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Passau, Weihnachtsabend 1099. Die verarmte Kaufmannstochter Alice erreicht nach der Eroberung Jerusalems verwundet und geschmäht Passau. Gleichzeitig muss ihr verborgener Geliebter Graf Bernhard von Baerheim, der nach ihrem angeblichen Tod inzwischen eine andere geheiratet hat, im Streit zwischen Kaiser und Papst Partei ergreifen. Doch dann wird Graf Bernhard auf der Höhe seines Einflusses grausam ermordet. Wer hatte einen Grund, ihn aus dem Weg zu räumen und warum hat der Tote ein Lächeln im Gesicht?
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Seitenzahl: 962
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Maren Bohm
Die Rückkehr der Pilgerin
Historischer Kriminalroman
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bilder: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schedelsche_Weltchronik_d_200.jpg
und © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Domenico_Ghirlandaio,_Around_1449-1494_-_Portrait_of_Giovanna_Tornabuoni_-_Google_Art_Project.jpg
ISBN 978-3-8392-5074-7
Die Romanhandlung entspricht den historischen Ereignissen im Heiligen Land und im Regnum Romanorum von 1099 bis 1125
Burg Baerheim an der Donau, im September 1124
»So im Dunkeln?«, bemerkte Giselinde, schloss die schwere, niedrige Eichentür und stellte den Leuchter auf den Tisch.
»Mein Vater, der Graf und unser aller Herr, ist also noch nicht zurück.« Sie seufzte.
»Diese lästige Angewohnheit. Niemals sagt er, wohin er geht und wann er wiederkommt.«
Alice wandte sich vom Turmfenster fort zu der jungen Frau, die im goldbestickten Festtagsgewand vor ihr stand.
»Eine solche Äußerung ziemt Euch nicht«, rügte sie und biss sich auf die Lippen.
Giselinde lächelte bitter.
Milder fügte Alice hinzu: »Wir wissen alle, wohin Euer Vater gegangen ist.«
Giselinde erwiderte darauf nichts, sondern überlegte in besorgtem Ton:
»Was sollen wir nur machen? Der blinde Sänger ist bereits eingetroffen und Kaiser Heinrich wird jeden Augenblick erwartet. Er wird durch diese Unhöflichkeit sehr gekränkt sein.
Das kann Folgen haben.«
»Empfangt Ihr den Kaiser mit Eurem Gemahl. Vertreibt die Sorge aus Eurem Gesicht. Seid heiter und liebenswert, wie es Eure Art ist. Huldigt dem Kaiser mit allen ihm gebührenden Ehren. Ich selbst werde Graf Bernhard finden.«
Finden? Wo und wie werde ich ihn finden? dachte Alice angstvoll.
Eilig verließen die beiden Frauen die Kammer, liefen die steile, enge Wendeltreppe hinunter. Wie schon so oft, fiel es Alice auf, Bernhard hatte den Turmaufstieg so eng bauen lassen, dass kein Feind mit dem Schwert zum Schlag ausholen konnte. Was man so dachte in seiner Sorge.
Mit schnellen Schritten, von Furcht gepackt, lief sie in den mit unzähligen Fahnen, Fackeln und Teppichen ausgelegten Burghof und hastete in die Ställe. Einem Knecht befahl sie, sein Pferd zu satteln, sie selbst griff nach Sattel und Zaumzeug, schwang sich auf ihre Stute, fasste nach einer Fackel, und im Galopp stürmten die beiden Reiter durch das Tor über die Brücke aus der Burg hinaus. Draußen auf dem abschüssigen Weg zur Donau umfasste sie die Dunkelheit. Die hohen Tannen schluckten das wenige noch verbleibende Tageslicht. Sie mussten langsamer reiten, obgleich sie den Weg genau kannten.
Hoffentlich begegnet uns nicht hier Kaiser Heinrich, ging es Alice durch den Sinn.
Am Flussufer banden sie die Pferde fest und bahnten sich einen Pfad durch den Auenwald.
»Graf Bernhard!«, rief Alice einmal.
