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Knappe Ressourcen, globale Ungerechtigkeit, Öko-Kollaps: Was haben Phosphor, Stickstoff und Kalium damit zu tun?
Unsere Existenz hängt am Kreislauf der Elemente. Stickstoff, Phosphor und Kalium sind drei der wichtigsten. Doch wir haben ihre Ströme gestört und gefährden so die globalen Lebensgrundlagen. Was hat es mit diesen Stoffen auf sich, über die wir so wenig wissen? Auf der Suche nach Antworten folgt die Biologin Kerstin Hoppenhaus den Elementen – um die Welt und durch die Zeit, von der einzelnen Zelle bis zum Ökosystem, vom überdüngten Acker bis in die Politik. Sie zeigt: Die Geschichte der drei Elemente ist zugleich eine von industriellem Fortschritt und ökologischer Kurzsichtigkeit, von Kolonialismus und weltweiten Vernetzungen. Ein faszinierender Einblick in ungeahnte Zusammenhänge, ohne deren Verständnis eine nachhaltige Zukunft nicht möglich ist.
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Seitenzahl: 428
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Knappe Ressourcen, globale Ungerechtigkeit, Öko-Kollaps: Was haben Phosphor, Stickstoff und Kalium damit zu tun?Unsere Existenz hängt am Kreislauf der Elemente. Stickstoff, Phosphor und Kalium sind drei der wichtigsten. Doch wir haben ihre Ströme gestört und gefährden so die globalen Lebensgrundlagen. Was hat es mit diesen Stoffen auf sich, über die wir so wenig wissen? Auf der Suche nach Antworten folgt die Biologin Kerstin Hoppenhaus den Elementen — um die Welt und durch die Zeit, von der einzelnen Zelle bis zum Ökosystem, vom überdüngten Acker bis in die Politik. Sie zeigt: Die Geschichte der drei Elemente ist zugleich eine von industriellem Fortschritt und ökologischer Kurzsichtigkeit, von Kolonialismus und weltweiten Vernetzungen. Ein faszinierender Einblick in ungeahnte Zusammenhänge, ohne deren Verständnis eine nachhaltige Zukunft nicht möglich ist.
Kerstin Hoppenhaus
Die Salze der Erde
Was drei chemische Elemente mit Kolonialismus, Klima und Welternährung zu tun haben
Hanser
für e.
und f.
Wann haben Sie zum letzten Mal Ihren Puls gefühlt? Ist schon ein bisschen her? Dann legen Sie mal Zeige- und Mittelfinger an Hals oder Handgelenk und fühlen Sie. Nur zu, ganz in Ruhe. Ich warte hier.
Gefunden? Sehr gut. Sie sind also am Leben. Das war zu erwarten. Und doch sollte es Sie erstaunen. Denn Ihr Herzschlag und was Sie sonst am Leben hält, entsteht aus dem feinen Zusammenspiel von lebloser Materie. Oder anders gesagt: Wenn Sie Ihren Puls fühlen, sehen Sie den Elementen bei der Arbeit zu. Für jeden Pulsschlag strömen zum Beispiel Kalium und andere Mineralien durch winzige Kanäle in der Hülle Ihrer Herzmuskelzellen. Nicht viel, nur gerade genug, um zu helfen, das System über die Schwelle zu heben und den nächsten Herzschlag auszulösen. Ganz ohne Ihr Zutun, autonom und verlässlich. Die Kalium-Kanälchen bestehen aus Proteinen, Eiweißen also, und die enthalten Stickstoff. Ohne diesen Stickstoff gäbe es keine Kanälchen, ohne Kanälchen keinen Kaliumstrom. Ohne Kalium keinen Puls. Und im Innern der Herzzellen geben bestimmte Moleküle Phosphor ab und damit Energie frei oder lagern Phosphor an, um Energie zu speichern. Auch ohne diese winzigen chemischen Batterien bliebe Ihnen das Herz stehen. Und das sind nur ein paar wenige Takte aus dem Tanz der Elemente, von dem Ihr Leben abhängt.
