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»Aysun?
- Wo bist du? Aysun?!«
Mohammed Öztürk durchforstete das dunkle Stückchen Waldgebiet.
Das Knacken hinter dem Baum hörte er zu spät – die Klinge des Brotmessers bohrte sich von hinten in seinen Hals.
Eine junge Frau wird erstochen am Ufer des Schlachtensees gefunden. Tage später zieht man den Leichnam ihres Freundes
aus dem Wasser. Helene Eberle und ihr Team tappen im Dunkeln. Erst als ein drittes Opfer geborgen wird, stößt die Mordkommission auf den roten Faden, der alles miteinander verbindet: Die gemeinsame Schulzeit. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
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Torsten Siekierka
Undankbares Berlin
Helene Eberles zweiter Fall
Inhaltsverzeichnis
TitelÜber michAn meine FamilieDienstag, 23. DezemberMontag, 01. JanuarDienstag, 02. JanuarMittwoch, 03. JanuarDonnerstag, 04. JanuarFreitag, 05. JanuarSamstag, 06. JanuarSonntag, 07. JanuarMontag, 08. JanuarDienstag, 09. JanuarMittwoch, 10. JanuarDonnerstag, 11. JanuarFreitag, 12. JanuarSamstag, 13. JanuarSonntag, 14. JanuarMontag, 15. JanuarDienstag, 16. JanuarMittwoch, 17. JanuarDonnerstag, 18. JanuarFreitag, 19. JanuarSamstag, 20. JanuarSonntag, 21. JanuarMontag, 22. JanuarTitel
Undankbares Berlin
Helene Eberles zweiter Fall
von Torsten Siekierka
Angelnova-Verlag
www.angelnova-verlag.de
25879 Stapel Angelnova-Verlag, Stapel
1. Auflage, 2021
© 2021 Torsten Siekierka
Über mich
Torsten Siekierka
Ich wurde 1984 in Potsdam geboren und lebe heute mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern in Berlin.
Nach meinem Studium fand ich als Schulsozialarbeiter meinen Traumjob.
Die Leidenschaft für das Schreiben entdeckte ich bereits 2015. Mir ist es wichtig, möglichst realistische und originalgetreue Handlungen zu beschreiben. Auch die Lokalitäten,
die in meinen Büchern genannt werden, wurden von mir vorab besichtigt und dokumentiert.
Mit jedem Buch, das ich veröffentlicht habe, komme ich meinem Ziel näher. Den hektischen Alltag für meine Leser mit einem Buch schöner machen.
Mehr Informationen zu meiner Person erhalten Sie in meinem Blog.
torstensiekierka.blogspot.de
An meine Familie
An meine Familie
Wir leben und lieben gemeinsam.
Oft waren eure Stunden einsam.
Und doch trieb mich jeder neue Tag mit euch voran.
Ich bin stolz, dass ich sagen kann:
Danke!
Dienstag, 23. Dezember
17:30 Uhr, Knaackstraße, Prenzlauer Berg
Noch bevor er die Tür öffnete, schob sich ein Bild in seinen Kopf. Ein Bild von dem, was ihn hinter der Tür erwartete. Jahrelang kämpfte er für seine geliebte Mutter. Doch an diesem Tag wurde ihm schmerzlich klar, er verlor nicht nur diesen Kampf, er verlor auch den wichtigsten Menschen in seinem Leben.
Die Mutter, die immer an seiner Seite stand, ihm Geborgenheit gab und Fehler verzieh. Die Mutter, die ihm früher mit einem Lächeln den Tag rettete, wenn ihn die anderen Kinder ärgerten. Die Mutter, die sich bedingungslos für ihn einsetzte und gesund pflegte, wenn er krank war. Und er war oft krank.
Seine Hand zitterte wie die eines Junkies, der sich dringend den nächsten Schuss setzen musste. Sein Atem stockte. Die Türklinke fühlte sich an, als müsse er das Gewicht eines Lastwagens herunterdrücken. Nein, er wollte diese Tür nicht öffnen. Aber er musste. Für seine geliebte Mutter. Für den einzigen Menschen in seinem Leben, dem er jemals hatte vertrauen können.
Seine Mutter äußerte vor Stunden einen letzten Wunsch: Sie wollte allein sein. Nur dieses eine Mal. Und es war ihm unmöglich, ihr diesen Wunsch auszuschlagen. Noch einmal erkannte er dieses Strahlen in ihren Augen, das er in den letzten Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ihre Augen leuchteten wie Sterne am Nachthimmel.
