Die Sache mit dem Ich - Marc Fischer - E-Book

Die Sache mit dem Ich E-Book

Marc Fischer

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Beschreibung

Einfach rasend gut: die Reportagen des Schriftstellers und Journalisten Marc Fischer Niemand tanzte so elegant auf der Grenze zwischen Literatur und Journalismus wie der viel zu jung gestorbene Marc Fischer. In seinen Reportagen für Tempo, den Spiegel, den Stern, Welt am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Vanity Fair und andere Publikationen zeigt er sich nicht nur als glänzender Geschichtenerzähler, als Reporter, der sich an Orte vorwagt, die andere gar nicht auf der Landkarte haben, sondern es gelingt ihm immer wieder das Kunststück, eine scheinbar alltägliche journalistische Situation in eine irrwitzig lustige, zutiefst wahre Geschichte zu verwandeln. Radikale Subjektivität gepaart mit einem zärtlichen Blick für den Gegenstand. Marc Fischer zeigt uns, dass gute Geschichten überall zu finden sind: in Tokio, Nairobi, Miami, Berlin. Bei Pop stars, Models, Politikern. Aber auch unter Freunden, in unserer Vergangenheit, in der Straße, in der wir leben, in uns.Die Veröffentlichung seiner gesammelten Reportagen hat Marc Fischer noch kurz vor seinem Tod im April 2011 vorbereitet. »Andere Schreiber besitzen einen Ton, er hatte Sound. Seine Zeilen hatten einen Soul und einen Groove, den man selten findet in deutschen Texten.« (Dirk Peitz, Süddeutsche Zeitung) »All seine Texte, egal wie kurz oder beiläufig, waren Erzählungen, denen man lauschen mochte wie einer Stimme am Lagerfeuer. Man merkte Fischers Stimme an, wie sehr er Herman Melville liebte und Joseph Roth, Handke und Murakami.« (Andreas Rosenfelder, Die Welt) »Er begriff das Schreiben als Abenteuer, als eine Reise mit oft ungewissem Ausgang, die anzutreten er den Leser trotzdem locken wollte. Inspiriert vom New Journalism eines Gay Talese stieg Fischer sehr jung Mitte der Neunzigerjahre beim Monatsmagazin ›Tempo‹ zum Star auf.« (Der Spiegel)

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Seitenzahl: 365

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Marc Fischer

Die Sache mit dem Ich

Reportagen

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Marc Fischer

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Die Sache mit Marc

Die Sache mit dem Ich

Wie ich Yes Man wurde

18 Stunden ARD

Unter Linken

Wer ist Vittorio Manalese?

Die Sache mit den Beastie Boys

Unbesiegbar mit David Lynch

Fünfzehn

Hotel Somalia

Der Postkastenmann

Der Brillenmann

Das Liz-Hurley-Gefühl

Wie aus Katja Riemann und mir mal nichts wurde

Die Sache mit den Neunzigern

Die Sache mit Michael Jackson

LSD-Wandern im Burgenland

Reise in die Kunst

Der Mann, der nicht schwitzte

Ich bin der Typ

Key Hemingway

Die Sache mit Jennifer Lopez

Die Sache mit Michael Stipe

Im Hotel

Marilyn Manson live in Tokyo

Die Sache mit den Rolling Stones

Mein schneller Freund

Spazierengehen mit T. C. Boyle

Baden mit einem Yakuza

Warum ich nie Terrorist werden wollte

O. K., Karaoke!

Die Sache mit Kate Moss

Wovon wir reden, wenn wir vom Rauchen reden

Reise in die Schwerelosigkeit

Reise ins Herz der Flasche

Seltsame Frau in der Südsee

Vorm Berghain

Alle meine Freunde sind Hunde

Die Reste der Liebe

Warum wir küssen

Wenn es Nacht wird in Berlin

Wovon wir reden, wenn wir von James Dean reden

Der Klub der blauen Dichter

Durch die Nacht mit Joseph Roth

Reise ins Ich

Nachwort von Jana Petersen

Editorische Anmerkung

Inhaltsverzeichnis

Für H. und H.

Inhaltsverzeichnis

Die Sache mit Marc

Ein Vorwort von Cordt Schnibben

Als ich 13 Jahre war, starb meine Mutter. Mein Vater erzählte uns Kindern, sie sei an Herzversagen gestorben, das war gelogen, sie starb an einem Asthma-Anfall. Ich weiß nicht mehr, ob sie Asthma hatte, weil sie so viel rauchte, oder ob sie so viel rauchte, weil sie Asthma hatte.

Ihre Beerdigung war für mich das Schlimmste an ihrem Tod. Wir fuhren in unserem Mercedes die lange Friedhofsallee hinunter, rechts und links strebten Trauergäste der Kapelle entgegen, wir durften fahren, sie drehten sich um, wenn wir an ihnen vorbeifuhren, und schauten ins Wageninnere. Ich weinte nicht, ich fühlte mich beobachtet, diese Leute schauten auf mich, als wollten sie prüfen, ob ich auch genügend trauere.

Meine Schwester schaute mich genauso an, schon seitdem ich am Todestag Fußball spielen gegangen war. Der Trauerredner, er war kein Pastor, raunte mir am Grab ins Ohr, bald seid ihr wieder zusammen. Ich verstand ihn nicht, ich weinte nicht.

Beerdigungen habe ich seither, wenn es ging, vermieden, ich weine auf jeder.

Auch bei Marcs Trauerfeier wusste ich nicht, ob ich um ihn weine oder um meine Mutter. Aber mir ist ein Satz des Pastors in Erinnerung geblieben: Männer, die Mitte vierzig sind, begehen Selbstmord, indem sie entweder ihr bisheriges Leben umbringen oder gleich sich selbst.

Mitte vierzig brachte ich mein Leben um, dieses Leben, das sich von einer Story zur nächsten rettete. Jede Story war eine Krücke, die half, den nächsten Tag, die nächste Woche zu erreichen. Wenn die Story nicht funktionierte, wenn sie sich widersetzte, stand ich im 3. Stock auf meinem Balkon und sprang hinunter, setzte mich danach neugeboren wieder an den Schreibtisch. In manchen Nächten sprang ich zehn, elf Mal.

Mit jeder Geschichte versuchte ich mir näher zu kommen, ich glaube, jeder besessene Reporter versucht das: Im Leben der Menschen, über die man schreibt, Weisheit zu finden, Menschlichkeit, Erkenntnis, Glück, Abenteuer, Trost.

Marc suchte manisch, mehr in sich, als außer sich. Er fand in sich gute Storys, aber er fand sich nicht.

Marc hat eine Sammlung von Reportagen hinterlassen, in denen er auf der Suche nach sich selbst ist, alles Ich-Reportagen, die davon leben, dass sie um ihn kreisen. »Die Sache mit dem Ich« ist eine schwierige Sache. »Ich-Reportage« ist schon mal Blödsinn. Jede Reportage – wenn sie eine ist – ist eine Ich-Reportage, sie ist ein bisschen Wirklichkeit, gespiegelt durch ein Temperament.

Genau genommen, gibt es also die Ich-ich-Reportage, da geht es um den Reporter, der über sich schreibt, beim Stierkampf, im Pool, beim Saufen.

Dann gibt es die Ich-du-Reportage, in der schreibt der Reporter über den Stierkämpfer, das Bikini-Mädchen, den Barkeeper. Und dann noch die Ich-man-Reportage, da geht es um den Stierkampf, das Baden, den Alkoholismus.

