Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Passau im Jahre 1096. Alice, eine 15-jährige Kaufmannstochter, schließt sich mit ihrem Vater Karl dem Ersten Kreuzzug an. Mutig zieht sie nach dem Tod des Vaters trotz ungeahnter Gefahren weiter nach Jerusalem. Alice wird die Geliebte eines draufgängerischen Ritters. Auch als Frau kann sie Überfällen und Schlachten nicht entgehen. Sogar der ferne Mord an ihrer Mutter verfolgt sie bis in den Orient. Welche Rolle spielt der unnahbare Abt, der im Hintergrund die Fäden spinnt?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 960
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Maren Bohm
Die Pilgerin von Passau
Historischer Kriminalroman
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Neuausgabe 2023
Lektorat: Claudia Senghaas
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Porträt der jungen Frau«
von Domenico Ghirlandaio; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Domenico_ghirlandaio,_ritratto_di_giovane_donna,_lisbona.jpg
Kartengestaltung: Alexander Somogyi
ISBN 978-3-8392-4232-2
Die Romanhandlung entspricht den historischen Ereignissen des 1. Kreuzzuges 1096–1099
Passau, im Januar 1081
Leise drang aus dem Tanzsaal der festliche Klang der Flöten und Harfen zu ihr in die dunkle Vorhalle. Die junge Frau blieb stehen, atmete auf, strich sich mit der Hand über den bleichen Hals und die mit Perlen geschmückten roten Locken. Ein kurzer Blick zurück in den Festsaal, aus dem durch einen Spalt fahles Licht in das Tonnengewölbe fiel. Hastig raffte sie ihr weißes Kleid und lief weiter durch den spärlich mit Fackeln erleuchteten Raum.
Da, die Steintreppe. Unwillkürlich fasste sie nach der klammen Mauer, schluckte und ergriff rasch eine Fackel. Eilends stieg sie die steilen, kalten Stufen hinab.
Hinter ihr hallten Stimmen. Sie fühlte eine Hand auf ihrem Rücken.
Passau, im September 1096
Das Erscheinen des Abtes versetzte Alice in Schrecken.
Seine Anwesenheit, seine dunkle Herrschergestalt, sein durchdringender Blick steigerten die ohnehin schon bestehende Anspannung, die das ganze Haus erfasst hatte, seit am Morgen die Kreuzfahrer den Passauer Kaufmannshof von Alice’ Vater gestürmt hatten.
Es war noch dunkel gewesen, als Alice vom Bellen der Hunde und von den Zurufen der Männer geweckt worden war. Verwirrt und aufgeregt hatte sie nach dem blauen Wolltuch gegriffen und war barfuß auf die Galerie gerannt, von wo sie auf den von Fackeln beleuchteten Hof hinuntersehen konnte. Sie blickte auf ein ungewohnt prächtiges Bild: Adelige und Männer in Kettenhemden mit einem roten Kreuz auf weißem Tuch über der Brust, ausgestattet mit Maultieren und geschmückten Reitpferden, Jagdhunden und sogar einem Falken, füllten den gesamten Hof. Schwerter, Lanzen und Helme funkelten im Schein der Fackeln, die bunt bemalten Schilder und die Reitzügel waren mit Gold und Edelsteinen besetzt.
Dies waren also die Kreuzfahrer. Besonders heilig wirkten sie nicht, fand Alice. Allerdings sehr stark. Aber fromm waren sie sicher, überlegte sie weiter, sonst würden sie sich nicht auf die weite Pilgerreise von Passau nach Jerusalem begeben.
Alice beugte sich weit über die Balustrade, fuhr jedoch sofort zurück. Im weißen Nachthemd dürfen sie mich nicht sehen, schoss es ihr durch den Kopf, obwohl keiner der Männer zu ihr heraufschaute. Sie verbarg sich hinter einem Pfeiler und beobachtete das geschäftige Treiben, die selbstherrliche Art, mit der die Adeligen die Knechte und Mägde herumscheuchten, und die Beflissenheit, mit der diese den Befehlen gehorchten. Es schmerzte Alice, dass selbst ihr Vater, der aus dem Kontor herbeigeeilt kam, seine Gäste untertänig begrüßte. Tief verbeugte er sich vor ihnen. Alice fröstelte.
Warum blieb sie hier stehen? Sie wollte dabei sein. Hastig lief sie in ihr Zimmer, zog das grüne, mit gestickten gelben Blumen besetzte Samtkleid an, das der Vater ihr gerade aus Köln mitgebracht hatte, und ging aufrecht die Außentreppe in den Hof hinunter.
Doch keiner beachtete sie. Die dampfenden Pferde wurden abgerieben, die Knechte kümmerten sich um die Fesseln, die Mägde schleppten in Kübeln Wasser zu den Trögen und versorgten die Pferde mit Heu. Ihr Vater ging wortlos an Alice vorbei und führte die hohen Herren ehrfürchtig ins Haus. Alice blickte ihm enttäuscht nach.
Und so sollte es für Alice den ganzen Tag weitergehen. Während Stroh für die Schlafplätze der Bediensteten aufgeschüttet wurde, Zimmer für die Adeligen, mit Kerzen aus Honig, gerichtet und Tonkrüge mit Wasser und Wein gefüllt wurden, während geschlachtet, gebraten und in hohen Töpfen, deren Grund man nicht sehen konnte, gekocht wurde, stand Alice unschlüssig im Haus herum, ging hier und dort zur Hand, wurde aber den ganzen Tag das schmerzliche Gefühl nicht los, dass keiner sie wirklich beachtete. Dabei war sie die Tochter eines reichen und freien Kaufmanns. Mit ihren 15 Jahren hätte sie längst verheiratet sein können. Und schließlich war sie, wie ihr bereits mehrfach versichert worden war, sehr hübsch mit ihrem schmalen Gesicht und ihrem blonden Haar, das sie leider nicht zu bändigen vermochte. Aber die adeligen Gäste ihres Vaters behandelten Alice nicht einmal wie Luft, sie schienen sie einfach nicht zu sehen.
Nun, das war eigentlich ziemlich unwichtig, denn schon ganz früh am kommenden Morgen wollte der Graf mit seinem Sohn und dem Gefolge zum Heer des Herzogs Gottfried von Bouillon aufbrechen, sich mit der Seilfähre über den Inn setzen lassen, um mit dem Kreuzfahrerheer von Passau nach Jerusalem zu ziehen. Alice würde also den Rittern niemals wieder begegnen. Und ihr Vater sah sich bereits nach einem passenden Bräutigam für seine Tochter um. Spätestens in einem Jahr würde sie verheiratet sein.
Nein, weitaus beunruhigender, beängstigender war das Auftauchen des Abtes.
Alice konnte sich keinen Grund denken, der ihn hätte bewegen können, seinen Fuß über die Schwelle seines Elternhauses zu setzen. Noch niemals hatte er, seit er vor langer Zeit ins Kloster eingetreten war, seine Familie besucht, hatte sie nicht zu seiner feierlichen Priesterweihe eingeladen. Nicht einen Gruß hatte er jemals an seinen Bruder Karl oder an seine Nichte Alice gesandt, die er zum letzten Mal anlässlich des feierlichen Kirchgangs nach Alice’ Geburt gesehen hatte. Ja, nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters war er erschienen. Vielmehr hatte er seinem weitaus älteren Bruder schriftlich mitgeteilt, genauer, durch einen Boten die Nachricht überbringen lassen, er werde für die Seele seines Vaters beten und Messen lesen, um ihm die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Zu verkürzen! Das hieß doch, der Abt ging davon aus, dass sein Vater die Qualen des Fegefeuers erlitt, er jedoch keineswegs beabsichtigte, den Versuch zu unternehmen, ihn von dieser Pein zu erlösen. Alice fand das unbarmherzig und sie ahnte, dass auch sein unerwarteter Besuch nicht aus brüderlicher Liebe erfolgt war.
Nur wusste sie nicht, warum. Alice bemühte sich, dies herauszufinden, als sie an der großen Tafel saß, die zu Ehren des Grafen und des Abtes mit unzähligen Kerzen geschmückt und mit ausgefallenen Speisen übersät war, und den Gesprächen zuhörte, was sich bei dem allgemeinen Lärm als schwierig erwies. Alice beugte sich vor, zerbröckelte vor Aufregung das selten gereichte Weizenbrot und spitzte die Ohren.
Eben wandte sich der Abt zu dem Grafen Otto von Baerheim, der, massig und Furcht einflößend, die Stirnseite des Tisches einnahm und sein Messer fest in der Faust hielt.
»Das ist eben so«, sagte der Abt in beschwichtigendem Ton. »Ihr seid nicht die einzigen Herren. Kaum ein Adeliger kann seine Teilnahme am Kreuzzug aus eigenen Mitteln finanzieren, sondern muss seinen Besitz verpfänden. Selbst der Heerführer Herzog Gottfried hat seinen Anspruch auf Verdun an Bischof Richer verkauft und sein Lehen Bouillon gegen 1300 Silbermark und drei Goldmark an den Bischof von Lüttich verpfändet.«
»Und wenn der Ritter auf der Pilgerfahrt stirbt oder als armer Mann zurückkehrt, dann behält die Kirche alles für sich und wird reicher und reicher«, bemerkte des Grafen Sohn Bernhard ziemlich scharf, während er mit seinen Fingern die Haut von seiner Taube abzog und verspeiste.