Ihm blieb keine Wahl. Er verließ die gemeinsame Wohnung. Stunden später kehrte er zurück. Und nun stand er im Flur, vor der Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer. Mit letzter Kraft drückte er schließlich die Klinke nach unten. Die Tür schob er nur einen winzigen Spalt auf. Er wollte sie noch einmal sehen. Nur noch einmal ihre kurzen, rotgefärbten Haare streicheln, ihr zärtlich die Brille abnehmen und diese auf den Nachttisch legen.
Durch den Spalt sah der 28-jährige Sebastian Strehlow die dicke Daunen Bettdecke mit dem grünen Bezug. Sie lag ordentlich zusammengelegt auf dem Bett. Mit all seinem Mut schob er die Tür einen Spalt weiter auf. Jetzt erkannte er es deutlich: Das Bett war leer.
Erst flüsternd, dann unüberhörbar rief er nach ihr.
»Mutti? Mutti, wo bist du?« Er lief ins Wohnzimmer. Nichts! Im Flur standen ihre schwarzen Wildleder Stiefel ordentlich neben seinen Pantoffeln. »Mutti?« Verzweiflung schallte durch die Altbauwohnung. Ein erneuter Blick ins Schlafzimmer. Vielleicht übersah er irgendetwas? Er setzte seine Suche im Arbeitszimmer fort. Das Arbeitszimmer. Früher sein Kinderzimmer. Ein heller Raum, dessen Wände noch immer Kinderzeichnungen schmückten. Auf dem schlichten Schreibtisch standen Fotos von ihm und seiner Mutter.
Ja, seine Mutter und er vertrauten nur sich. Die Welt außerhalb der eigenen vier Wände hatte sich viel zu oft viel zu grausam gezeigt, viel zu grausam angefühlt.
Ihm fiel auf, dass er die Wohnung lange nicht mehr so blitzblank wahrgenommen hatte. Ein Hoffnungsschimmer. Wann hatte seine Mutter das letzte Mal so viel Energie besessen, die Wohnung aufzuräumen? In den letzten Jahren fiel das mehr und mehr in seinen Aufgabenbereich. Was ihn, neben seiner Vollzeitstelle als Pförtner, oft überforderte. In der Küche holte er ein Glas aus dem Einbauschrank, füllte es mit Wasser und führte es zum Mund. Durch das Fenster erkannte er den altehrwürdigen Wasserturm, den ältesten Wasserturm Berlins. Der stand einfach nur da, seit 1877, und rührte sich nicht von der Stelle. Anders als Strehlow, der nun gedankenverloren durch die Wohnung schlich.
»Mutti, wo bist du?« Ihm kam eine Idee. Er rannte ins Wohnzimmer. Auf dem Handydisplay tippte er ihre Nummer ein, doch seine Mutter war nicht zu erreichen. Verzweifelt schlich ihr Sohn Richtung Bad. Er öffnete die Tür.
Das Mobiltelefon klemmte noch zwischen den verschrumpelten Fingern seiner Mutter, die in der Badewanne lag.
Montag, 01. Januar
03:20 Uhr, Columbiadamm, Kreuzberg
Angetrunken steuerte Mohammed Öztürk seinen schwarzen Smart. Er hatte sich vorgenommen, auf der familiären Silvesterfeier keinen Alkohol zu trinken. Am Ende hatte er doch drei Gläser Sekt gekippt. Er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, der sich um diese Uhrzeit auf einzelne, entgegenkommende Autos beschränkte. Dazu wirkte der mehrspurige Columbiadamm, als rolle er sich wie ein roter Teppich vor Öztürk aus. Inklusive Rampenlicht, gespendet von Straßenlaternen. Vor über zwanzig Jahren wanderte der damals fünfjährige Mohammed mit seinen zwei Geschwistern und seinen Eltern nach Deutschland aus. Für seinen Vater zählte nie etwas Wichtigeres. Immer predigte er, die Familie müsse die deutsche Kultur annehmen, niemals negativ auffallen, zu allen freundlich sein, sich den Lebensunterhalt selbst erarbeiten. Ja, sie müssten täglich dankbar dafür sein, in Deutschland leben zu dürfen.