Wenn man einen Text über Marc Fischer beginnt mit dem Tod der eigenen Mutter, dann kann man daran zeigen, was das »Ich« mit einem Text macht. Der Reporter erzählt von sich, der Leser ist gerührt, beeindruckt, verwirrt, angeekelt.

Sich selbst zu ergründen und sich dabei zum Helden seiner Storys zu machen, das war Marcs Art zu leben und zu schreiben, viele Texte in diesem Buch sind sogar Ich-ich-ich-Reportagen. Bestimmt hätte er gern darüber geschrieben, wie es ist zu sterben.

Sich selbst zu entdecken und dabei die Geschichten anderer Helden zu erzählen, auch das konnte Marc: der Kubaner, der einen Straßenkreuzer wasserdicht schweißt und damit nach Florida fährt; der Deutsche, der mit Haien spielt, bis sie ihn beißen; der Mann, der nie schwitzte; der Mann, der Ernest Hemingway war; der Arsch, der Jennifer Lopez gehört.

Die Sache mit dem Ich hat spätestens seit Tom Wolfe und Hunter S. Thompson den Streit unter Reportern darüber begründet, ob die Ich-Reportage die einzig wahre oder nur die besonders narzisstische Reportage ist. Mir als Leser ist das ziemlich egal, ich will eine gute Story, und Marc als Reporter hat mich nie gelangweilt. Er konnte sich inszenieren, ausschmücken und ausziehen, er konnte sich aber auch – wenn es wichtig war – in einer Reportage unsichtbar machen, ohne sich herauszuhalten.

Ich war ein Dutzend Mal sein Commandante, so nannte er mich, weil uns Kuba verband; wenn man ihn anrief, um mit ihm eine Reportage zu besprechen, war nach fünf Sätzen klar, dass er sie mochte. Er hat nie einen Auftrag abgelehnt, selbst nicht, als ich ihn Weihnachten 2004 nach Somalia und Kenia schickte, um die letzten Zuckungen des Tsunami zu beschreiben, der sich über dem indonesischen Sundagraben gebildet hatte und zehn Stunden später an Kenias Ostküste den letzten Toten holte, einen 18-jährigen Jungen, der zum ersten Mal am Meer war.

»Mietreporter« nennt sich Marc im Buch, das war er, und in dem Wort steckt der Vorwurf, der auf seiner Beerdigung immer wieder durch meinen Kopf zog. Haben wir, seine Auftraggeber im Spiegel, Stern, Tempo, BamS, Playboy, Vanity Fair und sonstwo, versäumt, ihm mehr zu geben als einen Auftrag, ein paar Druckseiten und immer zu wenig Geld? Ist wohl so.

Was einen guten Reporter ausmacht? Er ist, erstens, da, wo noch keiner war. Er erzählt, zweitens, eine Geschichte, die wirklich eine ist. Er erzählt sie, drittens, so, wie nur er sie erzählen kann. Und er schafft es, viertens, das, was er gesehen und gedacht hat, so zu erzählen, dass Beobachtungen zu Gedanken gefrieren, die mich verfolgen. Jede Marc-Fischer-Reportage ist so, und jede ist so, dass ich sie erkennen würde,wenn sie mir ohne Autorenzeile in die Hände fiele.

Im letzten Text dieses Buches lässt Marc tief blicken in die Fischerwelt, es ist eine Safari durch seine Seele, ein letzter Blick in einen – wie ich entdecke – unbekannten Menschen, der mich – und viele andere – erst nach seinem Tod an sich heranlässt.

Es ist eine schöne Idee, sich seine eigene Seele als Kontinent vorzustellen, in dem Ernest Hemingway Stammgast ist in einer Hütte an der Küste, in dem Leonard Cohen lebt, auch Jean Seberg, Christy Turlington und Rita Hayworth herumliegen. Zwischen diesen Toten – auf seinem Kontinent, in seinem Kopf – spazierte Marc herum, redete und war glücklicher mit ihnen als mit den Lebenden um ihn herum.

Es riecht nach Zimt in diesem Egoland, und es sei ihm, so schreibt Marc, immer schwergefallen, von seiner Innenwelt in die Außenwelt zurückzukehren, mit traurigem Gesicht und so leerem Blick, dass seine Freunde ihn anstarrten, als sei er in seinem Kopf nicht mehr zu Hause.

Wenn man Marcs Buch liest, wird man neidisch auf sein Leben. Es fliegt glitzernd und glamourös vorbei, allein der so leicht beschriebene Nachmittag mit Kate Moss in einem Pariser Hotel hat gereicht, um mir die Frage zu stellen, ob ich vielleicht im falschen Leben zu Hause bin.

Am ersten freien Wochenende seit Monaten lese ich sein Buch, vorher wochenlang damit beschäftigt, tief in die Finanzwelt einzudringen, nun mit der Frage konfrontiert, ob Kate Moss nicht vielleicht besser zu mir passen würde als der Chef der Bundesfinanzdienstleistungsaufsicht.

Ich fange an, meinen Kontinent zu besiedeln, nachzudenken darüber, wen ich einreisen lassen würde, ob meine Mutter dort was zu suchen hätte. Ich weine ein wenig, diesmal mehr um Marc als um meine Mutter, ein so feiner Reporter, ein so talentierter Mensch. Er ist tot, ich lebe; mal sehen, was ich daraus mache.

 

Cordt Schnibben

Inhaltsverzeichnis

Die Sache mit dem Ich

Wie ich Yes Man wurde

Ausschlafen und ein vernünftiges Frühstück – zwei der Dinge, die du vergessen kannst, wenn du Polit-Aktivist werden willst. Bisschen Zeit mitbringen kommt auch gut, Aktivisten sind nicht immer pünktlich. Aber wer bin ich, mich zu beschweren? Che Guevara rannte mit Asthma und Malaria durch den Dschungel, bevor er das geknechtete kubanische Volk befreite.

Es ist vier Uhr morgens, sehr dunkel noch, ich stehe am Columbus Circle in New York, Ecke Broadway und 60. Straße, und warte auf die anderen. Das Problem: Weder weiß ich, wer die anderen sind, noch was wir vorhaben. Aufstand, Umsturz, Revolution? In der letzten E-Mail, die vor ein paar Stunden ankam, stand nur, ich solle mich bereit machen für:

etwas sehr Großes

etwas sehr Besonderes

etwas sehr Lustiges

etwas sehr Ernsthaftes.

Absender der Mail waren die Yes Men.

Die Yes Men sind ein Aktivistenduo aus New York, das in den letzten Jahren vor allem dadurch bekannt wurde, unter falschen Namen auf Handelskonferenzen aufzutauchen und dort im Namen großer Konzerne oder Organisationen, die sie als ausbeuterisch beurteilen, die unglaublichsten Vorträge zu halten. Die Yes Men richten PR-Katastrophen an, indem sie das Verhalten der Konzerne ins Fratzenhafte verzerren – oder ihnen mehr Selbsterkenntnis unterstellen, als ihnen lieb ist: Als »offizielle Vertreter« der Welthandelsorganisation WTO kündigten sie auf einer Konferenz in Sydney deren Auflösung an (»Weil wir erkannt haben, dass unser System ungerecht ist und nur den Interessen multinationaler Firmen dient«); in Salzburg traten sie vor Wirtschaftsvertretern für den freien Handel mit Wählerstimmen ein (Standing Ovations im Publikum); auf einem Vortrag in Finnland überzeugten sie Textilhändler davon, ihre Standorte nach Gabun zu verlegen und die Produktion dort für ein paar Hundert Dollar im Jahr von »modernen Sklaven« erledigen zu lassen (»Kosten für Ernährung und Unterkunft sind da schon mit drin«). Auch ein Siesta-Verbot in Spanien haben die Yes Men mal verlangt; sollte das Bruttoinlandsprodukt ankurbeln.

