Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Bayern 1124. Alice verliert durch die Ermordung Graf Bernhards den geliebten Mann und ihre Existenz. Sie wird von der Burg vertrieben und muss sich ein neues Leben aufbauen. Von Anfang an verdächtigt Alice Salome, jetzige Äbtissin und ehemalige Ehefrau Bernhards, die Auftraggeberin des Mordes zu sein. Für Wolfhardt, den natürlichen Sohn Bernhards, und Luitger, den Erben der Burg, ist Salome jedoch nicht die einzige Gefahr. Im Krieg Herzog Friedrichs II. von Schwaben/Staufen gegen König Lothar III. stehen sie sich als Feinde gegenüber.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 697
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Maren Bohm
Das Vermächtnis der Pilgerin von Passau
Historischer Kriminalroman
Gefährliche ZeitenAlice wird am Tag der Ermordung Graf Bernhards von ihrem eigenen Sohn Luitger von der Burg verwiesen. Selbst arm und rechtlos geworden, nimmt sie sich einer Gruppe umherirrender Priesterfrauen an, die aufgrund des von der Kirche gewaltsam durchgesetzten Zölibats von ihren Männern vertrieben wurden. Von Anfang an verdächtigt Alice Salome, jetzige Äbtissin und ehemalige Ehefrau Bernhards, die Auftraggeberin des Mordes an ihrem Geliebten zu sein. Alice‘ Ziel ist es, das Verbrechen aufzuklären und Salome zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei lebt sie selbst unter tödlicher Bedrohung. In Gefahr schweben auch Wolfhardt, Bernhards natürlicher Sohn, und Luitger. Nicht nur Salome und der Krieg zwischen Herzog Friedrich von Schwaben/Staufen und König Lothar bedrohen ihr Leben, sondern auch die Liebe verändert dramatisch ihre Pläne. Die Passauer Hure Elisabeth enthüllt dem jungen Grafen Luitger ein unliebsames Geheimnis. Und wieso erscheint die orientalische Schönheit Leyla auf einem weißen Araberhengst völlig unerwartet auf der Burg?
Maren Bohm interessierte sich schon früh für Literatur und Geschichten aus fernen Zeiten. Die brisante Mischung aus gesellschaftlichem Einfluss und Individualität fasziniert sie. Bohm studierte Germanistik, Theologie und Geschichte u. a. in Heidelberg. Nach der Promotion war sie am Gymnasium tätig und arbeitet heute als freie Schriftstellerin. Passau ist eine bedeutsame Stadt in ihrer Lebensgeschichte. Mit Christian Bergmann, Hamlet-Darsteller der »bremer shakespeare company«, gestaltet Bohm seit 2014 szenische Lesungen.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen
insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG
(»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Kartenbearbeitung: Katrin Lahmer
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Domenico_ghirlandaio,_ritratto_di_giovane_donna,_lisbona.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nuremberg_chronicles_-_PATAVIA.png
ISBN 978-3-8392-7892-5
Die Romanhandlung entspricht den historischen Ereignissen im Regnum Romanorum von 1124 bis 1137
Dem geneigten Leser sei diese Karte zugeeignet. Dies sind die Orte, wo Alices neues Leben beginnt.
Tot! Endlich war er tot – durch ihren Willen!
Endlich hatte der Frevel ein Ende! Endlich hatte ihr geplagtes Herz Ruhe!
Salome lehnte sich einen Augenblick aufatmend auf ihrem kostbaren, reich verzierten Äbtissinnenthron zurück. Eine unbekannte Wärme durchflutete sie und ein herrliches Gefühl von Macht.
Welch eine Wonne! Welch ein Triumph! Er war tot! Nur der Tod konnte sie scheiden, und sie hatte das Band der Ehe durchschnitten. Hatte Bernhard gedacht, er würde die Ehe nicht brechen, nachdem der Papst ihre Ehe für ungültig erklärt hatte? Hatte er sich in Sicherheit gewiegt, er könnte rein und ohne Schuld mit dieser Alice buhlen gehen, während sie sich vor Gram und Wut verzehrte? Jesus aber spricht: »Wer eine Frau ansieht, um sie zu begehren, der hat schon in seinem Herzen die Ehe gebrochen.«
»Mich hast du nie geliebt«, hauchte sie.
Hatte eine der Nonnen etwa ihr Flüstern gehört? Nein, vor ihrem Chorgestühl kniend, schauten ihre Töchter zum Priester. Trotzdem, auch wenn niemand etwas bemerkt hatte, musste sie auf das Heilige Hochamt achtgeben, wenn nicht unbedachte Regungen sie verraten sollten. Mit den Nonnen betete sie: »Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Et ne nos inducas in tentationem.«
Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Merkwürdig, wie oft hatte sie das Vaterunser gesprochen. Doch noch niemals waren diese Worte ihr so seltsam erschienen. Sollte Gott in dem Maße vergeben, wie auch wir unsern Schuldigern vergeben? War sie in Versuchung geführt worden? Hätte sie Bernhard verzeihen sollen?
Nein, Salome richtete sich stolz auf. Er war der Schuldige. Er hatte ihr Leben zerstört, das stand fest. Er war der Mörder – nicht sie. Er war es, der ein Leben lang getan hatte, was ihm gefiel. Reiten, Kämpfen, Lieben, Schwimmen. Gnädig war es von ihr, dass sie ihn bei einer seiner bevorzugten Tätigkeiten hatte ermorden lassen. Bis zuletzt hatte sie nicht daran geglaubt, dass es gelingen würde. Beim Schwimmen in der Donau hatte er doch immer das Ufer im Blick.
Warum war er so unaufmerksam gewesen. Woran hast du gedacht?
Schweigend und bedrückt trugen die Knechte den Leichnam ihres Herrn den steilen Weg von der Donau zu seiner Burg hinauf. Alice ging neben der Bahre. Sie hielt Bernhards Hand. Kalt war sie, blau. Noch war sie beweglich. Noch konnte sie annehmen, Bernhard habe sich nur unterkühlt, so als wenn er im Winter in der Donau geschwommen wäre und nun aus dem eisigen Wasser ans Ufer kam. Und sie hatte mit einem großen Handtuch seiner erwartet. Wie konnte er jetzt tot sein? Seine Hand war noch irgendwie lebendig. Und erst recht sein Anblick. Alice mochte nicht ihre Augen von seinem Gesicht nehmen – und wagte nicht, es zu berühren. Bernhard lächelte! Er sah aus, als würde er sanft schlafen und von Glücklichem träumen.
Aber Bernhard schlief nicht, er würde nicht wieder erwachen. Er war tot. Ermordet.
Wie könnt Ihr so lächeln, wenn Ihr ermordet seid! Von Pfeilen durchbohrt. Ihr müsst erstickt sein. Wie könnt Ihr dann lächeln, wenn Ihr so grausam gestorben seid. Was habt Ihr erlebt, dass Ihr lächelt? Es kann nicht sein, dass Ihr lächelt und ermordet seid. Wäre ich nur mitgekommen. Hätte ich Euch doch nur begleitet! Es sollte Euer letztes Mal sein, dass Ihr in der Donau schwimmen geht. Nur noch ein einziges Mal – und dann ziehen wir morgen in der Frühe nach Jerusalem. So habt Ihr gesagt. Und nun ist es ein letztes Mal geworden, endgültig und für immer. Aber ich konnte Euch nicht begleiten. Ich musste dafür sorgen, dass alles für den Kaiser und die Kaiserin bereitet wird: das orientalische Mahl mit den fremden köstlichen Gewürzen, der glanzvoll geschmückte Festsaal, die Zimmer für das hohe Paar und für die übrigen Gäste. Ich hatte keine Zeit – und doch ein so schlechtes Gefühl – so eine Ahnung. Warum habe ich nicht gesagt: Geht nicht! Geht dieses eine und letzte Mal nicht. Hättet Ihr auf mich gehört? Wahrscheinlich nicht. Geschmunzelt hättet Ihr und gesagt: ›Ach, Alice. In letzter Zeit seid Ihr ziemlich ängstlich. Was soll das?‹
Es stimmt ja auch. In letzter Zeit war ich irgendwie besorgt. Seit dieser Mondfinsternis im Februar. Da standen wir auf der Wehrmauer und schauten in den schwarzen Mond. In den Blutmond. Ein schlimmes Zeichen. Ihr aber schütteltet den Kopf. Von Vorahnungen hieltet Ihr gar nichts. ›Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir einen dritten Hungerwinter bekommen. Und ich fürchte allerdings, dass Luitger nicht für meine Hörigen ordentlich sorgen wird, wie Ihr es gemacht habt. Aber das hat mit Himmelszeichen nichts zu tun.‹
Sein Einwand hatte sie nicht beruhigt. Noch gestern hatte sie ihn darauf angesprochen. Es war schon Nacht und sie saßen in der Halle vor dem Kamin. Das Holz knackte und die Flammen warfen Schatten. Da hatte sie Bernhard gefragt: ›Und wie steht es mit Gottesurteilen. Glaubt Ihr an Gottesurteile?‹
›Nein‹, hatte Bernhard geantwortet, wenn auch zögernd. ›Denkt nur an Peter, den Einsiedler. Er war der festen Überzeugung, die Heilige Lanze gefunden zu haben, mit der Jesus in die Seite gestochen wurde. Alle haben ihn ausgelacht. Da wollte er es ihnen mit der Feuerprobe beweisen. In seinem Hemdchen lief er über glühende Balken zwischen brennenden Holzscheiten entlang. Sein Hemdchen fing Feuer, und wenn er auch nicht verbrannte, weil ihm geholfen wurde, so starb Peter der Einsiedler schließlich an den Brandwunden. Aber mit einem Gottesurteil hatte das nichts tun. Es war nur eine Wahnvorstellung, an die er zuletzt selbst glaubte.‹
Und wenn es trotz allem ein Gottesurteil gibt?, überlegte Alice, während sie nun durch das Tor in den Burghof eintrat. War nicht Bernhards Lächeln ein Gottesurteil? Wenn dem so war, so wehe seinem Mörder!