Der Abt erwiderte zunächst nichts darauf, sondern beobachtete, wie Bernhard seine Finger in die bereitstehende Wasserschale tauchte und sie danach mit einem weißen Tuch abtrocknete.
»Ich verstehe Eure Sorge, Ritter Bernhard«, antwortete der Abt dann und warf dabei einen erstaunten Blick auf Graf Otto.
»Ihr seid der einzige Sohn und wenn Ihr im Kampf auf der Pilgerreise den Tod findet, stirbt mit Euch die direkte Linie der Grafen von Baerheim aus. Doch ich bin überzeugt, Ihr werdet nicht zu denjenigen gehören, die sich, mittellos und heruntergekommen, nach der Eroberung Jerusalems hier wieder einfinden. Ihr werdet, mit Schätzen beladen, aus dem Heiligen Land zurückkehren und die an das Kloster verpfändeten Ländereien mitsamt den hörigen Bauern auslösen.«
Bernhard lachte bitter.
»Nur sachte, Euren Ruf als begnadeter Ritter habt Ihr schon begründet. Es gibt nichts Ruhmreicheres, als den Gegner im Zweikampf zu besiegen und zu töten.«
Offenbar ließ sich Bernhard von dieser Schmeichelei nicht besänftigen, denn er machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete überraschend ernst:
»Ich bin nicht unverwundbar. Ich habe nicht wie Siegfried in Drachenblut gebadet.«
Graf Otto hob seinen Kopf, ließ die Hand, in der er eine Haxe hielt, sinken und sah Bernhard durchdringend an, ein Blick, der dem Abt nicht entging. Der überbrückte das Schweigen, indem er sagte:
»Es hat mich immer wieder erstaunt, dass unser ehrwürdiger Bischof Pilgrim, Gott habe ihn selig, obwohl er mit ganzer Tatkraft das Christentum in Passau vorangetrieben hat, ausgerechnet den Sagenstoff der Nibelungen hat sammeln lassen. Nur Hinterlist, Rache und Mord.«
»Und keine Gnade!«, stieß Alice’ Vater hervor.
Er räusperte sich und forderte Alice gegen seine Gewohnheit ziemlich unfreundlich auf, sie solle nun endlich, es sei schließlich schon spät, die Tafel verlassen und ins Bett gehen. Beim Hinausgehen drehte sich Alice noch einmal um und betrachtete die festliche Gesellschaft. Der Abt unterhielt sich gerade mit Martin, der ihm Wein einschenkte. Es fiel ihr auf, es verwunderte sie geradezu: Der Abt war schön und es war, als würde sein Gesicht von einem nicht erklärbaren Glanz erstrahlen. Das war verwirrend.
Alice hörte gegen Mitternacht, wie sich die Ritter zurückzogen.
Sie hatte noch keinen Moment die Augen geschlossen. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Alice hatte sich zwar auf ihr Bett gelegt, blieb aber angekleidet. Schon die Tatsache, dass sich die Kreuzritter hier eingefunden hatten, war beunruhigend, beängstigend genug. Mehr noch, der Graf und sein Sohn hatten einen Umweg nach Passau gemacht. Wozu? Um ihren Vater aufzufordern, mit ihnen nach Jerusalem zu ziehen? Und würde sie ihn dann jemals wiedersehen? So viele Menschen würden von dort nicht mehr zurückkehren. Sie hatte von Fürsten, Grafen und Rittern gehört, die vor ihrem Aufbruch ins Heilige Land ihr Testament verfassten. Und selbst der Papst sollte gesagt haben, dass die Pilger, die für Jesus Christus das Kreuz nähmen, viel für den Namen Christi leiden müssten.
Warum also sollte ihr Vater gehen, das ganze Handelsunternehmen hing an seiner Person, er arbeitete Tag und Nacht, überließ niemandem die Abwicklung der Geschäfte, kontrollierte alle Wareneingänge, prüfte jedes Fass Salz, das in seinem Handelshof umgeladen und nach Böhmen, Österreich oder Ungarn weitertransportiert wurde. Es würde alles zugrunde gehen ohne ihn. Warum nur verhielt er sich den Adeligen gegenüber so demütig und bewirtete sie, und zwar fast königlich.
Voller Unruhe, Sorge und Angst stand Alice auf. Der Fußboden war eiskalt. Sie fror trotz des wollenen Tuches, das sie sich um die Schultern gelegt hatte.
Leise öffnete sie ihre Tür und spähte in den nur äußerst mäßig von Öllampen erleuchteten Gang. Sie sah, wie der Ritter Bernhard von Baerheim auf eine Gruppe junger Männer zuging und sich zu ihnen stellte. Sie schienen sich lebhaft, wenn auch leise, zu unterhalten. Alice mochte nicht an ihnen vorbeigehen und entschied sich, noch einen Augenblick in ihrem Zimmer zu warten. Sie horchte an der Tür, die Stimmen entfernten sich zwar, die Männer waren aber offenbar nur ein paar Schritte weitergegangen und vor der Tür des Grafen Otto stehen geblieben. Auf keinen Fall wollte Alice gesehen werden, wie sie nachts durch das große Gebäude schlich. Wollte sie also ihren Vater sprechen, und sie platzte, sie verging vor Angst, er könnte mit nach Jerusalem ziehen, so musste sie den entgegengesetzten Weg einschlagen, den verbotenen. Sie musste an der Steintreppe vorbeigehen, vor der ihr grauste.
Alice griff sich ein Licht und ging klopfenden Herzens Richtung Steinhaus, in dem steinerne Stufen zum verlassenen Tanzsaal führten.
In diesem Teil des Gebäudes war es finster. Ihr Licht war das einzige und es erhellte die quaderförmigen Steine nur spärlich. Alice konnte immer nur wenige Schritte weit sehen. Bald müsste sie die Treppe zum Tanzsaal erreicht haben. Erschrocken blieb sie stehen – ein Geräusch. Ratten, dachte sie. Sie horchte still und starr. Nichts. Sie hörte nichts mehr. Es war wohl eine Täuschung, dieses tastende Geräusch auf der Treppe. Oder ein Geist?
Alice brachte nicht den Mut auf weiterzugehen. Sie hastete in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür hinter sich zu, verriegelte sie und dachte: Nimm dich zusammen.
Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass Vater mit den Kreuzrittern fort nach Jerusalem zieht. Also los – aber nun durch den linken Gang.
Stimmen waren auch nicht mehr zu hören.
Alice schlich in den Flur hinaus, in dem alle Lichter erloschen waren.
Sie hörte Schritte. Jemand kam aus der Richtung der verbotenen Treppe.
Unwillkürlich und ohne dass sie es erklären könnte, löschte sie ihre Kerze. Die Schritte kamen näher.
Alice erschrak, das konnte nur ein Mann sein. Obwohl der Unbekannte kein Licht angezündet hatte, bewegte er sich sicher und schnell durch die Gänge, die so schwarz und dunkel waren, wie nur Gräber sein können.
Alice verbarg sich in einer Nische.
Sie beschloss, der fremden Gestalt zu folgen. Es waren Neugierde und Übermut, Abenteuerlust, vor allem aber das unbestimmte Gefühl, dass sie etwas sehr Wichtiges unwiderruflich versäumen würde, wenn sie dem Mann nicht nachging.
Und wenn es ein Dieb, gar ein Mörder ist?, kam es ihr in den Sinn. Aber der Mann wollte sich offenbar gar nicht verstecken, sondern trat nach einer Biegung durch ein Tor in die Halle, in der vor Kurzem noch lautes Stimmengewirr geherrscht hatte.
»Ich habe dich erwartet«, hörte Alice ihren Vater sagen. »Ich dachte, du kämest früher«, fuhr er fort.
»Karl, du hofftest, ich käme überhaupt nicht. Du hast mir doch diesen Knaben als Bedienung gegeben, um mich nicht selbst geleiten zu müssen. Was allerdings auch überflüssig war, schließlich kenne ich mich hier zur Genüge aus.«
»Dieser Knabe ist Martin, der Sohn von Martha. Sie war Alice’ Amme. Unlängst ist sie übrigens gestorben. Sie liegt auf dem Gottesacker vor der Kirche St. Severin begraben. Neben meiner Frau«, fügte er hinzu und sah seinem Bruder scharf ins Gesicht. »Das weißt du vielleicht nicht.«
»Er sei, wer er sei. Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir über den Sohn einer Magd zu unterhalten.«
Der Vater seufzte. Dann schwiegen sie einander an. Der Vater am Tisch sitzend, einen Humpen Wein vor sich, der Abt im Raum stehend.
»Ich habe mir oben im Saal und auf der Treppe alles noch einmal genau angesehen.«
Gesehen?, dachte Alice, aber er hatte doch kein Licht dabei.
»Du hältst mich weiterhin für schuldig?«, hörte sie ihren Vater sagen.
Der Abt schwieg darauf.
»Ja, ich weiß es«, der Vater senkte den Kopf und seine Stimme klang wehleidig.
