Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Geschichte eines kleinen schwarzen Jungen, der Ende des 19. Jahrhunderts von wohlmeinenden Weißen nach Schweden gebracht wurde und sich dort nach seiner warmen Heimat zu Tode sehnt. Ein menschliches Drama, ein politisches Gleichnis und ein ebenso spannender wie poetischer Roman.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 484
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Zsolnay E-Book
Henning Mankell
Die rote Antilope
Roman
Aus dem Schwedischen
von Verena Reichel
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Titel Vindens son bei Norstedts in Stockholm.
ISBN 978-3-552-05678-7
© Henning Mankell 2000
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2001
2. E-Book-Auflage 2017
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Zur Erinnerung an Jan Bergman
PROLOG
Schonen 1878
Die Krähen zankten sich. Sie tauchten hinab in den Lehm, rissen sich wieder empor, und ihr Gezeter tönte schneidend durch den Wind. Es hatte lange geregnet, in diesem Augustmonat 1878. Die Unruhe der Krähen kündigte den Herbst an und einen langen, strengen Winter. Aber einer von den Kätnern, die zum Schloß Kågeholm gleich nordwestlich von Tomelilla gehörten, wunderte sich über die Krähen. An ihrer Unruhe war etwas, das er nicht kannte. Und Krähenschwärme hatte er schon sein ganzes Leben lang gesehen. Spät am Nachmittag ging er an einem Graben entlang, der mit Wasser gefüllt war. Fast bis zuletzt blieben die Krähen sitzen. Aber als er zu nahe kam, verstummten sie und flatterten weg. Und er, der gekommen war, um zu sehen, was die Unrast der Vögel verursachte, entdeckte sofort, was es war. Da lag ein totes Mädchen, zur Hälfte unter einem Reisighaufen begraben.
Im selben Moment begriff er, daß das Mädchen ermordet worden war. Jemand hatte auf ihren Körper eingestochen und ihr die Kehle durchgeschnitten. Aber als er sich nah zu ihrem Gesicht beugte, bemerkte er etwas Eigentümliches. Etwas, das ihn mehr erschreckte als die durchschnittene Kehle. Derjenige, der sie getötet hatte, hatte sie mit Lehm erstickt, ihn ihr in Rachen und Nasenlöcher gestopft. So fest hatte er gepreßt, daß das Nasenbein gebrochen war. Das Mädchen mußte einen qualvollen Tod erlitten haben.
Er lief denselben Weg zurück, den er gekommen war. Da es sich offensichtlich um Mord handelte, forderte der Polizist Landkvist in Tomelilla Hilfe von der Kriminalpolizei in Malmö an.
Das tote Mädchen hieß Sanna Sörensdotter und galt bei allen, einschließlich des Dorfpfarrers David Hallén, als zurückgeblieben. Als man sie fand, hatte man sie in ihrem Elternhaus in Kverrestad bereits seit drei Tagen vermißt.
Dem Arzt zufolge, der den Körper untersuchte, Doktor Madsen aus Simrishamn, war sie aller Wahrscheinlichkeit nach keinem sexuellen Übergriff ausgesetzt gewesen. Da sich der Körper bereits in Verwesung befand und die Krähen ihn stark entstellt hatten, mußte er sich jedoch vorbehalten, daß die Wahrheit auch eine andere sein könnte.
Es gingen viele Gerüchte über den möglichen Mörder um. Ein besonders hartnäckiges lautete, in der Gegend sei ein polnischer Seemann gesehen worden, kurz bevor Sanna Sörensdotter aus ihrem Elternhaus verschwunden war. Obwohl die Fahndung landesweit ausgeschrieben war, und außerdem sogar in Dänemark, wurde der Mann nie gefunden.
Der Mörder befand sich auf freiem Fuß.
Er allein wußte, was er getan hatte.
Und weshalb.
TEIL I
Die Wüste
Er war schon sehr lange in der glühenden Hitze unterwegs. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte ihn mehrmals heftiger Schwindel befallen, und er hatte geglaubt, er müsse sterben. Das hatte ihn mit Furcht erfüllt, oder vielleicht war es eher Raserei, und er hatte sich wütend weiter vorangekämpft. Die Wüste war endlos. Er wollte nicht sterben, noch nicht, und er hatte Amos, den fetten Neka und die anderen schwarzen Männer angetrieben, die er in Kapstadt gedungen hatte und die seine drei Ochsen mit dem Wagen führten, auf dem sein ganzes Leben verpackt und mit Stricken befestigt war. Irgendwo vor ihnen, tief drinnen in der gleißenden Hitze, lag eine Handelsstation, und hätte er diese erst erreicht, würde alles gut werden. Er würde nicht sterben. Er würde weiter nach seinen Insekten suchen, nach dieser verdammten Fliege forschen, die keiner vor ihm entdeckt hatte und der er seinen Namen würde geben können, Musca bengleriensis. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Er hatte sein ganzes Leben in diese Jagd auf eine unbekannte Fliege investiert. Und so war er weitergelaufen, und der Sand und die Sonne hatten sich wie Messer in sein Bewußtsein gebohrt.
Vor zwei Jahren hatte er in seinem Studentenzimmer in der Prästgatan in Lund gesessen und draußen die Hufe der Pferde übers Pflaster klappern hören, während er eine unvollständige deutsche Karte der Kalahariwüste studierte. Sein Finger war an der Küste von Deutsch-Südwestafrika entlanggefahren, hatte sich in nördlicher Richtung bewegt, bis zur Grenze von Angola, dann nach Süden zum Land der Buren, und schließlich ins Innere, ins Zentrum von Südafrika, das keinen Namen hatte. Damals, 1874, war er 27 Jahre alt, und er hatte bereits jeden Gedanken daran aufgegeben, sein Studium zu Ende zu bringen und ein Universitätsexamen abzulegen. Als er von der Kathedralschule in Växjö nach Lund gekommen war, hatte er erst vorgehabt, Arzt zu werden, aber bereits beim ersten Besuch in der Anatomie war er ohnmächtig geworden und umgefallen wie ein schwerer Baum. Der Seminarleiter, Professor Enander, hatte, bevor die Türen des Anatomischen Theaters geöffnet wurden, ausführlich berichtet, sie würden jetzt eine Herumtreiberin obduzieren, eine unverheiratete Frau, die in einem Kopenhagener Bordell im Suff zu Tode gekommen sei und die man in einem Sarg wieder nach Schweden transportiert habe. Eine Mamsell Andersson aus Kivik, die der Sünde verfallen sei und schon mit fünfzehn ein uneheliches Kind geboren habe. Sie habe ihr Glück in Kopenhagen gesucht, wo sie nichts anderes erwartet habe als Unglück. Er erinnerte sich an die fast lüsterne Verachtung, die Professor Enanders Einführung prägte.
–Wir werden einen Leichnam aufschneiden, der schon zu Lebzeiten ein Kadaver war. Einen Hurenkadaver aus Österlen.
Danach waren sie geschlossen in das Anatomische Theater eingezogen, sieben Kandidaten der Medizin, lauter Männer, einer so bleich wie der andere, und anschließend hatte Professor Enander angefangen, den Bauch aufzuschneiden. Da war er in Ohnmacht gefallen. Er hatte sich den Kopf an einer der harten Stahlkanten des Obduktionstisches aufgeschlagen, davon war ihm ein Mal geblieben, eine Narbe gleich über dem rechten Auge.
Daraufhin hatte er alle Gedanken an eine medizinische Karriere aufgegeben und erwogen, zum Militär zu gehen, hatte aber nur ein sinnloses Ritual von marschierenden und schreienden jungen Männern vor sich gesehen. Er hatte mit der Philosophie geliebäugelt und mitunter überlegt, ob er Pfarrer werden sollte, wenn er mit den Kommilitonen zusammensaß und trank, aber es gab keinen Gott, und schließlich war er bei den Insekten gelandet.
Er konnte sich noch genau an diesen frühen Sommermorgen erinnern. Er war mit einem Ruck aufgewacht, als hätte ihn etwas gestochen, und als er das Fenster öffnete, hatte der Gestank von der Straße ihm Übelkeit verursacht. Als wäre er einer plötzlichen Gefahr ausgesetzt, hatte er sich hastig angezogen, seinen Spazierstock genommen und war stadtauswärts gewandert, in Richtung Staffanstorp. Unterwegs war er müde geworden, war von der Straße abgewichen und hatte sich in den Schatten eines Baums gelegt, um sich auszuruhen und vielleicht ein wenig zu onanieren. Und als er da lag, ließ sich ein bunter Schmetterling auf seiner Hand nieder. Es war ein Zitronenfalter, aber er war noch etwas anderes gewesen als das. Das Farbenspiel auf den Flügeln, die sich langsam öffneten und schlossen, hatte sich immerzu verändert. Die Sonnenstrahlen, die durchs Laubwerk fielen, verwandelten das Gelb in Rot, in Blau, dann wieder in Gelb. Der Schmetterling hatte lange auf seiner Hand gesessen, als hätte er eine wichtige Botschaft für ihn, und dann, als er plötzlich aufgeflogen und verschwunden war, hatte er es gewußt.