Mühsam eindringen wie Diebe in der Nacht mussten die Yes Men zu den Tagungen nie. Man lud sie ein, nachdem sie Websites ins Internet gestellt hatten, die denen von McDonald’s, Shell oder Dick Cheneys Lieblings-Militärzulieferer Halliburton ähnelten. Enttarnt werden die Yes Men selten; kaum ein Veranstalter fragt genauer nach, wenn Vertreter von Exxon Mobil oder der WTO sich als Podiums-Sprecher bereitstellen. Sie sind sogar dankbar, dass so ein Marktgigant mal vorbeikommt und Business-Tipps gibt. Auch verklagen konnte die Yes Men bislang keiner; es war ihnen nichts Kriminelles nachzuweisen.

Mit dabei sein bei der Truppe will ich, seit ich vor ein paar Jahren im Fernsehen sah, wie ein Typ namens Jude Finisterra in einem BBC-Interview erschien, angeblich Pressesprecher des Unternehmens Dow Chemical. Zum zwanzigsten Jahrestag der Chemie-Katastrophe von Bhopal, bei der es 1984 aufgrund fahrlässiger Sparmaßnahmen zu einem Gas-Austritt gekommen war, erklärte Finisterra, dass Dow Chemical nun endlich seiner nie übernommenen Verpflichtung für die über 100000 indischen Opfer und Geschädigten nachkommen wolle. Finisterra versprach ihnen »die längst überfällige Entschädigung in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar«. Der Moderator und das Fernsehpublikum waren sehr überrascht. Dow Chemical auch. Dass Jude Finisterra die Art Name ist, die sonst nur in Star-Wars-Filmen vorkommt, brachte niemanden zum Nachdenken.

Jude Finisterra war Yes-Men-Gründer Andy Bichlbaum mit sauber gescheiteltem Haar und einem Anzug, den er sich zwei Tage zuvor für fünfzig Dollar bei der Heilsarmee besorgt hatte. Das war Aktivismus, wie man ihn noch nicht gesehen hatte – schnell, smart, lässig. Wie etwas, was sich die Beastie Boys und die Pariser Situationisten-Künstlergruppe hätten ausdenken können: Hiphop-Aktivismus!

Bichlbaum und sein Partner Mike Bonanno sind auch die Männer, die mich heute zum Yes Man machen sollen. Das Problem ist nur, dass jetzt, mittlerweile ist es zwanzig nach vier, noch immer keiner der beiden ans Telefon geht.

Dafür haben sich ein paar Leute eingefunden, die offensichtlich auch Yes Men werden wollen. Oder Yes Women. Sie alle wurden übers Internet benachrichtigt, dem Hauptmedium der Gruppe. Da ist Robert aus Texas, Student der Wirtschaftswissenschaften; da ist Kegan, ein Schauspieler aus Brooklyn; da ist die Rentnerin Jane, eine Psychologin, die schon bei den Studenten-Aktionen im Berkeley der Sechziger mit dabei war; da sind Hans, Jonathan, Laura und Jeanne. Kaum eine Handvoll, aber die Typen, die auf die Bastille gestürmt sind, waren am Anfang auch keine Armee. Nun allerdings, wo es immer später wird, regen sich schon die ersten Zweifel daran, ob überhaupt was passieren wird.

»Die Polizeiwagen da drüben machen mich nervös«, sagt Jane. »Was, wenn das eine Falle ist?«

»Eine Falle von wem denn?«, fragt Robert.

»Den Rechten natürlich«, sagt Jane. »Die infiltrieren doch momentan alles, um Obama zu schaden.«

»Und schreiben E-Mails und twittern im Namen der Yes Men? Come on!«, sagt Laura.

»Kennt denn einer von uns die Yes Men persönlich?«, will die kritische Jane wissen.

»Ja«, sage ich und wähle Andys und Mikes Nummern erneut. Wieder nur Mailbox.

Erst vor ein paar Tagen hatte ich Andy getroffen, aber auch da war er praktisch kaum ansprechbar gewesen. Schwitzend saß er in dem kleinen Büro, das ihm die Kunstschule Parsons für seinen Job als Professor für Digital-Design bereitgestellt hatte. Ständig klingelte das Telefon, ständig gingen E-Mails ein, ständig starrte Andy auf den Bildschirm seines MacBooks. Yes Man zu sein, hieß mittlerweile auch, Stress Man zu sein. Andy kümmerte sich gleichzeitig um den Vertrieb des neuen Yes-Men-Films »The Yes Men Fix The World« (hat auf der Berlinale den Publikumspreis gewonnen); er war auf der Suche nach weiteren finanziellen Unterstützern (das meiste Geld bekommen sie von Stiftungen und privaten Spendern, einer soll der Trompeter Herb Alpert sein); und er bereitete die Aktion vor, die heute losgehen sollte: das große, besondere, lustige, ernsthafte, mysteriöse New-York-Ding eben.

Viel ist passiert, seit Andy und Mike vor zehn Jahren die Yes Men gründeten. Andys Meinung nach war es vor allem eine Geschichte von Zufällen. Aber das ist es nicht, im Gegenteil. Es ist eine Geschichte von Neuerfindung und Suche, vom lockeren Umgang mit Identitäten und vom Pop, der eher spielerisch Politik wird. Eine sehr amerikanische Geschichte eigentlich.

Es beginnt schon damit, dass keiner der Namen, weder Bonanno noch Bichlbaum, echt ist, obwohl sie mittlerweile alle so nennen, selbst Freunde. Beides sind Pseudonyme. Bonanno heißt eigentlich Igor Vamos, kommt aus der Videokunst-Szene und lehrt Medienkunst; Bichlbaums wahrer Name ist Jacques Servin. Aber auch der ist ein Konstrukt, den sich Bichlbaums Vater ausgedacht hat, ein belgischer Jude, der über Kanada nach Amerika eingewandert war. Seinen wahren Nachnamen, Swicziwsky, mochte er nicht so.

Bichlbaum wuchs in Arizona auf, und nachdem er, Thomas-Pynchon-Fan, es eine Zeit lang als Science-Fiction-Autor versucht hatte, wurde er Computerprogrammierer, »weil es der freieste Job ist, den man sich denken kann. Niemand kontrolliert dich, weil niemand weiß, was du tust. Fast macht es Angst, darüber nachzudenken, wie viel Macht ein Programmierer hat.« Bichlbaum, der es nie länger als zwei, drei Monate in einem Job aushielt, nutzte die Freiheit, um in dem Computerspiel »SimCopter« als Belohnung im letzten Level sich küssende halbnackte Bodybuilder einzubauen. Das Spiel war längst ausgeliefert, als die kleine subversive Aktion bemerkt wurde, die auf das stereotype Männerbild in Computerspielen hinweisen sollte; Bichlbaum wurde gefeuert. Ein paar Monate später wurde ihm von Freunden ein Typ vorgestellt, der sich nur bei der Firma Mattel hatte anstellen lassen, um rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft die Sprachcomputer der Figuren Barbie und G.I. Joe zu vertauschen: G.I. Joe sagte nun »Mathe ist so kompliziert!«; Barbie erklärte »Die Rache wird mein sein«, wenn man sie zärtlich drückte. Der Mattel-Mann war Mike Bonanno. Kurze Zeit später hatten die beiden ihre erste Fake-Website errichtet: GATT – Willkommen bei der Welthandelsorganisation! Es dauerte nicht lang, bis die ersten Anfragen kamen. »Wir mussten nur warten, wie beim Angeln«, sagte Andy.

