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Ole hat genug von seinem dekadenten Leben. Was er will, ist die absolute Freiheit. So richtig mit Abenteuer, Straßenleben und… naja, irgendwie ohne Plan. Also packt er seine Sachen (nämlich gar keine) und steigt in einen Fernbus Richtung Irgendwo. Dort trifft er Peter, einen Obdachlosen, der sich nach dem Leben sehnt, das Ole gerade hinter sich lässt. Während Ole davon träumt, unter freiem Himmel zu schlafen, hätte Peter nichts gegen ein gemütliches Bett und etwas Sicherheit.
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Seitenzahl: 74
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Torsten Siekierka
Was ist schon Leben?
Nur weil man atmet, lebt man ja noch nicht.
Der Autor:
Torsten Siekierka wurde irgendwann in den 1980ern geboren – und hat sich seitdem eine Menge verrückter Geschichten ausgedacht. Aufgewachsen in Berlin, entdeckte er früh seine Leidenschaft fürs Schreiben, nachdem er festgestellt hatte, dass man in Büchern die Welt viel besser auf den Kopf stellen kann, als es im echten Leben erlaubt ist.
Irgendwann entschloss er sich, dass einzig Vernünftige zu tun: Autor zu werden. Seine Geschichten sind eine Mischung aus tiefgründigen Fragen und einer guten Prise Humor – weil das Leben sowieso zu absurd ist, um es ernst zu nehmen.
Wenn er nicht gerade schreibt, ist er irgendwo unterwegs, immer auf der Suche nach neuen Ideen oder einem guten Kaffee.
von
Torsten Siekierka
2. Edition, 10/ 2024
© All rights reserved.
Steinstraße 83
12307 Berlin
Wie viele Stunden das sperrige Hartplastik bereits von meinem Hinterteil gewärmt wird, kann ich nicht sagen. Das Licht, das von der Decke der Wartehalle strahlt, fühlt sich wärmer an als die karibische Sonne.
Ich blicke nach draußen, wo Busse ankommen und Menschen einsaugen oder ausspucken. Menschen aus Skopje, Schwerin und Menschen, die in Richtung Kopenhagen, Krakau oder Ostsee reisen. Wohin ich möchte, weiß ich genau: weg! Raus aus meinem bisherigen Leben. Raus aus dem goldenen Käfig, der an sämtlichen Gitterstäben Rost angesetzt hat. Was mich erwartet, interessiert mich jetzt noch nicht. Zum ersten Mal fühle ich, wie es ist, das Leben nicht bis auf den letzten Punkt durchzuplanen. Einfach schauen, was kommt.
Draußen sagt der Tag langsam ›Gute Nacht‹, und ich schaue zu den Laternen, die den Omnibusbahnhof von Berlin in ein schauriges Licht tauchen, was ihn noch älter wirken lässt.
Trotz der Uhrzeit prasselt ein schier endloses Durcheinander an Stimmen auf mich ein. Alle Sprachen dieser Welt scheinen hier, in der Wartehalle, vertreten zu sein.
Vor dem Imbiss decken Passagiere sich mit Kaffee, Bier und Käsebrötchen ein. Käsebrötchen, deren Käse sich bereits zusammenrollt, vermutlich aus Ekel vor sich selbst. Mir fällt auf, dass ich mein Hungergefühl vermisse. Habe ich wohl auch zu Hause gelassen, genauso wie alle Dinge, die ich nie benötigte, Dinge wie meine Kinder und ihre Mutter. Seit ein paar Stunden habe ich auch kein Auto und kein Zuhause mehr, dafür aber meine Freiheit zurück! Das Geld in meiner Hosentasche werde ich mir für Notfälle aufbewahren.
Ich schaue weiter hinaus, beobachte Fernbusse, hoffe, ich bekomme die Chance, in einen von ihnen mit einem gewagten Satz in meine Freiheit zu springen. Die Frau neben mir zuckt kurz, springt auf und geht. Sie wirkt wie ferngesteuert. Hat sie ihre Chance auf die Flucht erkannt? Ich schaue ihr mit sehnsuchtsvollem Blick nach, bis sich ein Mann in mein Sichtfeld schiebt. Ein Mann? Ich möchte nicht untertreiben. Ich würde dreimal in diesen Typen hineinpassen. Er muss mindestens zwei Meter groß sein und wirkt genauso breit. Nur sein Gesichtsausdruck wirkt auf den ersten Blick sympathisch. Und das, obwohl seine Frisur mich an eine Bowlingkugel mit Fellansatz erinnert. Mich wundert, dass er eine Jacke trägt. Es ist zwar später Abend, aber von Temperaturen, die zum Jacke tragen animieren, sind wir weit entfernt. Dieser Brocken von einem Mann steuert mit tapsigen Schritten den freigewordenen Sitzplatz neben mir an. Ich rutsche zur Seite, möchte nicht unhöflich wirken. Dann steht er vor mir, dreht sich einmal um sich selbst, zieht seine dicke Jacke aus, womit sich eine Mischung aus alter und frisch erzeugter Körperbrühe in der Halle verteilt.
Schweiß!
Meinen Brechreiz unterdrücke ich mühevoll, was nicht nur am Gestank, sondern auch an der altdeutschen Schrift auf seinem Pullover liegt.
Deutscher
Zäh und standhaft
lese ich.
Standhaft okay, denn wie soll man diesen Fleischberg auch zu Fall bringen? Aber zäh? Fett macht Fleisch doch fluffig.