Insekten.
Die Welt war voller Insekten. Die keinen Namen hatten, nicht katalogisiert waren. Insekten, die auf ihn warteten. Die darauf warteten, sortiert, beschrieben und klassifiziert zu werden. Er war nach Lund zurückgekehrt, hatte sich in der Botanik um die Zulassung beworben, und obwohl er schon ein älteres Semester war, hatte der Professor ihn freundlicherweise angenommen. Im Sommer hatte er sein Elternhaus in Småland besucht, wo der Vater als Rentner auf dem Familienhof außerhalb von Hovmantorp lebte. Seine Mutter war gestorben, als er fünfzehn war, seine beiden Schwestern waren älter, und da beide verheiratet waren und im Ausland wohnten, in Berlin beziehungsweise Verona, war der Vater allein mit der alten Haushälterin zurückgeblieben.
Das Haus verfiel im gleichen Takt, wie sein Vater langsam dahinsiechte. In seiner Jugend hatte er sich in Paris die Syphilis zugezogen, und nun saß er jeden Sommer eingesperrt in einer Laube, allein auf einem Stuhl. Die Laube war so zurechtgestutzt, daß man durch ein Loch dicht über dem Boden hineinkriechen mußte. Im Herbst schloß sich der Vater in seinem Schlafzimmer ein und blieb das ganze Winterhalbjahr über im Bett, regungslos, an die Decke starrend, mit mahlenden Kiefern, bis die Frühlingswärme zurückkehrte. Der Großvater war mit seinen Finanzspekulationen während der Napoleonischen Kriege erfolgreich gewesen, noch immer war ein gewisses Kapital vorhanden, auch wenn es allmählich zusammengeschmolzen war. Der Hof war bis unters Dach mit Hypotheken belastet, und jedesmal, wenn er sein Elternhaus besuchte, wurde ihm aufs neue klar, daß er kein nennenswertes Erbe zu erwarten hatte. Nichts als diese monatlichen Zahlungen, die ihm das Überleben in Lund ermöglichten.
Sein Vater war nur ein Schatten. Er war nie etwas anderes gewesen. Trotzdem machte Bengler in diesem Sommer einen Besuch in Hovmantorp, um sich seinen Segen zu holen. Dahinter stand die vage Hoffnung, der Vater würde ihm für die Expedition, die er plante, eine gewisse finanzielle Unterstützung gewähren.
Außerdem, und das war das Wichtigste, sah er ein, daß es Zeit wäre, sich zu verabschieden. Sein Vater würde bald fort sein.
Von Växjö aus nahm ihn ein Handlungsreisender mit, der nach Lessebo wollte. Der Wagen war unbequem, die Straße war schlecht und der Pelz des Handlungsreisenden roch stark nach Schimmel. Denn einen Pelz trug er, obwohl es Anfang Juni war, zwar noch nicht Hochsommer, aber schon ziemlich warm.
–Hovmantorp, sagte er nach einer Stunde. Das klingt schön. Aber es ist nichts dahinter.
Dann machten sie sich miteinander bekannt. Dazu war es am Vorabend nicht gekommen, als er ihn bei seinem Rundgang durch die Herbergen der kleinen Stadt angesprochen hatte, auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit.
–Hans Bengler.
Der Handlungsreisende überlegte einige Kilometer lang, ehe er antwortete.
–Das klingt nicht schwedisch, sagte er. Aber was ist schon schwedisch, außer endlosen Straßen durch ebenso endlose Wälder. Mein Name ist auch nicht schwedisch. Ich heiße Puttmansson, Natanael Puttmansson, und gehöre zum auserwählten und dennoch vertriebenen Volk. Ich verkaufe Bürsten und Hausmittel gegen Kinderlosigkeit und Gicht.
–Ein Teil ist wallonisch, erwiderte Hans Bengler. Ein anderer ist französisch. Einen Hugenotten gibt es auch in der Verwandtschaft, außerdem einen Finnen. Und einen französischen Rittmeister, der unter Napoleon diente und bei Austerlitz eine Kugel in die Stirn bekam. Aber der Name ist echt.
Sie rumpelten noch ein paar Kilometer dahin. Ein See glitzerte zwischen den Bäumen. Er ist nicht besonders gesprächig, dachte Bengler. Große Wälder lassen die Leute entweder verstummen oder bringen sie dazu, endlos zu plappern. Ich bin dankbar, daß dieser Handlungsreisende, der nach Schimmel riecht, ein Mensch ist, der den Mund hält.
Dann starb das Pferd.
Es hielt mitten im Schritt inne, versuchte sich aufzubäumen, als sei ihm plötzlich ein unsichtbarer Feind begegnet, und sank gleich darauf in sich zusammen. Der Handlungsreisende schien nicht erstaunt.
–Hereingelegt, sagte er nur. Jemand verkauft mir unter falschen Vorspiegelungen ein Pferd. Und das einzige, was ich niemals zu beurteilen gelernt habe, sind nun mal Pferde.
Sie trennten sich ohne große Umstände. Hans Bengler nahm seinen Rucksack und legte die letzte Meile nach Hovmantorp zu Fuß zurück. Da er nun ein Mensch war, der sich den Insekten widmete, blieb er mitunter stehen, studierte verschiedene Flügeltiere und bereitete sich auf die Begegnung mit dem Vater vor. Kurz bevor er Hovmantorp erreichte, fing es an zu regnen. Er suchte Unterschlupf in einer Scheune, onanierte eine Weile und dachte dabei an Matilda, die seine Hure war und in einem Bordell gleich nördlich vom Dom arbeitete. Es dauerte einige Stunden, bis die Regenwolken abzogen. Er saß da und betrachtete den dunklen Himmel, während er sein Glied trocknen ließ, dachte, die Wolken sähen aus wie eine Karawane, und überlegte, wie es sein würde, in einer Wüste zu leben, wo fast nie Regen fiel.
Weshalb hatte er sich eigentlich für die Wüste entschieden?
Das wußte er nicht. Als er angefangen hatte, die Karten zu studieren, hatte er zunächst an Südamerika gedacht. Aber die Bergketten schreckten ihn ab, weil ihm unwohl war, wenn er sich in großer Höhe aufhalten mußte. Den Turm des Doms zu besteigen, um bis hinaus zu den Feldern schauen zu können, hatte er nie gewagt. Allein bei dem Gedanken war ihm schwindlig geworden. In Frage kamen eigentlich nur die großen Ebenen im Reich der Mongolen, die arabischen Wüsten und die weißen Flecken im südwestlichen Afrika. Daß er sich schließlich für die Kalahari entschieden hatte, hing sicher mit der deutschen Sprache zusammen. Er sprach Deutsch, weil er ein paar Jahre zuvor mit einem Kommilitonen eine Fußwanderung gemacht hatte. Sie waren bis hinunter nach Tirol gekommen. Dann hatte sein Reisegefährte plötzlich Fieber bekommen und war bald unter schweren Brechanfällen verstorben, und er selber war schleunigst nach Hause zurückgekehrt. Aber Deutsch hatte er gelernt.
Wie er da in der Scheune saß, sein Glied in der Hand, hatte er gedacht, er sei im Grunde ein Schüler, ausgesandt vom toten Meister Linné. Aber dann kam ihm der Gedanke, daß er eigentlich gar nicht dafür geeignet war. Er konnte Schmerzen schlecht ertragen, war nicht besonders kräftig, und oft fürchtete er sich vor lauten Geräuschen. Eine einzige Sache konnte ihm zum Vorteil gereichen, und das war sein Eigensinn. Eng mit dem Eigensinn verbunden war die Eitelkeit. Irgendwo würde er einen Schmetterling finden, oder vielleicht eine Fliege, die in den Katalogen der Botanik nicht vorkam, und er würde ihr seinen Namen geben.
Dann ging er nach Hause. Der Vater saß völlig durchnäßt in der Laube, als er durch die Hecke kroch. Die Kiefer mahlten, der Vater war jetzt verwittert, kahl, die Haut hing in losen Falten, und er erkannte seinen Sohn nicht. Es war ein lebender Leichnam, der da in der Laube saß, die Kiefer mahlten wie Mühlsteine ohne Korn, es knirschte in seinem Skelett, das Herz pumpte wie ein Blasebalg, und Bengler erschien seine Wallfahrt zum Haus der Kindheit nun wie das Eintreten in einen Alptraum. Trotzdem blieb er eine Weile sitzen und redete mit seinem geisteskranken Vater. Dann ging er hinauf ins Haus, wo die Haushälterin sich freute, ihn zu sehen, das war aber auch alles, und sie machte ihm das Bett in seinem alten Zimmer und bereitete einen Imbiß für ihn zu. Während sie geräuschvoll in der Küche hantierte, ging er durchs Haus und steckte alles Silber ein, was da herumlag. Er holte sich sein Erbe im voraus und begriff, daß er als ein sehr armer Insektenforscher in die afrikanische Wüste reisen würde.