Mohammed Öztürk hatte die Werte seines Vaters verinnerlicht. Diese Werte gaben ihm auch die Richtung in seinem Leben vor. Nur in dieser Nacht nicht. Öztürk hoffte, nicht erwischt zu werden. Aber er wollte es um jeden Preis. Er musste zurück zu seiner Freundin. Zurück zu Aysun, der Liebe seines Lebens.
Der glatzköpfige Mann mit dem Dreitagebart hatte seine Freundin bereits zu Schulzeiten kennengelernt. In der siebten Jahrgangsstufe sahen sie sich zum ersten Mal und verliebten sich kurz darauf ineinander. Zwischen Mohammed Öztürk und Aysun Demirbay passte seitdem kein Blatt mehr. Bis vor einer Stunde.
Da wurden die beiden durch ein Küchenmesser getrennt.
08:10 Uhr, Schlachtensee, Zehlendorf
Seit dreiundzwanzig Jahren liefen sie ihre Runde am Neujahrsmorgen. Es war ihre Runde um den Schlachtensee. Auch an diesem 1. Januar ließen sie sich die Durchführung dieser Tradition nicht nehmen. Auch wenn die gut sechs Kilometer immer länger dauerten, weil sie selbst nur noch schlichen, statt zu wandern. An diesem Morgen schien die Anzeige auf dem
Thermometer nicht steigen zu wollen. Es war frostig, doch kein Vergleich zu den zweistelligen Minusgraden in der Nacht.
Eberhard und Gisela Kiesel waren Kinder des Zweiten Weltkrieges. Dessen Ende erlebte er als Zehnjähriger. Sie war damals acht Jahre alt. Zwölf Jahre später hatten sie sich auf einem Dorffest nahe Saarbrücken kennengelernt, doch sie verloren sich wieder aus den Augen.
Nach unzähligen Enttäuschungen begegneten sie sich wieder. Fünfzehn Jahre später. Und es wurde die Liebe ihres Lebens. Gemeinsam zogen sie drei Kinder groß. Er schuftete auf dem Bau, sie managte den Haushalt.
Nun liefen beide auch an diesem Neujahrsmorgen ihre Runde. Mit einem Gehstock, wo sonst ein Rollator seinen Dienst vollzog. Doch der musste zu Hause bleiben, weil eine Hand die des Partners halten wollte.
Der beinahe zugefrorene Schlachtensee begleitete Eberhard und Gisela Kiesel friedlich auf ihrem Weg. Die Eisschichten trieben nüchtern auf dem Wasser. Hier und da vernahm das alte Paar Vogelstimmen. Vogelstimmen, die sie früher noch hätten zuordnen können. Doch auch das war vorbei. Sie wollten die Zeit, die ihnen noch blieb, gemeinsam verbringen, denn mit 82 und 80 Lebensjahren wussten sie, dass die gemeinsame Zeit nur noch ein ausgetrockneter See ist, der die schönsten Jahre lange hinter sich gelassen hat.
Langsam schlichen sie weiter. Jeder Schritt kostete viel Kraft. Ihre Mienen wirkten so starr, wie ihre Gesichter faltig waren. Und doch lächelten sie, auch wenn sie das äußerlich nicht zeigten. Sie gaben sich gegenseitig Kraft, um ihre Tradition aufrechtzuerhalten. Schritt für Schritt ging es weiter. Rechts wachten die Bäume über sie, links der See. Und die Gehstöcke bohrten sich Schritt für Schritt in den gefrorenen Boden.
Eberhard Kiesel blieb stehen. Er schabte mit seinem Stock in den roten Flecken auf dem Boden. Dann erkannte er das Bild, welches ihn an den Krieg erinnerte.
Vor dem Paar lag ein zierlicher Frauenkörper.
09:00 Uhr, Krumme Straße, Charlottenburg
Kriminalhauptkommissar Walter Paul lag mit geöffneten Augen im Gästezimmer seiner Eltern. Abstrakte Kunst an den Wänden beobachtete Paul dabei, wie er den Jahreswechsel verschlief. Wieder einmal. Nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes vor ein paar Jahren war an Feiern nicht mehr zu denken. Zweimal hatte er sie an den Weihnachtsfeiertagen auf dem Friedhof in Schöneberg besucht. Da seine Kollegin Helene Eberle mit ihrer besten Freundin auf die Insel Usedom gefahren war und die Arbeit nicht rief, hatte Paul viel Zeit. Zeit, die Schmerzen verursachte. Wenn er nicht den Friedhof besuchte, brachten ihn Gedanken an Helene um den Verstand. Er sehnte sich nach seiner Lieblingskollegin, hielt in den letzten Tagen oftmals sein Smartphone in den Händen, wollte ihr gerne schreiben. Aber die Angst, sich aufzudrängen, fühlte sich immens an.