Es ist Bonanno, der jetzt, kurz nach halb fünf, endlich in einem dunklen Wagen am Columbus Circle vorfährt, um sich um die wartenden Yes Men und Women zu kümmern. Mike trägt einen blauen Anzug, hat wirre Haare und müde Augen, aber trotzdem Top-Laune. Er entschuldigt sich, dass er zu spät ist, öffnet den Kofferraum und wirft zwanzig abgepackte Stapel der »New York Post« auf den Asphalt.

Alle glotzen. Die »New York Post« ist die BILD-Zeitung von New York, das reaktionärste Boulevardblatt der Stadt. Sie ist des Medientycoons Rupert Murdoch erklärte Lieblings-Daily; der Feind also.

»Es ist natürlich nicht die echte ›New York Post‹«, sagt Mike und zieht ein paar Exemplare aus dem Stapel.

WE’RE SCREWED; boulevardesk übersetzt: WIR SIND AM ARSCH steht in fetten Lettern auf der Titelseite, die der echten »New York Post« auf Typo, Farbe und Layout gleicht. Nur drin sieht es ein wenig anders aus: Statt reißerischer Sex-Crime-Celebrity-Geschichten stehen da von Wissenschaftlern und Fachjournalisten ausrecherchierte Texte zum Klimawandel, zum Schmelzen der Polkappen, zum Ende des Eisbärs, zur Kohleförderung, zum CO2-Ausstoß, zu alternativen Energiequellen – zur Gesamtsituation des Planeten also. Passend zur Klimawoche, die gerade in der Stadt stattfindet. Fünfzig Grafiker und Autoren haben drei Monate lang, meist umsonst, an der Zeitung gearbeitet. Gesamtkosten der Produktion: 20000 Dollar.

»Die verteilen wir jetzt zwei Millionen Mal in der Stadt, und zwar zuerst an Journalisten«, sagt Mike. »Ihr müsst irgendwie versuchen, in die Redaktionen der Fernseh- und Radio-Sender reinzukommen, damit die als Erste von der neuen ›Post‹ erfahren. Und die Tageszeitungen natürlich. Den Rest drücken wir jedem Fußgänger in die Hand. Ganz Manhattan muss geflutet werden.«

Einige Leute wirken kurz etwas enttäuscht. Sie hatten wohl auf die lustigen SurvivaBalls gehofft, eine Art Hüpfball-Anzug mit Ohren, der in den letzten Wochen immer häufiger in den Mails der Yes Men aufgetaucht war. Sie hatten vielleicht nicht erwartet, wieder eine Zeitung zu verteilen wie im November letzten Jahres, als die Yes Men unter großem Applaus eine gefälschte »New York Times« mit nur guten Nachrichten auf dem Titel herausbrachten: »Irak-Krieg: vorbei« stand da; »Bush wegen Hochverrats angeklagt«; und »Ölfirmen ExxonMobil und ChevronTexan verstaatlicht«. Die »New York Post« liefert nun das genaue Gegenteil: keine Träume, sondern Fakten.

»Und was ist mit den SurvivaBalls?«, fragt Hans.

»Zuerst die Zeitungen«, antwortet Mike. Und ist dann auch schon wieder weg, nachdem er die Adressen vergeben hat, wo verteilt werden soll.

Joanne, Laura und ich stürmen das CNBC-Hauptgebäude. Na ja, stürmen – bis in die entscheidenden Etagen lässt uns der Concierge nicht, aber wir kriegen ihn so weit, dass er einen Stapel »Posts« vom Hausboten hochtragen lässt. Die anderen drücken wir jedem Angestellten in die Hand, der das Gebäude in den nächsten Stunden betritt. Sie sind zuerst skeptisch, schließlich ist es die »Post«, schauen dann aber genauer hin und sind überrascht: ein Mistblatt, das sich plötzlich für das Schicksal der Welt interessiert? Was ist da denn geschehen? Und als Stunden später jeder zweite New Yorker mit der neuen »Post« durch Manhattan läuft und sich die Titelzeile ins Stadtbild schreibt, wirkt es, als sei es gar nicht so absurd, würde sich ein Boulevardblatt zur Klima-Woche mal mit wirklich überlebenswichtigen Themen beschäftigen.

Ein kurzes, schnell geschnittenes Spiel mit der Realität: so vor allem funktioniert die »Identitäts-Korrektur«, die die Yes Men zur Perfektion gebracht haben. So war es auch bei der Dow-Chemical-Aktion. Natürlich dementierte der Konzern eine Stunde später die Nachricht, er würde 12 Milliarden Dollar an die Opfer zahlen. In dieser Stunde aber hatte Bichlbaums Auftritt viel erreicht.

Er hatte es geschafft, die Welt kurz davon zu überzeugen, ein Konzern wie Dow könne etwas Gutes tun. Er hatte bewiesen, dass dies in der Marktwirtschaft, wie wir sie praktizieren, nicht geht, weil der Markt es sofort mit fallenden Aktienkursen bestraft – in 25 Minuten verlor der Konzern 2 Milliarden US-Dollar. Und Bichlbaum hatte die Welt an Bhopal erinnert und die Wut über die Verantwortungslosigkeit der Firma erneuert. Auch die Geschädigten in Bhopal waren ihm dankbar. Zwar gab es am Ende kein Geld, aber endlich hatte mal wieder jemand an sie gedacht!

Die Yes Men hatten eine alternative Denk-Möglichkeit geschaffen. Mit dem, was sie tun, weisen sie uns darauf hin, dass die Realität, die uns umgibt, nichts Absolutes ist. Sie muss nicht sein, wie sie ist. Sie ist änderbar, wenn wir handeln.

»Und? Die ›Post‹ von heute schon gelesen?«, frage ich meinen Tischnachbarn, als ich im Diner schnell einen Bagel mit Cream Cheese esse.

»Ja, aber heute war sie irgendwie komisch – nur Umweltzeugs drin. Ich wollte echte Nachrichten haben.«

»Aber was könnte denn echter sein als ein Bericht über die klimazerstörende Wirkung von Braun- und Steinkohlekraftwerken? Manhattan wird untergehen, wenn der Meeresspiegel weiter steigt. Da kann Bruce Willis dann auch nix mehr machen.«

»Mag sein, dass Sie recht haben. Ich les’ es vielleicht später noch mal. Aber die Sportergebnisse hätten mich trotzdem interessiert.«

»Die Jets haben gewonnen.«

»Toll!«

Es fühlt sich gut an, in einem Diner zu sitzen, nachdem man eine Politaktion mit den Yes Men gemacht hat; die Bagel schmecken dann besser. Dazu macht es irren Spaß.

Der allein aber genügt den Yes Men mittlerweile nicht mehr.

Später am Abend erzählt Andy bei einem Bier im »Schneider’s« im East Village davon. Er ist wie immer erschöpft, aber im Großen und Ganzen zufrieden mit der Zeitungs-Aktion. Etwas über hundert Leute hätten teilgenommen, einem der Aktivisten sei es sogar gelungen, vor dem Gebäude der Original-New-York-Post Rupert Murdoch ein Exemplar in die Hand zu drücken. Dafür war der Aktivist kurz vom Sicherheitsdienst festgesetzt worden.

Das sei so ungefähr das Ziel, meint Andy. So was müsse in Zukunft noch viel öfter passieren.