Nachts lag er wach. Die Haushälterin holte den Vater gewöhnlich bei Sonnenuntergang herein und bettete ihn auf ein Sofa im Erdgeschoß. Irgendwann im Laufe der Nacht war er hinuntergegangen und hatte seinen Vater betrachtet. Selbst im Schlaf mahlten seine Kiefer weiter. Irgend etwas hatte Bengler plötzlich angerührt, eine Trauer, die ihn überraschte, und er war hingegangen und hatte dem Vater über den kahlen Kopf gestrichen. In diesem Moment, mit dieser Berührung, hatte sich der Abschied vollzogen. Es war, als würde er bereits am Grab stehen und zusehen, wie man einen Sarg in die Erde senkte.
Anschließend hatte er wach gelegen und auf die Morgendämmerung gewartet. Es hatte keinen Inhalt in diesem Warten gegeben, keine Unruhe, keine Träume, als wäre sein Inneres eine glatte, kalte Felswand.
Er war aufgebrochen, ehe die Haushälterin aufgewacht war.
Drei Tage später war er wieder in Lund. Schon in der ersten Woche war er über den Sund gefahren und hatte das Silber in Kopenhagen verkauft. Genau wie befürchtet, hatte er nicht viel Geld für das bekommen, was er anzubieten hatte. Das einzige, was Geld gebracht hatte, war eine Schnupftabakdose aus dem Besitz eines Verwandten, dem man bei Austerlitz das Gehirn weggeschossen hatte.
Im folgenden Jahr hatte er alles gelernt, was er jetzt über Insekten wußte. Der Professor war freundlich gewesen, und als dieser gefragt hatte, wieso ein älteres Semester sich plötzlich vom kleinsten Getier faszinieren ließ, hatte er nur geantwortet, das wisse er eigentlich selber nicht. Er hatte in den Sälen des biologischen Instituts farbige Tafeln und in Spiritus eingelegte Insekten studiert, die schwerelos in den stummen Regalen in ihren Gläsern schwebten. Er hatte gelernt zu unterscheiden und zu identifizieren, hatte Flügel ausgerissen und Leiber aufgeschnitten. Gleichzeitig hatte er sich bemüht, etwas über Wüsten zu erfahren, über den afrikanischen Kontinent, der noch zu großen Teilen unbekannt war. Aber in Lund hatte es keinen Professor gegeben, der etwas über Wüsten wußte, und kaum einen, der sich mit Afrika auskannte. Er hatte alles gelesen, was er auftreiben konnte, und war mehrmals in Kopenhagen gewesen, um in Nyhavn Seeleute aufzusuchen, die nach Kapstadt oder Dakar gefahren waren und etwas über Afrika zu erzählen hatten.
Er hatte niemanden in seine Pläne eingeweiht, außer Matilda. Sie besuchte ihn jeden Donnerstag zwischen vier und sechs Uhr nachmittags. Außer daß sie miteinander schliefen, immer in der gleichen Stellung, sie auf ihm, wusch sie seine Hemden, und danach tranken sie Portwein und schwatzten. Matilda war neunzehn und aus Landskrona geflüchtet, nachdem ihr Vater erst versucht hatte, sie zu vergewaltigen, und anschließend, sie anzuzünden. Für kurze Zeit hatte sie als Dienstmädchen gearbeitet, bis sie die Schürze und die Unterwürfigkeit ablegte und den Weg ins Bordell fand. Sie war flachbrüstig, aber sanftmütig, und er hatte keine anderen Ansprüche an die Erotik, als daß sie sanftmütig sein sollte, weder qualvoll noch ekstatisch. Ihr erzählte er von der Reise, die er im folgenden Jahr anzutreten gedachte, zu Beginn des Frühlings, wenn es in Südafrika nicht zu warm war, wie er meinte. Sie hatte ihm zugehört, ohne ein anderes Interesse, als daß sie sich jetzt einen neuen Stammkunden suchen müßte.
Einmal hatte er ihr vorgeschlagen, sie solle mitkommen.
–Ich fahre nicht übers Meer, hatte sie erregt erwidert. Da stirbt man, sinkt auf den Boden und kommt nie wieder hoch.
Mehr war nicht gesagt worden.
Der Winter in Schonen war in diesem Jahr sehr mild. Anfang Mai brach Bengler aus der Prästgatan auf. Zu seinen wenigen Freunden hatte er gesagt, er würde sich auf eine kürzere Reise durch Europa begeben. Bald würde er wieder zurück sein.
Ein Fischerboot nahm ihn nach Kopenhagen mit. Drei Wochen lang wohnte er unter Seeleuten in einer billigen Herberge in Nyhavn. An einem Sonntag schaute er bei einer Enthauptung zu. Das Theater besuchte er nie, auch in die Museen ging er nicht. Er unterhielt sich mit den Seeleuten und wartete. Sein Gepäck hatte er auf ein Minimum reduziert. Alles fand in einer einfachen Kiste Platz, die er auf dem Dachboden des Hauses in der Prästgatan entdeckt hatte. Er hatte seine Karten, Tafeln und Bücher eingepackt. Mehrere Hemden, ein Paar Hosen zum Wechseln, Lederstiefel. In Kopenhagen hatte er sich einen Revolver und Munition gekauft. Das war alles. Sein Geld hatte er in Gold umgetauscht. Er trug es in einem Lederbeutel unter dem Hemd.
Außerdem hatte er sich die Haare sehr kurz geschnitten und angefangen, sich einen Bart stehen zu lassen. Und er wartete.
Am 23. Mai erfuhr er, daß ein englischer Schoner, »Der Fuchs«, von Helsingör nach Cardiff fahren würde, und dann weiter nach Kapstadt. Am selben Tag verließ er seine Herberge und nahm den Postwagen nach Helsingör. Er suchte den Kapitän des schwarz gestrichenen Schoners auf und erhielt die Erlaubnis, als Passagier mitzufahren. Eine eigene Kabine konnte er jedoch nicht bekommen. Für die Reise zahlte er ungefähr die Hälfte von dem Inhalt des Lederbeutels.
Am Abend des 25. Mai verließ »Der Fuchs« den Hafen von Helsingör. Er stand an der Reling und fühlte, wie auch in seinem Inneren eine Fahrt begann. Hinter dem Brustbein hatte er Masten, an denen Segel gehißt wurden. Etwas zog an ihm, als wäre sein Herz mit einem Strick zusammengeschnürt gewesen. Plötzlich bekam er Lust, für einen Augenblick wieder zum Kind zu werden. Auf dem sauber gescheuerten Deck Seil zu hüpfen, zu plappern, zu kriechen, laufen zu lernen.
In dieser Nacht schlief er tief und fest.
Am folgenden Tag, in der Morgendämmerung, hatten sie Skagen schon passiert und befanden sich in einer anderen Welt.
Diese Welt war in dichten, kompakten Nebel gehüllt.
Auf dem Schiff wurde er von seinem Namen befreit. Man nannte ihn nie etwas anderes als den Passagier. Ohne daß er richtig wußte, wie ihm geschah, durchlief er ein Ritual, bei dem er seiner bisherigen Identität enthoben wurde. Er wurde der Passagier. Unter diesen bleichen, hart arbeitenden Menschen war er der einzige, der nichts anderes tat als zu reisen. Ohne Namen, ohne Vergangenheit, ohne etwas anderes als eine Koje inmitten der Matrosen. Das war ihm nur recht. Als er seine Identität verlor, verschwand zugleich auch die Vergangenheit. Es war, als würde das salzige Wasser, das über die Reling spritzte, in sein Bewußtsein eindringen und alle schattenhaften Erinnerungen zerfressen, die er mit sich herumtrug. Die mahlenden Kiefer des Vaters verblaßten, Matilda wurde zu einer undeutlichen Silhouette und das Haus in Hovmantorp zur Ruine. Von seiner Mutter und den beiden Schwestern blieb nichts, nicht einmal die Erinnerung an ihre Stimmen. Als er sich in den Passagier verwandelte, entdeckte er zum ersten Mal, daß etwas existierte, wovon er zwar gehört, was er aber nie zuvor begriffen hatte. Freiheit.