Wer war es? Wer hatte Bernhard getötet?
Stand der Mörder etwa dort oben auf der obersten Stufe des Palas und erwartete den Leichenzug? Luitger neben seiner Gattin Giselinde, der Kaiser und die Kaiserin, Berengar von Sulzbach, Bernhards langjähriger Freund, und der Bischof von Passau Reginmar.
Alice ließ Bernhards Hand los, die Knechte stellten die Bahre auf zwei Pflöcke. Schweigen. Niemand wagte zu sprechen. Kaiser Heinrich erhob das Wort:
»Meine holde Gattin Mathilde und Wir, der Kaiser, sind Graf Bernhards Einladung gefolgt, um uns hier auf dieser Burg zum festlichen Mahl zu versammeln, bevor Graf Bernhard sich auf eine Pilgerreise nach Jerusalem begibt.«
Alice beobachtete, wie Luitger und Giselinde sich erstaunt, ja entsetzt ansahen.
»Nun hat Graf Bernhard eine andere, eine würdigere Pilgerreise angetreten. Mir wurde zugetragen, dass Graf Bernhard lächelnd unsere Welt verlassen hat. Graf Luitger, würdet Ihr nachschauen, ob dies zutrifft?«
Graf, ist er jetzt schon Graf? Und Bernhard ist noch nicht einmal drei Stunden tot?
Schnellen Schrittes lief Luitger die Stufen hinunter und blieb vor dem Toten stehen.
»Es trifft zu, Majestät!«, rief Luitger und entfernte sich eiligst.
Aufgeblasen siehst du aus, wie du da die Treppen wieder hinaufsteigst.
»Hochwürdigste Exzellenz, Ihr seid ein Mann Gottes. Darf ich Euch bitten, ebenfalls Euch zu vergewissern, dass es mit diesem Lächeln seine Richtigkeit hat.«
Würdig schritt der Bischof die Stufen hinunter, schaute in Bernhards Gesicht, ohne Alice zu beachten, die, sich vor ihm verneigend, zurücktrat, um seiner Ehrwürden Platz zu machen.
»Graf Bernhard lächelt«, stellte der Bischof mit lauter Stimme fest und wandte sich nicht nur an den Kaiser, sondern auch an die ihn in gebührendem Abstand umstehenden Gäste und Knechte und Mägde: »Es ist nicht ein irdisches Lächeln. Es ist ein himmlisches. Es ist das Lächeln der Seligen«, verkündete der Bischof mit gewaltiger Stimme. Dann hatte auch er es eilig, wieder neben dem Kaiserpaar zu stehen zu kommen.
»Man hole mir einen kundigen Mann, der eine Totenmaske anfertigt«, entschied der Kaiser.
Eine Totenmaske, dachte Alice. Von Bernhard eine Totenmaske, ein Ehrenerweis. Aber es ist keine Ehrung, die Maske gilt nicht Bernhard, sondern dem Kaiser. Er will allen Bischöfen, Kardinälen und dem Papst und sonst dem Adel beweisen, dass sein treuer Gefolgsmann im Einklang mit Gott gestorben und nicht dem Teufel anheimgefallen ist. Er will sich nur selbst reinwaschen. Er, der so häufig von der Kirche exkommuniziert worden ist wie höchstens sein Vater.
»Dem Mörder aber, und das sei überall im Lande verkündet, werden die Beine abgeschlagen und er wird geblendet. Dies ist mein Wille.« Kaiser Heinrich machte eine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Was kommt nun?, überlegte Alice.
»Ihr aber, Vrouwe Alice, was mit Euch geschieht, das teilt Euch Graf Luitger mit.«
»Mutter«, sagte Luitger, und seine Stimme klang unsicher. Er nahm sich zusammen.
»Mutter, es schickt sich nicht, dass Ihr als Kebse Graf Bernhards noch länger auf der Burg verweilt. Ihr habt zu gehen – noch heute – sogleich.«
Das kann nicht sein. Das ist nicht mein Sohn, der so zu mir spricht.
»Majestät Mathilde«, flehte Alice und fiel vor der weit über ihr auf den Stufen stehenden Herrscherin auf die Knie. »Ich bitte nicht darum, länger auf dieser Burg bleiben zu dürfen. Aber zeigt Gnade mit mir. Gewährt mir, die Nachtwache bei Graf Bernhard halten zu dürfen. Allein«, fügte Alice demütig hinzu.
Die Kaiserin richtete sich zu ganzer Größe auf: »Wir sind die Tochter des Königs von England. Wir sind als Königin in dieses Land gekommen. Wir sind Kaiserin. Es ziemt sich für Uns, Gnade auch dem zu gewähren, dem sie nicht gebührt. Diese eine Nacht dürft Ihr bei Graf Bernhard wachen. Im Morgengrauen habt Ihr die Burg für immer zu verlassen. An der Beisetzung des Grafen dürft Ihr nicht teilnehmen – auch nicht aus der Ferne.«
Wohin nun?
Langsamen Schrittes verließ Alice den Hof. Die Bediensteten, die einen weiten Kreis um die Bahre ihres toten Herrn gebildet hatten, wichen vor ihr zurück. Niemand schaute sie an, alle senkten den Blick. Wie eine Aussätzige, durchfuhr es Alice. Sie blieb stehen und wandte sich um. Eben liefen vier Ritter des Kaisers die Stufen herunter und stellten sich neben der Bahre auf.
Sie beschirmen Bernhards Leichnam, nein, sie bewachen sein Lächeln.
Der Kaiser und die Kaiserin zogen sich mit Luitger und Giselinde sowie dem Bischof zurück. Als Letzter verschwand Graf Berengar von Sulzbach durch das mächtige feste Tor, das sich hinter ihnen schloss.
Fassungslosigkeit, Verzweiflung und gänzliche Vereinsamung überkamen Alice. Noch vor wenigen Stunden war sie die Herrin dieser Burg gewesen, zwar nicht rechtlich abgesichert, aber auf Befehl Bernhards. Nicht einmal durch seinen Befehl. Im Laufe der Jahre war es einfach so, dass ihr Wort in der Grafschaft galt. Bernhard verließ sich darauf bei seinen dauernden Abwesenheiten, den Reichstagen und den zahllosen Kriegszügen Kaiser Heinrichs, bei denen er seinen Herrscher begleitete. Ständig war sie in Sorge, Bernhard werde in einem dieser Kämpfe sterben, wie oft war er im Krieg auch im Winter fort. Dann war sie allein auf der Burg, kalt war es und dunkel trotz der Fackeln in den Gängen, und sie fühlte sich einsam mit ihrer Sorge. Doch diese Einsamkeit erschien ihr jetzt als Glückseligkeit. Glücklich, so gaukelte ihr das Trugbild vor, war sie noch, als sie dort oben am Fenster des Palas stand, auf die Donau schaute, um Bernhard zu erspähen, der im nächsten Augenblick zur Burg zurückkommen musste, denn der Kaiser konnte jeden Augenblick eintreffen. Dann allerdings hielt sie es nicht mehr aus und ging ihn suchen, fand seine Kleider an der gewohnten Stelle, erblickte endlich ihn, ans Ufer geschwemmt, Pfeile im Rücken. Wie ein Fisch, sie mochte ihn kaum zu sich wenden, da sah sie sein Gesicht …
»Vrouwe Alice«, sie zuckte zusammen. Vor ihr standen mit hängenden Schultern und betretenen Gesichtern zwei Kriegsknechte Bernhards. »Vrouwe Alice, äh, Ihr habt gehört, was der junge Herr befohlen hat. Bitte.«
»Es ist gut, Johann. Ich gehe, ich warte vor dem Tor.«
Rasch verließ sie den Burghof, blickte noch einmal zu dem Turm hinauf, in dem sie viele Jahre gewohnt hatte. Einen Kachelofen, eine solche neuartige Seltenheit, hatte Bernhard ihr zukommen lassen. Was denke ich da. Wenn jetzt das Fallgitter heruntersaust und mich erschlägt. Unsinn.
Draußen auf der Zugbrücke blieb Alice unschlüssig stehen. Es dämmerte stark. Der Wald hinunter zur Donau verschwand schon im Dunkel. Nur hier oben bei der Burg war noch etwas Licht. Alice beugte sich über das niedrige Mäuerchen. Unter ihr der tiefe, bodenlose Burggraben. Wenn sie sich da hinabstürzte, wenn sie sich einfach nur fallen ließe oder sich zu weit vornüberbeugte … Kein bisschen Wasser würde sie noch retten nach dem sengend heißen Sommer. Nur hartes Gestein war dort unten. Sie wäre gewiss tot und dann noch heute bei Bernhard.
›Wehe, wenn du ein Geschrei anstellst wie Kriemhild, wenn ich eines Tages nicht zurückkomme‹, hörte sie Bernhards Stimme sagen. Das klang keineswegs angenehm. Eher drohend hatte er ihr das vor vielen Jahren, noch auf der bewaffneten Pilgerfahrt nach Jerusalem, gesagt. Wenn sie aber nicht einmal klagen durfte, dann noch weniger sich selbst umbringen. Zornig würde Bernhard sie erwarten. Nein, das wohl nicht. Denn wenn sie sich selbst tötete, dann käme sie nie zu ihm, dann würde ihr ein finsterer Ort zugewiesen.
Komm, Alice, nimm dich zusammen.