»Du hältst mich noch immer für schuldig.«
»Karl, geh nach Jerusalem«, antwortete der andere. »Vielleicht kannst du dich da von deiner Sünde befreien. Ich verstehe sowieso nicht, wieso du es überhaupt noch einen Tag länger in diesem Haus ausgehalten hast.«
»Und ich verstehe nicht, warum du dich davongemacht hast. Einfach so. Du warst nun der Letzte, von dem ich erwartet hätte, dass er ins Kloster eintritt. Immer dabei, wenn es um Händeleien und Kämpfe und Jagden ging, so jung du auch noch warst. Bist am frühen Morgen, sobald das Paulustor überhaupt geöffnet wurde, ausgeritten, bist noch im Spätherbst, sogar wenn der erste Schnee fiel, in der Donau schwimmen gegangen und sperrst dich nicht lange danach für dein weiteres Leben in einem Kloster ein.«
»Mein Leben als Mönch geht dich nichts an.«
»Das mag schon sein«, sagte der Vater leise. »Aber hast du mir nun diese Kreuzfahrer geschickt, damit sie mich nach Jerusalem mitnehmen?«
»Geschickt habe ich sie nicht. Aber ich habe sie auf dich aufmerksam gemacht.«
Der Vater stieß einen Fluch aus, zu dem der Abt sich nicht äußerte. Er zeigte keinerlei Empörung, nur abwartendes Interesse.
»Keine Sorge, ich habe mich schon entschieden. Ich gehe. Ich werde morgen die Anordnungen für eine baldige Abreise treffen.«
»Sehr weise«, entgegnete der Abt.
»Seit Jahren«, sagte der Vater mehr zu sich als zu dem anderen, »seit so vielen Jahren machst du mir diesen Vorwurf, klagst du mich an. Und ich hatte keine Möglichkeit der Verteidigung. Kein einziges Mal bist du wieder hierhergekommen. Und mich hast du mit meiner Schuld allein gelassen. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, ob ich es wirklich getan habe. Ich kann mich nicht erinnern und zermartere mir mein Gehirn. Aber ich weiß es wirklich nicht.«
»Du warst betrunken.«
»Aber warum sollte ich es getan haben?«
»Nun, ein Motiv würde mir schon einfallen. Denk einmal nach.«
»Nein, so war es nicht, nicht so, wie du denkst.«
Der Abt schwieg und sah seinen Bruder abschätzig, geradezu finster an.
»Du glaubst mir nicht. Weißt du, was es bedeutet, sich ständig schuldig zu fühlen und zu wissen, dass du mir nicht verzeihst?«
»Ich bin nicht dein Beichtvater.«
»Man sagt, du führest ein strenges Regiment in deinem Kloster.«
»Nicht zu streng. Eher gerecht. Um Gerechtigkeit bemüht. Ich versuche, jeden Mönch so einzusetzen, wie es seinen Fähigkeiten entspricht, sodass er zufrieden mit sich und seiner Arbeit ist.«
»Nun ja, ich meinte etwas anderes.«
»Du meinst: keine Saufgelage, keine Wollust, Keuschheit wird ernst genommen. Du irrst. So ist es auch wieder nicht. Du weißt es doch selbst, dass gerade um Passau viele Priester Widerstand gegen das von Papst Gregor VII. erlassene Eheverbot geleistet haben, es zu Tumulten kam und Bischof Altmann, als er es durchsetzen wollte, von den Klerikern am Stephanustage im Dom tätlich angegriffen wurde.
Es ist nicht einfach, etwas abzuschaffen, was für Priester 1.000 Jahre Brauch war, nämlich, eine Ehefrau zu haben, zumindest aber bisweilen bei einer Frau zu liegen. So vermute ich denn auch, es kommt öfter einmal vor, dass einer der Mönche eine sommerliche Begegnung mit einer Magd, einer Bauerstochter hat. Natürlich stellen sich auch manches Mal Folgen ein. Nur ist schwer festzustellen, ob es wirklich einer der Mönche war, der da gekindelt hat. Denn es ist schließlich Brauch, dass die Frau, die ihr Kind nicht versorgen kann oder will, es zum Kloster bringt, die Glocke läutet und darauf wartet, dass ein Mönch das Rad dreht und das Kind an sich nimmt. Meist erscheint die Frau selbst unmittelbar darauf und erklärt ziemlich verlegen, dass sie sich gerne als Amme für das Neugeborene zur Verfügung stellen möchte. Die Frauen werden niemals nach Einzelheiten gefragt, zum Beispiel, wer der Vater ist. Für das Stillen des Säuglings erhalten sie Geld. Natürlich kann es auch einmal sein, dass einer der Mönche durchaus nicht unschuldig ist. Selbstverständlich habe ich meine Vermutungen, wenn zum Beispiel ein Mönch sich lange und scheinbar harmlos in der Nähe des Säuglings aufhält oder wenn das Kind eindeutig zu seiner Persönlichkeit passt. Aber sofern er nicht beichtet, bleibt es im Verborgenen. Wenn ihn jedoch seine Sünde drückt und er bereut und beichtet, mache ich daraus kein Aufhebens. Es wird ihm eine Buße auferlegt, zum Beispiel stundenlanges Beten im Stehen, vermehrte Nachtwachen, Fasten oder einfach schwere körperliche Arbeit. Auf den zeitweiligen Ausschluss aus der Gemeinschaft verzichte ich und mache auch von meinem Recht auf körperliche Züchtigungen keinen Gebrauch, weil selbst Jesus nicht einmal Judas vom Abendmahl ausgeschlossen hat, obwohl er wusste, dass Judas der Verräter ist, und weil Jesus niemals einem anderen körperlich Schaden zugefügt hat.«
»Du hältst dich wohl für einen Heiligen, was?«
Als der Abt darauf nicht antwortete, hakte sein Bruder Karl nach.
»Du selbst hältst dich aber an den Zölibat, keine Frau, die ganzen Jahre, auch kein Knabe?«, fragte Alice’ Vater lauernd. Bei so viel Duldung wäre es durchaus möglich, dass sich ein heimlicher Bastard im Kloster befand.
»Selbstverständlich lebe ich asketisch«, entgegnete der Abt.
»Als hättest du noch nie Lust gehabt?« Das war doch ein Thema, um dem Bruder, diesem Scheinheiligen, die Unschuld zu nehmen.
Der Abt sah seinen Bruder kalt an.
»Ich muss deine aufkommende Häme leider enttäuschen. Du wirst weder einen illegitimen Sohn im Kloster finden noch eine solche Tochter bei den Nonnen. Wahrscheinlich kommt daher der Ruf der Strenge, weil ich mich ganz und gar den Regeln des Ordens unterwerfe.«
Karl wirkte verlegen. Um vom Thema, das ihn irgendwie beschämte, abzulenken, fragte er, wie es denn diesen ausgesetzten Kindern im Kloster ergehe.
»Wenn es ein Mädchen ist, wird es nach Passau zu den Benediktinerinnen ins Kloster Niedernburg gebracht. Die Jungen bleiben selbstverständlich und bekommen Unterricht in Latein, Griechisch, Philosophie, Mathematik und Theologie, sodass sie, wenn sie begabt sind, studieren können. Zwei unserer als uneheliche Kinder ins Kloster gebrachten Jungen studieren jetzt in Bologna.«
Alice’ Vater Karl sah seinen Bruder verdutzt an. »Und das bist wirklich du, der sich so um Bildung kümmert? Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals gern gelernt hättest.«
»Du lenkst ab.«
»Ja«, antwortete der Vater mit resignierter Stimme. »Wenn ich das könnte.« Beide schwiegen.
»Du willst also, dass ich auf diesen Kreuzzug gehe. Ich habe aber nicht das Geld, um meine Pilgerfahrt zu finanzieren«, versuchte der Vater noch einmal auszuweichen.
»Du bist reich.«
»Nicht mehr. Es waren schlechte Jahre. Das Hochwasser hat viel vernichtet. Auch die gute Lage unseres Handelshauses zwischen Donau und Inn hat das nicht verhindern können.«
Der Vater sah sehr bekümmert aus. Offenbar dachte er an den Sturm, das rasend schnelle Ansteigen der Flüsse und den verzweifelten Versuch, das Salz und das Getreide vor den Fluten ins Trockne zu bringen.
»Überleg einmal«, sagte er nach einer Weile, »wie lange es gebraucht hat, um dir dein Erbteil auszuzahlen. Das war eine ganz schöne Masse Geld, ich erinnere mich noch an die Truhe voller Silbermünzen, die dir geliefert wurde. Die hast du dann vermutlich ganz dem Kloster vermacht. Das war ein harter Schlag für das Geschäft.«
»Der mit dem Erbteil deiner toten Frau vollends ausgeglichen war. Nun spiel nicht den Wehleidigen.«
»Trotzdem habe ich nicht das Geld. Ich werde mein Haus und meine Ware an dein Kloster verpfänden müssen.«
»Wir können morgen früh über den geschäftlichen Teil sprechen«, unterbrach ihn der Abt. »Es ist Zeit für mich zum Gebet.« Er schickte sich an zu gehen, wobei Alice jetzt erst auffiel, dass er die ganze Zeit gestanden hatte. Sie erschrak, als er sich in der Nähe ihrer Säule umdrehte. Ausweichen war nicht möglich, jede Bewegung musste sie verraten. Und so presste sie sich starr an den kalten Stein. Der Abt aber wandte sich noch einmal zu seinem Bruder und sagte:
»Wenn ich allerdings um etwas bitten darf. Ich brauche für die Zeit meines Aufenthaltes hier einen Bediensteten. Martin macht mir einen verständigen Eindruck.«
»Ja, Martin«, antwortete der Vater, er lachte abschätzig. »Ich habe Martha wiederholt aufgefordert, ihn zu dir ins Kloster zu geben. So ein Bastard ist ein schlechtes Vorbild für die anderen Knechte und Mägde. Wäre Martin Mönch geworden, er wäre eine Gottesgabe für die Sünde seiner Mutter gewesen. Weißt du, sie hat mich ausgelacht. Sie, die Magd. Sie hat geantwortet – wörtlich und voller Hohn –:›Da gebe ich meinen Sohn nicht hin. Wenn du wüsstest!‹ Ich habe sie immer wieder gefragt, wenn ich was wüsste. Aber sie hat mir nie darauf geantwortet.«
Karl machte eine Pause und strich sich gedankenvoll über seinen schon ergrauten Bart.