Keine Antwort. Nur ein Vogel flog schimpfend auf. Alice versuchte es nicht noch einmal. Im Dornengestrüpp blieb sie hängen und riss sich ihr Kleid auf. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Schweigend näherten sie sich der Stelle, wo Bernhard zu schwimmen pflegte. Es war nun ganz still. Nur der Vogel zeterte noch im Schilf. Alice fasste sich ans Herz und ging dann aufrecht, geradezu würdevoll zu dem Busch, unter dem sie Bernhards Kleidung vermutete.
Wehe, wenn du ein Geschrei anstellst wie Kriemhild, wenn ich eines Tages nicht zurückkomme, hörte sie Bernhard sagen. Das war während des Kreuzzuges, vor mehr als 20 Jahren.
Alice bückte sich, fasste unter das Blätterwerk. Da sah sie Bernhards roten Umhang mit der silbernen Spange. Sie bekam einen Schuh zu fassen. Ihr schwindelte. Nimm dich zusammen, forderte sie sich selbst auf.
Zu ihrem Entsetzen fiel der Knecht auf die Knie, bekreuzigte sich und betete ein Ave Maria.
»Hoch mit dir!«, befahl sie. »Du reitest zur Burg. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, jeder, der nicht dringend bei den Festlichkeiten benötigt wird, soll zum Fluss kommen mit Fackeln, Lanzen und Stöcken.«
Der Knecht entfernte sich schnell, froh, dem Schrecklichen einen Augenblick entkommen zu können. Alice aber begann ihre Suche im Schilf. Immer wieder rief sie Bernhards Namen.
Sie wusste, vergeblich.
Dennoch horchte sie voller Ungeduld auf das Rufen, das Pferdegetrappel, während sie sich durch Schlingpflanzen kämpfte, tief einsackte, jeden Fleck mit der Fackel absuchend.
Alice schrie auf. Ein Mensch war im Schilf hängengeblieben.
Bernhard!?
Alice hastete auf ihn zu. Im Schein der Fackel sah sie, Pfeile steckten in seinem Rücken. Er muss hier fort, er muss hier fort, so elendig. Die Fackel warf sie von sich, packte den Körper und schleifte ihn mühsam ans Ufer. Dort aber fürchtete sie sich, den Mann genau zu betrachten. Wider besseres Wissen bestand noch die Hoffnung, er sei es nicht.
Und wenn es Bernhard war, so wäre es doch nicht sein Antlitz. Aufgedunsen wie ein Fisch mit weit aufgerissenen glasigen, grässlichen Augen würde er sie anstarren. Alice fürchtete sich. Mit einem Male öffnete sich die Wolkendecke, Mond und Sterne erfüllten den Himmel, hell wurde der kleine Strand beschienen. Alice nahm sich ein Herz, legte den Toten auf die Seite und blickte ihm ins Gesicht. Doch wie erschrak sie:
Bernhard hatte die Augen geschlossen – er lächelte.
Auf seidenen Kissen erwachte Bernhard. Der Duft von parfümierten Kerzen stieg ihm unangenehm in die Nase und machte ihn ein wenig schwindeln. Er blinzelte. Im Schein des Lichtes wirkten die Muster auf den schweren Teppichen an den Wänden wie dunkle Tiere.
Er war also wirklich in Jerusalem! In einem Palast. In seinem Palast! Nach drei Jahren Pilgern, Elend, Hunger, Durst und Kampf endlich am Ziel seiner Sehnsüchte. Warum empfand er nichts dabei als eine stumpfe Leere? Er müsste nun sehr glücklich sein, forderte Bernhard von sich und bemühte sich, die Freude, den Jubel wachzurufen, der ihn wie alle anderen erfasst hatte, als er zum ersten Mal Jerusalems vom Berg Montjoie ansichtig wurde. Vor Ergriffenheit, vor taumelnder Begeisterung war er auf die Knie gesunken und hatte Gott für das Wunder gedankt, war dann aufgesprungen und hatte seinen kleinen Sohn hochemporgehalten, um ihm Jerusalem, die heiligste aller Städte, zu zeigen.
Doch Hanno war tot. War ermordet.