Sie setzte sich auf einen Stein und wartete. Was sie jetzt wohl taten? Waschen würden sie Bernhard wohl erst, nachdem die Totenmaske angefertigt war. Waschen. Wie oft hatte sie ihn gewaschen, als er mit der Seuche darniederlag. Damals hatte sie Salome angefleht, zu ihrem Gatten nach Köln zu reiten, als kein Lebenszeichen von ihm kam und keine Siegesbotschaft, dass die Belagerung geglückt sei. Aber Salome hatte sich geweigert und sie verlacht, und so war sie selbst geritten – und hatte Bernhard todkrank aus dem Feldlager geholt. Eines Tages endlich wusch Bernhard sich selbst, und während sie grübelte, ob sie das machen wollte, was zu tun ist, um vom Tode bedrohte Männer ins Leben zurück zu retten, warf er ihr das Handtuch zu und lachte: ›Rubbele mich lieber ab.‹ Dann aber sah er sie ernst, sehr ernst an und sagte: ›Dieser Tag entscheidet. Alice, du und ich sind wir.‹
Alice horchte auf. Sie hörte ein Pferd näher kommen. Schemenhaft sah sie einen Mann im Trab an ihr vorbeireiten. Das musste wohl der Künstler sein, der die Totenmaske anfertigte. Dann war es wieder still. Unter ihr der Burggraben wie ein schwarzer Schlund, aber sie wollte sich nicht mehr hinabstürzen. Sie wollte diese eine letzte Nacht bei Bernhard sein.
Krachend fiel die schwere Pforte der Burgkapelle hinter Alice ins Schloss. Kälte umfing sie, modrig roch es. Die Kerzen flackerten unruhig um die Totenbahre. Alice zog ihr Brusttuch fest zusammen. Fassungslos blieb sie bei der Tür stehen und starrte zu dem Leichnam, der dort aufgebahrt lag. Das konnte unmöglich Bernhard sein. Unmöglich war dieser fremde Körper dort vorne vor dem Altar Bernhard. Alice sank zu Boden, verharrte, bis die Knie schmerzten, raffte sich auf und ging zögernd auf den leblosen Menschen zu, der Bernhard war. Mit jedem Schritt jedoch spürte sie mehr seine Anwesenheit. Bernhard lebte, er war nicht tot, er war noch irgendwie im Raum, ihr noch nahe. Vor der Bahre blieb Alice stehen. Sie hatten Bernhard seine Festtagskleider angezogen. Sanft berührte sie das schwere, mit goldenen Borden verzierte dunkelblaue Leichentuch, mit dem sie Bernhard umhüllt hatten. Er jammerte, und aufschluchzend beugte sich Alice über den Geliebten und klagte: »Was hat man Euch angetan?«
Stille. Bernhard antwortete nicht. Lächelte und schwieg.
»Ihr könnt so nicht lächeln. Sagt mir, was wirklich geschehen ist. Wer hat Euch getötet?«
Stille, Schweigen, nichts. Nur sein lebloser Körper.
»Antwortet mir.«
Alice vergrub ihr Antlitz in den Händen, und mit einem Mal flossen die Tränen. Sie weinte und weinte, bis ihre Augen wund waren. Sie wischte das nasse Gesicht mit ihrem Ärmel ab und schaute in Bernhards Gesicht.
»Ich weiß, Ihr könnt es mir nicht sagen. Ich muss selbst dahinterkommen, was geschehen ist. Ich muss Euren Mörder finden. Und ich schwöre bei Gott, Euer Mörder wird bestraft werden.«
Die Worte verhallten in dem Gemäuer.
Alice ließ ihre zum Schwur erhobene Hand mutlos sinken.
Sie sackte innerlich zusammen. Sie wusste, kaum würde sie diesen Schwur einhalten können. Der Täter wurde vielleicht gefasst, nicht aber der Auftraggeber. Der musste eine hochgestellte Persönlichkeit sein, adelig. Trotzdem, sie musste Bernhard rächen, sie musste den Mörder finden.
Wer könnte es sein?
Bernhard hatte keine Feinde, sie wüsste niemanden, besonders, seit er beschlossen hatte, an keinem Kriegszug mehr teilzunehmen, ja, niemanden mehr zu töten. Sogar im Gegenteil hatte er sich mit den anderen Fürsten dafür eingesetzt, dass endlich nach jahrzehntelangem Kampf Frieden zwischen dem Kaiser und dem Papst geschlossen wurde. Seitdem war Bernhard nur noch ab und an fort gewesen, hatte höchstens bisweilen Freunde empfangen, selten ein Fest ausgerichtet und zumeist zurückgezogen auf seiner Burg gelebt. Nein, es fiel ihr niemand ein, der sich einen Vorteil von Bernhards Tod versprochen hätte.
Doch, es gab einen Menschen: Salome. Bernhards frühere Gattin. Rache, sie könnte sich rächen wollen.
So als schaute Alice in einen magischen Spiegel, stand Salome mit einem Mal vor ihr: Salomes schlanke, hoheitliche Gestalt, ihr bleiches, schönes, ebenmäßiges Gesicht, ihr langes schwarzes Haar. Sie, Salome, war die Mörderin. Es wäre nicht das erste Mal. Schon vor Jahren hatte sie Alice vergiften wollen. Damals, als Bernhard sterbenskrank darniedergelegen war, sie ihn gesund gepflegt und aus Köln zurückgekommen war, da hatte ihr Salome das vergiftete, kostbare, mit Edelsteinen besetzte Evangeliar als Danksagung geschenkt. Was für ein Dank! Ein Todesdank! Sie aber hatte Scheu, das goldene Schloss zu öffnen und das Buch aufzuschlagen. Bis eines Tages der Abt sie aufsuchte, misstrauisch war, seine Hände mit Lappen umwickelte und die Seiten genau betrachtete: ›Eisenhut‹, stellte er fest. ›Die giftigste Pflanze, die wir kennen. Das Gift wäre sofort in den Körper eingedrungen, nur durch Berührung der Hände. Es gibt kein Gegenmittel. Wer einen Menschen damit töten möchte, will, dass der andere bis zum letzten Atemzug bei vollem Bewusstsein unsagbare Qualen erleidet.‹
Damit sich niemand vergiften konnte, hatte der Abt den Schlüssel mitgenommen und sie das Buch sorgsam versteckt. Dennoch hatte Salome es zu Alices Entsetzen gefunden und sogleich versucht, Bernhard damit zu vergiften. Nur der Umstand, dass der König überraschend auf der Burg erschienen war und seinen Kummer über seine Feindschaft mit dem König von England mit einem Besäufnis ersticken wollte, hatte Bernhard davor bewahrt, das Buch zu berühren. Damals war Bernhard irgendwann, als sie schon fast unterm Tisch lagen, auf den glorreichen Einfall gekommen, König Heinrich könnte die Tochter des Königs von England heiraten, und aller Zwist wäre vorbei. Gesagt, getan, Mathilde war zwar erst sieben Jahre alt, aber wen kümmerte das. Und so kam das Kind nach Deutschland, und als sie elf war, na ja, fast zwölf, wurde Hochzeit gefeiert. – Und danach, nach diesem Besäufnis, war das Evangeliar wirklich verschwunden, unauffindbar. Seitdem aber nun, das war ja auch schon viele Jahre her, so grübelte Alice, hatte Salome sich nicht mehr gerührt, hatte gewiss keinen Mordanschlag auf Bernhard verübt. Seitdem sie Äbtissin war, hörte man nur noch, dass sie ein hartes Regiment in ihrem Kloster führte. Von Bischöfen und Kardinälen und sogar dem Papst wurde sie für ihre Gottesfürchtigkeit und Strenge gerühmt. Warum also sollte Salome ausgerechnet jetzt, nach so vielen Jahren, Bernhard ermorden wollen? Was wäre der Anlass? Dass Bernhard sich der Pilgerfahrt Herzog Konrads von Staufen anschließen und nach Jerusalem pilgern wollte? Niemand wusste davon außer dem Verwalter von Bernhards Burg und dem Kaiser und der Kaiserin. Es wäre unschicklich gewesen, sie nicht einzuweihen. Schließlich sollte Luitger dem Kaiser als neuer Graf anempfohlen werden. Aber dass einer von diesen Eingeweihten Bernhard an Salome verraten hätte, das schien irgendwie ausgeschlossen.
Und wenn es nicht Salome war, sondern irgendjemand anderes? Jemand ganz andere Absichten verfolgte, an die sie gar nicht denken konnte. Von denen sie nichts wissen konnte?
Ratlos sah Alice den toten Bernhard an: ›Geliebter, ich weiß nicht, wer Euch getötet hat. Vielleicht möchtet Ihr gar nicht, dass ich in dieser unserer letzten Nacht an den Mörder denke, sondern an uns.‹
Sanft strich Alice über Bernhards dunkles Haar. Es war lebendig. Es fühlte sich an wie immer, wie sie es täglich gewohnt war. Schon damals, schon auf der langen Fahrt ins Heilige Land, hatten sie sich jeden Abend zurückgezogen, sich hingehockt und aufmerksam, andächtig mit den Händen das Haar des anderen durchstrichen und nach Nissen geschaut. All die Jahre, in denen sie zusammen waren, hatten sie immer diesen Augenblick der Ruhe gesucht. Noch gestern Abend hatten sie so zusammengesessen. Aber so wie damals, so wie während der langen Jahre der Pilgerfahrt, war es niemals wieder geworden. Niemals konnten sie wieder diese Andacht finden, seitdem Hanno getötet worden war. Bernhard hatte es sich niemals verziehen, dass er, der als Sieger aus unzähligen Kämpfen hervorgegangen war, seinen eigenen Sohn nicht retten konnte.