»Und nun willst du ihn als Diener«, sagte er endlich.
Über das Gesicht des Abtes huschte ein feines Lächeln, das Karl als Verachtung deutete.
»Du hast Martha nie gemocht.«
»Du aber umso mehr«, erwiderte der Abt.
Karl hatte nun endgültig genug von diesem Gespräch und sagte seinem Bruder zu, er werde Martin noch vor der Frühmesse Bescheid geben.
Das sei nicht nötig, es reiche, wenn er mit dem Angelusläuten seinen Dienst beginne, gab der Abt zurück.
»Übrigens«, bemerkte der Mann der Kirche im Hinausgehen, »wäre Martin als Sohn einer Magd und damit mittellos gar nicht im Kloster aufgenommen worden. Unser damaliger Abt, Gott hab ihn selig, er gab des Öfteren zum Besten: ›Wer steckt gerne sein Viehzeug zusammen in einen Stall: Rinder, Esel, Schafe, Böcke.‹ So sei auch darauf zu achten, dass nicht alles Volk in einer Herde zusammengeworfen werde.«
Darauf neigte der Abt vornehm seinen Kopf und ging.
Alice atmete erleichtert auf. Auch für sie war es notwendig, den Rückzug anzutreten.
Sie beobachtete den Vater, der sich jedoch nicht rührte, sondern auf seinem Stuhl sitzen blieb und vor sich hin starrte. Die Schritte des Abtes verhallten auf dem Steinfußboden. Jetzt war der passende Augenblick, um sich von dem Pfeiler zu lösen.
Leise schlich sie in ihre Kammer. Wie vorhin der Abt, zündete sie kein Licht an. Eiskalt war ihr. Kühl war es ohnehin in den Räumen, sogar im Sommer, wenn draußen die Hitze auf Gassen und Plätzen lagerte und die Luft über der Donau flimmerte. Erschöpft und angespannt legte sich Alice auf ihr Bett. Wie so häufig konnte sie vor Kälte nicht einschlafen, wie so häufig wagte sie sich im Winter in ihrem Bett nicht zu bewegen aus Angst vor dem Frieren, wenn sie gerade das bisschen Bettlaken angewärmt hatte, worauf sie lag. In ihrem Kopf schwirrte es von dem Gehörten, vor allem aber hämmerte sich ein Bild in ihre Gedanken: Mein Vater zieht nach Jerusalem. Jerusalem, wiederholte sie den Namen der Stadt und versuchte, sich die Stadtmauern, die prächtigen fremdartigen Häuser, die Dächer, auf denen man nachts schlafen konnte, die Grabeskirche und die Klagemauer, den Ölberg und die Sterne am schwarzen Himmel und vor allem die Hitze vorzustellen. Jerusalem, dachte sie schwärmerisch.
Und dahin würde ihr Vater pilgern und sie hier allein lassen, sie verlassen. Für immer verlassen. Es war durchaus möglich, dass er niemals wieder nach Passau zurückkäme, dass das ein Abschied für immer wäre.
Wie konnte er ihr das antun? War sie denn so wenig wert in seinen Augen, dass er sie im Stich lassen konnte, wie es ihm gerade gefiel? Mit keinem Wort hatte der Vater sie in dem Gespräch auch nur erwähnt. Warum nur hatte er sie, seine Tochter, nicht ins Feld geführt, um die Teilnahme abzulehnen? Das war doch offensichtlich, dass er eigentlich gar nicht wirklich nach Jerusalem wollte. Alice wälzte sich von einer Seite auf die andere. Irgendwie fühlte sie sich unter ihrer Bettdecke sehr unbehaglich, obwohl das Bettzeug mit Federn gefüllt war und nicht mit Stroh.
Allmählich fiel Alice tatsächlich in einen unruhigen Halbschlaf. Angst, Verletzung, Verzweiflung, Mutlosigkeit, dieses Bündel von Schrecklichkeiten erfasste sie, sodass sie zitternd schwitzte, bis sie jäh erwachte. Sie hörte Stimmen auf dem Hof, wieder unruhiges Pferdegetrappel, Wiehern. Graf Otto von Baerheim machte sich mit seinem Sohn und seinen Gefolgsleuten auf, um zum Heer Gottfrieds von Bouillon zu stoßen.
Alice kleidete sich in aller Eile an, lief die Treppe hinunter und hastete an den Männern vorbei, um noch rechtzeitig zur Frühmesse zu kommen. Überhaupt war ihr, als läge über der Stadt eine ungewohnte Unruhe, die nichts mit der gleichmäßigen Geschäftigkeit eines Arbeitstages zu tun hatte.
Jede und jeder schien den steilen Steinweg zur Domkirche St. Stephan hinaufzudrängen, deren wuchtige Türme die Stadt überragten. Alice wurde geradezu in die Vorhalle der Kathedrale gestoßen und sie war viel zu unruhig, wie gewohnt einen Augenblick die Erhabenheit der Säulen, die Schönheit und Pracht der Farben des mit biblischen Szenen reich bemalten Deckengewölbes auf sich einwirken zu lassen. Sie liebte diese Kirche, die sie tagsüber bisweilen alleine aufsuchte, um vor dem Bild der Mutter Maria zu knien und an ihre eigene Mutter zu denken, die sie nicht gekannt hatte und über deren Tod ihr Vater niemals sprach. Heute aber war es schwierig, überhaupt noch irgendwo einen Platz zu ergattern. Dicht gedrängt standen die Menschen im Kirchenschiff und warteten auf den Beginn der Messe.
Ziemlich weit hinten, zusammen mit einer Gruppe ebenfalls junger Männer, entdeckte sie Martin. Er unterhielt sich lebhaft und bemerkte sie gar nicht, was ihr verständlich erschien, aber trotzdem verletzend war. Wenn auch Martin ihr Eintreten nicht auffiel, so hatte doch der Abt ihr Kommen beobachtet. Er stand nicht auf der vom Licht durchfluteten Herrschaftsempore, sondern fast unmittelbar hinter der Gruppe der jungen Männer, die allesamt zu den unteren Bevölkerungsschichten gehörten. Sie waren Knechte wie Martin, Schweinehirten, Schaf- und Kuhhirten, Handwerker, Söhne von Bauern, die ihrerseits meistens dem Passauer Bischof als Grundherrn angehörten. Alice selbst hatte ihren Platz im Kirchenschiff weit vorne zusammen mit den vornehmeren freien Bürgern der Stadt, von denen die junge Kaufmannstochter freundlich gegrüßt wurde und die auch Alice ehrsam grüßte. Das Stimmengewirr verstummte. Bischof Thiemo erschien. Ernst und gesammelt wirkte er, als warte er auf ein Zeichen.
Er begann:
»Viel geliebte Gläubige in Christo!
Der Kaiser von Byzanz hat den Papst um unsere Hilfe gebeten.
Denn unsere Schwestern und Brüder im Osten leiden.
Nicht nur, dass der Osten und Süden der Christenheit – Palästina, Syrien, Ägypten, Nordafrika und große Teile Spaniens – von den Ungläubigen angegriffen und unterworfen wurden…
Nein, nicht genug damit:
Ganz Romanien haben die Heiden in den letzten 20 Jahren erobert und stehen heute vor den Toren Konstantinopels.
Die ersten christlichen Gemeinden, die Städte, in denen unsere Apostel Petrus und Paulus gepredigt haben, sind nun verloren gegangen. Viele Christen wurden getötet, eingekerkert, gefangen genommen, Kirchen hat man zerstört und das Land verwüstet.
Und inmitten dieser feindlichen Welt: Jerusalem.
Zum tausendsten Todestag unseres Herrn Jesus Christus haben viele von uns westlichen Christen, viele von unseren Passauer Mitschwestern und Mitbrüdern eine Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten unternommen. Aber wir haben Jerusalem nicht aus den Händen der Ungläubigen befreit. Mit unseren Pilgerfahrten haben wir uns auf einen Weg zu einem Leben in Christus aufgemacht, aber wir haben dem Herrn nicht den Weg bereitet.
Jesus Christus aber ruft uns zu: ›Wann endlich helft ihr euren Brüdern und Schwestern im Osten? Wann endlich befreit ihr Jerusalem?‹
Doch wir hören ihn nicht.
Gott straft uns und wir verstehen ihn nicht: Er hat uns die Heuschreckenplage geschickt, Verwüstungen durch Überschwemmungen, die uns, die wir an drei Flüssen leben, besonders hart getroffen haben. Er mahnt uns mit zwei aufeinanderfolgenden Missernten und durch Hunger und so hohe Preise, dass sogar die Reichen unter dem großen Mangel an Getreide leiden.
