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Überall im täglichen Leben gegenwärtige Religiosität, die rationalen Überlegungen ein buntes und schillerndes Gewand überwirft. Selbstverständlich und selbstbewußt gesetzte Prioritäten, welche die unseren nicht bekämpfen, sondern ihnen eben nur einen anderen Platz zuweisen.
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Seitenzahl: 82
Veröffentlichungsjahr: 2021
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„Die Milch von Kühen ganz verschiedener Farbe hat
ein und dieselbe Farbe. Wie mit der Milch steht es mit
der Kenntnis und mit den Kühen vergleichen sich die Asketen.
Wie die Butter in der Milch verborgen ist, wohnt in jedem
Wesen die Erkenntnis. Ständig muss man mit dem Verstand
den Quirlstock quirlen“
aus: Brahmabindu-Upanishad
Maharajas, Paläste, Rajasthan - all dies hat schon seit einiger Zeit meine Fantasie beflügelt. Genau das Richtige für eine Reise in der trüben Jahreswechselzeit bei uns.
Was stellte ich mir generell in Zusammenhang mit Indien vor? Viele Menschen, Reichtum der Maharajas, Baden im heiligen Fluss Ganges und merkwürdige unverständliche Riten.
Meine Vorstellungen waren außerdem geprägt vom Film über das Leben Gandhis. Auf politischer Ebene Bilder von Pandit Nehru und Indira Gandhi. Dazu Buntheit, roter Punkt zwischen den Augen und kunstvoll drapierte Saris.
Jetzt also die Reise nach Rajasthan. Eine Gegend im nordwestlichen Teil von Indien, die bis nach Pakistan reicht und sich doch ein paar Hundert Kilometer südlich vom Konfliktherd Kaschmir befindet. Eine aktuelle Gefährdung war also nicht zu befürchten. Rajasthan ist ein Bundesstaat von Indien, in dem sich Maharajas als ehemalige Regionalfürsten bis heute noch eine gewisse Bedeutung bewahrt haben.
Die Bildchen im Reiseführer waren bunt und gefällig, aber darüber hinaus hatte ich eher unkonkrete Vorstellungen. Das Wichtigste habe ich fast vergessen. Kühe auf der Straße, die soll es überall geben. Das überstieg meine Vorstellungskraft, das muss ich live gesehen haben.
Alles in allem war es mit einem guten Gefühl verbunden, dass jetzt Indien beziehungsweise Rajasthan die Ferne war, die für vierzehn Tage als Alternative zum tristen dunklen Jahreswechselwetter bei uns herzuhalten hatte. Vierzehn Tage, wenn man bedenkt, dass der Entdecker Marco Polo – um dreizehnhundert - über zwanzig Jahre gebraucht hat, um Indien sowie den Fernen Osten zu erkunden und nicht alle davon überzeugen konnte, dass er das, was er so bilderreich beschrieben, auch selbst gesehen hat.
Kann man eine fremde Kultur in vierzehn Tagen wirklich verstehen? Was ist verstehen? Respektieren, bewundern oder sich einfach freuen, dass es Fremdes nicht nur im Märchen gibt. Oder ist die Fremde im Zeichen der Globalisierung gar nicht mehr märchenhaft, weil sich alle Differenziertheit zunehmend im Einerlei der überall vorhandenen modernen Zivilisation verliert?
Am Flughafen in Frankfurt warteten mit mir massenhaft Inder auf den Flug nach Delhi. Noch nie habe ich so viele auf einem Fleck gesehen. Waren jetzt alle Inder aus Deutschland nach Frankfurt gekommen, um heute mit mir nach Indien zu fliegen? Und die, die sich da zusammengefunden hatten, sahen keineswegs ärmlich aus.
Es waren eher Geschäftsleute im entsprechenden Outfit und stolze Sikhs, die in ihrem professionell aufgetürmten Turban mit dem bunten, meist roten Dreieck in der vorderen Mitte sehr würdig aussahen, besonders wenn das von einem perfekt geschnittenen westlichen Anzug mit Hemd und Krawatte betont wurde. Wie ich gelesen hatte, werden diese Turbane getragen, um darunter ihre langen Haare zu verstauen. Aus religiösen Gründen dürfen diese lebenslang nicht abgeschnitten werden.