»Aber Ihr wart nicht schuld«, sprach Alice in die Stille zu dem geliebten Mann. »Hanno wäre uns bei der Belagerung von Jerusalem am Fieber gestorben, wir mussten ihn nach Bethlehem bringen, wo es Wasser und Kühle gab. Bernhard, Ihr konntet gegen die Übermacht der ägyptischen Elitetruppe nicht an, die uns auf dem Weg überfallen hat. Ihr kämpftet mit Hanno im Arm. Sie haben Euch unseren Hanno entrissen.«
Unwillkürlich strich Alice über das Tuch und fühlte darunter Bernhards zum Beten gefaltete Hände.
»Bernhard, auch wenn Ihr nie darüber gesprochen habt, so weiß ich, Ihr habt es niemals vergessen, wie sie unseren weinenden, unseren schreienden Sohn auf den Felsen gedrückt haben und ihm das Köpfchen abgeschlagen wurde. Da habt Ihr unseren toten Hanno den weiten staubigen Wüstenweg zurück ins Lager getragen und wir haben unseren Sohn vor Jerusalem begraben. Diesen Gram, diesen Kummer habt Ihr nie verwunden, habt diese Bürde all die Jahre mit Euch getragen. Tief unter Eurer Haut waren die Schuld und das Leiden verborgen.«
Wieder flossen die Tränen. Alice wischte sie sich mit ihrem Handrücken ab. Sie schluchzte laut, nahm sich zusammen und richtete sich auf.
»Doch sonderbar, wenn ich Euch betrachte, seid Ihr gnadenvoll gestorben. Wie kann das sein?«
Es klopfte laut an der Kirchentür. Alice schreckte auf. »Mutter, hört Ihr mich nicht? Ich habe mit Euch zu reden.«
»Ich habe Euch nicht erwartet.«
»Der Kaiser hat mir heute Nacht Graf Bernhards Lehen zugesagt. Die feierliche Lehnsübergabe erfolgt am Tage nach seiner Beisetzung.«
Luitger schwieg, als erhoffe er sich von seiner Mutter einen Glückwunsch. Als Alice nichts erwiderte, sondern ihn finster, feindselig ansah, brachte das ihn kurz aus der Fassung. Er trat von einem Bein auf das andere und fuhr sich durch sein rotes Haar.
»Freut Ihr Euch nicht mit mir?«
»Bedenkt Eure Worte. Solltet Ihr nicht zuerst ein Gebet sprechen?«
»Natürlich.«
Luitger kniete vor der Bahre und sprach ein Vaterunser, nahm seinen Rosenkranz heraus und betete leise, hielt es jedoch nicht lange aus und erhob sich.
»Noch etwas. Hat mein Schwäher jemals Anordnungen für seinen Tod getroffen?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Graf Bernhard hat nicht erwartet, jetzt aus dem Leben zu scheiden. So wünsche ich, Graf Bernhard möge an der Mauer des Klosters Lichtenfels seinen letzten Ruheplatz finden. Der Abt liest die Totenmesse. Darum bittet Ihr ihn.«
Luitger nickte. »Der Abt soll also die Totenmesse lesen? Nicht unser Kaplan?«
»Beunruhigt Euch das?«
»Nein, selbstverständlich nicht.«
»Gibt es sonst noch etwas? Ihr wirkt unruhig, bedrückt«, bemerkte Alice.
»Der Kaiser hat mir nicht das Lehen meines Vaters Graf Udalrich Vielreichs versprochen«, platzte es aus Luitger heraus. »Dabei hat des Kaisers eigener Vater Kaiser Heinrich IV. mich als Sohn Graf Udalrichs legitimiert, damit ich Erbe bin.«
»Ihr solltet dankbar sein, das Lehen Graf Bernhards zu erhalten. Es ist ein gutes Land. Aber Ihr lasst den Kopf hängen und schaut betreten nach unten.«
»Mutter, das Lehen Graf Udalrichs steht mir zu. Aber ich werde es schon irgendwie bekommen.«
»Wie meint Ihr das? Nur der Kaiser kann das Lehen vergeben. Seht mich an. Ihr versündigt Euch hoffentlich nicht.«
»Was redet Ihr. Weibergeschwätz. Wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen. Ich gehe.«
»Luitger, ein Wort noch. Es hat mich verletzt, dass Ihr mich öffentlich als Kebse herabgewürdigt habt. Ihr wisst genau, ich bin niemals und zu keinem Zeitpunkt die Kebse Graf Bernhards gewesen.«
»Ihr seid von niederem Stand. Also, was soll es. Äh.« Luitger kratzte sich am Kopf.
»Genug. Bevor ich gehe, verlasst Ihr dieses Gotteshaus, und zwar auf der Stelle.«
Alice beobachtete, wie Luitger aus der Kapelle schlich. Bei der Türe drehte er sich zu Alice um und sagte: »Ich dachte, Ihr würdet mich beglückwünschen und segnen.«
»Was soll ich dazu sagen? Segnen kann Gott allein.«
»Ist schon gut. Ist auch nicht wichtig.« Damit war Luitger verschwunden.
Sie wandte sich wieder Bernhard zu.
Durch das runde Fensterloch schien ein rötlicher Schein auf sein Gesicht. Alice strich zärtlich über sein Haar, holte ihr Messer hervor, schnitt eine Locke ab und versteckte sie in ihrem Beutel am Gürtel. Dann küsste sie den Geliebten auf den Mund und ging aus der Kapelle.
Draußen auf dem düsteren Hof musste Alice blinzeln, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können. Die Burgmauer, die Stallungen, der Palas wirkten wie schwarze Schatten. Keiner war auf dem Hof. Niemand war zu sehen. Nur zwei Katzen huschten lautlos an Alice vorbei. Und doch fühlte Alice die Augen aller auf sich gerichtet. Hinter jeder Ritze, jedem Loch, jedem Fenster stand jemand und spähte hinaus, um diesen Augenblick nicht zu verpassen, in dem Vrouwe Alice die Burg verließ. Manche Magd, mancher Knecht mochte dabei traurig sein, vielleicht mit dem Handrücken sich die Tränen abwischen. Eine jedoch triumphierte. Alice sah zum Palas hinauf und sie fröstelte. Dort hinter einem Fenster stand Giselinde. Alice fühlte ihre Blicke wie Pfeile auf sich gerichtet. Sie war die neue Herrin der Burg. Wie sie ihren Sieg genoss! Alice konnte ihre Genugtuung auf der Haut spüren. Endlich war sie Alice los. Endlich hatte sie unter den Augen des Kaisers ihre Gegenspielerin vertrieben. War Giselinde die Mörderin? Hatte Giselinde den Täter beauftragt? Oder hatte sie Luitger gegen Bernhard aufgehetzt, sodass dieser Hand an seinen Schwäher legen ließ? Schon gestern war ihr Giselinde heuchlerisch und verlogen vorgekommen, als sie mit sorgenvoller Stimme seufzte: ›Mein Vater, der Graf, ist noch nicht zurück. Diese lästige Angewohnheit, niemals sagt er, wohin er geht und wann er wiederkommt.‹ Worauf sie Giselinde zurechtgewiesen hatte: ›Eine solche Äußerung ziemt Euch nicht.‹ Milder hatte sie hinzugesetzt: ›Wir wissen alle, wohin Euer Vater gegangen ist.‹ Das war es, alle wussten es, auch der Mörder, der Bernhard am Flussufer aufgelauert hatte. Alice wandte sich ganz dem Palas zu und schaute zum oberen Fenster hinauf und erwiderte Giselindes Blick, soweit die Dunkelheit dies überhaupt gestattete, drehte sich um und ging.
Traurig und mutlos war sie. Die Beine wurden ihr schwer. Sie musste sich zusammennehmen, um gerade zu gehen. Haltung bewahren, forderte sie sich auf. Alice drehte sich nicht noch einmal um, fühlte unter der weichen Ledersohle jeden Stein und hielt die Augen starr nach vorne auf den Burgturm gerichtet. Da noch durch – und dann, was dann?
»Vrouwe Alice, Vrouwe Alice«, rief jemand hinter ihr her. »Vrouwe Alice, so wartet. Ich bringe Euch Euer Pferd. Der junge Graf hat es befohlen. Auch ein Packpferd dürft Ihr mitnehmen. Hä … also … hä … aber … Ihr dürft nicht, also, Ihr dürft nicht … äh.«
»Was darf ich nicht, Karl?«
»Aufsitzen. Ihr dürft nicht wie eine Herrin hier aufsitzen. Entschuldigung. Entschuldigung. Ihr wart immer gut zu mir. Gnade.«
»Ist gut, Karl. Du tust nur das, was dir befohlen wurde.«
Noch eine Demütigung, dachte Alice und führte die Pferde über die Zugbrücke.
Erschreckt fuhr Alice zusammen. Das Fallgitter hinter ihr war rasselnd auf den Steinen aufgeschlagen. Ihr blieb die Luft weg: Sie haben mich ausgeschlossen!
Langsam drehte sich Alice um. Das Fallgitter hatte sich nicht bewegt! Niemand hatte es heruntergelassen. Nichts als Einbildung, nichts als ein Gaukelbild.
»Ich fiebere. Nein, reiß dich zusammen. Schau dich um. Was ist wirklich?«
In der Ferne im Osten – Passau. Sie konnte es nicht sehen, nur den Himmel und den Wald in einem zarten rötlichen Licht. Im Westen noch in Dunkelheit gehüllt die Ebene, Plattlingen, und von der Burg fortführend der Weg, der bis zur Donau reichte. Den musste sie entlanggehen. Schritt für Schritt. Nur gab es kein Ziel. Alice stolperte, fing sich auf.