Pauls Telefon klingelte. Sein Arm griff im Liegen nach dem Handy. Auf dem Display las er einen Namen, der ihn das Gespräch sofort annehmen ließ.
»Guten Morgen, mein Süßer! Ich habe mal wieder Arbeit für euch.« Es war Rita, die Polizistin im Dauerdienst. Rita, die man rief, wenn eine Leiche gefunden wurde. Und Rita beurteilte dann, ob die Mordkommission eingeschaltet werden musste. Und Rita nannte jeden Kollegen Süßer.
Selbst Dietmar Schulz.
»Ach Rita, frohes neues Jahr erst mal. Was gibt es denn Dringendes?« »Das wünsche ich dir auch, mein Süßer! Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Am Schlachtensee ist die Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Merkel ist auch schon hier. Aber stell dich auf das Schlimmste ein.«
»So schlimm zugerichtet?«
»Kann man so sagen. Es sind unzählige Messerstiche zu erkennen.«
»Ich mache mich auf den Weg. Tu mir bitte einen Gefallen:
Ruf nicht Helene an! Sie soll ihren Urlaub genießen.«
»Keine Sorge! Ich habe ja nicht mal ihre Nummer.«
11:20 Uhr, Halbinsel Usedom, Heringsdorf
Viele Urlauber liefen mit Sonnenbrille und Winterjacke am Heringsdorfer Strand entlang. Die Sonnenstrahlen verschafften dem Tag, trotz der Kälte, etwas Zauberhaftes.
Helene Eberle watete gemeinsam mit ihrer besten Freundin Nancy Richter durch den Ostseesand, der unter ihren Füßen knackte. Der Wind heulte. Vielleicht weil er zu gerne mit Helenes braunen Haaren spielen wollte, die unter einer orange-gelben Wollmütze versteckt waren. Mit jeder Welle drohte das Wasser die Winterstiefel der Frauen zu unterspülen. Beide hielten sich an den Händen und genossen die gemeinsame Zeit, während Irene Siefert sich in Berlin um Helenes Tochter kümmerte und die Familie von Nancy Richter in Eutingen im Gäu blieb. So konnte Helene den Jahreswechsel mit ihrer besten Freundin an der Badewanne der Berliner genießen, wie die Halbinsel Usedom auch genannt wird.
Die Frauen erreichten schnell die Heringsdorfer Seebrücke. Hier stiegen sie die schmalen Eisenstufen hinauf.
Ihr Ziel war das italienische Restaurant in der nahegelegenen Ladenpassage. Immer noch hielten sie sich an den Händen. Und beiden fiel nichts ein, was sie in diesem Moment hätte trennen können. Sie schlenderten an Souvenir- und Klamottenläden vorbei, bis sie vor der Pizzeria stehen blieben. Und nun gab es doch einen Grund, weshalb Helene Eberle die Hand ihrer besten Freundin losließ. Es waren die Klänge von ‚Knockin‘ on Heaven‘ s Door‘.
Helene setzte ihren Rucksack ab und zog ihr Handy aus der Seitentasche. »Oh nein! Bitte nicht!«
»Wer ist es?«, fragte Nancy Richter. »Ein Arbeitskollege!« »Dieser Walter?« »Nein! Moment! Dietmar, was gibt es?« »Arbeit! Sonst würde ich dich wohl kaum anrufen.
Irgendwer hat versucht, am Schlachtensee ein Schlachtfest zu feiern.«
Mit diesem Satz versuchte Dietmar Schulz, ausnahmsweise einmal lustig zu wirken. Es gelang ihm nicht. Und trotzdem hörte Helene klar heraus, dass an dieser misslungenen Komik etwas wahr sein musste.
