Reggie zuckte mit den Achseln. »Man könnte sie aber dafür halten.«

Jamal nickte. »Das könnte man.«

»Ich glaube das auch«, sagte C.

Beide Männer lachten laut auf.

6. August 2124 AZ

T minus 1 Jahr vor ST

…Alle Missionen verpflichten sich zur Anerkennung eines strategischen Teilziels, wonach sie zu prüfen und den Nachweis zu erbringen haben, ob eine geschlossene Gesellschaft nach Arkologie-Prinzipien nachhaltig Bestand haben kann …

Er konnte es kaum fassen, dass der Tag tatsächlich da war. Es war sein Lebenswerk, aber auch sein Lebenstraum. Und nun war daraus ein fertiges Produkt geworden – etwas, das er berühren, dessen Geruch er einatmen, das er mit allen Sinnen erfahren konnte. Seit seiner Jugend hatte sich Reggie diesen Tag vorgestellt. Als er vor so vielen Jahrzehnten vor jener Zuhörermenge gestanden hatte, hätte er es nie für möglich gehalten, dass man ihm grünes Licht geben würde und er sich voll und ganz seinem Stern widmen könnte.

Doch man hatte es getan. Und jetzt, heute, fühlte sich alles schon ein klein wenig realer an. Noumenon bestand nicht mehr bloß aus Theorien, Konzepten und Schaltplänen. Es bestand aus Schiffen. Und, wichtiger noch, es bestand aus Menschen.

Die Reise nach Island war anstrengend gewesen. Doch sofort nach der Landung wurde Reggie von Adrenalin überschwemmt. Als er aus dem Jet stieg und in die frostige Nacht hinausging, blickte er zum Himmel und blinzelte den Mond an. Für einen Moment zog sich sein Inneres sehnsuchtsvoll zusammen.

Ich hätte auch da oben sein können. Stattdessen …

Ja, stattdessen. Die meisten anderen Teams hatten ihre Bauprojekte an Lagrange-Punkten zwischen der Erde und dem Mond stationiert. Alle Schiffe in den Konvois wurden nach ähnlichen Plänen gebaut, und große Teile wurden in Spezialfabriken überall auf der Welt hergestellt. Diese Teile wurden jedoch bei jedem Team anders zusammengefügt, und das war außerhalb der Erde viel einfacher – jede Menge Platz, keine Nachbarn, die sich beschwerten, weil ihnen halbfertige Schiffe so groß wie Städte die Aussicht verstellten, und weniger Widerstand gegen die Schwerkraft.

Obendrein wurden die Teamleiter auf Kosten des Konsortiums hinaufgeschickt, um die Bauarbeiten zu inspizieren. Raumflüge waren ein seltenes Vergnügen für einen Bürger der Mittelschicht. Reggie hätte sich niemals eine Spritztour jenseits der Atmosphäre leisten können. Weltraumurlaube waren immer noch etwas für Milliardäre.

Warum hatte er also die Chance ausgeschlagen, Astronaut zu spielen?

Unter anderem waren alle Bauarbeiten im neutralen, von der UN kontrollierten Weltraum mit einer langen Warteliste und viel Bürokratie verbunden. Er hätte dreißigtausend zusätzliche Verfahren durchlaufen und dreihunderttausend zusätzliche Arbeitsstunden ableisten müssen.

Doch das waren praktische Überlegungen gewesen. Die waren zwar durchaus stichhaltig, hätten jedoch wahrscheinlich nicht ausgereicht, um die logistischen Vorteile aufzuwiegen, die für eine Montage im Weltraum sprachen. Deshalb hatte Reggie ein anderes Argument angeführt.

Eine unpraktische Überlegung.

Denn wenn die Zeit kam, um den Konvoi auf die Reise zu schicken, konnte die Öffentlichkeit bestenfalls hoffen, den Start zeitgleich über die Implantate mitzuerleben. Ein Stummfilm aus dem Weltall. Und wer wollte schon sehen, wie ein Schwarm von plumpen Metallkästen langsam in der Nacht verschwand?

Jeder Konvoi, der bisher aufgebrochen war, hatte dreißig Sekunden Sendezeit bekommen, und danach … nichts mehr. Das war würdelos. Es fehlte … etwas. Größe. Dramatik. Bewunderung.

»Es ist langweilig«, hatte McCloud gesagt.

Reggie hatte es kommen sehen.

Die Vorstellung, der Konvoi könnte am Starttag sang- und klanglos hinauskomplimentiert werden, hatte ihn von Anfang an belastet. Mehr noch als der Gedanke, dass er selbst auf dem Boden zurückbleiben musste, während die anderen Kinder im Weltall spielen durften. Dies war das größte, das ehrgeizigste und womöglich das wichtigste Projekt in der Geschichte der Menschheit. Als solches musste es von den Menschen der Erde gesehen werden, sie mussten eine Beziehung dazu bekommen, das Gefühl, dass es wirklich zu ihnen gehörte und nicht nur ein Hirngespinst war, das nichts mit ihnen zu tun hatte. Sein Team musste das Projekt auf dem Planeten halten, als Fixpunkt für die Welt.

Zum Glück hatte Nakamura eine Freundin. Eine einflussreiche, wohlhabende Freundin, die mehrere große Hochflächen in einem kleinen Land besaß. Und die durch ihre Großzügigkeit neue Möglichkeiten eröffnete. Das Team konnte abwarten, bis es an der Reihe war, die Schiffe im All zusammenbauen und sich lautlos aus dem Staub machen – oder es konnte sämtliche Arbeiten auf privatem Gelände durchführen und der Erde ein Schauspiel bieten. Das Konsortium schrieb vor, dass alle Konvoi-Schiffe im Notfall imstande sein mussten, von einem Planeten abzuheben, aber Konvoi Sieben war der einzige, der diese Option tatsächlich in die Tat umsetzen würde. »Das hier trägt den Namen Mira«, erklärte der Vertreter des Konsortiums, der Reggie und Nakamura herumführte. Sein isländischer Akzent war zum Schneiden dick. »Dort werden sie alle wohnen. Es ist sozusagen eine Kombination aus einem gigantischen Wohnkomplex und einem Regierungszentrum.«

Genau hier könnte jemand stehen, wenn sie den Stern erreichen, dachte Reggie und strich zärtlich über die Wand.

»Leider war das KI-Netz des Konvois in den zwei Jahren des Probeaufenthalts an Bord noch nicht vollständig installiert«, fuhr der Mann fort. »Den Bewohnern stand lediglich eine rudimentäre Version zur Verfügung, die nicht mit den anderen Schiffen vernetzt und nur sehr begrenzt lernfähig war. Doch jetzt ist die KI aktiviert und voll funktionsfähig. Wir nennen sie K. I. C. – Abkürzung für Konvoi-Interner-Computer. Nur zu, probieren Sie es aus. Sie kann mündliche Befehle von überallher empfangen.«

Reggie räusperte sich. »Äh, hallo, K. I. C.«

»Hallo …« Die Stimme sprach mit etwas unnatürlichen Pausen, ein Zeichen, an dem man jedes automatisierte Sprachsystem erkannte. »Hallo. Reginald Straifer. Der Erste.«