Es gibt kein Ziel, wiederholte sie entsetzt ihren Gedanken. Bisher hatte sie, wenn sie diesen Weg hinuntergeritten war, immer gewusst, wohin sie gehen und was sie dort tun wollte. Meist hatte sie Bernhards Bauern aufgesucht, hatte bei Geburten geholfen, Kranke besucht, in den letzten beiden Hungerwintern Brot und heiße Suppen gebracht, und nicht nur das, sie hatte angeordnet, wann gesät und wann geerntet wurde. Immer war sie gewiss, wenn sie allein unterwegs war, dass sie abends zur Burg zurückkehren würde. Bisweilen war sie mit Bernhard nach Passau geritten, um Einkäufe zu tätigen, Bestellungen aufzugeben und sich ein paar angenehme Tage zu machen. Einmal hatten sie sich sogar zusammen auf den weiten Weg nach Speyer begeben. Das war kurz nach der Scheidung von Salome, und sie erinnerte sich, wie befreit, wie glücklich sie dort waren. Es war anlässlich der ehrenvollen Beisetzung Kaiser Heinrichs IV. Nach Jahren der Exkommunikation war er endlich in seinem Königsgrab im Speyrer Dom bestattet worden. Ein großes Fest hatte es gegeben, wie noch niemals jemand eines erlebt hatte. Ganz Speyer feierte. Und wenn sie auch von den offiziellen Feierlichkeiten und Gottesdiensten ausgeschlossen war, die Bernhard ohnehin langweilten, so konnte sie währenddessen bummeln gehen und abends mit Bernhard in den Straßen und auf den Plätzen tanzen und nachts in seinem Zelt schlafen. Das war wohl die glücklichste und unbeschwerteste Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Diese wenigen Tage in Speyer. Schon auf dem Rückweg wurde es schwierig. Bernhard fühlte, dass sie irgendein Geheimnis vor ihm verbarg: ›Irgendetwas verheimlicht Ihr vor mir‹, hatte er zu ihrem Erschrecken gesagt. Um es herauszulocken, hatte er vorgeschlagen, jeder solle etwas preisgeben, was er noch nie jemandem anvertraut hatte. Bernhard fing an. Er erzählte von einer Magd, die er während des letzten Hoftages Kaiser Heinrichs IV. in Regensburg gerne gemocht hatte. Wenn sie einen Sohn bekommen hätte, so hätte er ihn legitimieren lassen, was auch immer Salome dagegen einzuwenden gehabt hätte. Er habe die Magd gefragt, ob sie denn nicht schwanger sei, aber nun ja, es war eben nichts. ›Zu deiner Beruhigung‹, hatte Bernhard noch hinzugefügt, ›diese Liebelei war, bevor wir wieder zusammengekommen sind.‹ Höflicherweise hatte er nicht gesagt: ›Es war die Zeit, als du die Konkubine Graf Udalrich Vielreichs warst.‹
Was geht mir da durch den Kopf? Was geht mich Udalrich Vielreich an. Wie lange ist das überhaupt schon her. 20 Jahre. Genau 20 Jahre, ja anno 1104 war es.
Denk nicht an so was. Bernhard ist tot. Er ist tot!
Verzweiflung packte Alice. Die Zukunft war eine schwarze Wand. Sie konnte nichts sehen, was sich dahinter verbarg. Sie konnte sich nichts vorstellen. Sie wusste nicht, was sie wollte, wohin sie wollte. Dort unten am Ufer gabelte sich der Weg und sie müsste sich zu irgendetwas entscheiden.
Da sah Alice einen jungen Mann festen Schrittes den Berg hinaufgehen. Er trug eine braune kurze Tunika, eine braune Hose und war barfuß.
Bernhard!
Bernhard! Alice hielt sich die Hand vor Augen. Es musste eine Sinnestäuschung sein.
Bernhard, die gleiche starke, dabei feingliedrige Gestalt, das dunkle wellige Haar, die blauen Augen, sein Gesicht! Bernhard, jung, wie sie ihn vor Jahren im Hof ihres Vaters zum ersten Mal gesehen hatte.
Vor Überraschung, von einer inneren Stimme bewegt, stieg Alice vom Pferd und führte es am Zügel.
»Grüß Gott!«, sagte der junge Mann freundlich.
»Wohin des Wegs?«, fragte Alice, obgleich sie es ahnte.
»Wahrscheinlich bin ich zu früh. Ich möchte zu Graf Bernhard von Baerheim.«
Ihr seid zu spät, dachte Alice.
»Was wollt Ihr von Graf Bernhard?«
»Das kann ich nur ihm selbst sagen. Der Graf ist doch wohl auf seiner Burg?«
»Graf Bernhard ist da. Aber sprechen könnt Ihr ihn nicht.«
»Ich muss es aber. Es geht nicht anders. Seit Jahren warte ich auf diesen Tag. Bitte, könnt Ihr mir helfen?«
»Ich könnte Euch helfen. Ich bin Vrouwe Alice. Ich bin für viele Jahre Graf Bernhard zur Hand gegangen, habe die Geschicke in seiner Grafschaft gelenkt und mich um seine Leute gekümmert. Aber sagt, wie heißt Ihr?«
»Wolfhardt. Ich bin Wolfhardt aus Regensburg.«
Die Magd, ging es Alice durch den Sinn. Die Magd, von der Bernhard ihr erzählt hatte. Dann wäre dieser Wolfhardt Bernhards Sohn.
Wie es ihm sagen, dass Bernhard tot war.
Hoffnungsvoll und bittend schaute der junge Mann sie an.
»Graf Bernhard würde Euch sicher gerne empfangen. Aber es geht nicht. Bleibt ruhig stehen.«
»Was ist?«
»Graf Bernhard ist tot.«
»NEIN!«
Alice sah, wie Wolfhardt vor ihr zusammensackte, sich am Sattel festhielt, sie mit schmerzverzerrtem Kindergesicht fassungslos anstarrte.
»Nein, das kann nicht sein. Ich habe ihn gestern noch gesehen. Graf Bernhard war vollkommen gesund. Er war kein bisschen krank.«
»Wo habt Ihr ihn gesehen?«
»Dort an der Donau. Ich wollte gestern schon Graf Bernhard aufsuchen. Es war Nachmittag. Da wollte ich gerade hinauf zur Burg gehen, da habe ich gesehen, wie Graf Bernhard den Weg hier hinuntergeritten ist. Dann bei der Donau ist er abgesessen und hat sein Pferd durch den Auenwald geführt.«
»Kommt, zeigt mir den Weg.«
Wolfhardt ging voran. Alice folgte ihm mit den Pferden. Am mäandernden Fluss bahnten sie sich ihren Weg an dichtem Weidengestrüpp entlang, wateten durch Wasserlachen, bis sie zu einem von Erlen umstandenen, mit Flattergras bedeckten Platz kamen. Dort unter der Silberweide hatte Bernhards roter Umhang mit der silbernen Spange gelegen.
Wolfhardt blieb stehen. »Hier war es. Genau hier habe ich Graf Bernhard gesehen.«
»Graf Bernhard Euch auch?«
»Ich war ihm in weitem Abstand gefolgt. Meist außer Sichtweite. Ich habe mich dahinten hinter der Grauesche versteckt. Graf Bernhard schien auch in Gedanken zu sein. Jedenfalls hat er sich nicht nach mir umgeschaut.«
»Erzählt weiter.«
Wolfhardt stockte, wurde sichtlich verlegen und starrte nach unten.
»Es war nun so. Also, es war so, dass sich Graf Bernhard entkleidete. Ich meine, ganz entkleidete. Da schämte ich mich. Und es war unschicklich, ihn zu beobachten, und noch unschicklicher, ihn anzusprechen. Da habe ich mich leise fortgeschlichen und mir vorgenommen, am nächsten Tag auf die Burg zu gehen. Ich habe sehr gehofft, dass er mich empfangen werde. Sicher war ich mir nicht, denn ich hatte schon bemerkt, dass die Kaiserin und der Kaiser zu Gast waren. Aber ich dachte und hoffte, wenn er mich nur einen Augenblick sieht, dann wird er mich nicht fortschicken.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Alice und dachte, Wolfhardt ist wohl wirklich Bernhards Sohn.
»Ist Euch hier am Ufer etwas aufgefallen? Habt Ihr noch irgendjemanden gesehen?«
»Nein. Warum fragt Ihr? Ich habe niemanden bemerkt.«
»Es war jemand da, der keinerlei Scham hatte. Graf Bernhard ist ermordet worden.«
»Mutter Maria.«
Der junge, kräftige Mann kauerte sich auf den Boden und krallte seine Hände in die Gräser. Alice sah es mit Besorgnis.
Mit einem Mal stand er auf, ballte seine rechte Faust und stieß sie in die Luft, als wollte er dem Himmel schwören:
»Ich werde sie töten!«
Erstaunt blickte Alice ihn an. Wen? Ist mit »sie« eine Frau oder sind mehrere Personen gemeint? Wen kann er im Sinn haben? Er konnte von Bernhard doch gar nichts wissen. Schon gar nicht, wer ihn ermorden könnte.
»Ich werde sie töten, so wahr ich hier stehe.«
Finster blickte er drein, böse – und traurig. Er hatte ein Jungengesicht. Ein Kindergesicht.
»Wir können hier nicht bleiben«, sagte Alice sanft.
»Wart Ihr es? Habt Ihr Graf Bernhard gefunden?«
Alice nickte.
»Zeigt mir die Stelle.«
Sie banden die Pferde an einer Erle fest und gingen zum Wasser.
Schweigend kämpften sie sich durch Schlingpflanzen. Alice blieb an der Stelle im Schilf stehen. Eine Schleifspur zum Ufer war noch zu erkennen.