»In welchem Bezirk?« »Kennst du eh nicht. Zehlendorf.« Helene war erst vor drei Monaten aus Schwaben nach Berlin gezogen. Also konnte sie sich in Berlin nicht auskennen, so die Theorie von Polizeioberkommissar Dietmar Schulz. »Merkel konnte schon feststellen, dass die eine Person erstochen wurde. Die zweite Person ist wahrscheinlich an ´nem Herzinfarkt gestorben.«
»Alles klar! Ich fahre noch heute zurück. Bitte bestell Walter schöne Grüße!« Ohne auf ihren letzten Satz einzugehen, beendete Schulz das Gespräch.
Nancy Richter las in Helenes Gesichtsausdruck bereits das Wort Heimreise, noch bevor Helene wieder zu Wort kam.
»Wollen wir vorher noch etwas essen, bevor wir die Koffer packen?«
11:30 Uhr Schlachtensee, Zehlendorf
Kriminalhauptkommissar Walter Paul wandelte auf der
Suche nach etwas Ablenkung den Uferweg des
Schlachtensees entlang. Denn das, was er am Ufer des Sees zu sehen bekam, ließ ihn mehr frieren als die arktischen Temperaturen.
Am Horizont schimmerten pompöse Villen durch die Baumstämme hindurch. Paul musste daran denken, dass eine Bäckerin oder ein Postbote sich hier kein Haus leisten konnte. Und an diesem pompösen Ort versuchte sich nun jemand an einem Schlachtfest. Ein Schlachtfest am Schlachtensee. Paul spürte eine Hand auf seiner Schulter. Es war die Hand von Horst Merkel, dem Gerichtsmediziner, der wegen seines Aussehens den Spitznamen Bud Spencer trug.
»Wenn du die ersten Informationen aufnehmen kannst, sag Bescheid. Viel kann ich sowieso noch nicht sagen.«
Walter Paul gab Bud Spencer stumm zu verstehen, dass er erzählen solle.
»Beim Fundort handelt es sich definitiv um den Tatort, aber das sieht jeder Laie. Die Frau ist durch die Messerstiche gestorben, das kann ich schon mal sagen, aber die Kälte hat dem Körper noch nicht besonders zugesetzt.« »Was heißt das?«
»Dass die Leiche noch keine ganze Nacht hier liegt.«
»Ach, das meinst du!«
»Ja, das meine ich!«
»Wie geht es der alten Frau?«
»Sie wurde bis eben noch psychologisch betreut. Jetzt befindet sie sich auf dem Weg in die Klinik. Der Verlust ihres Mannes setzt ihr mehr zu als der Leichenfund.« Paul nickte, wirkte dabei aber geistesabwesend.
Kriminaloberkommissar Dietmar Schulz begab sich nun ebenfalls zu Walter Paul und Horst Merkel. Sein schnelles Atmen sorgte an der kalten Luft für winzige Rauchwolken.
»Wir haben endlich den Namen und die Adresse des alten Paares.« Wieder nickte Paul.
»Ach ja, und wir haben womöglich das Tatwerkzeug gefunden.«
Sofort war Paul wieder bei der Sache. Dietmar Schulz hielt eine kleine durchsichtige Plastiktüte hoch, in der Paul und Bud Spencer ein Messer erkannten. Ein Messer, wie man es in jedem Haushalt finden konnte. Ein Messer, das maximal zum Schneiden einer Tomate geeignet war. In jedem Fall war es kein Messer, das zum Abstechen von Menschen taugte.
Vom Klingeln seines Mobiltelefons überrascht, zog Paul das Handy aus der Jackentasche. Als er sah, wer anrief, entfernte er sich von den beiden Männern.
»Helene? Ich freue mich, deine Stimme zu hören.«
»Walter, was ist passiert?«
»Was meinst du?«
»Na, es wurde doch eine Leiche an irgendeinem See gefunden.«
»Ich habe Rita gebeten, dich nicht anzurufen. Du sollst doch deinen Urlaub genießen.«
»Rita hat mich nicht angerufen. Dietmar rief an und erzählte davon.« Paul sah frustriert zu Schulz hinüber.
»Also, was ist passiert?«
»Eigentlich genau das. Mehr kann noch niemand sagen.« Paul schwieg kurz und lauschte Helenes Atem, den er durchs Telefon hören konnte.