Die Ankunft in Kapstadt sollte ihm als langgezogener, unwirklicher Traum in Erinnerung bleiben. Oder war es vielleicht eher das Ende eines Alptraums, der unmerklich in einen anderen überging? Noch ehe sie Cardiff erreichten, hatte sich gezeigt, daß der Kapitän, der Robertson hieß, an einer periodisch auftretenden Form von Wahnsinn litt. Wenn es wieder soweit war, kam er mit Messern in den Händen in die Mannschaftskajüte gerannt und stach wild um sich. Man war gezwungen, ihn zu fesseln, und erst nach mehreren Tagen, wenn er zu weinen anfing, ließ man ihn wieder frei. Bengler hatte erkannt, daß die Mannschaft ihm in großer Liebe zugetan war. Der Schoner war im Grunde eine schwimmende Kathedrale mit einer Gruppe von Jüngern, die bereit waren, ihrem Meister in den Tod zu folgen. Zwischen seinen periodischen Anfällen war Robertson sehr liebenswürdig und widmete seinem einsamen, schweigsamen Passagier viel Zeit und Aufmerksamkeit. Robertson war um die Vierzig, hatte angeheuert, als er neun war, mit sechzehn eine religiöse Krise durchgemacht und später, als er Kapitän wurde, ein unsichtbares Gewand angelegt, das eigentlich ein Talar war und keine Marineuniform. Seinem Passagier konnte er von vielen Seltsamkeiten auf dem afrikanischen Kontinent berichten. Die Wüste hatte er jedoch nie besucht. Sein Gesicht nahm einen abwesenden, beinahe traurigen Ausdruck an, wenn der Passagier ihm von seinen Plänen erzählte. Allerdings nicht die tiefste Wahrheit, jene von dem geheimnisvollen Schmetterling oder der Fliege, die seinen Namen tragen sollten. Aber von den Insekten, wie er sie katalogisieren, klassifizieren, identifizieren würde, dieses umfassende Ordnen, das notwendig war, damit ein Mensch ein anständiges Leben führen konnte.
Das Reden über die Wüste, über ihre Weiten aus Sand, hatte Robertson bedrückt.
–Im Sand kann man nicht einmal ertrinken, sagte Robertson.
–Aber auch am Sand kann man zugrunde gehen, widersprach der Passagier.
Robertson hatte ihn lange betrachtet, bevor er einen weiteren Kommentar abgab.
–Noch nie hat jemand Gott aus einem Sandkorn auferstehen sehen. Der Teufel dagegen hat zu gewissen Zeiten brennenden Sand aus seinem Maul gespien.
Der Passagier hatte den Sand nie wieder erwähnt. Statt dessen hatte er Robertson dazu gebracht, von den schwarzen Menschen zu erzählen, den kleinwüchsigen und den sehr großen, von Frauen, die sich Dung ins Haar schmierten, von wilden Tänzen, die nichts anderes waren als Schattenbilder erotischer Spiele. Und der Passagier hörte zu. Jeden Abend, ausgenommen während eines schweren Sturms in der Biskaya, hatte er sorgfältig notiert, was der Kapitän sagte. Nachdem er Robertson geholfen hatte, ein stark infiziertes Ohr zu säubern, hatte sich ihr Verhältnis noch vertieft. Als besondere Gunst, oder als würde ihm damit ein heiliges Sakrament zuteil, hatte Robertson ihn in den Gebrauch des Sextanten eingeweiht. Das Gefühl, das Schiff eher in sich zu tragen, als sich an Deck eines Schiffs zu befinden, verstärkte sich immer mehr. Jeden Morgen hißte er seine inneren Segel, je nach Stärke und Richtung des Windes. Abends, oder wenn sich ein Sturm zusammenbraute, beobachtete er die Matrosen beim Klettern in den Masten und traf in sich selbst die gleichen Vorkehrungen.
Am 22. Juni, als die Sonne gerade unterging, rief der Mann im Ausguck, es sei Land in Sicht. Robertson ließ das Schiff in dieser Nacht vor Anker treiben. In der Mannschaftskajüte herrschte eine eigentümliche Stille, als wagte keiner der Matrosen daran zu glauben, daß sie noch einmal eine Reise zum fernen schwarzen Kontinent überlebt hatten. Leise, als würden sie einander Geheimnisse anvertrauen, fingen sie an, die Tage zu planen, die sie an Land verbringen würden. Aufmerksam lauschte Bengler dem Flüstern, das die Kajüte erfüllte. Und es war wie eine gemurmelte Litanei, bei der zwei Dinge ständig wiederholt wurden. Frauen und Bier, Frauen und Bier. Nichts anderes. In der letzten Nacht auf dem Schiff versuchte er in seinen Gedanken all das zusammenzufügen, was er hinter sich gelassen hatte. Aber nicht einmal Matildas Gesicht konnte er sich vergegenwärtigen. Nichts war geblieben.
In der Morgendämmerung verabschiedete er sich von Robertson.
–Wir werden uns nicht wiedersehen, sagte Robertson. Ich spüre immer, wenn ich jemandem zum letzten Mal Lebewohl sage.
Es war, als würde Robertson das Todesurteil über ihn sprechen. Es empörte ihn, weil es ihm angst machte. Konnte Robertson das sehen, was vor ihm lag, in das Unbekannte hineinblicken? Er weigerte sich zu glauben, daß dem so sei. Aber Robertson war einer der rätselhaftesten Menschen, die ihm je begegnet waren. Was war er wirklich? Ein verrückter Pfarrer oder ein durchgedrehter Kapitän? Oder ein Mensch, der tatsächlich die Gabe hatte zu sehen, auf wen der Tod schon wartete?
–Viel Glück, sagte Robertson und reichte ihm die Hand. Jeder hat seinen Weg zu gehen. Das ist nicht zu ändern.
Dann wurde er an Land gerudert. Der Tafelberg ragte, wie ein geköpfter Hals, hoch über der Stadt auf, die unter dem Berg eingeklemmt lag. Am Kai herrschte großes Gedränge, Menschen schrien und rempelten sich an, ein paar schwarze Männer mit Ringen in den Ohren fingen an, an seiner Kiste zu zerren, und er mußte sie mit den Fäusten verteidigen. Er sprach deutsch, aber keiner verstand ihn, rings um ihn her wurde nur englisch geredet. Robertson hatte ihm zwei Adressen gegeben, die von einer überwiegend läusefreien Herberge und die von einem alten englischen Lotsen, der aus unerfindlichen Gründen schwedischer und norwegischer Honorarkonsul in Kapstadt war. Als er sich mühsam zu der Herberge durchgefragt hatte, war er schweißgebadet. Die weiße Frau, der die Pension gehörte, schrie eine dicke Mulattin an, sie solle dem neuen Gast Wasser bringen. Und er trank und wußte sofort, daß etwas mit seinem Magen passieren würde. Er bekam ein Zimmer, in dem die Laken gemangelt waren, aber dennoch klamm. Alles schien feucht zu sein, die Dielen waren porös, und er legte sich aufs Bett und dachte: Jetzt bin ich also angekommen, und ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin.
Am nächsten Tag, als er bereits mit der ersten Diarrhöe zu kämpfen hatte, suchte er den schwedisch-norwegischen Honorarkonsul auf. Dieser wohnte in einem weißen Haus an einer Straße, die sich in die Berge hochschraubte. Ein schwarzer Mann, dem die Zähne fehlten, ließ ihn ein, und er mußte zwei Stunden auf einem Holzschemel warten, bis Konsul Wackman aufgehört hatte zu schnarchen und sich erhoben und angekleidet hatte. Er hatte einen vollständig kahlen Schädel, keine Brauen und eigentümlich abstehende Ohren, die an Schwalbenflügel erinnerten. Seine Beine waren kurz, um den Bauch hatte er ein indisches Tuch gebunden, und an der nackten Brust hatten sich zwei Blutegel festgesaugt. Er überflog den Brief, den Robertson geschrieben hatte, und warf ihn dann von sich.
–Immer diese verrückten Schweden. Warum müssen sie ausgerechnet nach Afrika kommen? Was wir hier brauchen, sind Ingenieure. Erfahrene Leute, die praktische Probleme lösen können oder jede Menge Kraft haben, oder ein bißchen Kapital mitbringen. Aber nicht diese ganzen Verrückten, die entweder kommen, um die Heiden zu bekehren, oder um die Scheiße aufzusammeln, die die Elefanten fallen lassen. Und jetzt das. Insekten. Wer braucht schon Fliegen und Mücken in Katalogen?
Mit seinen Wurstfingern griff er nach einer kleinen Silberglocke und läutete. Ein schwarzer Diener, bis auf einen dünnen Lendenschurz unbekleidet, kam herein und kniete nieder.
–Was möchten Sie? fragte Wackman. Gin oder was sonst?
–Gin.
Der schwarze Mann verschwand. Draußen vor den Fenstern konnte Bengler sehen, daß jemand einen Geier an den Füßen aufgehängt hatte und mit einem Holzstock auf ihn einschlug.
Dann tranken sie.
–Ich habe vor, meinen Lebensunterhalt mit Straußen zu verdienen, sagte der Passagier, der jetzt langsam seinen Namen wiederkehren fühlte. Er war dabei, wieder Hans Bengler aus Hovmantorp zu werden.
Wackman betrachtete ihn lange, bevor er antwortete.
–Na schön, Sie Narr, sagte er schließlich. Sie wollen Strauße jagen und die Federn für Damenhüte exportieren. Das wird sich kaum lohnen. Die Federn sind verfault, bevor das Schiff auch nur den Hafen verlassen hat.