»Die augenblickliche politische Situation in Amerika ist so reaktionär, dass man mit lustigen Medienaktionen allein nicht weiterkommt.«

»Sondern?«

»Wir wollen, dass die Leute auf die Straße gehen.«

»Und gegen den Klimawandel demonstrieren? Gegen den Afghanistan-Krieg? Für höhere Löhne?«

»Viel mehr noch. Sie müssen bereit sein, Risiken einzugehen. Straßensperren zu errichten, Banken zu belagern, zivilen Widerstand zu leisten, sich einsperren zu lassen.«

»Glaubst du, dass sie so weit gehen werden?«

»Sie müssen. Weil sonst alles immer schlimmer wird.«

Dann redet er von den wahren Zielen der Yes Men: tief gehende gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Verstaatlichungen von Banken, Ausweitung des Gesundheitssystems, Kontrolle des Finanzmarkts, strikte Umweltschutzauflagen, mehr Arbeiterrechte. Er zitiert die amerikanische Soziologin Frances Fox Piven, die nachgewiesen hat, dass sich Gesellschaften immer nur dann wesentlich verändern, wenn die Leute so verzweifelt sind, dass sie sich offen gegen den Staat stellen: Roosevelts New Deal, zu dem es nur kam, weil sich Bürgergruppen bildeten, die sich gegen Räumungen und Enteignungen wehrten, die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger, die Weigerungen gegen die Vietnam-Einberufungsbefehle.

»Die Zeit, die wir gerade erleben, unterscheidet sich in nicht viel von diesen Krisen«, sagt Andy. »Und ich glaube, dass Obama sich insgeheim wünscht, dass das Volk aufsteht und sich gegen die Macht der Konzerne erhebt. Ich glaube, dass er uns braucht, um mehr zu erreichen als ein paar gute Slogans.«

»Ist Obama ein Yes Man, Andy?«

»Das hoffe ich.«

Am nächsten Tag, um zehn Uhr morgens, kommt es am Ufer des East River auf Höhe der 23. Straße dann doch noch zum Einsatz der SurvivaBall-Überlebensbälle, die sich die Aktionisten gewünscht hatten.

Etwa zwanzig von ihnen sind in die grotesken Kostüme geschlüpft, die von den Yes Men als Schutzanzug-Karikatur für gefräßige Manager-Typen entwickelt wurden. Darin könne ein Umweltzerstörer die Umwelt fröhlich immer weiter zerstören, weil ihm weder Feuer, Sintflut, Erdbeben noch Atomverseuchung gefährlich würden. Allerdings müsse er dann auch rumlaufen wie ein grauer Teletubby.

Ob die Bälle funktionieren oder nicht, werden die Aktivisten gleich herausfinden, denn ihr Job ist es nun, ins Wasser des East River zu wackeln und zum etwa einen Kilometer entfernten UN-Hauptquartier rüberzuschwimmen, wo die Führer der Länder dieser Welt gerade zum bevorstehenden Klimagipfel von Kopenhagen tagen. Dort sollen sich die SurvivaBalls ein paar Ministerpräsidenten greifen und dazu bringen, endlich ein paar bindende Verträge zu beschließen.

Gerade, als sie ins Wasser wollen, passiert das, was Andy sich am Vortag gewünscht hat: Drei Boote von der Küstenwache blockieren die Bälle; von der Straße aus erklingen Polizeisirenen, über uns kreist ein Hubschrauber mit Fernschütze. Der einsatzleitende Sergeant erklärt, er habe gerade einen Notruf bekommen, sinngemäß in etwa so, dass sich zwanzig übergroße Zwiebeln ungeklärter Herkunft ins Wasser des East River begeben hätten. Ob Mr. Bichlbaum das irgendwie spezifizieren könne.

»Wir testen unsere Überlebensbälle für die nahende Umweltkatastrophe«, sagt Andy. Er bleibt ganz ernst dabei, wie damals, als er Jude Finisterra war.

»Soso. Eine nicht angemeldete Demonstration und Störung also«, sagt der Polizist, lässt sich Andys Ausweis geben und veschwindet kurz im Wagen. Als er zurückkommt, nimmt er Andy fest. Es läge noch ein früherer Haftbefehl gegen ihn vor.

»Welcher denn?«, fragt Andy.

»Sie sind mit dem Fahrrad mal quer durch den Washington Square Park gefahren. Das ist verboten, dafür haben Sie einen Strafzettel bekommen, den Sie nie bezahlt haben.«

Der Yes-Men-Aktivist wird wegen Radfahrens verhaftet – das ist so absurd, dass Andy zum ersten Mal an diesem Tag aus seiner Rolle fällt und lachen muss. Auch dann noch, als die Handschellen zuschnappen: »Okay, Sergeant!« Bevor sie ihn abführen, drückt er mir schnell seinen Fahrradschlüssel in die Hand; daran hängt auch ein USB-Stick mit Foto- und Film-Dateien von dem Polizei-Einsatz, den ihm sein Kameramann zugesteckt hat.

»Kümmerst du dich darum?«

Die nächsten 24 Stunden verbringt er in Haft, ein treuer Märtyrer der Bewegung.

Ich sehe Andy kurz nach, dann nehme ich sein Mountainbike und fahre los, quer durch New York, hin zu Mike, der schon im Büro sitzt und auf den Stick wartet. Der Wind bläst mir ins Gesicht, ich springe über Kantsteine, an Menschen, Hunden, Autos vorbei, schneller, immer schneller. Irgendjemand, den ich fast überfahren hätte, schreit mir was hinterher, aber ich drehe mich nicht um, sondern trete umso stärker in die Pedale.

Ich muss mich beeilen, ich bin ein Yes Man.

18 Stunden ARD

Wenn du vorhast, den ganzen Tag fernzusehen, ist es vielleicht nicht schlecht, wenn das mit einem Schock beginnt: Es ist kurz nach sechs, als die Riesen-Nonne erscheint, sie trägt Hakennase und Kruzifix, will bekehren, strafen, prügeln. Traum, Albtraum, Höllenbesuch? Nein, bloß das »Morgenmagazin« der ARD. »Missbrauchte Heimkinder formieren sich zum Protest in Berlin«, sagt eine Stimme; Männer, ältere, verletzt aussehende, schleppen eine unfassbar hässliche Karnevalsfigur durch die Straßen, eben diese Prügelnonne. Alles vor elf ist sonst nicht meine Zeit, aber jetzt bin ich hellwach: Guten Morgen, Deutschland, heut’ komm’ ich über dich.

Denn das ist der Plan an diesem Tag, das ist das Terror-Experiment: Zum sechzigsten Geburtstag der ARD das ganze Programm weggucken, um zu sehen, wie das aussieht, wie sie das machen, ob sich das lohnt. Macht man ja sonst nicht. Eine Zeitung blätterst du durch, aber wer scannt einen kompletten Sender? Im Grunde genommen wissen wir NICHTS übers Fernsehen, gerade WEIL es immer läuft. Für den Fall, dass es zu hart wird, stehen Apfelsinen, Paracetamol, Alkohol und Zigaretten bereit, wesentliche Arztnummern (Augen, Herz, Psyche) sind notiert.