Seufzer, Klagen und Tränen erdrücken euch und ihr sehnt euch nach dem himmlischen Jerusalem. Es ist gar nicht so fern, das Königreich der Himmel. Macht euch auf! Befreit euch von euren Sünden! Ich brauche sie euch nicht zu beschreiben. Jeder von euch«, er sah mit durchdringendem Blick in die Menge der Gläubigen, »jeder von euch«, und hier wurde es so still in der Kirche, als hätten sich die Sünden tief in jedermanns Knochen gebohrt, »weiß genau, wie er gesündigt hat.«
Martin sackte bei diesen Worten in sich zusammen. Zwar war er sich kaum einer Verfehlung bewusst, aber schon seit Kindestagen war er von der Bitterkeit erfasst, unehelich, der Bastard einer Magd zu sein. Und gleichzeitig schämte er sich, dass er seine Mutter nicht wirklich geehrt, sondern sie dafür verachtet hatte, dass sie ihre Unschuld an irgendeinen Mann verloren hatte, der sich weder zu ihr noch zu seinem Sohn bekannte. Und nun war sie tot.
Während er sich in unbestimmter Weise schuldig fühlte, wie die meisten wohl in diesem Raum sich ihrer Unzulänglichkeit bewusst waren, ohne ganz bestimmte schwere Verfehlungen begangen zu haben, war ihm, als ruhte auf ihm ein Blick, der ihn verunsicherte. Der Abt beobachtete die Gruppe, er versuchte es gar nicht zu verheimlichen.
Martin drehte sich nach ihm um und begegnete diesem Blick, den er nicht deuten konnte, streng, mitfühlend und traurig wirkte sein Gesicht. An der allgemeinen Begeisterung schien der Abt keinen Anteil zu nehmen. Schnell wandte Martin sich zurück und ließ sich wieder von dem Sog erfassen, den die Predigt bei allen anderen auslöste.
Atemlos lauschte er, welchen Lohn er empfangen würde, wenn er sich der bewaffneten Pilgerfahrt anschlösse.
»Fürchtet euch nicht vor Mühsal und Tod. Denn denjenigen, die ihr Leben verlieren auf der Fahrt nach Jerusalem, zu Lande oder zu Wasser oder in der Schlacht gegen die Heiden, ihnen allen werden in jener Stunde ihre Sünden vergeben. Das gewährt der Papst nach der Macht Gottes, die ihm verliehen wurde.
Folgt dem Aufruf des Papstes! Nehmt das Kreuz! Befreit Jerusalem!
Gott will es!«
Die Frömmigkeit, sonst ein verborgenes Gefühl, fand ihren Weg nach außen, die Menschen weinten, jubelten, schrien.
Der Bischof ließ sich Zeit, bis er sein eigenes Brustkreuz ergriff und in diese Stimmung hineinrief:
»Wer das Kreuz nehmen will, komme zum Altar und knie nieder!«
Ein jähes Zögern lähmte die Gläubigen, insbesondere die Älteren. Doch bei den Jungen, bei Martins Gruppe, war das Zaudern nur sehr kurz. Martin war der Erste, der sich aus der Menge löste und nach vorne eilte. Er war sehr aufgeregt. Trotzdem bemerkte er, dass der Abt die Kirche verließ.
Die Männer und Frauen warfen sich nieder und sprachen den Eid, nicht eher nach Passau zurückzukehren, als bis Jesus sein Eigentum zurückgegeben sei.
Der Bischof segnete sie und ermahnte sie, dass sie jetzt als Pilger in den geistlichen Stand versetzt seien und sie sich danach zu verhalten hätten.
»Ihr seid das Neue Volk Gottes, das Heer Gottes, das Exercitus Dei.«
In der Kirche brach ein ungeahnter Jubel aus. Menschen umarmten einander, weinten, lachten, redeten, bekreuzigten sich.
Alice stand allein. Zwar sprachen Freundinnen sie irgendwann an, aber sie nahm es nicht wahr. Sie schaute einmal zu Martin hinüber, der inmitten dieser Gruppe von jungen Männern stand, die sich fast alle einmütig für den Kreuzzug entschieden hatten. Nur wer gerade geheiratet hatte, musste erst die Einwilligung seiner jungen Frau einholen, oder wer einen einträglichen Beruf hatte, der wollte es sich noch einmal überlegen.
Martin kam sich jetzt schon vor wie ein Held.
Alice aber war allein wie noch nie, sie fühlte sich gänzlich überflüssig in diesem Trubel und Jubel, in dieser Freude und Aufbruchsstimmung. In sich gekehrt, ging sie aus der Kirche, die auch Martins Gruppe gerade verlassen wollte. Er winkte ihr zwar auf dem großen Kirchplatz zu, kam aber nicht zu ihr herüber.
War sie denn gar nichts wert, dass er nicht mit ihr sprach? Während sie durch das Immunitätstor St. Maximilian ging und nachdenklich vor den Werkstätten der Glasbläser, der Maler und Goldschmiede stehen blieb, erfasste sie plötzlich doch noch eine wilde Hoffnung. Der Vater war nicht bei diesem Gottesdienst dabei gewesen. Er hatte nicht öffentlich bekannt, dass er nach Jerusalem ziehen wollte. Von seiner Entscheidung wusste bisher nur der Abt. Ihren Vater könnte sie vielleicht noch umstimmen. Von diesem Entschluss beseelt, eilte sie nach Hause.
Jedoch ihren Vater bekam Alice den ganzen Tag nicht allein zu sehen. Er weigerte sich auch, seine Tochter nur einen Augenblick zu sprechen. Sie klopfte an die Tür seines Kontors, sie trat unerlaubterweise ein. Da stand ihr Vater, für sie plötzlich unerreichbar, stand zusammen mit dem Abt vor den Handelsbüchern. Die beiden Männer sahen auf und der Vater sagte knapp: »Jetzt nicht, Alice. Wir haben zu tun.«
Alice fühlte die Vergeblichkeit ihres Wunsches. All ihre Bitten, ihre Ängste würde der Vater nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Es war zum Wahnsinnigwerden. Da versuchte sie, ihn von seinem Entschluss abzuhalten, während er schon vollends darin aufging, sein Handelsgeschäft aufzulösen. Alice hörte im Vorbeigehen, wie er seinem Bruder die Buchhaltung erklärte, wie er ihn über noch zu liefernde Ware unterrichtete, über Außenstände, Handelspartner, Juden, von denen er zeitweilig Geld geliehen hatte. Dem Abt schien gar nicht nach Beten und frommem Leben zu sein, er arbeitete mit dem Bruder den ganzen Tag hindurch, bis auf die Stundengebete. Unterbrochen wurde diese Geschäftigkeit nur durch das Abendessen, an dem Alice nicht teilnehmen durfte.
Als der Tag sich neigte, hielt sie es in ihrem Vaterhaus nicht mehr aus. Doch wohin? Wer könnte ihr Trost spenden? Der Heilige Valentin oder der Heilige Maximilian, deren Reliquien sich im Bischofsdom befanden?
»Oh, Mutter!«, seufzte Alice. Sie sehnte sich nach den teilnehmenden Worten einer Frau.
Das Grab der Äbtissin Gisyla, kam es ihr in den Sinn. Schnellen Schrittes eilte Alice zum Kloster Niedernburg, zur Heiligkreuzkirche. Sie beugte sich über die von zwei Adlern flankierte Grabplatte und starrte auf die Inschrift: ›GISYLA ABATISSA‹.
Auch Gisyla hatte gelitten, sie war nicht immer Nonne, sie war Königin von Ungarn gewesen und hatte, betrogen und vertrieben, in Passau den Schleier genommen. Hatte sie hier ihren Seelenfrieden gefunden? Alice fand ihn jedenfalls nicht, so sehr sie auch um innere Ruhe rang. Ihr Vater erschien ihr gemein und grausam. Sie war sicher die Einzige, der er noch nicht mitgeteilt hatte, dass er sein Geschäft verpfändete, um wahrscheinlich für immer fortzugehen. Denn dass er mit Schätzen aus Jerusalem zurückkehren und es wieder auslösen könnte, das hielt Alice für einen blinden Traum. Alice verließ die Kirche, kehrte dann aber noch einmal um und blieb vor der verehrungswürdigsten Reliquie stehen, dem Stolz aller Passauer, einem Splitter des Kreuzes Jesu Christi. Dahin, nach Golgatha, wo das Kreuz gestanden hatte, wollte der Vater pilgern. Es gab ihr keine Hoffnung. Traurig, gedemütigt und enttäuscht ging Alice nach Hause, aß ein wenig Huhn, das vom Festessen übrig geblieben war, und kroch irgendwann ins Bett.
Doch auch diese Nacht konnte und wollte sie nicht einschlafen.
Was Alice überfiel, war Hass. Noch niemals hatte sie in ihrem Leben einen anderen Menschen gehasst. Während sie in Gedanken nun mit ihrem Vater milder umging, der wider Willen eigenhändig an einem einzigen Tag sein Lebenswerk zerstörte, hasste sie denjenigen, der all den Jammer ausgelöst hatte.
Wenn sie nur an sein scheinheiliges, unbewegliches Gesicht dachte, diese asketischen Züge, die dennoch weder hager noch verbittert wirkten, sie hätte ihn vor Wut … Ja, was eigentlich? Da kam dieser Bruder nach endlosen Jahren und nahm Alice ihr Vaterhaus, nahm ihr den Vater und dazu noch ihren Besitz, der ihr als einziger Tochter zustand. Sie war Alleinerbin, und wenn Alice auch niemals darüber nachgedacht und besonderen Wert darauf gelegt hatte, so hatte sie es doch von klein auf gewusst, dass ihr einmal ein großes Kaufmannsunternehmen gehören würde. Und nun? Nun wurde es zu Geld verschachert, um etwas so Kostspieliges, so Gefährliches wie einen Kreuzzug zu bezahlen. Das war doch bekannt, das hatte sich doch wie ein Lauffeuer in Regensburg, in Ulm, in Köln verbreitet, dass schon viele Frauen, Kinder und Männer des im Frühjahr aufgebrochenen Armenzuges nicht einmal Konstantinopel erreicht, sondern auf dem Marsch dahin elendiglich zugrunde gegangen waren.