Damit war das Gespräch beendet. Wackman ließ jedoch eine resignierte Freundlichkeit erkennen und versprach Hilfe bei der Beschaffung von Ochsen und einem Wagen sowie beim Anheuern einiger Ochsentreiber. Aber dann müsse er sehen, wie er allein zurechtkäme. Außerdem meinte Wackman, er täte gut daran, ein Testament zu hinterlegen. Falls es etwas zu erben gäbe. Oder wenigstens die Adresse eines Angehörigen, der erfahren sollte, daß die Gebeine des Verwandten jetzt an unbekanntem Ort in einer endlosen Wüste ruhten.
Sie sprachen weiter dem Gin zu. Er dachte an den milden Portwein, den er mit Matilda getrunken hatte. Diese Welt erschien ihm jetzt wie eine rätselhafte Luftspiegelung. Der rauhe Gin brannte in seinem Hals. Und Wackman erzählte stöhnend, als könnte er jeden Moment den Geist aufgeben, die merkwürdige Geschichte, wie er, aus Glasgow gebürtig, nach Kapstadt geraten war und hier nun als Bordellbesitzer lebte und außerdem die schwedisch-norwegische Union repräsentierte.
Seine Geschichte handelte von Bären und einer Lithographie, die er einmal als Jugendlicher in Glasgow im Schaufenster einer Buchhandlung gesehen hatte. »Bärenjagd im Schwedischen Wermland«. Dieses Bild hatte ihn nicht mehr losgelassen. Mit ungefähr zwanzig Jahren hatte er seine Pilgerfahrt unternommen und war mitten in einem furchtbaren Winter nach Karlstad gekommen. Mehrmals wäre er beinahe an dem Grauen gestorben, das die Kälte in ihm hervorrief, nicht an der Kälte selbst. Einen lebenden Bären hatte er nie zu Gesicht bekommen, obgleich er sich mehr als zwei Monate in dieser entsetzlichen Kälte aufhielt. Wohl aber ein Bärenfell, bei einem pensionierten Artilleriehauptmann, der am Marktplatz von Karlstad wohnte. Danach hatte er Schweden Hals über Kopf verlassen und war auf sonderbaren Wegen nach Kapstadt gelangt, wo er sich für den Anblick des Bärenfells dankbar erweisen wollte, indem er es auf sich nahm, der Konsul dieses Landes und der Union zu sein.
Am späten Nachmittag waren beide Männer sturzbetrunken. Wackman ließ seinen Wagen vorfahren, und gemeinsam rollten sie die steile Straße hinab und machten vor dem flachen Zementgebäude halt, in dem er sein Bordell betrieb. In den niedrigen Räumen, in denen es stark nach unbekannten Gewürzen roch, schälten sich halbnackte schwarze Frauen aus dem Dunkel. Wackman verschwand, und plötzlich bemerkte Bengler, daß sich schwarze Schlangen um ihn ringelten: Frauenarme, Beine, Füße, Bäuche, und er trieb im Ginnebel dahin und wußte nicht, ob es Robertsons Schoner war, der langsam zum Meeresboden sank, oder das Schiff, das er in sich trug.
Am nächsten Tag wurde er in einem Zimmer auf dem Fußboden wach, neben seinem Kopf ein einsamer Schleier. Als er mühsam auf die Beine gekommen war, bemerkte er eine blaue Spinne, die in der Ecke zwischen zwei Wänden gerade ihr kunstvolles Netz webte. Er besann sich auf seinen Auftrag, ging durch das Bordell, in dem jetzt alle zu schlafen schienen, und fand Wackman vornüber auf einem altertümlichen Schaukelstuhl liegend. Obwohl sich der Konsul im Tiefschlaf befand, hatte er ihn offenbar erwartet. Als Bengler hinter ihm stand, fuhr er hoch.
–Ich benötige neun Tage, sagte er. Und alles an Bargeld oder Goldsand, was Sie in diesem Beutel haben, der Ihr Hemd ausbeult, das übrigens schmutzig ist und gewaschen gehört. Neun Tage, nicht mehr. Dann können Sie aufbrechen. Und ich werde Sie nicht wiedersehen. Aber einen Rat will ich Ihnen geben. Einen Rat für die Zukunft.
–Welchen?
–Das Pianoforte.
–Das Pianoforte?
–Ist in England groß in Mode. Wird sich über den Kontinent verbreiten. Die jungen Mamsellen spielen Piano. Schwarze und weiße Tasten. Für diese Pianos braucht man Tasten. Und für die Tasten braucht man Elfenbein.
Bengler begriff. Wackman meinte, er sollte sich der Elefantenjagd widmen.
–Ich bin wegen der kleinen Tiere hergekommen, erwiderte er. Nicht wegen der großen.
–Dann sind Sie selbst schuld. Dann sterben Sie halt, erwiderte Wackman. Niemand wird Sie vermissen, keiner wird sich an Sie erinnern.
Doch Wackman, der mit Vornamen Erasmus hieß, hielt sein Versprechen. Am neunten Tag war alles bereit. In Ermanglung eines Besseren hatte Bengler Wackman schließlich die Adresse der Haushälterin in Hovmantorp hinterlassen. Für den Fall, daß er sterben sollte. Sie sollte dem Vater den Brief zwischen die mahlenden Kiefer stopfen, so wäre die letzte Erinnerung an ihn ausgelöscht.
Trotzdem wußte er, daß dies nicht geschehen würde. Ohne daß er es erklären, geschweige denn rechtfertigen konnte, war er sich seines Überlebens gewiß.
Der Sand würde ihn nicht überlisten.
An einem der ersten Tage im Juli brach er aus Kapstadt auf.
Die trägen Ochsen bewegten sich langsam. Er hatte sich einen Tropenhelm gekauft und ein Gewehr über die Schulter gehängt. Um sein Gesicht, vom Schweiß angelockt, schwirrten Insekten. Er dachte, sie würden ihm den richtigen Weg zeigen. Sie waren seine wichtigsten Reisefährten.
Der Kompaß, in London hergestellt und in Messing gefaßt, wies ihnen den Kurs genau nach Norden, vielleicht mit einer Abweichung von einem hundertstel Grad nach Westen.
Am ersten Abend zog er sich um, bevor er sich hinsetzte, um das Abendessen einzunehmen, das Amos, sein Koch, servierte. Sie hatten das Lager am Ufer eines kleinen Flusses aufgeschlagen. Der Sternenhimmel war klar und nah. Plötzlich sah er den Großen Wagen. Aber er stand auf dem Kopf. Als letzten Gruß an all das, was er zurückgelassen hatte, überraschte Bengler seine Ochsentreiber damit, daß er sich auf den Kopf stellte, um den Großen Wagen so betrachten zu können, wie er ihn als Kind gesehen hatte.
Sie glaubten, er bete zu einem Gott.
Danach lag er lange wach und wartete darauf, ein Raubtier in der Nacht brüllen zu hören.
Aber es blieb ganz still.
Am folgenden Tag, in der heißesten Stunde, als die Sonne senkrecht über seinem Kopf stand, kam die Furcht.
Erst war es eine diffuse Angst. Eine Vorahnung, die er zunächst mit der Erklärung abtat, er hätte vielleicht etwas Falsches gegessen. Oder irgend etwas aus dem Gedächtnis verloren, einen Gedanken, der seinen Kopf unbemerkt passiert hatte, ohne daß ihm seine Bedeutung bewußt geworden wäre. Die Unruhe oder Angst, die er anfangs empfunden hatte, war nicht besonders schwerwiegend. Die eigentliche Furcht kam später. Sie war stark und zog an ihm wie ein kräftiger Magnet.
Sie hatten am Rand einer Ebene Rast gemacht, wo niedrige Büsche in der Sonne vergilbten. Neka hatte einen Sonnenschirm aufgespannt und seinen Klappstuhl auf einen kleinen Teppich gestellt. Sie hatten Reis, Gemüse und ein stark gewürztes Brot gegessen, das Wackman zufolge das einzige war, das während längerer Expeditionen nicht schimmelte. Amos, Neka und die beiden anderen Ochsentreiber, deren Namen er sich noch immer nicht merken konnte, schliefen unter dem Wagen. Die drei Ochsen standen regungslos. Nur dort, wo Insekten sie attackierten, zuckte ihr Fell.