»Hat Graf Bernhard sehr gelitten?«, fragte Wolfhardt und sah dabei auf den Abdruck, den Bernhards Körper im Sand hinterlassen hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Alice und zuckte die Achseln. »Graf Bernhard wurde von Pfeilen durchbohrt. Im Tode, als ich ihn hier fand, lächelte er.«
»Darf ich den Sand berühren, auf dem Graf Bernhard gelegen hat?«
»Lasst uns gehen, Wolfhardt. Es ist nicht ratsam, hier länger zu verweilen. Folgt mir, wir gehen zum Abt.«
Als Wolfhardt regungslos verharrte, umfasste sie sanft seine Schulter und sagte leise: »Kommt. Wir holen die Pferde und gehen zum Abt.«
Er ist wie ein williges, trauriges, verlorenes Kind, dachte Alice, als sie sich umblickte und sah, wie Wolfhardt hinter den Pferden durch den Auenwald hertrottete.
Beim Burgweg angekommen, drückte sie ihm die Zügel in die Hand.
»Wir gehen jetzt ein Stückchen die Straße Richtung Passau, überqueren dann die Donau mit dem Floß und gehen zum Abt. Ja? Einverstanden?«
»Zu welchem Abt?«
»Zu Abt Johannes vom Kloster Lichtenfels. Der Abt ist mein Oheim.«
»Oh!«, rief Wolfhardt und sah verlegen zu Boden.
Alice schaute ihn verwundert an: »Ja, was ist denn?«
»Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf«, druckste Wolfhardt, »ich kenne den Abt natürlich gar nicht richtig. Ich habe ihn nur einmal beim Bischof von Regensburg gesehen. Beim dem war ich Knecht. Aber Ihr seht so anders aus. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der Abt Euer Oheim ist.«
Das kann ich mir auch immer noch nicht vorstellen, dachte Alice.
»Was ist daran so schwierig?«
»Vrouwe Alice, Ihr wirkt so licht. Ihr seid ja obendrein blond. Ihr wirkt so, entschuldigt, so als würdet Ihr überall anpacken, also so mitten im tätigen Leben. Der Abt aber, seine dunkle Herrschergestalt, sein durchdringender Blick lassen ihn unnahbar erscheinen. Er wirkt so vornehm, dazu ein bisschen unheimlich. Versteht mich recht, entschuldigt. Ich meine das nicht nur im Vergleich zu Euch, sondern zu den vielen Bischöfen und sogar Erzbischöfen, die Bischof Hartwich aufgesucht haben. Die herrschen, weil sie ein Amt haben, weil sie Kriegsknechte haben und die Macht haben, Burgen zu zerstören und Gegner zu exkommunizieren. Der Abt aber ist ein Herrscher, weil er ein Herrscher von sich aus ist, auch ohne Amt. Sogar wenn er Bettler wäre.«
»Da habt Ihr Euch viele Gedanken über den Abt gemacht. Gibt es noch etwas?«
»Man erzählt sich Sonderbares über ihn. Unheimliches. Es heißt von ihm, er könne wirkungsvoll segnen, er könne aber auch wirkungsvoll verfluchen.«
Alice schmunzelte. »Geht das Gerücht immer noch herum? Graf Bernhard hat es vor Jahren in die Welt gesetzt, der Abt könne wirkungsvoll verfluchen. Graf Bernhard behauptete, und hat mir damals richtig Angst damit gemacht, der Abt, der damals noch Daniel hieß, habe über dem Brautbett meiner Eltern einen Fluch ausgestoßen. Und genau ein Jahr später war meine Mutter tot, ermordet. Es war aber kein Fluch, sondern seine Worte haben sich zum Guten gewendet. Getötet wurde meine Mutter von unserer Magd, die die Buhlerin meines Vaters sein wollte« – und es war, dachte Alice für sich.
Wolfhardt zuckte die Achseln, überzeugt war er nicht.
»Der Abt hat wirklich etwas Geheimnisvolles an sich«, fuhr Alice fort. »Nachdem meine Mutter die Steintreppe in unserem Haus herabgestürzt ist und tot am Boden lag, da ist der Abt, er war natürlich noch nicht Abt, sondern meines Vaters Bruder und erst 17 Jahre alt, ins Kloster gegangen und wollte Mönch werden. Man verweigerte ihm anfangs die Aufnahme, weil er nicht adelig war. Er aber stand sieben Tage barfuß Tag und Nacht draußen vorm Kloster im Schnee. Da er ein großes Vermögen einbrachte und fest entschlossen war, bewogen seine Beharrlichkeit und seine Unbeugsamkeit den Konvent, ihn als Novizen anzunehmen. Nach kurzer Zeit bereute der Konvent jedoch den Entschluss, wollte ihn loswerden. Deshalb schickten die Mönche ihn zu den Leprakranken in der Erwartung, er werde sich anstecken und sterben. Er wurde aber nicht krank, im Gegenteil. Eines Tages träumte ein adeliger Leprakranker, er werde gesund, wenn der Abt, also er war natürlich noch nicht Abt, den Sud aus Eiter und Blut in der Klosterkirche trinken würde. Vor den Augen aller Mönche geschah das Wunder.«
»Hm, also verzeiht, wenn ich zu bedenken gebe: Es ist immer ungewiss, ob die Kräfte vom Teufel oder von Gott kommen.«
»Es ist nicht zu fassen. Genauso hat Graf Bernhard gesprochen.« Und für sich dachte sie: Er ist wahrhaft Bernhards Sohn.
»Und – ja, darf ich fragen: Zu welchem Ergebnis ist Graf Bernhard gekommen? Ich wüsste es gerne.«
»Der Abt war Graf Bernhard in den letzten Jahren, also am Ende seines Lebens, sehr nahe. Wir haben übrigens bald das Kloster erreicht. Nur noch dieses kleine Waldstückchen und dann an den Wiesen entlang den Hügel hinauf.«
Das scheint Wolfhardt nicht ganz recht zu sein, dachte Alice. Er hat wieder sein Kindergesicht und sieht ängstlich aus. Er fürchtet wohl, mit seinen Vermutungen Unheil heraufbeschworen zu haben.
Schweigend ging Wolfhardt neben Alice her.
»Wolfhardt, wir suchen den Abt auf, damit Ihr wieder Zuversicht gewinnt.«
Wolfhardt nickte.
»Wir sind da«, erklärte Alice, ging geradewegs auf das steinerne Pförtnerhaus zu und klopfte an der Luke.
Zögernd stellte sich Wolfhardt neben sie. Der ältere Mönch, der aus gütigen Augen herausschaute, wirkte allerdings beruhigend auf ihn.
»Gelobt sei Jesus Christus«, begrüßte der Mönch die beiden Ankommenden.
»In Ewigkeit. Amen«, respondierten sie.
»Vrouwe Alice, es ist schön, dass Ihr uns einmal wieder besucht. Was führt Euch zu uns?«
»Bruder Matthäus, habt Dank für den Willkommensgruß. Ich möchte Abt Johannes sprechen.«
»Und wen darf ich außer Euch melden?«, fragte der Pförtner und blickte dabei Wolfhardt freundlich, aber nicht ohne Neugierde an.
»Ich bin Wolfhardt aus Regensburg.«
Bruder Matthäus nickte und wandte sich an einen jungen Mönch, der nun aus dem Hintergrund trat. »Bruder Leo. Melde Abt Johannes, Vrouwe Alice und Wolfhardt aus Regensburg.«
Der junge Mönch eilte davon und kam nach kurzer Zeit zurück.
»Abt Johannes empfängt Euch in seiner Abtwohnung. Folgt mir bitte«, forderte er sie auf und führte sie an den Stallungen vorbei in das Kloster hinein.
Schweigend ging er voran.
Obgleich sich Wolfhardt immer noch unsicher fühlte, betrachtete er mit wachen Augen die beiden hohen Türme der Klosterkirche, wobei er auch einen Blick auf das Backhaus, die Brauerei, das zweistöckige Gästehaus und die Schule warf. Aus dem geöffneten Fenster hörte er zwei Jungen einen lateinischen Text deklamieren, er horchte genauer hin und erkannte, dass es ein Dialog aus Ciceros De Amicitia war. Es blieb jedoch keine Zeit, sich über dieses Wiedererkennen zu freuen, denn sein Blick wurde von der gewaltigen Klosterkirche gefangengenommen, hinter der sich der innere und für ihn unzugängliche Bezirk des Klosters mit dem Refektorium, dem Kreuzgang und Kapitelsaal, den Dormenten, der Schreibstube und der Bibliothek befand. Es war ein verborgenes Leben, das die Mönche hinter diesen hohen Mauern führten, und wie schon früher erfüllte ihn die Vorstellung, hier ein Leben lang eingeschlossen zu sein, mit Beklemmung. Es wäre nichts für ihn, er wollte die Freiheit. Der Abt aber hatte diesen Weg gewählt, um der Welt zu entfliehen.
»Seht, Robert erwartet uns«, wurde er von Alice aus seinen Gedanken gerissen. Freudig eilte Alice auf einen alten, verkrüppelten Mann zu, der ihnen aus dem Abthaus krumm, auf einen Stock gestützt, entgegenwankte.
»Hier verabschiede ich mich von Euch, Vrouwe Alice«, sprach der junge Mönch und neigte andeutend sein mit einer Kapuze bedecktes Haupt.
»Habt Dank, dass Ihr uns hierhergeführt habt«, entgegnete Alice, wobei ihr keineswegs entgangen war, dass der Mönch Wolfhardt nicht beachtet hatte.
Umso höflicher wurden sie von Robert begrüßt, der sie unter Verbeugungen in die Abtwohnung bat.
»Tretet ein, ich werde Abt Johannes sogleich Bescheid geben.«
Damit humpelte Robert mühsam aus dem Raum, schloss hinter sich die schwere Eichentür und ließ Alice und Wolfhardt in der reich mit biblischen Szenen bebilderten Abtwohnung allein.
»Was ist mit ihm?«, fragte Wolfhardt.