War es denn sicher, dass ihr Vater überlebte? Den teuflischen Einflüsterungen des Abtes folgend, löste er alles auf wegen einer Sünde, von der er nicht einmal wusste, ob er sie wirklich begangen hatte.
Welche Sünde sollte das nur sein?
Welche Macht hatte dieser Abt über den Vater und wie rücksichtslos nutzte er sie aus!
Das musste ihm ja geradezu Freude bereiten, den Vater so zu demütigen. Ihr Vater aber, Alice musste es sich eingestehen, war zu schwach, seinem Bruder Widerpart zu leisten, und zu feige, mit seiner Tochter zu sprechen. Den ganzen Tag war er ihr aus dem Weg gegangen.
Erst spät am Abend des darauffolgenden Tages ließ er Alice durch eine Magd zu sich rufen. Auf dem von Fackeln erleuchteten Gang begegnete ihr der Abt. Er kam direkt auf sie zu und Alice bündelte ihren ganzen Hass, um ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Es gelang ihr wohl ziemlich gut. Dennoch ließ sich der andere nicht aus der Fassung bringen, sondern betrachtete seinerseits seine Nichte, und zwar aufmerksam prüfend, was Alice in noch größere Wut versetzte.
Sie betrat das Kontor. Der Vater stand am Stehpult, sehr steif, vor ihm Rechnungsbücher. Alice fiel zum ersten Mal auf, dass er bereits graue Haare hatte.
»Ich muss mit dir sprechen, Alice. In einer ernsten Angelegenheit.« Er machte eine Pause, sah seine Tochter aber nicht an.
»Es dürfte dir nicht entgangen sein, dass sich hier sehr viel verändern wird. Genau genommen, ich habe mich entschlossen, mich den Kreuzfahrern anzuschließen und mit ihnen nach Jerusalem zu pilgern.«
Obwohl Alice sich vollkommen über die Entscheidung des Vaters im Klaren war, blieb ihr fast der Atem weg. Sie japste nach Luft. Irgendwie und insgeheim und gegen allen Anschein hatte sie noch die vage Hoffnung gehabt, es ginge um die Expedition nach Island, von der schon öfter die Rede gewesen war.
Umsonst … Alice holte sich in die Wirklichkeit zurück.
»Ich weiß schon alles, Vater. Ihr verkauft Euer Handelsunternehmen, in das Ihr all Eure Zeit und Kraft und Liebe gesteckt habt. Vater, Euer Leben liegt in diesen Mauern.«
»Meine Seele ist mir wichtiger als irdisches Gut.«
»Das glaube ich Euch nicht. Vielleicht, wenn es ans Sterben geht, kurz vor dem Tod. Das ist bei allen so. Aber doch nicht mitten im Leben.« Sie wurde rot vor innerer Anspannung.
»Alice, es steht dir nicht zu, so mit mir zu reden«, wies der Vater sie zurecht.
Doch Alice bemerkte, dass der tadelnde Ton nur dazu diente, Zeit zu gewinnen. Ein Lebenswerk vergeudet. Denn auch wenn er keinen Sohn hatte, so doch diese Tochter, die ihrerseits, dazu war er bisher fest entschlossen, einen reichen Kaufmannssohn heiraten würde, der das Handelshaus weiterführen würde.
Vergebens – verkauft – vergangen.
Alice fühlte, wie ihr Vater unsicher wurde. Seine Körperhaltung versteifte sich zwar, aber unbewusst stellte sie fest, dass er das Gewicht vom rechten Standbein auf das linke Bein verlagerte. Vielleicht war doch noch nicht alles unumstößlich geregelt, vielleicht konnte sie ihn von seinem Entschluss noch abbringen.
Sie rang sich dazu durch, weiterhin zu sagen, was sie nicht sagen durfte.
»Warum hört Ihr auf den Abt? Verzeiht, Vater, aber er ist doch nur Euer jüngerer Bruder.«
Das traf. Der Vater wurde bleich, hielt sich an seinem Pult fest und begann, für Alice vollkommen unerwartet, seinem Gram Luft zu verschaffen:
»Zehn Jahre jünger ist er. Er war der Kleine, der Nachzügler. Meine Mutter hatte sich noch ein Kind gewünscht, ein Mädchen. Nun, Daniel war kein Mädchen, aber wurde fast erzogen wie eines. Immer schön angezogen, ein Gesicht wie ein Engel – der Ausdruck kommt nicht von mir, sie, meine Mutter, nannte ihn so. Das Furchtbare für mich war, dass es stimmte. Man sieht es ihm ja auch heute noch an. Lernen musste er nicht viel, schon gar nichts Kaufmännisches, wozu er auch keine Lust hatte. Tanzen, Reiten, Schwimmen, stets in Bewegung. Es hat mich wahnsinnig gemacht, dass er immerzu auf Bäumen herumkletterte. Höher – immer höher, bis in die Krone hinein.
Deine Mutter übrigens auch. Obwohl sie ein Mädchen war. Immer hinauf in den Gipfel. Und da saßen sie zusammen am liebsten auf den Bäumen am Drei- Flüsse-Eck und schauten auf die dahinziehenden Ströme und auf uns herab.«
»Was, meine Mutter ist mit dem Abt auf Bäume geklettert?« Vor lauter Erstaunen brachte sie die Reihenfolge der Ereignisse durcheinander.
Der Vater lachte amüsiert. »Natürlich nicht. Damals war er natürlich kein Abt und niemand hätte erwartet, dass er jemals einer werden würde. Damals waren sie so elf, zwölf Jahre alt. Später wurde es ihr verboten, auf Bäume zu klettern. Er unterließ es dann auch. Einmal sagte er zu mir eher beiläufig, er fände ohne Felicitas kein Vergnügen mehr daran.«
Der Vater räusperte sich.
»Jedenfalls war er der Verhätschelte. Nun, er musste ja auch keine Verantwortung übernehmen und das Geschäft hier einmal leiten. Niemand wusste so recht, was aus ihm werden würde. Er selber träumte auch mehr in den Tag hinein. Irgendwann erklärte er, er wolle Rechtsgelehrter werden, Berater eines Fürsten. Es war sogar von einem Studium an den berühmten Pariser Schulen die Rede. Ich habe innerlich nur gelacht.«
»Und dieser Tunichtgut, dieser Leichtfuß, Euer Bruder, bestimmt über alles und zwingt Euch?«
Das hätte sie wohl nicht sagen dürfen.
»Ihr gebt Euer Leben auf«, hakte sie dennoch nach. »Bei Martin verstehe ich das, er hat hier nichts zu verlieren«, nur mich –, dachte sie für sich.
»Aber Ihr seid mit ganzer Seele Kaufmann. Vater, bleibt hier!«, flehte sie. »Vater, ich habe Angst um Euch.«
»Alice, es ist nutzlos, wenn du versuchst, mich abzuhalten. Der Entschluss ist gefasst, wesentliche Briefe sind schon geschrieben und die Boten fortgeschickt.«
»Und was wird aus mir?«, schoss es endlich aus Alice heraus. »Habt Ihr in den letzten Tagen überhaupt jemals an mich gedacht?«
»Du wirst heiraten. Vor Kurzem erhielt ich die Anfrage eines angesehenen Weihrauchhändlers, er beliefert viele Kirchen in Norwegen und Schweden, ob ich dich an ihn verheiraten wolle. Ich habe ihm bezüglich dessen eine zufriedenstellende Antwort gegeben. Hier liegt der Brief.«
Alice sah ihren Vater entsetzt an.
»Ihr wollt mich verheiraten, ohne mich zu fragen? Ich kenne den Kaufmann doch gar nicht. Ich weiß nicht einmal seinen Namen und wie er alt ist.«
»Diederich heißt er, ich sagte es bereits.«
Sagtet Ihr nicht, dachte sie.
»Er ist 39 Jahre alt. Seine Frau ist unlängst im Kindbett gestorben. Er hat fünf Kinder, die älteste Tochter ist 16 Jahre alt und wird selbst bald heiraten, es macht also nichts, dass sie älter ist als du. Das jüngste Kind ist eben gerade geboren. Im Übrigen ist es durchaus üblich, dass du deinen zukünftigen Ehemann erst am Tag der Hochzeit zum ersten Mal zu Gesicht bekommst. Das sollte dir schon längst bewusst sein.
Ich selbst kannte deine Mutter zwar, aber da sie zehn Jahre jünger war als ich, hatten wir bis zu unserer Hochzeit wenig miteinander zu tun. Mein Vater hatte entschieden.«
»Nicht Ihr?«, fragte sie.
Alice war verwirrt. Sie hatte angenommen, sie wusste auch nicht, warum, ihre Eltern hätten aus Liebe geheiratet. Aber ihre Mutter war schon lange tot und der Vater hatte immer so achtungsvoll und zärtlich von ihr gesprochen und ihre Schönheit gerühmt, und da hatte Alice sich eine Welt zurechtgesponnen, in der der Vater die Mutter geliebt hatte.