Er pflanzt sich neben mich, verdeutlicht, dass er mindestens zwei Plätze in Anspruch nehmen möchte. Ich dagegen möchte keinen Ärger, stehe auf, stelle mich neben die Menschenschlange am Kiosk und kann einer eisgekühlten Cola nur schwer widerstehen. Gelingt aber, weil das Geld zum ersten Mal in meinem Leben knapp ist, ich diesen Zustand genieße und das wenige Geld nicht ausgeben möchte.
Hinter mir fällt die Tür der Wartehalle ins Schloss. Ich spüre, dass draußen eine angenehmere Temperatur herrscht als in der Halle. Ich bleibe stehen, um die Luft zu genießen. Doch das ist schwierig, da vor mir eine Person auftaucht, die ich eventuell dem weiblichen Geschlecht zuordnen würde. Aufgrund fehlender Zähne, ihrer Kleidung und meiner Vorurteile würde sie gut zu dem üppigen Wesen mit dem Schweißgeruch passen.
Diese Gestalt macht mir mit ihrem wenig ansprechenden Gesichtsausdruck deutlich, dass sie genau durch die Tür will, vor der ich stehe. Da ich auch weiterhin keine Lust auf eine Auseinandersetzung verspüre, weiche ich einen Schritt nach links aus. Für solchen Stress hätte ich genauso gut zu Hause bleiben können.
Ich trotte weiter über den Busbahnhof. Sehe am Ende des ZOB sieben Busse parken. Als ich mich, von der Dunkelheit gedeckt, anschleiche, erkenne ich, dass die meisten Türen verschlossen sind. Von einem steht die vordere Tür offen, doch sitzt der Fahrer oben auf seinem Ross. Zwei Reihen daneben steht ebenfalls ein Bus mit geöffneter Tür. Einen Fahrer kann ich nicht erkennen. Ich schleiche mich um den Bus herum, springe nach oben, um einen Blick durch die Fenster zu werfen. Möchte mich absichern, dass niemand drin ist. Ich habe meine Runde fast hinter mir. Stehe an der Vorderseite des Busses. Auf der Anzeige über der Frontscheibe steht »Pause«, wo normalerweise das Fahrziel angegeben ist. Ich gehe um die Ecke und stehe wieder vor der offenen Tür. Ich spiele mit dem Gedanken, einzusteigen, mich hinter den Sitzen zu verstecken. Würde niemand mitbekommen. Die Tür wirkt einladend. Ich wage den ersten Schritt auf die Stufe. Dann hebe ich mit dem rechten Bein langsam vom Asphalt ab.
»Hey, ist Ihnen noch zu helfen?«, schreit es mir aus der Ferne entgegen. Ich drehe mich nicht um. Mache, dass ich verschwinde. Renne zurück zu den Bussteigen.
Dort angekommen, blenden mich zwei grelle Blitze. Ich halte mir die Hände vor die Augen. Dazu das Gefühl, dass mir jemand mein Trommelfell zerreißt. Es hupt wie verrückt. Scheinbar blind und taub geworden, rette ich mich mit einem Sprung auf den nächsten Bussteig, versuche mich zu sammeln und kurz darauf meinen Körper wieder in die Senkrechte zu manövrieren. Ich sehe dem Bus nach, der sich schleichend in die Bustasche quetscht, nachdem er mich um ein Haar niedergewalzt hätte. Auf der Anzeige lese ich ›FlixBus! Ankunft 21:34 Uhr! Aus Bukarest!‹ Auch dieser Bus wird für mich nicht infrage kommen, da er Menschen aus Bukarest ausspucken, aber niemanden mehr einsaugen wird. Doch ich irre mich! Ich setze mich auf die Bank im Wartehäuschen der Haltestelle und beobachte, dass niemand aussteigt. Lediglich vier Personen steigen ein. Zwei bleiben vor dem Bus stehen. Ich höre etwas von Ausweiskontrolle, und in meinem Kopf breitet sich ein leichtes Angstgefühl aus. Ich erhebe mich, möchte kein Aufsehen erregen. Wenn auch ich hier aufgefordert werden würde, mich auszuweisen, bekäme ich arge Schwierigkeiten. Kann ich nämlich nicht. Sämtliche Dinge, die aufzeigen, wer ich war, habe ich in meinem alten Leben gelassen. Und dieses Leben gibt es nicht mehr. Genauso, wie es mein altes Ich und meine Vergangenheit nicht mehr gibt. Ich möchte niemanden mehr von früher kennen.
Außer Marie.
Sie fehlt mir. Schon jetzt.
Ich möchte mein Leben komplett von vorne beginnen. Alles neu aufbauen. Wer ich dann sein möchte, entscheide ich. Irgendwann.
Ich begebe mich zurück in die Wartehalle, die sich deutlich geleert hat. Nur der deutsche Mops sitzt, sein Bier trinkend, auf seinen Plätzen. Daneben die ihm optisch zuzuordnende Frau. Reden tun sie nicht miteinander. Und der Gestank nach Schweiß ist noch da. Ich lege mich am anderen Ende der Halle über mehrere Sitze und versuche, meine Nase und meine Augen zu schließen. Die an den Rändern leicht nach oben gebogenen Lehnen drücken gegen meine Wirbelsäule. Bequem ist das nicht. Habe ich aber auch nicht erwartet. Da, wo ich vor Stunden noch zu Hause war, hätte ich es bequem haben können. Aber vorbei. Für immer. Und ich lerne, dass man auch Unbequemlichkeit genießen kann. Es ist doch alles eine Sache der eigenen Sichtweise. Ich bin frei und nichts anderes zählt. Ich möchte ein Leben leben, wie es mir gefällt. Und in diesem Leben sind unbequeme Stuhlreihen absolut egal.