Jedoch auch Alice? Bernhard fasste neben sich in die weichen Kissen, seine Hand fühlte, was er ohnehin wusste, Alice war fort. Bis spät in die Nacht hinein war er durch die Gassen Jerusalems geirrt, hatte ihren Namen gerufen, sie gesucht in der Grabeskirche, in Hauseingängen, jeder Frau, die nur irgend Alice ähnelte, war er gefolgt, um traurig festzustellen, sie war es nicht. Noch schlimmer, unter Leichen hatte er nach ihr gewühlt. Die meisten waren noch warm, es ekelte ihn.
Zu allerletzt aber hatte er sich zusammengenommen und war dahin gegangen, wo er am ehesten erwarten konnte, etwas über Alice zu erfahren, in ihr Zelt. Dort saß der blinde Olivier und gab Auskunft. Alice sei da gewesen. Er habe genau gehört, wie sie ihr Bündel packte. Ein kleines Kind hätte sie bei sich gehabt.
»Ein kleines Kind?« Er war auf Olivier losgegangen und hatte ihn geschüttelt und angeschrien: »Wieso ein kleines Kind?« Olivier hatte seine Hände weggedrückt.
»Verzeiht«, hatte Bernhard gemurmelt. Entmutigt, hoffnungslos hatte er sich auf Alice’ Lager gesetzt, sein Gesicht zwischen seinen Armen verborgen.
Alice hatte ihn wirklich verlassen, das dritte Mal und endgültig. Wahrscheinlich wollte sie nicht im Heiligen Land bleiben, wahrscheinlich war sie zurück auf dem Weg nach Passau. Aber Passau war so unendlich fern, dass man es fast nicht einmal denken konnte. Kein Hafen war in der Nähe, Jaffa war zerstört, auch der nächste christliche Hafen Latakia war weit, sie müsste durch feindliches Gebiet, allein, ohne Waffe, als Frau. Nicht auszudenken, was ihr passieren könnte. Vergewaltigung war das mindeste. Alice würde irgendwo in den Bergen vergewaltigt, würde ergriffen, gefangen genommen, würde auf dem Sklavenmarkt verkauft, in Tripolis, in Homs, in Damaskus, wo auch immer. Oder sie würde ermordet. Wahrscheinlich jedoch nicht. Eine blonde Fränkin ließ sich zu gut verkaufen, als dass man sie leichtfertig tötete.
Wenn er sie zurückholte? Wie damals in Konstantinopel? Bernhard setzte sich auf. Noch war es nicht zu spät. Olivier hatte gesagt, sie sei zu Fuß unterwegs. Noch könnte er sie einholen.
Was war das mit dem Kind? Gleichgültig, ob Kind oder nicht. Noch könnte er Alice erreichen.
Bernhard griff nach dem seidenen Morgenmantel, der gefaltet auf dem mit Ornamenten bestickten Schemel neben seinem Ruhebett lag, öffnete eine Truhe mit Gewändern und blieb von seinem Gedanken wie gefesselt stehen:
Unsinn, was sollte er ihr nachreiten. Alice hatte ihn verlassen und sie wollte ihn verlassen. Sollte sie zusehen, wie es ihr dabei erging. Sicher hatte sie seine Ohrringe abgenommen. Sollte sie doch verrecken. Überhaupt, was sollte er mit einer Geliebten. Die wäre ihm nur lästig.
Nein, sagte er, trat ans goldvergitterte Fenster, öffnete es und schaute auf den weiten Platz, der vom ersten Morgenlicht noch wie ein grauer Schatten wirkte. Vom nahen Tempel Salomos drangen Stimmen, Weinen und Schreie. Er wollte nicht hinhören.
Ein kurzes schmerzhaftes Ziehen spürte er im oberen Backenzahn. Er hielt sich die Hand an die Wange.