Während der Kaffee kocht, moderiert Das-Erste-Morgenmagazin-Anchormann Sven Lorig durch, was bisher so passiert ist: Vulkanausbruch auf Island, Aschewolken; Erdbeben in Nordchina; Präsidentenpaar-Beerdigungs-Diskussion in Polen. Zwischendurch Kinderreporter aus Hamburg (»Jan Delay, warum nuschelst du so?«, keine schlechte Frage) und Watt-Bericht von der Hamburger Hallig. »Der Sonnenaufgang, das ist ja der Wecker für die Vögel«, sagt die Reporterin, während sie durch den Schlick stapft, sie erinnert in Stil und Auftritt an Elke Heidenreich, ich meine das als Kompliment. So schön und wattig ist Deutschland, der Norden vor allem. Das ist das gute, alte ARD-Gefühl, bei dem dir nichts passieren kann. Hervorgeholt wird es den Tag über immer wieder mit einem Geburtstagsspot, der an Nicoles »Grand Prix«-Sieg, JFKs »Ick bin ein Berliner«-Rede und Lehmanns Elfmeterparade 2006 gegen Argentinien erinnert. Das war die ARD damals; was ist sie heute? Obama/Lena/René Adler?

Sven Lorig bemüht sich um Lässigkeit, er macht das ganz ordentlich, aber warum ist er so schlimm angezogen? Graues Jackett, lila-weiß-gestreiftes Hemd, aufmerksam ausgewaschene Jeans – stellt Jörg Pilawa seine Sachen zusammen? Würde er so in meiner Wohnung auftauchen, würde ich denken, er will mir einen neuen Handyvertrag verkaufen. Angeblich kann er zaubern (soll mal Gauklertricks gelernt haben) – warum tut er das nicht und zaubert sich ein Hemd mit vernünftigem Kragen? Er könnte auch gleich am Studio weiterzaubern, denn alles hier leuchtet grellgelb-orange, die Motto-Bilder, mit denen die Themen ankündigt werden, erinnern an das Frühstücksbuffet eines Mittelklassehotels: Tomaten, Eier, Apfelsinen, weiße Tassen; geht’s um Sport, wird ein roter Ball dazugelegt. Die Sendung und ihre Moderatoren wollen Orangensaft sein, frisch, gesund! Ich mag Orangensaft, aber nach drei Stunden stößt es etwas sauer auf, fast muss ich rülpsen, Entschuldigung. Gut, dass Judith Rakers mit der »Tagesschau« stündlich immer wieder dazwischenfährt. Erste Zigarette.

9 Uhr 05: »Rote Rosen«, Folge 780. Was ist das, »Rote Rosen«? Noch nie gesehen, wusste gar nicht, dass es das gibt. Geht aber gut los: Spielt in Lüneburg, und in den ersten zwei Minuten gibt’s zwei Trennungen und eine Schwangerschaft, es fallen die Sätze »Du bist nicht der Vater«, »Tu das nicht, Meike!« und »Ich hoffe, du kannst mir verzeihen«. Seifenzeit auf ARD, ich bin in Stimmung, kann aber schon nach fünf Minuten nicht mehr: Die Schauspieler, man kennt sie allesamt aus anderen ARD-Produktionen, agieren wie Roboter, denen man Arztroman-Skripte gefüttert hat; die Story scheint völlig egal. Man merkt, dass die Serie entwickelt wurde, um die Hartz-IV-Typen und Hausfrauen rüberzuholen, die um diese Zeit lieber bei RTL oder Sat.1 abhängen. Nichts dagegen, aber »Rote Rosen« ist weder echter Trash noch irgendwie gut gemacht. Die Serie wirkt so, als würde sich der Sender für das Format schämen, es aber trotzdem drinhaben müssen. Zweite Zigarette. Auf meiner Facebook-Seite poste ich »schaut ARD«. Vito Avantario gefällt das. Er wird der Einzige bleiben. Kollegin Christine Mortag fragt sich, was zur Hölle passiert ist. Für sie scheint die ARD vor allem ein Katastrophenberichterstattungssender zu sein.

Kurz nicke ich ein, dann weckt mich Mareile Höppner mit »Brisant«. Um diese Zeit wirkt sie wie eine Sexbombe. Ich liebe »Brisant«. Könnte viel länger laufen als bloß eine halbe Stunde. Dann müsste ich auch nicht das als »Liebeskomödie« angekündigte Trauerspiel »Schlaflos in Oldenburg« ertragen, das nun kommt. Mit Suzanne von Borsody und Hannes Jaenicke sind zwei Schauspieler dabei, die ihre Rollen (sie: neurotische Enttäuschte; er: verrückter Vogel) routiniert runterspielen, aber kein Dialog überrascht, jede Einstellung ist zu lang. Wer schreibt solche Drehbücher? Ex-Fernsehspielchefin Doris Heinze, die zuletzt auch so viele »Tatort«-Folgen verhunzt hat? Dabei waren gerade Fernsehfilm und Krimi mal die Königsdisziplinen der ARD. Was kostet eine Produktion wie »Schlaflos in Oldenburg«? Wie viele Leute gucken das gerade? Wieso immer Lüneburg und Oldenburg und nicht mal was aus der Großstadt? Und warum gibt’s keine deutschen »Sopranos«, »Mad Men« oder »The Wire«, das Geld wäre doch da? Gerade eben hat die GEZ wieder ihre vierteljährlichen 53,94 Euro abgebucht. Wut macht sich breit, ich rufe bei der ARD in Mainz an. Man stellt mich weiter nach München, eine nette Pressefrau ist am Telefon.

»Guten Tag, was kostet so eine Bomben-Produktion wie ›Schlaflos in Oldenburg‹«?

»Oh, solche Zahlen werden eigentlich nicht veröffentlicht.«

»Wann wird der ›Tatort‹ wieder gut?«

»Also, ich mag ihn ja.«

»Welchen denn zum Beispiel?«

»Den Münchner. Und den Münsteraner mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers.«

»Wann wird Ulrich Tukur Kommissar? Das gäbe mir Hoffnung.«

»Wohl erst 2011.«

»Wie viele Leute schauen jetzt ARD, in diesem Moment?«

»Gegen Mittag so im Schnitt 1,57 Millionen. Das sind 16,5 Prozent Marktanteil.«

»Ist das gut?«

»Das ist ziemlich gut, ja.«

»Was hat ›Mitten im Leben‹ von RTL?«

»Dreizehn Prozent.«

12 Uhr: »Tagesschau«. Vulkanwolke, Krebsmedikamentenbetrug, Konjunkturaufschwung.

12 Uhr 15: »ARD-Buffet«. Es gibt Kaninchen, daran ist nichts auszusetzen.

13 Uhr: »Mittagsmagazin«. Den Moderator Stefan Scheider mag ich. Er ist vernünftig gekämmt und angezogen und moderiert angenehm nüchtern. Er hat was von Christoph Waltz, nur ohne Dunkelheit.

14 Uhr: »Tagesschau«. Vulkanwolke, Krebsmedikamentenbetrug, Konjunkturaufschwung.

14 Uhr 10: »Rote Rosen«, Folge 781. Ab und zu wird ein Infoband eingeblendet: Vier tote Bundeswehrsoldaten in Afghanistan.

Gehe Kaffee kochen und duschen. Als ich zurückkomme, läuft »Sturm der Liebe«, Folge 1052. Das soll ganz gut sein, hab ich mal gehört. Die erfolgreichste Telenovela des deutschen Fernsehens insgesamt, mit im Schnitt 25 Prozent Marktanteil. Sie spielt in den Bergen, es liegt Schnee, ein Hotel »Fürstenhof« kommt vor. Ein Mädchen ist schwanger, sie sagt nicht, von wem. Zwei schrecklich dumme Greise finden einen Mops, der natürlich »mopsfidel« ist. Es ist fast noch schlimmer als »Rote Rosen«, weil es irgendwie Anspruch haben will. Dann lieber GZSZ. Wäre ich arbeitslos, würde ich jetzt einen Ein-Euro-Job machen, irgendeinen. Nur keinen beim Fernsehen.