»Nun, es war selbstverständlich eine arrangierte Ehe. Durch ihre Mitgift ist unser Handelshaus erst richtig groß und mächtig geworden. Außerdem war sie die einzige Tochter. Eine Alleinerbin zu heiraten, lohnt sich immer. Da wurde nicht viel gefackelt und nach Gefühlen gefragt.«
Alice wagte nicht sich zu erkundigen, wie denn ihre Mutter zu dieser Ehe gestanden hatte. Es war auch unerheblich, schließlich hatte sie ihn geheiratet und nur das zählte.
Aber sie selbst?
Schon als kleines Mädchen graute ihr vor der Sitte, mit einem ihr völlig fremden Mann die Ehe vollziehen zu müssen, und das unter den Blicken aller Hochzeitsgäste, die unweigerlich um das Beilager standen.
»Ich möchte nicht den Kaufmann heiraten, Vater. Ich möchte …, den ganzen Tag habe ich darüber nachgedacht. Ich möchte mit nach Jerusalem.«
»Das geht nicht«, antwortete der überraschte Vater. »So eine bewaffnete Pilgerfahrt ist keine Freude, das bedeutet Kampf. Das ist keine Frauensache.«
»Und doch kommen viele Frauen mit. Viele Kreuzfahrer nehmen sogar ihre kleinen Kinder mit. Ich sage Euch, ich sterbe vor Angst, wenn ich nicht weiß, ob Ihr lebt oder ob Ihr krank oder gar gestorben seid. Ich halte es hier nicht aus. Und wohin könnte ich gehen? Ihr habt ja recht: Heirat oder Kloster, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Nur – ich möchte beides nicht.«
Sie schwiegen sehr lange. Alice dachte: Nur jetzt nichts sagen. Er sieht so aus, als würde er meinen Wunsch nicht sofort ablehnen.
»Ich werde darüber nachdenken.«
»Seht mal«, Alice ergriff die Hand ihres Vaters. »Ich habe sogar von einer alten Frau gehört, die ihre Gans mit auf den Kreuzzug nahm. Die Gans ist immer hinter der Frau hergewatschelt. Stellt Euch das vor. Und ich laufe und reite gern. Ich halte niemanden auf. Bitte, Vater!«
Der Vater wiegte den Kopf. Das schlechte Gewissen drückte, als er endlich einräumte:
»Wenn du es durchaus willst, ich werde mit dem Abt über deinen Wunsch sprechen.«
Alice nahm sich zusammen. Der Abt, der Abt und wieder der Abt. Was hatte nun der damit zu tun? Kannst du nicht alleine entscheiden?, dachte sie abfällig. Der Vater ahnte wohl ihre Gedanken.
»Es ist üblich, dass man sich zuvor die Erlaubnis eines Priesters einholt. Das müssen alle, also auch du.«
Alice seufzte, wünschte eine gute Nacht und ging zur Tür.
»Warte!«, rief der Vater sie zurück. »Ich habe mich entschieden. Es ist besser, in Sorge zu leben, als selbst auf der weiten Fahrt nach Jerusalem umzukommen oder als Sklavin in einem Harem zu enden, so anmutig, wie du bist. Du wirst den Kaufmann heiraten.
Er ist übrigens kein schlechter Mensch. – Nein, Alice! – Ich will nichts mehr davon hören.«
Es war Nacht geworden, als Alice aufgebracht und todtraurig den Raum ihres Vaters verließ und in den Gang hinaustrat. Eine sonderbare Stille hatte sich in den Hallen und Fluren ausgebreitet. Es war ihr unheimlich, eine Empfindung, die sich verstärkte, als sie Stimmen hörte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Dann sah sie zwei Schatten sich durch die große Halle nähern, die bald als Personen erkennbar wurden. Martin! Fast hätte sie seinen Namen gerufen. Martin und der Abt! Martin hielt ein Bündel fest an sich gedrückt. Sie sprachen nicht mehr miteinander, sondern verabschiedeten sich, indem der Abt ein Kreuz über Martin schlug. Dann trennten sich ihre Wege. Martin stieg die Leiter zum Dach hinauf, wo die Knechte ihr Schlaflager auf dem Fußboden hatten. Alice war einmal mit Martin oben gewesen, es war Winter und entsetzlich kalt. Sie hatten gemeinsam das Stroh, auf dem Martin schlief, ausgewechselt. Sie spürte immer noch die Kälte in dem fensterlosen Raum, in den das Licht nur durch eine Öffnung im Dach drang.
Seltsamerweise erschien Alice dieser kurze Augenblick ihrer Kindheit wie eine Glückseligkeit.
Und jetzt? Martin hatte seit der Ankunft der Kreuzfahrer nicht mehr mit ihr gesprochen. Mit Sicherheit würde er nicht zu ihr kommen, um sich vor seiner Abreise zu verabschieden. Er hatte sie schließlich noch nie in ihrer Kammer aufgesucht, durfte es auch nicht, nur hatte ihr das bisher nichts ausgemacht. Vielleicht schläft er nicht. Vielleicht verstaut er nur sein Bündel und wartet auf mich im Keller bei den Weinfässern. Alice ergriff eine Öllampe, huschte durch den Gang und stieg die steile Steintreppe in das Kellergewölbe hinunter. Eisig und düster war es hier. Sie zog ihr Tuch fest um sich. Er würde nicht kommen, hämmerte es in ihrem Kopf. Die Füße wurden ihr kalt, überhaupt fror sie, müde war sie – Martin würde nicht kommen, es war umsonst, hier zu warten. Martin lag gewiss bei den anderen Knechten im Heu und schlief. Was wohl in dem Bündel war?
Alice wollte es beim Morgengrauen herausfinden.
Gewiss würde Martin dem Abt nach dem 1. Stundengebet frisches Wasser und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen bringen. Dabei wollte sie ihn abfangen.
»Du hast mir aufgelauert«, stellte Martin in unwirschem Ton fest, als er den Raum des Abtes verließ. Er machte gegen seine Gewohnheit ein abweisendes Gesicht.
»Ich muss mit dir sprechen. Wegen Jerusalem.«
»Ach«, sagte er und warf den Kopf zurück. »Das geht dich nichts an. Das ist Männersache.«
Er sah ihren erstaunten, traurigen Blick.
»Entschuldige.«
Sie suchten die dunkle Nische auf, die sie schon seit ihrer frühen Kindheit oftmals für geheime Besprechungen genutzt hatten.
»Entschuldige, ich habe das eben nicht so gemeint«, sagte Martin.
»Weißt du, ich hatte mir das schon gedacht, dass du nicht mit mir reden willst.«
»Ach so«, sagte er kurz.
»Martin, wir waren immer wie Bruder und Schwester. Du kannst mich doch nicht hier allein lassen. Mein Vater geht, du gehst. Die beiden mir liebsten Menschen verlassen mich. Ich weiß nicht, wie ich diese Angst, die ich um euch haben werde, aushalten soll.«
»Was soll ich denn hier? Ich bin der Sohn einer Magd und ich werde immer Knecht bleiben. Du aber bist die Herrin. Du wirst schon bald einen Mann von Stand heiraten. Es ist überhaupt erstaunlich, dass du noch nicht verheiratet bist und noch kein Kind hast.«
Alice machte eine abwehrende Handbewegung.
»Natürlich wirst du heiraten – aber mich darfst du nicht heiraten. Das halte wiederum ich nicht aus, dein und deines Mannes Knecht zu sein. Sei nicht traurig, Alice. Ich kann hier nichts werden. Ich bin unehelich, ich bin ein Bastard, ein Unehrlicher wie die Spielmannsleute.«
»Weißt du denn wirklich nicht, wer dein Vater ist? Hast du gar keine Ahnung?«
»Meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen. Und immer, wenn ich nachfragte, gab es Schläge.«
Alice seufzte.
»Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, wer mein Vater sein könnte. Aber es ist nicht herauszufinden. Sieh mal, wir sind beide gleich alt, beide am Tag des Heiligen Martin geboren.«
Er schwieg. »Ich kann darüber nicht sprechen.«
Alice war mutiger.
»Du meinst, ich bin am Hochzeitstag meiner Eltern entstanden oder ganz kurze Zeit später – und du bist zum gleichen Zeitpunkt …, na ja.«
»Ja, und zu diesem Ereignis waren hier viele vornehme Gäste versammelt. Meine Mutter sagte, dass über 100 Leute geladen gewesen wären, sogar Ritter, obwohl die eigentlich nicht zur Hochzeit eines Kaufmanns kommen. Aber deine Großeltern hatten diesen Hochzeitssaal in einem Steinhaus, während die meisten Adeligen nur Burgen aus Holz kennen. Höchstens der Wohnturm ist aus Stein.«
Martin schwieg und blickte in Fernen, die er nur geahnt, nie geschaut hatte.
»Ich glaube, bei dieser Hochzeitsfeier geschah es. Mein Vater war einer von denen«, er brach ab. »Aber wie soll ich herausbekommen, wer es war. Und selbst, wenn ich es wüsste. Der würde sich vielleicht gar nicht mehr daran erinnern oder wollte es nicht. Ich kann doch nicht zu einem reichen Kaufmann oder zu einem Ritter gehen und sagen: ›Euer Gnaden sind vielleicht mein Vater.‹ Außerdem weiß ich es wirklich nicht. Sie hatten ja auch noch Knechte bei sich. Davon könnte es auch einer sein. Und nun ist meine Mutter tot.«
Martin schwieg und Alice hielt noch immer seine Hand. Sie sah es ein, sie war verständig und es war selbstsüchtig, ihn zu bitten hier zu bleiben, ihretwegen auf Jerusalem zu verzichten. Sie müsste eben leiden.