Selbst beim Militärdienst können die Sikhs ihre langen Haare behalten. An die Stelle des auffälligen Turbans tritt beim Dienst für das Vaterland ein eher unauffälliges blaues Netz, mit dem die Haare in einer Art Dutt zusammengehalten werden.
Man sagt, dass die Sikhs aus dem Nordwesten Indiens etwas Besonderes seien, denn sie machen nicht nur einen wohlhabenden Eindruck, sondern sollen auch sehr gebildet sein. Warum gerade Indira Gandhi ausgerechnet von einem Sikh ihrer Leibgarde umgebracht wurde, weiß ich nicht genau, würde es aber jetzt damit in Verbindung bringen, dass die aufständischen und um ihre Unabhängigkeit ringenden Sikhs damit ein Zeichen setzen wollten.
Unter den am Flughafen wartenden Inder gab es allerdings kaum eine Handvoll, die durch besondere Turbane auffielen. Die meisten waren ohne Kopfbedeckung und westlich gekleidet. Um dem Rätsel der vielen Inder hier auf die Spur zu kommen, sprach ich einfach einen auf Englisch mit der Frage an, wo er denn jetzt in Deutschland gewesen wäre. Die Antwort war überraschend. Der businesslike aussehende Herr in den Fünfzigern meinte, dass die meisten der hier auf den Flug nach Delhi wartenden Inder gerade aus New York gekommen wären und ihnen das Land Deutschland bis auf den Frankfurter Flughafen eher unbekannt sei.
Das weitere Gespräch ergab, dass ich den Chef einer Textilfabrik aus Delhi vor mir hatte, der die eine Hälfte des Jahres in New York verbrachte, um seine Stoffe zu verkaufen und die andere in Delhi, um sie herzustellen. Es musste sich also um ein Upperclassexemplar von Indern handeln, wie wohl die meisten der sich hier Aufhaltenden.
Da die Inder auf diesem Flug weit in der Überzahl waren, saß auch jemand aus Indien neben mir. Es war eine junge Frau Anfang zwanzig, die in New York lebte und die Freiheiten, die man dort als Frau hatte, zwar genoss, aber jetzt dennoch dem Besuch ihrer Großfamilie in Udaipur, wo meine Reise auch hinführen sollte, mit Vorfreude entgegensah.
Nachdenklich wurde ich, als mich ein in meiner Nähe sitzendes Mädchen beschwor, ihrem kaum älteren Bruder zu bestätigen, dass sie gerade bei der Morgentoilette ihre Zähne geputzt hätte. Ich tat es gerne und mit gutem Gewissen, da ich sie kurz vorher mit dem Zahnputzglas weggehen sah, aber was geht es den Bruder an, ob die Schwester die Zähne putzt oder nicht. Dass es die Frauen in Indien nicht immer leicht haben, ist mir schon zu Gehör gekommen. War dies die erste Bestätigung dafür?
Am Morgen um vier Uhr in Indien angekommen, begann die Zeit auf dem im Vergleich zu Frankfurt eher renovierungsbedürftigen Flughafen mit ausgedehntem Warten auf das Gepäck. Das nicht enden wollende Herumstehen in der Nacht hatte den Grund darin, dass zwei Teilnehmer der Reisegruppe vergeblich auf ihre Koffer warteten. Fehlendes Gepäck bei der Ankunft habe ich jetzt schon ein paar Mal auf Reisen erlebt und bin froh, dass es mich noch nicht selbst getroffen hat.
Der erste Schritt ins gelobte Land Indien war eher ernüchternd. Durch den nebligen, stinkenden Smog konnte man den fahlen Vollmond gerade noch erkennen. Das Aufatmen, endlich angekommen zu sein, blieb einem so fast in der Kehle stecken. Es war eine Bestätigung dafür, dass die Hauptstadt Delhi zu den Städten der Welt gehört, in denen die Luftverschmutzung besonders hoch ist. Wie ich später erfuhr, halten es schon alleine deswegen viele „Westler“ dort nicht lange aus. Der Smog soll nicht in erster Linie auf den Verkehr oder die üblichen Industrieanlagen zurückzuführen sein, sondern darauf, dass der Strom von Kohlekraftwerken erzeugt wird.