»Okay, ich fahre noch heute Abend zurück nach Berlin.«
»Ich kann es natürlich kaum erwarten, dich wiederzusehen, aber du kannst trotzdem noch deinen Urlaub genießen. So lange hast du ja nicht mehr.«
»Nein, das passt schon!«
»Dann lass mich dich wenigstens vom Bahnhof abholen.«
»Das fände ich cool!«
Ohne jedes weitere Wort lief Paul an Dietmar Schulz und Bud Spencer vorbei und steuerte noch einmal den Fundort der Leiche an. Der tote Körper lag bereits im Auto der Gerichtsmedizin. Paul hockte sich auf den kalten Boden. Vor ihm raschelte das rot-weiße Absperrband, das ihn davon abhielt, den Tatort zu betreten. Mit den Augen scannte er noch einmal das kleine Uferstück ab. Vielleicht erkannte er ja noch hinterlassene Fußabdrücke oder ein Taschentuch. Irgendetwas, bevor die Spurensicherung aufmarschierte. Dabei kam dem Mann mit der kurzen, grauen Stoppelfrisur eine prinzipielle Frage in den Kopf:
Was suchte das Opfer in der Silvesternacht an einem so einsamen Ort wie dem Schlachtensee?
14:00 Uhr, Argentinische Allee, Zehlendorf
Mit Beginn des neuen Kalenderjahres drohte das Leben von Mohammed Öztürk aus dem Ruder zu laufen. All die Werte seines Vaters, nach denen auch Öztürk lebte, schienen auf dem Müllhaufen seines Lebens gelandet zu sein, so wie sein Leben selbst, das sehr bald auf brutale Weise beendet werden sollte.
Seine Freundin wollte die Silvesternacht zu Hause verbringen. Sie mochte keine Partys. Und auch in dieser Nacht wollte sie noch vor dem Jahreswechsel im Bett liegen. Das waren die letzten Informationen von Aysun Demirbay an ihren Freund. Umso ratloser stand der 27-jährige Mohammed Öztürk in der gemeinsamen Wohnung, wo er seine Freundin nicht vorfand.
Mit wenig Hoffnung rief er anschließend bei Freunden an und fragte nach Aysun. Fehlanzeige! Weder Bekannte noch Verwandte konnten ihm sagen, wo sich seine Freundin aufhielt.
Am Neujahrsmorgen verwies man den aufgebrachten Türken an das Polizeirevier in der Alemannenstraße, wo er seine Freundin als vermisst meldete. Die Beamten nahmen die Anzeige auf, stellten aber klar, dass seine Freundin 24 Stunden als vermisst gelten müsse, bis die Polizei überhaupt mit der Suche nach ihr beginnen würde. Öztürk konnte und wollte das nicht verstehen. Er kannte doch seine Freundin. Nie fuhr sie allein irgendwo hin, ohne ihm Bescheid zu geben. Er schrie die Polizisten an, drohte sich zu vergessen. Schließlich verließ er die
Polizeidirektion mit einer eigenen Anzeige. Der ersten Strafanzeige in seinem Leben.
Nun irrte Mohammed Öztürk durch die Straßen Berlins. Er hatte keine Ahnung, wo er langlief. Er suchte doch nur voller Verzweiflung seine Freundin. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit wog so schwer wie jeder Schritt. Öztürk hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Er hielt an, stützte beide Hände an den Knien ab, den Oberkörper beugte er nach vorn. Er probierte, bewusst zu atmen. Dann trieb ihn das Gefühl weiter voran, etwas tun zu müssen, um seine Aysun zu finden. Die winterlichen Temperaturen zwickten an seiner Gesichtshaut. Auch seine Hände waren der eisigen Kälte schutzlos ausgeliefert. Trotzdem liefen ihm Schweißperlen den Rücken hinunter. Sein Körper signalisierte ihm, jeden Moment zu explodieren.
Öztürk erhöhte das Tempo. Jeder Schritt war nur noch Automatismus.
Die Menschen, die an diesem Neujahrstag durch die Straßen liefen, schauten dem Mann hinterher, der wieder und wieder den Namen seiner Freundin rief. Wobei das kein Rufen mehr war: Er brüllte nach seiner Aysun. Und das kostete Kraft. Kraft, die ihm fehlte, seine Tränen zurückzuhalten. Verzweiflung stand dem 27-Jährigen ins Gesicht geschrieben. Er sprach die Menschen an, die es nicht rechtzeitig schafften, die Straßenseite zu wechseln.