In diesem Augenblick verwandelte sich die trockene Erde in Eisen. Der Magnet zog, und er spürte die Furcht kommen. Er hatte gerade sein Tagebuch hervorgeholt, um sich Notizen über den vergangenen Vormittag zu machen. Er hatte sich vorgenommen, dreimal täglich zu schreiben: wenn er aufwachte, nach der Mittagsruhe und vor dem Schlafengehen. Da er sich nicht vorstellen konnte, diese Aufzeichnungen nur für sich selber zu machen, hatte er sich überlegt, daß Matilda die einzige wäre, an die er seine Worte richten könnte. Die Furcht kam, als er gerade den Bericht des Morgens beendet hatte. Sie hatten das Zelt bei Sonnenaufgang abgebaut und gegen neun ein ausgetrocknetes Flußbett durchquert, in dem er das Skelett eines Krokodils identifiziert hatte. Seine Länge hatte er auf drei Meter und zehn Zentimeter berechnet. Kurz nach zehn hatten sie ein Gebiet mit dichtem Dorngestrüpp passiert, das die Ochsen in Unruhe versetzte. Kurz bevor sie sich zur Mittagsrast niederließen, hatte er einen großen Vogel regungslos über seinem Kopf stehen sehen, als ruhe er auf einer unsichtbaren Säule. Ob es ein Adler oder ein Geier war, hatte er nicht erkennen können. Am Ende dieses Faktenberichts hatte er einen Absatz hinzugefügt. Das Gefühl ist sehr stark. Von Hovmantorp bin ich bis hierher gekommen. Ich stelle fest, daß der Weg endlos ist und das Leben sehr kurz.
In diesem Moment packte ihn die Furcht. Erst hatte er überlegt, was der Auslöser sein könnte. Er hatte keine Diarrhöe mehr, der Puls war normal, keine Infektionen. Es schien keine Gefahr zu drohen. Kein Raubtier, keine feindlichen Menschen. Alles war eigentlich ein großes Idyll. Regungslose Ochsen, schlafende Männer unter einem Wagen.
Es geht um mich, hatte er gedacht, als er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn wischte. Es geht darum, daß ich mich hier mitten in einem unwirklichen Idyll befinde. Er meinte plötzlich, Professor Enander vor sich zu sehen und hörte sein Worte: Wir werden einen Leichnam aufschneiden, der schon zu Lebzeiten ein Kadaver war.
Ihm fiel ein, wie er damals ohnmächtig geworden war und daß es eine Flucht gewesen war. Eine Flucht davor, sehen zu müssen, wie der Bauch aufgeschnitten wurde und die Eingeweide herausquollen. Jetzt befand er sich mitten in einem sonderbaren Idyll in den südlichen Gebieten Afrikas, unterwegs mit unbekanntem Ziel: zu einer bisher nicht benannten, katalogisierten oder identifizierten Fliege, oder einem Schmetterling möglicherweise.
Plötzlich konnte er der Furcht direkt ins Gesicht sehen. Die Unternehmung, der er sein Leben zu weihen beschlossen hatte, eine Expedition, bei der es äußerst fraglich war, ob er überhaupt lebendig zurückkehren würde, war ebenfalls eine Flucht. Auf die gleiche Weise wie damals, als er im Anatomischen Theater ohnmächtig geworden war. Jetzt stand er auf einer anderen Bühne. Die afrikanische Landschaft, die regungslosen Ochsen, die schlafenden Männer unter dem Wagen, alles war eine Kulisse. Er befand sich mitten in einem Schauspiel, das von seiner eigenen Flucht handelte. Aus Hovmantorp und vor den mahlenden Kiefern, vor dem gescheiterten Studium in Lund, dem gescheiterten Leben. Von nichts anderem.
Er betrachtete den Revolver, den er in Kopenhagen gekauft hatte und der jetzt geladen zu seinen Füßen lag. Es wäre sehr einfach, sich das Leben zu nehmen, dachte er. Ein paar simple Handbewegungen, ein Knall, den ich selbst nicht mehr wahrnehmen würde. Vermutlich würden die Ochsentreiber mich an Ort und Stelle begraben, meine Habe unter sich aufteilen und sich in verschiedene Richtungen zerstreuen. Möglicherweise würden sie über die Ochsen in Streit geraten, da sie selbst zu viert sind, es aber nur drei Ochsen gibt. Bereits dann hätten sie vergessen, daß ich überhaupt existiert habe. Und ich hätte nie gelernt, wie ihre Namen, die zwei, die nur aus Konsonanten zu bestehen scheinen, eigentlich ausgesprochen werden.
Er stand auf und verließ den Schatten des Sonnenschirms. Einer der Ochsen sah ihn an. Die Hitze war überwältigend. Er stellte sich unter einen knorrigen Baum, den einzigen, der sich an ihrem Rastplatz befand. Ich fürchte mich, weil ich nicht weiß, wer ich bin, dachte er. Wenn das alles eine Flucht vor einem von Anfang bis Ende sinnlosen Studentenleben gewesen ist, so war es in noch höherem Grad eine Flucht vor mir selbst. Ich habe nächtelang getrunken und die Existenz Gottes geleugnet. Aber das war nichts als besoffenes Geschwätz. Ich glaube an einen Gott, an einen strafenden und richtenden Gott, der allgegenwärtig ist. Ich habe mich geschämt, wenn ich in Schonen onanierend an den Feldrändern saß. Ich habe die ganze Zeit geahnt, daß mich jemand beobachtete, wenn Matilda auf mir ritt. Ich habe den Liberalen gespielt. Habe mich zu der neuen Welt bekannt, welche die Ingenieure und der Dampf erschaffen werden. Ich war voller Verachtung, damals, als der Pfarrer Cavallius in Hovmantorp behauptet hat, die Eisenbahn wäre eine Erfindung des Teufels. Ich spiegele Zukunftsglauben vor, Widerstand gegen alles Althergebrachte, während ich mich in Wirklichkeit vor allem fürchte, was ich nicht voraussagen kann. Ich bin der am wenigsten Geeignete, um hier unter diesem Baum in Afrika zu stehen, als Leiter einer Expedition, auf der Jagd nach einem unbekannten Insekt. Wackman hatte natürlich völlig recht. Er sah durch mich hindurch, sah den Narren hinter dem verlogenen Ernst.
Er kehrte zum Sonnenschirm zurück. Die Furcht bildete einen Knoten in seinem Magen. Er faltete die Hände und sprach ein Gebet. Ich suche eine Wahrheit, die nicht groß sein muß. Wenn es sie nur gibt. Amen.
Neka, fett und unförmig, war aufgewacht. Jetzt stand er am Baum und pinkelte. Dann kehrte er zum Wagen zurück und schlief wieder ein.
Bengler fiel wieder der englische Wissenschaftler ein, mit seinen Thesen, die sie in langen Nächten im Haus des Studentenverbands von Småland diskutiert hatten. Der Mann war mit einem Schiff der britischen Admiralität um die Erde gereist und dann nach England zurückgekehrt und hatte behauptet, der Mensch sei ein Affe. Bei den aufgeregten Diskussionen hatte Bengler selten etwas gesagt. Die Theologen hatten geschlossen auf der Seite Gottes gestanden, sie hatten mit den Worten der Bibel gegen die anstürmenden Truppen der Freidenker geschossen. Und die Freidenker hatten sich mit Darwins Instrumenten ausgerüstet und die Argumente der Theologen mit kleinen scharfen Messern seziert. Er selbst hatte meist schweigend dabeigesessen und zugehört. Jetzt dachte er, die Furcht sei wohl damals schon dagewesen. Die Furcht davor, daß Gott aufhören könnte zu existieren. Ob seine Großmutter eine Äffin war, spielte weiter keine Rolle.
Er konnte jetzt alles ganz klar sehen. Die Furcht, die wie ein Fernrohr war, das er benutzen konnte, um zurückzublicken. Und was er sah, war nichts. Ein Mensch aus Småland, der an nichts glaubte, der eigentlich nichts wollte, der aufgrund enormer Eitelkeit nach einer Fliege suchte, der er seinen Namen geben konnte.
Gleichzeitig dachte er, darin könnte auch eine Lösung liegen. Die Expedition könnte er dazu nutzen, um einen Sinn in seinem Leben zu finden. Er konnte sich aussuchen, ob es einen Gott gab oder ob es die Ingenieure waren, welche die Welt formten. War Gott in einem Himmel oder befand er sich in den Eisenträgern, welche die neuen Fabriken, die neue Welt zusammenhielten? Der Weg, der in die Wüste führte, und anschließend deren weglose Weite würden ihm die Zeit geben, die er brauchte, um eine Antwort zu finden.
Langsam merkte er, wie die Furcht wich. Er schloß die Augen. Hinter seinen Lidern brannte die Sonne weiter.
Sie brachen am Nachmittag auf. Im Wechsel ging er an der Spitze, neben dem Wagen, oder als letzter. Der Magnet hatte seinen Griff gelockert. Er fühlte sich aufgekratzt.
Sie hatten gerade einen Sumpf erreicht, den sie im Bogen umgehen mußten, um die niedrigen Berge zu erreichen, die dahinter lagen. Der Karte zufolge bildete die Bergkette die äußerste Grenze der Wüste, die ihnen dann allmählich entgegenschleichen würde. Da brach ein Wagenrad. Der Wagen knickte seitlich ein, die Ochsen blieben stehen, und er trat heran, um den Schaden zu begutachten. Hinter ihm standen schweigend die Ochsentreiber. Er versuchte herauszufinden, ob es möglich wäre, das Rad zu reparieren. Aber mehrere von den dicken Speichen waren gebrochen. Sie würden das Ersatzrad montieren müssen, das Wackman ihnen aufgedrängt hatte, trotz seines Gewichts und obwohl der Wagen bereits zu schwer beladen war. Er erklärte Amos, der vielleicht der Führer der anderen war, mit Armen und Händen, daß das Rad gewechselt werden müßte. Dann ließ er sich seinen Klappstuhl und den Sonnenschirm bringen und setzte sich hin, um die Arbeit der Ochsentreiber zu überwachen.