Bevor wir dann nachts um vier am Flughafen in den Bus zum Hotel stiegen, wurde jedem eine bauchlange Kette aus gelben Blumen umgehängt, die aussahen wie orangefarbene Tagetes aber weniger geruchsintensiv waren als dieselben. In dieser trostlosen, übelriechenden Umgebung war das eine erfreuliche Abwechslung. Ehe das nach dem Neunstundenflug übermüdete Gehirn Überlegungen darüber anstellte, ob die Blumenkette zum Verkauf angeboten wurde oder ob man wenigstens ein Trinkgeld dafür geben müsse, war die Angelegenheit auch schon ohne aktives Zutun erledigt.
Später fand ich dann heraus, dass man als Tourist diese Zeremonie als eine Begrüßungsgeste des Landes Indien betrachten solle und eine diesbezügliche Ablehnung, als grobe Unhöflichkeit angesehen werden würde. Und in der Tat war gerade diese Art von Blumen etwas, das man als typisch indisch bezeichnen könnte. Stabiler und haltbarer als andere dienten sie als weitverbreitetes schmückendes Beiwerk bei vielen Gelegenheiten.
Blumenbehängt erreichten wir dann den wartenden Bus. Dieses weiße etwas altmodische Gefährt machte den Eindruck eines gemütlichen Wohnzimmers. Geblümte Veloursbezüge, gemusterte Vorhänge und bei uns nicht mehr übliche Schiebefenster, die das Regeln eines individuellen Luftbedarfs ermöglichten. Dies war eine große Freiheit, wenn man bedenkt, dass die Fenster von Indiens Zügen oft wie in Gefängnissen vergittert sind.
Vielleicht soll das Vergittern bei den langsam fahrenden Zügen verhindern, dass die Leute während der Fahrt durch die Fenster unkontrolliert ein- und aussteigen.
Wie ich später erfuhr, kann das auch verhängnisvolle Folgen haben. Im Gebiet des nördlich von Rajasthan liegenden Krisenherdes Kaschmir verkohlten - bei einem Anschlag von Moslemrebellen auf einen Zug - über hundert Passagiere, weil sie ihren brennenden Zugabteilen wegen der vergitterten Fenster nicht entkommen konnten. Diese Gefahr bestand bei uns im Bus also nicht.
Im fahlen Mondlicht fuhren wir dann nachts um vier durch Neu-Delhi. Breite Straßen mit zu diesem Zeitpunkt wenig Verkehr. Auf der Seite Bäume und mehr oder weniger strukturierte grüne Rabatten, die hinten von relativ hohen Mauern begrenzt waren.
Hin und wieder tauchte in den unbeleuchteten grünen Flächen etwas Weißliches auf. Es waren Kühe, die gemütlich herumlagen oder giraffengleich vom Grünzeug der Bäume über ihnen fraßen. Wieder ganz wach, versuchte ich noch mehr von diesen legendären, angeblich herrenlosen indischen Kühen zu erspähen.
Wahrscheinlich habe ich einen besonderen Bezug zu Kühen dadurch, dass ich mit meiner Großmutter als Zweijährige nach dem Krieg aus der zerbombten Stadt auf einen Bauernhof evakuiert wurde. Der Duft eines Kuhstalls mit vor sich hin malmenden Kühen löst auch heute noch ein ganz besonders Wohlbehagen in mir aus. Wie mir später erzählt wurde, soll der Kuhstall ein von mir bevorzugter Zufluchtsort in der damals in vielerlei Hinsicht unruhigen Zeit gewesen sein.
Ein weiterer Bezug zu diesen Tieren liegt auf einem anderen Gebiet. Da mein Sternzeichen Stier ist, gab mir - auch ein Stier - zu bedenken, dass ich eigentlich meinem Geschlecht nach keinesfalls ein Stier, sondern allenfalls eine Kuh sein könne. Jetzt also Indien, das Land der Kühe - genau das Richtige für mich.
Nach knapp einstündiger Fahrt erreichten wir das Hotel, das zwar „Park“ hieß, aber ein etwa fünfzehnstöckiges modernes Hochhaus an einer der verkehrsreichsten Straßen von Neu-Delhi war.
Das sichtlich müde und etwas gequält wirkende Personal verteilte in dieser fortgeschrittenen Nacht an der Rezeption die Schlüssel. Mit Koffer machte ich mich dann auf den Weg, um wenigstens noch ein paar Stunden schlafen zu können.
An europäischer Zeit orientiert hätte ich die Nacht noch vor mir gehabt, aber wegen der Zeitverschiebung musste ich jetzt mit nur zwei Nachtstunden auskommen. Eile zum Schlafen war also geboten.