»Lasst mich erst beten, ich habe viel Unglück erlebt«, erwiderte Alice und kniete vor dem Kreuz nieder. Sie sah sich selbst, wie sie vor Jahren, als sie verarmt und geschmäht aus Jerusalem nach Passau kam, hier gekniet und um Hanno getrauert und geklagt hatte. Jetzt war sie wieder arm und geschmäht, verjagt war sie, und sie trauerte und klagte um Bernhard. Wie ehedem sprach sie einen Klagepsalm, und wie damals konnte sie den jubelnden Schluss nicht sprechen.
Alice erhob sich und mit ihr Wolfhardt, der sich ihr aus Höflichkeit und dann aus Trauer angeschlossen hatte.
»Um auf Eure Frage zurückzukommen. Robert ist auf das Rad geflochten worden, ihm sind Arme und Beine gebrochen worden. In der Nacht hat ihn die Heilige Mutter Maria aus Gnade vom Rad genommen, der Abt hat ihn am frühen Morgen gefunden und hier im Kloster gesund pflegen lassen, soweit dies noch möglich war. Seitdem ist Robert der Diener des Abtes.«
»Warum wurde Robert aufs Rad geflochten? Was hat er denn getan?«
»Er war ein Räuber, der für Geld auch Menschen tötete. Robert hat versucht, den Abt hier in der Klosterkirche zu ermorden. Übrigens nicht er allein. Die anderen Mordgesellen wurden gehenkt. Robert aber wollte den grausameren Tod – und lebt immer noch.«
»Gelobt sei Jesus Christus«, hörten sie hinter sich die Stimme des Abtes, der unbemerkt eingetreten war.
»In Ewigkeit. Amen«, antworteten Alice und Wolfhardt verlegen.
»Meine Nifele Alice, Wolfhardt, bitte nehmt Platz«, sagte der Abt und wies mit einer einladenden Handbewegung auf die Stühle, die um einen glänzenden Nussbaumtisch gruppiert waren.
»Was führt Euch zu mir?«, fragte er und schaute dabei Alice und Wolfhardt ermunternd an.
»Ich bringe schlechte Nachricht. Graf Bernhard ist tot, ist ermordet worden«, antwortete Alice ohne Umschweife, während ihr gleichzeitig bewusst wurde, dass sie keine Vorstellung hatte, wie der Abt ihr und Wolfhardt helfen könnte.
»Ich weiß, Graf Luitger schickte einen Boten, um mir die Nachricht zu überbringen. Er ist gerade davongeritten. Der Bote richtete mir auch aus, Graf Luitger bäte mich, die Totenmesse für Graf Bernhard zu lesen.«
Es ist mein Wunsch gewesen, nicht Luitgers, dachte Alice erbost und tadelte sich zugleich, kleinlich und engherzig und rechthaberisch zu sein.
»Heute Morgen wären wir nach Jerusalem aufgebrochen und hätten uns dem Pilgerzug Herzog Konrads angeschlossen«, begann sie. »Stellt Euch vor, hätte der Mörder nur einen Tag später seine grausame Tat verüben wollen, Graf Bernhard wäre noch am Leben! Nur einen Tag später! Warum lässt Gott das zu? Jerusalem war unser Ziel, die heiligste aller Städte. Dort beabsichtigten wir sogar zu bleiben – und nie wieder nach Passau und zu Graf Bernhards Burg zurückzukehren. Das ist ein frommer Lebensweg, der hätte doch Gnade vor Gott finden müssen. Sagt mir«, klagte Alice und sah dabei den Abt an: »Warum hat Gott nicht verhindert, dass Graf Bernhard ermordet wird? Nur einen Tag, nur einen Tag«, schluchzte sie.
»Wie kann ich Euch darauf eine Antwort geben? Ich kann Euch nur sagen, dass Graf Bernhard mich gestern Morgen aufgesucht hat, damit ich ihm den Reisesegen spende.«
Ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht und war sofort wieder verschwunden. Alice aber sah es trotz der Tränen in ihren Augen und wunderte sich. Wieso lächelt der Abt? Bernhard hat die Reise in den Tod angetreten und der Abt lächelt?
»Graf Bernhard erzählte mir, dass er Euch im Heiligen Land heiraten werde«, fuhr der Abt fort und reichte Alice ein Schnupftuch.
Alice nickte stumm und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Er sagte mir, dass dort im Königreich Jerusalem das Unmögliche möglich sei, dass ein Adeliger, ein Graf, eine Nichtadelige heirate. Kaum eine adelige Pilgerin sei nach dem Kreuzzug im Heiligen Land geblieben, und so suchten die Ritter eine Frau unter den einheimischen Christinnen. Bisweilen verbanden sie sich auch mit Musliminnen, sofern diese konvertierten. In Jerusalem werde er Gott in der Grabeskirche danken und Euch bei Hofe einführen.«
Alice konnte die Tränen nicht zurückhalten und war erleichtert, dass Robert eintrat und unter Mühsal einen Krug mit Wein, drei grüne Trinkkelche mit goldenen Fadenauflagen und eine silberne Schale mit Brot auf den schweren Tisch stellte. Wolfhardt riss die Augen auf. Noch nie hatte er überhaupt ein Glas berührt. Und daraus dürfte er trinken?
Der Abt schenkte den Wein ein, erhob seinen Trinkkelch, sah seine Gäste an und sagte: »Willkommen, meine Nifele Alice und Ihr, Wolfhardt aus Regensburg.«
Wolfhardt schmeckte den leichten, vorzüglichen Wein und war erstaunt ob der Achtung, die der Abt ihm entgegenbrachte.
Noch in Gedanken, dass ihm, einem Knecht, diese Ehre zuteilwurde, verwirrte es ihn noch mehr, als der Abt ihn ansprach.
»Mögt Ihr, Wolfhardt, uns sagen, was Euch von Regensburg in unsere Passauer Gegend geführt hat?«
»Ich wollte zu Graf Bernhard von Baerheim. Auf dem Weg dahin habe ich Vrouwe Alice getroffen und habe erfahren, dass Graf Bernhard ermordet worden ist. Und nun weiß ich nicht, wohin.«
Verloren schaute er aus, doch plötzlich veränderte sich sein Gesicht, wurde zornig, männlich: »Nur eines weiß ich genau«, sagte Wolfhardt entschieden und seine Stimme wurde energisch. »Ich werde Graf Bernhard rächen. Ich werde sie töten.«
»Wen töten?«, fragte der Abt und hob erstaunt seine Brauen.
»Sie, die Gräfin Salome.«
Der Abt und Alice sahen sich gegenseitig an: Wie konnte Wolfhardt von Salome überhaupt wissen?
»Die Gräfin war es, sie hat meinen Vater getötet«, wiederholte Wolfhardt. »Glaubt es mir.«
»Undenkbar ist dies nicht«, erwiderte der Abt mit Bedacht. »Doch Ihr stellt uns vor zwei Fragen. Wieso haltet Ihr Graf Bernhard für Euren Vater? Und wieso beschuldigt Ihr Gräfin Salome? Sie ist heute Äbtissin eines mächtigen Klosters, und dies ist eine schwere Anklage.«
Wolfhardt schluckte und fühlte sich unbehaglich. Er warf Alice einen scheuen Blick zu: Wie war ihr Verhältnis zu Graf Bernhard – und noch viel peinlicher: Wie war es damals? Er merkte, dass ihm ganz und gar die Worte fehlten. Vor Graf Bernhard hatte er auf die Knie fallen und ihm offenbaren wollen: ›Ich bin Euer Sohn.‹ Und weiter? Immer nur dieses eine Bild hatte er sich über Jahre vorgestellt. Wie dann Graf Bernhard ihn freundlich angeblickt und gesprochen hätte: ›Steh auf, mein Sohn.‹ Mit einem Mal war ihm bewusst, auch das wäre so nicht verlaufen.
Wie aber diese fremden Menschen überzeugen, dass er die Wahrheit sprach?
Wolfhardt räusperte sich und begann in möglichst festem Tonfall:
»Vater Abt Johannes, Vrouwe Alice, Ihr entsinnt Euch möglicherweise des letzten Hoftages Kaiser Heinrichs IV. in Regensburg.«
Der Abt nickte. »Das war überhaupt der allerletzte Hoftag des Kaisers. Viele Fürsten sind damals in Regensburg erschienen. Ich allerdings war nicht anwesend«, bestätigte der Abt, und Wolfhardt wusste nicht, ob er diese Bemerkung als Zustimmung oder als Zweifel werten sollte.
Nur Mut, dachte er und setzte wieder an. »Graf Bernhard von Baerheim war einer der Fürsten. Er gastierte im Gästehaus des Kaisers. Es war das Gästehaus, in dem auch der unselige Graf Sigehard von Burghausen wohnte. Graf Sigehard war mit vielen Kriegsleuten zum Hoftag erschienen, hatte seine Leute allerdings schon Anfang Januar entlassen. Im Februar aber wurde er von seinen eigenen Ministerialen und hohen Bürgern der Stadt Regensburg ermordet. Graf Bernhard hat versucht, die Hinrichtung abzuwenden. Aber es gelang ihm lediglich, für Graf Sigehard den ehrenvollen Tod durch das Schwert zu erwirken. Das alles weiß ich von meiner Mutter, sie war Magd in der Herberge und bediente die vornehmen Gäste. Meine Mutter hieß Käthe.«
Wolfhardt sah auf, ob der Abt ihm glaubte. Alice schaute er lieber nicht an. Da er ernste Aufmerksamkeit auf dem Gesicht des Abtes entdeckte, fuhr er beruhigter fort.
»Am Abend seiner Ankunft kurz vor dem Fest der Geburt des Herrn saß Graf Bernhard mit anderen Adeligen zu Tisch, Graf Sigehard war dabei und auch Graf Berengar von Sulzbach.