Doch diese wollten ihn nicht beachten. Denn Menschen, die Hilfe brauchen, brachten vielleicht Aufwand mit sich. Selbst die alternativ gekleidete Studentin mit den überdimensionalen Brillengläsern wich auf die linke Straßenseite aus, um die Begegnung mit Mohammed Öztürk zu vermeiden.
An der Ampel stand eine Frau in gebückter Haltung. Statt auf einem Rollator stützte sie sich auf einen Krückstock. Ein rot-schwarzes Kopftuch schützte ihre Haare. Sie erinnerte Öztürk an eine Hexe aus diversen Märchen. Die alte Dame konnte nicht schnell genug aus dem Weg gehen. Sie wirkte aber auch nicht, als ob sie das vorgehabt hätte. Mohammed Öztürk sprach sie an, erzählte der Frau von seiner Verzweiflung. Die alte Dame nickte manchmal, eine Antwort, ob sie eine Frau mit leicht dunkler Hautfarbe und langen schwarzen Haaren gesehen hatte, gab aber auch sie nicht. Dafür sorgten ihre anschließenden Worte bei Mohammed Öztürk für blankes Entsetzen.
»Vielleicht war Ihre Freundin undankbar? Vielleicht musste sie für ihre Undankbarkeit bezahlen?«
»Was reden Sie?«
»Passen Sie auf, sonst sind Sie vielleicht bald der Nächste.«
19:30 Uhr, Hauptbahnhof, Mitte
Vor zwanzig Minuten hatte Helene Eberle die Sehnsucht nach Walter Paul gestillt, als sie aus dem Zug gestiegen war.
Nun saßen sie sich in einer abgelegenen Ecke eines Schnellrestaurants im Bahnhof gegenüber. Der Geruch, den das brutzelnde Bratfett von sich gab, störte sie nicht. Paul nuckelte an seinem Wasser, während Helene Pommes für Pommes aus der rot-gelben Pappschachtel angelte.
»Aus dem, was du bisher erzählt hast, kann ich mir keinen Reim machen.«
»Das können wir alle nicht.« Paul schaute sich um. Zuhörer waren bei dem Gespräch äußerst unerwünscht. Dann flüsterte er weiter: »Es gibt eine Leiche, übersät mit Messerstichen. Gefunden am Schlachtensee. Der Fundort ist auch gleichzeitig der Tatort. Mehr kann bisher niemand sagen. Wir müssen abwarten, bis es erste Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin gibt. Oder von der Spurensicherung.«
»Gibt es Videoaufnahmen? Vielleicht ist der Täter mit der Bahn zum Tatort gefahren. Dann ist er am Bahnhof gefilmt worden.«
»Guter Gedanke. Wenn dem so ist, können wir nur hoffen, dass diesmal die Kamera funktioniert hat.« Paul spielte auf den gemeinsamen ersten Fall am Ostbahnhof an, als eine scheinbar defekte Kamera bei der Tatortbegehung übersehen wurde.
»Gibt es sonst irgendwelche Anhaltspunkte? Faserspuren oder Fußabdrücke? Irgendetwas, wo wir ansetzen können?« »Eventuell haben wir die Tatwaffe gefunden.«
»Das ist doch schon mal ein Anfang.«
»Aber auf das endgültige Ergebnis müssen wir noch warten.«
»Du kennst mich doch inzwischen. Ich kann nicht warten.«
»Das weiß ich!« Paul und Helene lächelten sich an. Doch Paul merkte schnell, dass hinter dem Lächeln seiner Lieblingskollegin schon ein Plan lauerte.
»Nein! Vergiss es! Das kannst du nicht ernst meinen. Lass uns doch auf den ersten Bericht der Spusi warten.«
»Doch, ich meine es ernst. Bitterernst.« Helene lächelte weiter.
»Nach dem, was du mir erzählt hast, muss der oder die Täter Spuren hinterlassen haben.« Paul wollte Helene etwas entgegnen, gab aber bereits auf, noch bevor er zu sprechen begann. Er wusste, dass es sich nicht lohnte, mit Helene zu diskutieren. Da hätte er auch mit seinem Wasserglas über den Fall sprechen können, das hätte mehr Sinn ergeben. In Sachen Rhetorik konnte er seiner Kollegin nun mal nicht das Wasser reichen.