Die Furcht war schlimm gewesen. Aber die Verachtung, die ihn jetzt überkam, war glühend. Er beobachtete die unbeholfenen Versuche der Ochsentreiber, den Wagen abzustützen, das deformierte Rad zu entfernen und ein neues einzusetzen. Auch wenn er selbst seine Hände nie zu praktischer Arbeit benutzt hatte, konnte er doch beurteilen, auf welche Weise das Ganze vor sich zu gehen hatte. Nach einer halben Stunde war er so empört über ihre Ungeschicklichkeit und Langsamkeit, daß er aus dem Klappstuhl aufsprang und anfing, sie zu kommandieren. Einmal in meinem Leben bin ich doch zur Militärperson geworden, dachte er zornig. Und zwar, weil ein paar verdammte Schlappschwänze nicht imstande sind, ein Rad zu wechseln. Als er erst einmal die Führung übernommen hatte, merkte er, daß seine Erregung eher noch zunahm. Er fing an zu schreien und fuchtelte herum und stieß jeden weg, der einen Fehler machte. Es erstaunte ihn, daß keiner der Männer protestierte oder auch nur das geringste Anzeichen von Irritation über diese Behandlung erkennen ließ, und das fachte seine Erregung noch mehr an. Als das neue Rad montiert war, verlangte er, sie sollten das Tempo steigern, um die verlorene Zeit aufzuholen. Aber welche Zeit ist eigentlich verloren? dachte er dann. Welchen Weg können wir morgen nicht zurückgehen? Welche Wegstrecke müssen wir heute zurücklegen? Die Expedition hat kein Ziel.
Trotzdem trieb er sie an. Die Raserei war jetzt an die Stelle der Furcht getreten. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich als der Stärkere. Gerade noch rechtzeitig vor dem kurzen Sonnenuntergang schlugen sie das Nachtlager auf. Unterwegs hatte er ein Tier geschossen, das einem Hasen glich. Er legte sich im Zelt aufs Feldbett und genoß den Geruch von Fleisch und Feuer. Ich habe diesen Menschen Respekt beigebracht, dachte er. Von nun an gibt es keinen Zweifel, daß ich die Beschlüsse fassen werde, die notwendig sind. Ich bin noch jung. Aber diese Ochsentreiber haben verstanden, daß ich die Kraft besitze, die erforderlich ist, um die nötigen Entscheidungen zu treffen.
Er aß von dem gebratenen Fleisch. Die Ochsentreiber hielten sich in einem gewissen Abstand am Feuer auf. In einem der Bücher, die er im vergangenen Winter gelesen hatte, war er auf einige neue Theorien gestoßen, französische und deutsche, die wie durch Zufall übereinstimmten. Den edlen Wilden gab es nicht. Er gehörte der romantischen Vorstellungswelt früherer Epochen an, der Zeit vor den Ingenieuren, den Eisenträgern und den Kassenbüchern. Er hatte diese Theorien studiert, die Hautfarbe und Gehirne, Nasenrücken und Füße wissenschaftlich betrachteten. Untermenschen und Übermenschen, hatte er gelesen. Zuerst hatte er gedacht, das könne nicht wahr sein, da alle Menschen gleich geschaffen seien. Aber wenn es Gott nicht gab, mußte es die Gleichwertigkeit aller auch nicht geben. An diesem Tag meinte er es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Die Ochsentreiber waren eine andere Art von Menschen. Sie mußten auf dieselbe Weise angetrieben werden, wie sie selbst die Ochsen trieben. Auch wenn er nur von einem Mann mit mahlenden Kiefern in Hovmantorp abstammte, aus dem tiefsten armen und rückständigen Småland, war er doch derjenige, der für diese schwarzen Menschen künftig die wichtigen Entscheidungen zu treffen hatte.
Kurz bevor er einschlief, nachdem er den Revolver unter das Kopfkissen und das Gewehr neben das Feldbett auf den Lehmboden gelegt hatte, schrieb er die letzten Aufzeichnungen dieses Abends nieder. Wieder wandte er sich an Matilda. Diese Menschen, unbegreiflich dunkel in ihrer Haut, lassen sich nicht mit uns vergleichen. Sie gehören zu etwas anderem, vielleicht sind sie eher wie Tiere. Aber sie erinnern an die Armenhäusler daheim. Ihre Unterwürfigkeit, ihr Schweigen, ihre Beflissenheit. Heute habe ich die Rolle gefunden, die ich in diesem Schauspiel zu geben habe. Ich bin dabei, meine eigene Freiheit in die Tat umzusetzen. Noch ist die Wüste fern. Jetzt, kurz vor zehn Uhr abends, ist es noch sehr warm. Ich habe schon gemerkt, daß ich in dieser Wärme leichter aufwache, und daß die Träume anders sind.
Dann blies er die Kerze aus.
Von seiner Furcht hatte er nichts geschrieben.
Mitten in der Nacht wachte er auf, aus einem Traum herauskatapultiert. Er hatte die mahlenden Kiefer des Vaters dicht vor sich gehabt, wie das Gebiß eines Raubtiers. Im Hintergrund hatte er Matilda wahrgenommen. Sie war unbekleidet und wurde von einer Gruppe von Soldaten vergewaltigt, an deren nackten Körpern blaue Tressen klebten. Sie hatte ihn gesehen und seinen Namen gerufen, ihn um Hilfe angefleht. Aber er hatte sich versteckt, sich unsichtbar gemacht und sie ihrem Schicksal überlassen.
Trotzdem war es nicht der Traum, der ihn geweckt hatte. Denn als er in der Dunkelheit die Augen aufschlug, merkte er, daß ihn etwas aus dem Schlaf gerissen hatte, das sich außerhalb seiner selbst befand. Er lag ganz still und hielt den Atem an. Der Schweiß klebte ihm am Körper. Es sind die Ochsen, dachte er. Sie bewegen sich unruhig, als würde Gefahr drohen. Mit einem Schlag war er hellwach. Er befand sich jetzt nicht in Lund, nicht in Hovmantorp. Afrika war ein Kontinent, wo sich Schlangen ringelten und katzenartige Raubtiere aus dem Dunkel geschlichen kamen und sich in Tierkehlen verbissen. Er tastete nach dem Gewehr. Als er den kalten Lauf spürte, wurde er ruhiger. Er lauschte auf eine andere Weise. Aber er hatte es sich nicht eingebildet. Die Ochsen waren unruhig. Er machte Licht, schlüpfte in seine Hosen und nahm das Gewehr. Das Feuer flackerte. Im Schatten außerhalb des Lichtkreises konnte er die Ochsen erkennen. Die Ochsentreiber lagen zusammengerollt ums Feuer. Aber als er die Körper zählte, fehlte einer. Er kontrollierte, ob das Gewehr entsichert war, schüttelte die Stiefel aus und zog sie an. Dann ging er vorsichtig auf die Ochsen zu.
Er entdeckte, daß es Neka war, der dort stand. Der fette, unförmige Neka. In der Hand hielt er eine Peitsche. Langsam, als würde er im Schlaf die Ochsen treiben, schlug er auf ihre Rücken ein. Bengler blieb stehen. Was er sah, war vollkommen unbegreiflich. Einer der Ochsentreiber, mitten in der Nacht, nackt, mit wippendem fetten Bauch, der langsam, wie in Trance, wieder und wieder auf die Rücken der Ochsen eindrosch. Er dachte, daß er eingreifen müßte, Neka die Peitsche aus den Händen reißen, vielleicht die Schlafenden am Feuer wecken, dann Neka an einen Baum binden und ihn auspeitschen lassen. Menschen, Treiber wie Träger, hatte Wackman erklärt, könne man auf diesem eigentümlichen Kontinent in beliebiger Anzahl bekommen. Aber gute Ochsen seien kostbar und selten. Also müsse man Ochsen gegen Menschen abwägen, die Ochsen schützen, während einem die Menschen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert wären. Aber er blieb stehen. Neka schien zu schlafen, während er da stand und schlug. Er schwankte, als würden die Peitschenschläge eigentlich ihn selber treffen, sein eigenes Fleisch zum Zittern bringen und nicht die dicke Haut der Ochsen.
Plötzlich war es vorbei. Neka ließ die Peitsche fallen und drehte sich um. Bengler zog sich hastig zurück, tiefer ins Dunkel hinein. Würde er entdeckt, müßte er eingreifen. Neka bestrafen. Aber Neka hatte ihn nicht gesehen. Er stolperte zum Feuer zurück, rollte sich zusammen und schien im selben Moment einzuschlafen, in dem er die Augen schloß.