Hart dachte er, es war geradezu ein Segen, dass Alice von allein gegangen war, so müsste er sie jedenfalls nicht fortschicken, nicht fortjagen. Für seine Pläne konnte er sie überhaupt nicht gebrauchen. Auch er wollte zurück ins diutsche landt, er wollte sein Lehen aus der Hand des Kaisers empfangen, er wollte heiraten, die schöne, reiche, adelige Frau, von der er immer geträumt hatte. Da wäre diese Geliebte, so ein Anhängsel, nur lästig. Frauen zum Vergnügen gab es ohnehin genug. War ihm doch egal, was aus Alice wurde. Er musste an seine eigenen Pläne denken und sie endlich verwirklichen.
Es pochte an der dunkeln Tür aus Ebenholz. Auf sein »Herein« trat Kaspar ein. Der Junge verneigte sich tief, was Bernhard missfiel.
»Gnädiger Herr, ich muss Euch etwas zeigen.«
»Was denn?«
Kaspar antwortete darauf nur mit einem flehenden: »Bitte!«
Verwundert folgte Bernhard dem Jungen durch einen ebenfalls mit Teppichen reich ausgestatteten Raum, in dem der schlafende Olivier auf einem Diwan lag. Bernhard warf einen Blick auf seinen Freund und stellte im Vorbeigehen wiederum entsetzt fest, dass Oliviers Füße zuckten, als würde er von einem Schwert geschlagen. Darüber nachzudenken war keine Zeit, denn schon liefen sie durch die Eingangshalle. Flüchtig sah Bernhard im Schein der Fackeln auf dem Marmorfußboden die drei Bären, die er eingeritzt hatte als Zeichen, dass dieser Palast ihm gehörte. Kaspar griff nach einer Fackel und stieg eine steile Treppe in ein Kellergewölbe hinab, in dem Fässer mit Öl und Wein lagerten. Hinter einem der Fässer war ein schmaler Spalt in dem Gemäuer, Kaspar schob seine Fackel durch die Öffnung, kroch selbst hindurch. Bernhard folgte ihm. In einem niedrigen Raum kauerten in einem Kreis wohl acht Frauen, sie hatten sich mit den Armen fest umschlungen und waren alle – enthauptet.
Ihr Anblick war schauderhaft, ihre Kopftücher, ihre entsetzten Gesichter – wie Fratzen. Eine der Frauen war eine Schwarze.
Was war gewonnen durch die Eroberung Jerusalems?, durchzuckte Bernhard wider Willen der Gedanke. Die Befreiung vom Fegefeuer? Das Paradies? Die ewige Seligkeit?
Ein seidener Morgenmantel, dachte er verächtlich.
»Herr, seht hier«, wurde er von Kaspar in seinem melancholischen Nachsinnen unterbrochen. Der Junge hockte vor einer Truhe, die nicht aus Holz, sondern aus Stein war wie das Mauerwerk des Gewölbes. Den Deckel hatte er geöffnet. In der Truhe aber glitzerte und glänzte es von Gold, Geschmeide und Münzen. Ein Schatz, wahrlich der erhoffte und von der Wahrsagerin ihm versprochene Schatz.
»Hast du dir davon schon genommen?«, wurde Kaspar von Bernhard angeherrscht.
»Nein, Herr«, beteuerte der Junge. Bernhard glaubte ihm nicht, wollte ihm aber auch nicht das Geraubte wieder nehmen. Wichtig war, dass er sich in Zukunft auf den Jungen verlassen konnte.
»Weißt du, was mit dir geschieht, wenn du mich bestiehlst?«
»Ihr werdet mir meine beiden Hände abschlagen.«
»So ist es. Das hätten wir also geklärt. Schaff die Leichen weg und dann holst du Bedienstete. Wir brauchen Knechte und Mägde.«
Sind ja alle tot, die mit uns auf die Pilgerfahrt gegangen sind, ging es ihm durch den Sinn.
Kaspar verneigte sich und erwiderte: »Ich werde ehrliche Leute anwerben.«
Natürlich, dachte Bernhard. Ein Dieb erkennt den Dieb. Noch war es für Kaspar vorteilhafter, ehrlich zu sein. Er könnte ihm also die Auswahl der Bediensteten überlassen, zumal er selbst endlich in der Grabeskirche, dem Ziel aller irdischen und himmlischen Sehnsüchte, beten und Gott danken wollte. Davor aber müsste er sich reinigen.
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