Krampf im Bein. Hirnflimmern. Erster wirklicher Zusammenbruch. Trinke ein Glas Rotwein (Gran Sasso Primitivo, Puglia, 2007). Rufe bei der ARD-Programmgestaltung an; so geht’s ja nicht. Ein Herr Röver.

»Herr Röver, ich gucke gerade ›Sturm der Liebe‹.«

»Wie schön, ich auch.«

»Warum, um Gottes willen?«

»Wegen der wunderbaren oberbayrischen Landschaft und der tollen Darsteller.«

»Warum zeigen Sie so einen Schrott, Sie kriegen doch Gebühren von mir, von uns, vom Volk?«

»Die Leute sehen das gern. Man muss auch mal einschalten, um abzuschalten.«

Röver ist ein kluger, angenehmer Mann. Es entsteht ein Gespräch über Information und Unterhaltung, über amerikanische Serien und deutsche. Darüber, dass Menschen sich eher für Geschichten aus ihrem eigenen Kulturkreis interessieren als für US-Serien wie »Dr. House« oder »Sopranos« oder »Mad Men«, und dass man das auch respektieren müsse. Tu ich auch. Von der Notwendigkeit von »Sturm der Liebe« überzeugt mich das trotzdem nicht. Dann könne ich doch Fußball gucken, meint Herr Röver.

»Aber die besten Spiele haben Sie doch an Sky verloren!«

»Ja nun, das Leben ist kein Wunschkonzert – auch bei der ARD nicht.«

Die Spots mit den Gänsehautmomenten JFK/Nicole/Lehmann laufen wieder. Jauch, Gottschalk, Beckmann weisen auf die große ARD-Geburtstagsshow hin, die um 20 Uhr 15 von Reinhold Beckmann moderiert wird. Jauch ist bei RTL, Gottschalk beim ZDF – warum sind die dabei?

»Haben ja beide bei der ARD angefangen«, sagt Herr Röver.

Eventuell liegt dort das Problem. Die Masse an Vergangenheit. Wer ARD sagt, muss immer auch ein bisschen BRD sagen. Prä-Einheit: Kulenkampff, Carrell, Loriot. Heute: Silbereisen, Beckmann, Schmidt. Vergleichen Sie selbst.

16 Uhr: »Tagesschau«. Susanne Stichler in Gold; Rainald Becker berichtet von den toten Soldaten.

16 Uhr 10: »Seehund, Puma & Co«-Zoogeschichten von der Küste. Drei Gepardenjunge. »Seit vier Wochen sind wir jetzt von der Milch weg«, sagt die Pflegerin. Wohl die beste Nachricht des Tages. Gibt’s eigentlich nettere Menschen als Tierpfleger?

16 Uhr 56: Zum ersten Mal Werbung. Für den Dacia SUV, ERGO Direkt, Crataegutt Herzarznei. Und die ARD selbst: »Jede Begegnung ist eine Chance für das Neue«. Was heißt das: Bitte guckt mich immer immer immer wieder?

17 Uhr: »Tagesschau«. Stichler wirkt etwas müde. Kein Wunder. Sie ist in der Nachrichtenschleife. Ich auch. Ich fühle mit ihr.

17 Uhr 15: »Brisant«. Darling Höppner über Merkel bei Schwarzenegger, Bischof Mixa und einen Oberstaatsanwalt aus Palermo, »Mafiajäger Nr. 1«. Letzteres ein bisschen zu fett anmoderiert (Mafiajäger Nr. EINS, brandgefährdet, darf eigentlich gar nicht mit uns reden etc.), aber sonst kann man’s so machen.

17 Uhr 55: »Verbotene Liebe«. Das hab ich von 1999–2002 täglich gesehen. Bin sofort im Thema. Toll, dass es das noch gibt. Viel besser als »Sturm der Liebe«.

18 Uhr 25: »Marienhof«. Seltsame Schnitte, einmal sogar verfilmtes Nahtoderlebnis. Hier versuchen sie, ganz modern zu sein. Vielleicht zu sehr. Zigarette.

18 Uhr 50: »Das Duell im Ersten«. Eine Art Memory. Ein Florian Weber moderiert. Ein Atze gewinnt. Interessiert mich irgendwie nicht. Noch etwas Wein. Zwei Zigaretten.

19 Uhr 20: »Das Quiz«. Auftritt des ARD-Giganten Pilawa. Von Journalisten gehasst, von Volk und Quote geliebt. Sein Gesicht sieht immer ein bisschen aus wie von Pinocchios Vater Geppetto geschnitzt. Ist aber Vollprofi. Wäre ich Ausländer und wüsste nichts über ihn, würde ich denken: Kleidet sich vielleicht ein bisschen zu jung, aber ansonsten ein moderner, weltoffener Deutscher, vor dem man keine Angst haben muss. So geht’s einem sonst nur bei Claus Kleber, dem Top-Mann des deutschen Fernsehens. Eventuell hat die ARD einen Fehler gemacht, als sie Pilawa zum ZDF gehen ließ. Wer soll ihn ersetzen – Sven Lorig?

19 Uhr 45: »Wissen vor acht«. Ranga Yogeshwar erklärt in 145 Sekunden anhand einer Zahlenkurve, wie man seine Steuererklärung fälschen müsste, damit sie durchkommt. Irre überraschend und ganz toll. Die Art Sendung, die bei den Privaten wirklich nie laufen würde.

19 Uhr 49: Werbung für Jack Wolfskin, Gourmet-Gold-Katzenfutter, Prostagutt-Forte-Harnlöser, Mövenpick-Eis, das Magazin »Stern«. Genauer kann ein Publikum kaum umrissen werden: wandert gern, Probleme beim Wasserlassen, holt sich gern mal ein Eis aus dem Kühlschrank und liest den »Stern«. Im Schnitt 59 Jahre alt, schätze ich mal.

20 Uhr: »Tagesschau«. Der Klassiker. Bin schon etwas betrunken, behaupte aber trotzdem mal einfach: Die beste Acht-Uhr-Nachrichtensendung der Welt. Mutter aller Nachrichtensendungen. Gut designt, angenehme Farben, immer souverän moderiert. Nicht vorstellbar, dass irgendwo auf der Welt was von Belang geschähe und man woanders einschalten würde. Nicht vorstellbar, dass überhaupt etwas passieren KÖNNTE, wenn’s die Tagesschau nicht mehr gäbe.

Und? Wie geht’s der sechzigjährigen ARD nun? Was sagt der Arzt? Er sagt’s so: tagsüber sechzig Prozent Schrott, abends sechzig Prozent Qualität.

20 Uhr 25: Etwas verspätet (»Brennpunkt« wegen der toten Soldaten) kommt Beckmann mit seiner ARD-Geburtstagsshow. Er will im schwarzen Rolls auf die Bühne fahren, aber der springt nicht an, Jauch (RTL) und Gottschalk (ZDF) müssen schieben. Ein passenderes Bild ist nicht denkbar. Ich schalte ab.

Unter Linken

Es ist kurz nach Mitternacht, als ich meinen ersten linken Moment erlebe. Die Straßen sind dunkel und leer, aus den Fenstern dringt kaum Licht, die Mücken summen besoffen, sie haben das Blut der Roten getrunken. In einem Hauseingang sitzen Gestalten und singen Lieder zur Akustikgitarre, ein Blinder spielt Keyboard:

»Es ist nicht deine Schuld,

dass die Welt ist, wie sie ist,

es ist nur deine Schuld,

wenn sie so bleibt.«

Der Kampf als Traum, der Traum als Kampf. Jugendgruppenpower, Ferienlagerfeeling. Der Rest der Welt ist 3773 Lichtjahre entfernt. Vielleicht funktioniert der Sozialismus vor allem nachts.