Er ging zu den Ochsen hinüber. Strich mit einer Hand über einen der Rücken und hatte Blut an der Handfläche. Danach drehte er sich um und ging zurück zum Feuer. Ich könnte diese Menschen erschießen, dachte er. Der Reihe nach. So sehen die Dynastien auf diesem Kontinent aus. Die da liegen, zusammengerollt, schmuddelig, gehören zu den niederen Ständen. Während ich, ein gescheiterter Student aus Småland, Mitglied einer Dynastie bin, die aus den Stärksten besteht, aus denjenigen, die die Macht besitzen.
Er kehrte zum Zelt zurück. Eine Eidechse saß neben der Kerze und beobachtete eine Ameise, die sich langsam näherte. Dann schoß die Zunge aus dem Maul, und die Ameise war weg.
In dieser Nacht nahm er einen weiteren Eintrag in seinem Buch vor. Er schrieb an Matilda: Wünschte, ich hätte in dieser Nacht den Mut gehabt, einem meiner Ochsentreiber mit der schweren Peitsche den Rücken aufzuschlitzen. Aber soweit bin ich noch nicht. Würde ich jetzt schlagen, würde es mich quälen. Erst wenn ich weiß, daß diese Handlung mir selbst keinen Schmerz mehr bereiten wird, nur dem, dem der Rücken zerfetzt wird, werde ich es tun.
Er rollte das Tagebuch in das Biberfell, das es vor Feuchtigkeit und Insekten schützen sollte, löschte das Licht und legte sich hin.
Ich suche nach einer unbekannten Fliege, dachte er. Wie andere Menschen nach einem Gott suchen. In der Wüste hoffe ich sie zu finden. Aber Wackman mit seinem Bordell, seinen Huren und seinen eigentümlichen Ohren hat bestimmt schon nach Hause an die Haushälterin meines Vaters geschrieben und mitgeteilt, ich wäre gescheitert, ich ruhte in einem unbekannten Grab.
Obwohl er sehr müde war, lag er bis in die Morgendämmerung schlaflos da.
Am folgenden Tag zogen sie weiter, an den niedrigen Bergen vorbei, und erreichten gegen Abend die Kalahariwüste.
In der Ferne sahen sie eine Gruppe von Buschmännern vorbeiziehen.
Sie wirkten wie schwarze Punkte auf dem gleißenden Sand. Daß es Menschen waren und nicht Tiere, merkten sie an den Ochsen. Sie hatten etwas gewittert, dann aber entschieden, daß keine Gefahr drohe.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich bereits zwei Monate und vier Tage in der Wüste. Es war das erste Mal, daß ihnen Menschen begegneten. Bis dahin hatten sie nur eine kleine Herde von Zebras gesehen und Spuren von Schlangen, die über die Sandkämme hinunterringelten.
Bengler hatte neun Kilo abgenommen. Natürlich hatte er sich nicht wiegen können, aber er wußte trotzdem, daß es genau neun Kilo waren. Die Hosen flatterten ihm um die Beine, sein Brustkorb war eingesunken, die Wangen, die jetzt ein Bart bedeckte, waren hohl. Und nachts träumte er, er würde langsam vom Sand begraben. Als er versuchte, laut zu schreien, kam kein Laut, da seine Stimmbänder eingetrocknet waren.
Irgendwo war etwas schiefgegangen. Den Karten zufolge, die Wackman ihm besorgt hatte, hätten sie den zentralen Ort Windhoek in Deutsch-Südwestafrika vor einer Woche erreichen sollen. Aber nichts als karge Berge, Sand und verstreute Büsche hatten auf ihrem nicht vorhandenen Weg gelegen. Zweimal hatten sie eine Wassertränke gefunden, beide Male, weil sie Vogelschwärme am Himmel hatten steigen und sinken sehen. Bisher hatten die Ochsentreiber sich nicht beklagt. Aber Bengler war klar, daß es nicht mehr lange dauern würde. Mit jedem Tag hatte sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Bei zwei Gelegenheiten hatte er die Peitsche gegen sie erheben müssen, um sie zum Weitergehen zu zwingen. Er wußte, beim dritten Mal würde er schlagen müssen.
Neka war immer noch genauso fett. Das wunderte ihn. Die Mahlzeiten der Ochsentreiber waren womöglich noch knapper als seine eigenen. Aber abgesehen von Amos, der ein paar Brocken Englisch konnte, war jedes Gespräch unmöglich. Sobald er sich ihnen näherte, gab es eine Bereitschaft, Befehle entgegenzunehmen, vielleicht eine Zurechtweisung zu bekommen, indem er ungeduldig mit den Armen fuchtelte oder auf irgend etwas deutete, das nicht so war, wie es sein sollte. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen und Abend die Wagenräder zu inspizieren, da sie es sich nicht leisten konnten, noch ein weiteres zu verlieren. Er versuchte den Zustand der Ochsen zu beurteilen, ob einer Anzeichen von Krankheit oder Erschöpfung zeigte. Außerdem kontrollierte er, daß nichts von der Wagenladung verschwunden war. Da stapelten sich seine Gläser und Metallgefäße mit Spiritus, die auf Insekten warteten. Sein Zeichenmaterial und der Proviant. Noch hatte er nicht feststellen können, daß einer der Ochsentreiber zum Dieb wurde. Jedesmal, wenn er diese Kontrollen durchführte, fühlte er eine Welle von Scham in seinem Körper aufsteigen. Mit welchem Recht mißtraute er eigentlich diesen Menschen, die doch die Voraussetzung dafür waren, daß er jeden Tag ein Stück vorwärtskam, daß sein Zelt aufgeschlagen und eine Mahlzeit für ihn zubereitet wurde? Bei mehreren Gelegenheiten, meist abends, schrieb er etwas darüber an Matilda. Er gebrauchte fast immer das Wort Dynastie, als wäre es in diesem Zusammenhang ein heiliges Wort geworden. Die bestimmende Dynastie, und die anderen, welche die notwendigen Befehle empfingen.
Die beiden Monate, die sie nun schon durch die Wüste zogen, hatten seine Ansichten darüber, was das Leben eigentlich für ein Ziel hatte, grundsätzlich verändert. Noch immer wiegte er sich in der Gewißheit, daß eine unbekannte Fliege, oder vielleicht ein Käfer oder ein Schmetterling, seine gesamte Existenz rechtfertigen würde. Aber zugleich hatte der Sand in seiner ganzen trostlosen Unbegreiflichkeit ihn gezwungen, den Rückzug durch sein Leben anzutreten. Langsam rollte der Wagen hinter den Ochsen voran. In seinem Inneren bewegte er sich die ganze Zeit rückwärts, oder nach innen, auf etwas zu, wovon er nicht wußte, was es war. Klarheit? Ein Verständnis für das, was ein Individuum sein konnte oder sollte. Jeden Morgen, wenn sie aufbrachen, hatte er sich für einen Gedanken entschieden, den er eigens an diesem Tag bearbeiten wollte. Da er in der Philosophie nicht weiter bewandert war, mußte er die großen Fragen nach seinen eigenen Vorstellungen formulieren, so gut er es eben verstand.
An einem Tag hatte er über die Liebe nachgegrübelt, vom frühen Morgen an, bis er am Abend ermattet einschlief. Er war immer durstig, da sie von Anfang an gezwungen gewesen waren, das Wasser zu rationieren. An Matilda schrieb er in seinem Buch, daß die Gnade der Liebe ihm unbegreiflich sei. Aber daß das erotische Spiel, das sie ihn gelehrt hatte, immer noch imstande sei, ein heftiges Begehren in ihm zu wecken.
Gerade an diesem Tag hatte die Wüste ihn mit Haß erfüllt, da sie keinen Schlupfwinkel bot, in den er sich zurückziehen konnte, um zu onanieren. Und am Abend, als er allein im Zelt saß, war die Lust verflogen.
Eines Nachts war er davon aufgewacht, daß ihn eine eigentümliche Stille erfüllte. Erst hatte er nicht begriffen, was es war. Dann hatte er gemerkt, daß die Kiefer seines Vater aufgehört hatten zu mahlen. Er hatte die Kerze angezündet, auf die Uhr gesehen und den Zeitpunkt im Tagebuch notiert. Ohne es sicher zu wissen, war er davon überzeugt, daß sein Vater genau in dieser Nacht gestorben war. Er hatte auf seinem Stuhl in der Laube gesessen, und als die Haushälterin hineingekrochen war, um ihn zu holen, waren die Kiefer still gewesen und das Herz tot. Er empfand keine Trauer, keinen Schmerz und keine Sehnsucht. Aber statt dessen eine schwer erträgliche Ungeduld. Wie lange würde es dauern, bis er bestätigt bekam, daß es wahr war? Daß der Vater tatsächlich genau in dieser Nacht aufgehört hatte, mit seinen Kiefern zu mahlen?