Ach, wenn sie doch mit könnte …
»Also heute schon«, sagte sie. »Wenn die Nacht vorbei ist, ziehst du fort.«
Sie trennten sich unter Tränen. Doch dann drückte Martin Alice von sich und hastete hinauf auf sein Strohlager.
Am Morgen versammelten sich Kreuzfahrer, ihre Verwandten und Freunde auf dem weiten Domplatz. Martin und die anderen Männer und Frauen, die sich dem Kreuzzug anschlossen, wurden an ihren Eid erinnert, dass sie das Heilige Grab Jesu Christi zurückerobern wollten und bei der Strafe des Kirchenbanns nicht nach Passau zurückkämen, bevor sie nicht Jerusalem erreicht und ihre Mission erfüllt hätten.
Jetzt warteten sie auf den Abmarsch. Alle trugen einen breiten Pilgerhut, einen Umhang, auf den ein rotes Kreuz aus irgendeinem Stoff genäht war, ein Bündel mit den wichtigsten Habseligkeiten, eine Decke aus Wolle oder aus Schafsleder. Die lederne Trinkflasche hatten sie an den Gürtel gebunden, in der Hand hielten sie den Pilgerstab. Geld hatte kaum einer dabei. Schon gar nicht so viel, um eine so lange Reise bis nach Jerusalem nur irgend bestreiten zu können. Wovon sie also leben sollten, davon hatten sie lediglich eine sehr verschwommene Vorstellung. Sie hofften auf eine Anstellung bei einem Adeligen und selbstverständlich – wie es in Kriegen üblich und erlaubt war – auf Beute.
Alice wollte zu Martin hinübergehen, doch er machte ein stolzes, fremdes Gesicht, das sie abhielt. Überhaupt sah er anders aus als sonst. Er trug nicht seine übliche verschlissene Kleidung, sondern statt der braunen eine mit Leinen gefütterte Jacke aus blauem Wollstoff und ein dazu passendes blaues Wams, allerdings keine Beinlinge, sondern Hosen. Die Schuhe waren fester als die, die er bisher hatte. Obwohl wertvoller, blieb die Kleidung doch seinem Stand angemessen.
Alice überwand ihre Scheu und ging auf die Gruppe der jungen Pilger zu.
Auf ihren fragenden Blick flüsterte Martin, er habe die Sachen letzte Nacht vom Abt geschenkt bekommen. Es seien dessen eigene gewesen, bevor er ins Kloster eingetreten sei. Er habe sogar noch Kleidung aus kostbarem Stoff erhalten, habe jedoch versprechen müssen, sie niemals aus Eitelkeit, sondern nur in der Not zu tragen. Sonderbar, nicht? Dabei blickten die beiden jungen Menschen zu dem Abt hinüber. Der stand bei einem freundlich aussehenden Mönch, von dem er sich herzlich verabschiedete. Martin flüsterte Alice zu, der Mönch müsse Markus sein, der gegen die Regel der Ortsgebundenheit das Kloster für diese Pilgerfahrt verlassen durfte.
»Ich wusste gar nicht, dass Mönche so kräftig sein können«, flüsterte sie ihm zurück.
»Was du nur so denkst«, antwortete er.
Sie beobachteten gemeinsam, wie der Abt, als Onkel konnte sich Alice ihn nach wie vor überhaupt nicht vorstellen, den Mönch zum Abschied umarmte.
Der Pilgerzug setzte sich in Bewegung. Alice fasste Martins Hand.
»Deus vult! Deus vult!«, riefen die Kinder, Frauen und Männer, die sich nun zum Heiligen Grab aufmachten, und die ganze Stadt schien in diesem Ruf widerzuhallen. Der Abt segnete die Pilger, wie auch die Priester segnend durch die Reihen der Menschen gingen, von denen niemand wusste, ob er jemals diese Gasse zur Donau wieder heruntergehen würde.
Alice’ Vater befand sich allerdings noch nicht unter den Pilgern, die nun schnellen Schrittes, begleitet von ihren Angehörigen, durch das Immunitätstor davoneilten, um sich dem Heer Gottfrieds von Bouillon anzuschließen.
Der Jubel war bei den meisten Zurückbleibenden schnell verflogen. Der Schmerz der Trennung ließ viele der Frauen und Kinder weinen, die ihre Männer, Söhne und Brüder und einige auch ihre Schwestern in eine ungewisse Zukunft davonziehen sahen. Bedrückend war schon jetzt der Gedanke an das eigene Leben, denn jeder hatte seinem Verwandten mitgegeben, was immer nur irgend entbehrlich schien. So hatte die Passauer bereits die Sorge ums Überleben gepackt, kaum dass die Kreuzfahrer gerade erst den Augen entschwunden waren.
Alice blieb einsam zurück.
Einsam? Sie erschrak, als sie sich umdrehte und den Abt neben dem steinernen Löwen beim Eingangsportal des Doms stehen sah. Er blickte wie selbst versteinert den Pilgern nach. Warum wirkte er traurig, warum gestattete er sich eine so melancholische Verzärtelung?
Unsinn, er triumphierte, der Papst, die Kirche hatten gesiegt, so viele junge Männer aus Passau und den umliegenden Dörfern hatten sich aufgemacht, meist die zweiten und dritten Söhne von Handwerkern, Krämern, Kaufleuten oder Bauern.
Alice sah scheel zu dem Abt herüber, der sie seinerseits nun sehr offen anschaute und zu ihr hinüberkam.
»Dein Vater hat letzte Nacht mit mir über deine Zukunft gesprochen. Du sollst wissen, aus der Sicht der Kirche steht einer Pilgerfahrt nichts entgegen. Wenn du willst, nimm das Kreuz und mache dich mit deinem Vater auf nach Jerusalem.«
Alice sah ihn erstaunt an. Von dem Abt hätte sie am wenigsten Hilfe erwartet. Gleichwohl, von diesem Mann wollte sie nichts über ihr weiteres Schicksal hören. Der Abt bemerkte ihre abwehrende Handbewegung.
»Du hast Martin sehr lange nachgeblickt und er hat sich zum Schluss auch nach dir umgesehen.«
Das geht dich nichts an, dachte Alice. Schrecklich, auch noch bei der Trennung beobachtet zu werden.
»Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«, bemerkte er im Gehen.
Zusammengefügt? Als würden sie heiraten?
Alice richtete sich hoch auf. Wie konnte dieser Mann eine so unverschämte Behauptung aufstellen. Niemand wusste besser als er, dass eine Ehe vollkommen ausgeschlossen war. Die ständische Ordnung war gottgewollt und es war Frevel, gegen sie zu verstoßen. Sie war die Herrin – und Martin war der Knecht – und zwischen diesen Ständen gab es keine Brücke.
Wie hasste sie diesen Mann, der sich da in seiner schwarzen Kutte langsam entfernte. Alles zerstörte er, vor nichts hatte er Achtung, nichts war ihm heilig, weder die göttliche noch die weltliche Ordnung. Ihr Kaufmannshaus, das Geschäft ihres Vaters, ihr Vermögen, alles ging verloren, um diesen Kreuzzug zu bezahlen – von Sünde war die Rede und ihr Vater verlor die Selbstachtung, die Würde, die er immer besessen hatte. Sie selber war ratlos und hilflos, wusste nicht, wie und wo dieses Jahr zu Ende gehen sollte. Nichts war sicher. Niemals hätte sie erwartet, einer vollkommen ungewissen Zukunft entgegenzugehen.
Und nun wollte ihr Vater sie auch noch an irgendeinen vollkommen unbekannten Menschen verheiraten! Auch wenn es üblich war – es blieb schrecklich, jemanden zu ehelichen, während sich Martin mit den Kreuzrittern auf den Weg nach Jerusalem gemacht hatte.
Mich verlassen hat, dachte sie und verbesserte sich sofort. Verlassen hat, wie ein Bruder, der seine Schwester verlässt. Doch insgeheim fühlte sie, dass ihr Gefühl für Martin nicht ganz so eindeutig geschwisterlich war. Dieses Ekel, dieser Abt, wie konnte er den Gedanken nur in ihr Herz pflanzen, sie könnte jemals mit Martin als seine Frau verbunden sein. Und doch hatte er irgendwie auch recht. Sie waren schon seit jeher zusammengefügt. Am selben Tag geboren, hatte Alice’ Mutter entschieden, dass Martins Mutter das Mädchen stillen sollte. Sie selbst hielt sich als reiche Kaufmannsfrau von solchen Pflichten fern. Und so stand es natürlich nach ihrem Tode fest, dass Alice von Martha versorgt wurde. Alles lernten sie zusammen – und doch blieb Martin der Knecht. Welch ein Irrglaube, er könnte etwas anderes sein. Und doch war er es, der hier heute Morgen siegesbewusst aufbrach, in neuem Gewand, das natürlich der Abt ihm geschenkt hatte. Er, Martin, war es, der sich wie ein Herr ihr gegenüber benahm. Würde er sich überhaupt freuen, wenn sie ihn in einigen Tagen an der ungarischen Grenze treffen würde? Wäre es ihm recht, wenn nicht nur ihr Vater, sondern auch sie mit dem Heer Gottfrieds von Bouillon den weiten Weg nach Jerusalem pilgerte?