Aber der Reihe nach.

Ich kam gestern hierher, zum »Pfingstfest der Linken« am Werbellinsee bei Barnim, Brandenburg, eine Autostunde von Berlin entfernt. Es klang nach einer guten Idee: Griechenland-Krise, Inflationsangst, ganz Deutschland enttäuscht von CDU/FDP. In NRW schafft Die Linke über fünf Prozent und setzt sich zu Koalitionsverhandlungen mit der SPD hin. Wird zwar nichts draus, aber trotzdem: Wind of Change. Die Welt ändert sich, das Land ändert sich, Furcht und Unsicherheit herrschen. Da willst du wissen: Was macht Die Linke am Wochenende? Wie feiert, trinkt, tanzt sie? Hier am Werbellinsee trifft sie sich seit Jahren auf einem ehemaligen Jungpionier-Camp. Gesine Lötzsch, frischgewählte neue Bundesvorsitzende, würde auch kommen. Also: Vámonos, Genossen und Genossinnen!

Unrasierte, aber fröhliche Rothemden begrüßten mich, als ich einfuhr und mich beim »Orga-Büro« meldete, ein großer rot-weißer Heißluftballon stand davor. Um zu sehen, wie spontan die Linken sind, hatte ich weniger als nichts vorbereitet.

»Tag, ich würd’ gern bei euch mitfeiern!«

»Schön, hast du ein Zimmer reserviert?«

»Natürlich nicht.«

»In Haus 3 ist noch Platz, Einbettzimmer. Macht 80 Euro die drei Nächte, inklusive Essen.«

»Nehm ich! Und was machen wir dann?«

»Party mit DJ Ecco Weber!«

»Wer ist DJ Ecco Weber?«

»Der Beste. Komm einfach.«

Ich warf meine Tasche auf die Pritsche und sah mich um: Riesengelände mit Herbergshäusern so groß wie Paläste, überall Bäume, Wiesen, Sträucher. Ein paar Kinder kickten einen Fußball. Am hervorragend ausgestatteten Merchandising-Stand der Linken kaufte ich Die-Linke-Sonnencreme, ein Die-Linke-Feuerzeug, Buttons von Rosa Luxemburg, Che Guevara, Oskar Lafontaine und einen, auf dem »Revolution!« stand. Innerhalb einer Minute war ich Little Fidel Castro. Fleisch- und Biergeruch überall, ich besorgte mir eine Wurst und notierte die ersten Feststellungen:

1. Die Linke grillt gut.

2. Die Linke trinkt gut.

3. Die Linke lächelt dich an, wenn deine Militärjacke mit den alten Helden vollgepinnt ist.

Durch den Wald kam ich zum Strand, and what a Strand it was! Caspar-David-Friedrich-artig leuchtete der See im Abendlicht. Bis 1989 wurden hier die verdientesten Söhne und Töchter der verdientesten Diener und Dienerinnen der SED zu noch größeren Verdiensten erzogen. Man versteht sofort weshalb, denn schöner als am Werbellinsee kann der Osten kaum sein. Man fragt sich aber auch ein bisschen, warum Die Linke ihr Pfingsten gerade in einer ehemaligen Kaderschule feiert, wo der Ostalgie-Vorwurf doch der erste ist, den sie von der Presse immer vor den Latz geknallt bekommt. Vielleicht würde DJ Ecco Weber weiterhelfen können, Stimmungskanone und Radiomoderator bei Antenne Mecklenburg-Vorpommern, wie ich später erfuhr.

»He, Ecco – hast du die ›Internationale‹ da? Das würde doch knallen jetzt!«, fragte ich, als er anfing, in der Sporthalle die ersten Hits aufzulegen, zuerst ein Schlager der Ostgruppe »electra«, Refrain: »Nie, nie zuvor hab ich dir so sehr vertraut; nie, nie zuvor hab’ ich so auf dich gebaut«.

»Nee, lass mal.«

»O. k., dann Gangster-Rap: ›Regulate‹ von Warren G!«

Daumen hoch von DJ Ecco.

Andreas Fährmann, Die-Linke-Organisator aus Berlin, konnte beim Mojito etwas mehr zur Ortswahl sagen:

»Die Linke ist hier, weil’s der Osten ist. Weil hier viel Platz ist. Weil’s Teil unserer Geschichte ist.«

»Verstehe. Können Sie mir später eventuell einen coolen alten Stasi-Mann vorbeischicken, der mir ein bisschen was von dieser Geschichte erzählt?«

»Ham’ wir grad nicht da.«

»Glaub’ ich nicht.«

»Doch. Schauen Sie sich um: sind vor allem jüngere Menschen hier.«

Stimmte nur so halb, es sei denn, mit den »Jüngeren« meinte Fährmann die Kleinkinder, die um uns herumsprangen. Ansonsten lag der Schnitt der Leute hier bei Mitte/Ende fünfzig.

Es sind Menschen wie die Renterin Lotti, zu DDR-Zeiten Arbeiterin in einer Glühbirnenfabrik, die erst vor Kurzem wieder in die Gegend gezogen ist und der der Staat wegen der angeblich niedrigeren Lebenskosten im Osten 150 Euro von ihrer Rente gestrichen hat. Es sind Menschen wie Rüdiger aus Gießen, der eine Zeit lang als Promotion-Manager großen Erfolg hatte, dann abgestürzt ist, von Hartz IV leben musste und nun einen Halbtagsjob im Fraktionsbüro hat. Klaus Dieter, ein ehemaliger Mathe-Lehrer aus Sachsen-Anhalt, hat so sehr an die DDR geglaubt, dass er nach der Wende nicht mehr wusste, was er seinen Schülern erzählen sollte, und verstummte, bis er in der Arbeitslosigkeit verschwand. Und noch drei- bis vierhundert andere mit ähnlichen Biografien. Nicht wenige wünschen sich die DDR zurück und sagen das auch genau so, weil: Ein Scheiß-Zuhause (früher) ist immer noch besser als gar kein Zuhause (Kapitalismus).

»Hat die Reisefreiheit nichts gebracht, Lotti?«

»Ach, wir werden doch überall nur ausgenommen: 3 Euro 50 für’n Cappuccino!«

»Hat Merkel nichts gebracht, Klaus Dieter?«

»Erst viel Hoffnung, dann noch mehr Enttäuschung.«

Es sind also vor allem Verletzte gekommen, die hoffen, dass Die Linke mit ihren Versprechen, sich für Mindestlöhne, Arbeitsplätze und Ost-West-Rentenausgleich einzusetzen, irgendetwas für sie tun kann. Hilfe spenden, Heilung.

Zusammen mit ihnen lasse ich mich am nächsten Morgen von einer Försterin, die ein bisschen so aussieht wie Patti Smith, durch den Biosphärenwald führen. Sie zeigt uns einen Fuchsbau.

»Manchmal teilen sich Fuchs und Dachs einen Bau«, erklärt sie.

»Wie CDU und FDP!«, sagt jemand.

»Wie Rot-Rot in Brandenburg!«, ein anderer.

»Wie Rot-Schwarz in NRW!«, der schlauste von allen.

Am Nachmittag geht’s im sehr kleinen Festzelt ein bisschen um Frauenpolitik und Landesfinanzen, zwei Minister aus Brandenburg sind da, aber so richtig kickt es nicht. Etwas zu leger und schludrig lehnen die Redner am Tisch und wiederholen das, was sie immer sagen: Läuft doch gut für uns, steter Tropfen höhlt den