»Okay! Du hast recht! Wir müssen ja irgendwo ansetzen.«
Pauls Handy klingelte. Bud Spencer rief an. Scheinbar gab es neue Informationen. Paul presste das Telefon an sein linkes Ohr. Lieber hätte er den Lautsprecher betätigt, um Helene mithören zu lassen, doch ein Gespräch über einen mit Messerstichen übersäten Frauenkörper sorgte in einem Fast-Food-Laden entweder für aufgerissene Ohren oder Brechreiz.
»Ja Horst, was gibt es Neues?« Helene versuchte, wenigstens einige Fetzen des Gesprächs mitzubekommen.
»Hallo erst mal! Also, wie ja unschwer zu erkennen war, handelte es sich bei dem Opfer um eine Frau.«
»Ja, und?«
»Ich schätze das Alter der Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahre!«
»Okay, das habe ich mir schon gedacht. Aber deswegen rufst du nicht an.«
»Nein, ich rufe an, weil mir langweilig ist. Aber mal Spaß beiseite. Heute Morgen meldete ein Mann seine Freundin als vermisst. Die Info bekam ich von Dietmar Schulz
gesteckt, der wiederum ...«
»Bitte erspare mir das mit Dietmar. Gibt es denn Parallelen?« Helene fischte die nächsten Pommes frites aus der Tüte. Sie fühlte sich wie in einem Kino. Nur statt einem Film lauschte sie einem spannenden Telefonat.
»Ja, die vermisste Frau ist 27 Jahre alt und hat mit ihrem Freund in Zehlendorf gewohnt.«
»Das passt alles. Hast du noch mehr?«
»Ja, ich habe jetzt Feierabend!«
»Den hast du dir verdient.«
»Ach so, zwei Sachen noch! Die Frau ist zwar an den unzähligen Messerstichen gestorben, aber keiner davon war wirklich tief. Nur hat der Täter mit dem Messer die Lunge verletzt. Und die Stiche in den Hals waren entscheidend.« »Das heißt, dass der Täter zwar irre viele Aggressionen in sich trug, weil es so viele Stiche waren...«
»Insgesamt 43!«, ergänzte Merkel, »… aber nicht genug Kraft hatte, um effizienter zuzustechen.«
»Genau! Ich vermute jetzt kein Kind als Täter, aber vielleicht eine Frau, eine ältere Frau. Aber ein Mann sticht so nicht zu.«
Helene schaute Paul neugierig an, als sie das letzte Pommes Stück in den Ketchup tunkte.
»Aber den zweiten Punkt sollten wir vielleicht nicht außer Acht lassen: Die vermisste Frau ist türkischer Abstammung.«
Dienstag, 02. Januar
08:13 Uhr, Mercatorweg, Zehlendorf
Jemand betätigte die Klingel.
Keine Reaktion.
Erneutes Klingeln.
Mohammed Öztürk begab sich unter großem Stöhnen in die sitzende Position. Träumte er das Läuten an der Tür? Träumte er das bisherige neue Jahr nur? Aysun war verschwunden, zum ersten Mal lief eine Anzeige gegen ihn, gestern Abend hatte er sich mit Bier und Weißwein in den Schlaf gesoffen. Er kratzte sich im Gesicht. In seinem Kopf schrie jemand wie in einer Achterbahn. Öztürk schmiss sich zurück auf das Kissen.
Ein drittes Mal läutete es. Er hatte das Klingeln nicht geträumt. Jetzt donnerte jemand gegen die Tür.
»Kriminalpolizei! Jemand zu Hause?« Der 27-Jährige sprang aus dem Bett. An seinem Körper klebten noch die Klamotten vom gestrigen Tag. Etwas überziehen musste er also nicht. Dafür musste er auf dem Weg zur Tür zahlreichen Bierflaschen ausweichen.
»Kriminalpolizei! Jemand zu Hause?«
Vier Wörter donnerten mit Fäusten eine Brise Hoffnung gegen die Wohnungstür.
Öztürk riss die Tür auf. Er erwartete Beamte in Uniform. Stattdessen stand ein Bierbäuchiger Mann in Lederjacke, abgewetzter Jeans und Turnschuhen vor der Tür. Neben ihm eine Frau mit langen schwarzen Haaren und dunklem Teint.
Der Kleidungsstil der Frau war mit dem Wort markenbewusst noch untertrieben beschrieben.
»Guten Morgen! Kriminalpolizei!«