Graf Bernhard bestellte ein leichtes Mahl, nur Brot, Käse und Wein. Meine Mutter bediente ihn. Er war freundlich auf eine zurückhaltende Art. Eigentlich hat er gar nichts gesagt. Meine Mutter hat Graf Bernhard vom ersten Augenblick an geliebt.«
Nur nicht die Vrouwe Alice anschauen. Die sieht aus, als hätte sie Graf Bernhard auch geliebt.
»Nun, das Nächste müsst Ihr uns nicht erzählen. Und was weiter?«, fragte der Abt nach und hielt die rechte Hand vor die linke, sodass Wolfhardt auf seinem goldenen Abtring einen Fisch, eingefasst von den Buchstaben Alpha und Omega, erkennen konnte.
»Am Ende des Hoftages, also, da, als Graf Sigehard ermordet wurde, hat Graf Bernhard meine Mutter gefragt, ob sie wohl schwanger sei. Er hat sie auf liebenswürdigere Art gefragt. Meine Mutter hat erst mit Nein geantwortet, und als sie sich gerade überwand und es ihm doch sagen wollte, da stellte Graf Bernhard fest: ›Wahrscheinlich ist es besser so.‹
Darauf ist sie verstummt. Oder nicht ganz, sie hat ihn noch gefragt, wie denn ein Junge heißen solle, wenn er einen bekäme. Graf Bernhard wollte darauf nicht antworten, weil ihm seine Gattin, die Gräfin Salome, keinen Sohn schenkt, aber zuletzt hat er geantwortet: ›Wolfhardt.‹
Angst stand Wolfhardt auf der Stirn, der junge Mann schwieg, und es war still in dem Raum. Wolfhardt umklammerte fest die Armlehne seines Stuhls, der Abt hatte sich zurückgelehnt. Alice saß kerzengerade.
»Das ist wahr«, sagte sie endlich.
Erstaunt und erleichtert blickte Wolfhardt sie an. Er hätte sie am liebsten umarmt.
Der Abt stellte ernst fest: »Wenn Vrouwe Alice Eure Rede bestätigt, so ist dies die Wahrheit.« Darauf stand er auf, hob sein Glas und sprach: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes begrüße ich Euch, Wolfhardt, Sohn des Grafen Bernhard Baerheim. Euch zum Segen.«
Laut pochte es an der Tür. Wolfhardt zuckte zusammen. Auf das »Herein« des Abtes erschien Bruder Leo, verbeugte sich und verkündete nicht ohne einen Unterton von Argwohn: »Ein Gesandter des Bischofs Hartwich von Regensburg ist da und wünscht die Ehre zu haben, Euch, Vater Abt, sprechen zu dürfen. Er sei heute Morgen schon bei der Burg Graf Bernhards gewesen und man hat ihm mitgeteilt, dass im Dorf ein junger fremder Mann gesehen wurde. Deswegen hat er sich auf den Weg gemacht, um zu erkunden, ob Ihr etwas davon wisst. Bruder Thomas erwartet Euch im Parlatorium.«
»Danke, Bruder Leo. Eile und teile Bruder Thomas mit, dass ich ihn empfangen werde.«
An Alice und Wolfhardt gewandt, sagte er: »Nifele Alice, Wolfhardt, lasst es Euch in der Zwischenzeit munden. Robert wird Euch sogleich Speisen auftragen.«
»Mutter Maria, hilf«, stieß Wolfhardt hervor, als der Abt die Tür hinter sich geschlossen hatte. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Er sah sich in der Kammer um, als suche er einen Fluchtweg oder ein Versteck. Es war ihm keineswegs recht, dass Robert unter Mühen und entsetzlicher Langsamkeit ein weißes linnenes Tischtuch ausbreitete, einen Leuchter darauf stellte, bunt bemalte Teller, Messer und Löffel, Käse und in Brotteig gebackenes Geflügel, Weintrauben und Nüsse herbeibrachte.
»Vater Abt Johannes meinte, Ihr müsstet sicher hungrig sein. Wohl bekomm’s.«
War das nun eine List, damit er nicht floh?, verdächtigte Wolfhardt den Abt. Andererseits merkte er, dass er Hunger hatte. Seit gestern hatte er nichts mehr gegessen. Wohl oder übel tat er es Alice nach, die sich von den Speisen mäßig nahm.
Schweigend aßen sie. Verstohlen beobachtete Alice den jungen Mann, dem Angst ins Gesicht geschrieben stand. Immer wieder drehte er sich nach der Tür, als erwarte er von dort das Schreckliche. Wolfhardt trank einen tüchtigen Schluck Wein, setzte sein Glas vorsichtig ab und gestand Alice:
»Ich bin dem Bischof von Regensburg entlaufen.«
Nun war endlich heraus, was Alice ohnehin schon vermutete.
»Bischof Hartwich hätte mir nie die Erlaubnis gegeben, mich zu entfernen, geschweige denn ganz fortzugehen. Ich war einer seiner Schreiber, und mit dem Schwert kann ich auch umgehen. Da hab ich gedacht, mir bleibt nur eins: Ich hau ab.«
»Ein ziemliches Wagnis«, bemerkte Alice. »Wie aber kommt es, dass Bischof Hartwich Euch ausgerechnet hier in der Gegend von Passau vermutet? Es wurde sogar auf der Burg Graf Bernhards nach Euch gesucht.«
»Ich wundere mich auch. Ich habe nie ein Wort zu irgendjemandem verlauten lassen. Aber vor Kurzem, es war letzte Woche, da hat mich Bischof Hartwich gefragt, ob ich Graf Bernhard von Baerheim kenne. Ich habe wahrheitsgemäß mit Nein geantwortet. Aber Bischof Hartwich ließ nicht locker und wollte wissen, ob ich denn schon von ihm gehört habe. Was wollte er mit dieser Frage? Wollte er mich reinlegen? Zum Glück fiel mir die Antwort ein: ›Der Ruhm des Grafen ist in aller Munde.‹
›Aha‹, war das Einzige, was Bischof Hartwich darauf erwiderte. Und er sah mich ganz merkwürdig misstrauisch an. Bloß möglichst schnell aus dem Raum, wünschte ich. ›Geh an deine Arbeit!‹, befahl er. Ich war schon bei der Tür, da hörte ich ihn hinter mir zu sich sagen: ›Diese Ähnlichkeit.‹ Vrouwe Alice, sagt, sehe ich denn Graf Bernhard von Baerheim ähnlich?«
»Sehr sogar.«
»Ich weiß nicht einmal genau, wie ich selbst aussehe. Ich habe mich noch nie in einem Spiegel gesehen: Nur manchmal, wenn ich in eine Wasserschale geblickt habe, da habe ich verschwommen ein Bild erkannt. Ich weiß, dass ich welliges schwarzes Haar habe und blaue Augen. All die Jahre habe ich gehofft, Graf Bernhard gegenüberzustehen, und nun …«
Wolfhardt, fang nur nicht an zu weinen, wünschte Alice. Behutsam fragte sie:
»Habt Ihr Graf Bernhard denn niemals gesehen?«
»Doch, ja, aber nicht so richtig. Da war ich noch ein Junge. Es war auf dem Weg zur Schlacht beim Welfesholz. Ihr wisst?«
»Es war die entscheidende Schlacht zwischen dem Kaiser und den Sachsen. Das ist schon lange her, wohl an die zehn Jahre. Graf Bernhard war dagegen, mitten im Winter Krieg zu führen, und dann noch einen Bruderkrieg.«
»Wir waren eine Gruppe von Jungen und sollten die Feinde, also die Sachsen, mit unseren Steinschleudern beschießen. Mein Kamerad Sepp kam aus Passau. Von ihm wusste ich, dass Graf Bernhard von Baerheim im Heer des Kaisers wäre. Ich habe Sepp richtig gelöchert und immer wieder gebeten, mir Graf Bernhard zu zeigen. Kurz bevor wir Welfesholz erreichten, sind die Wagen im hohen Schnee stecken geblieben und wir Jungen mussten die Kisten abladen und tragen. Da hat mich Sepp angestoßen und gesagt: ›Du, da ist er.‹ Da habe ich Graf Bernhard gesehen, wie er auf einem braunen Pferd an mir vorbeiritt. Stark, vornehm und dabei ungezwungen saß er im Sattel. Auf seinem Fuchspelz glänzten die Schneeflocken wie Perlen. Aber es war nur ein Augenblick – und schon war er im undurchdringlichen Schneegestöber verschwunden.«
Wolfhardt fasste nach seinem leeren Weinglas. Alice schenkte aus dem Krug nach.
»Und, war das Eure einzige Begegnung?«, fragte sie und war selbst versessen darauf, von Bernhard zu hören.
»Nein. Den ganzen Nachmittag vor der Schlacht habe ich mich hinter seinem Zelt versteckt und ihm aufgelauert. Endlich gegen Abend, es war schon dunkel, ist Graf Bernhard aus dem Zelt getreten, hat gestutzt, sich nach mir umgeschaut und mich mit den Worten angesprochen: ›Was willst du von mir?‹ Vrouwe Alice, bedenkt, er hat mich nicht angeherrscht, nicht gesagt: ›Schnüffel mir nicht nach! Hau ab! Scher dich zum Teufel!‹ Nein, er hat mich in geradezu überraschend freundlichem Ton gefragt: ›Was willst du von mir?‹
»Und wie geht es weiter?«
»›Nichts‹, habe ich geantwortet und bin wie besessen zwischen den Zelten davongelaufen. Ich habe es noch am selben Abend bitter bereut. Aber wie hätte ich Graf Bernhard beweisen können, dass ich sein Sohn bin. Er hätte mir wohl nicht geglaubt. Oder?«