Die Anzahl der Tänzer ist überschaubar. Von den knapp hundert natürlich auf der Erde vorkommenden chemischen Elementen bilden nur elf die wesentlichen Grundbausteine für alles Leben auf der Erde. Stickstoff, Phosphor und Kalium sind drei der wichtigsten, neben Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und einigen anderen. Dazu ein gutes Dutzend Spurenelemente wie Eisen, Jod oder Mangan. Diese wenigen Grundstoffe ermöglichen alles, was wir tun. Atmen. Denken. Fortpflanzen.
Sie gelangen über die Nahrung oder im Fall von Sauerstoff auch direkt aus der Luft in unsere Körper und gehen dort ihren chemischen und physikalischen Geschäften nach. Genau genommen bilden sie überhaupt erst unsere Körper, denn ohne das Zusammenspiel der Elemente gäbe es uns gar nicht. Das heißt, wir sind zwar Menschen mit eigenen Gedanken und einem eigenen Sinn. Aber wir sind eben auch »wandelnde, sprechende Mineralien«, wie die Biologen Lynn Margulis und Dorion Sagan schreiben.1
Und auch das nur auf Zeit. Denn für diese Elemente sind wir nichts weiter als ein Zwischenstopp auf ihrer Reise durch das Erdsystem. Wir nehmen sie auf, gliedern sie ein und scheiden sie wieder aus, mal schneller, mal langsamer, aber beständig. Stoffwechsel nennen wir das, sehr zu Recht. Fast alle menschlichen Gewebe werden so im Laufe unseres Lebens mehrmals komplett ausgewechselt. Und wenn wir schließlich sterben, löst sich das Gefüge, unsere Materie zieht weiter und bildet neue Allianzen. Wieder und wieder und wieder.
Wir haben uns daran gewöhnt, dies einen Kreislauf zu nennen. Doch ein Kreis ist ein mathematisches Konstrukt. Eine schöne und verführerisch einfache Form — die im richtigen Leben praktisch nicht vorkommt. Genau wie unser Blut nicht in Kreisen läuft und die Erde nicht um die Sonne kreist, reisen auch die Elemente nicht in Kreisen um die Erde. Vielmehr um- und manchmal durchströmen sie den Planeten in einem unermesslich feinen und verschlungenen Netz. Sie folgen dabei eher den Gesetzen der Strömungsmechanik als strengen Bahnen, oft chaotisch, aber nicht regellos, voller Wirbel, Strudel, Turbulenzen, immer in Bewegung, immer im Wandel. Mal gelöst, mal gebunden, Berghänge, Flüsse, Ladungs- und Energiegradienten hinunter und manchmal hinauf, einzeln oder in Kaskaden, oft äonisch langsam und dann plötzlich rasend schnell. Lauter laufende Prozesse, ineinander vernestelt und verschlungen, ein scheinbar wirres Knäuel. Und doch seit Jahrmillionen in steter Wiederkehr. Der Pulsschlag der Erde.
Globale »biogeochemische« Zyklen sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu diesen Strömen der Elemente im Erdsystem. Auf den ersten Blick ein mächtig sperriges Wortungetüm, doch wenn man es genauer betrachtet, beschreibt es sehr gut, worum es hier geht: um »bio« und »geo«, verbunden mit »chemisch«. Also das Lebende und das Irdene, in ständiger Wandlung vom einen ins andere. Metamorphosen zwischen Leben und Tod. Stoffwechsel.
Dass dies überhaupt nicht selbstverständlich ist, zeigt ein kurzer Blick in unsere unmittelbare planetare Nachbarschaft. Dort sehen die Stoffströme ganz anders aus. Auf der Venus und auf dem Mars machen »geo« und »chemisch« die Dinge unter sich aus. Von »bio« keine Spur. Auf der Erde dagegen, wo Leben ist, kommt es, während der Planet mit seinem Kern aus brodelndem Eisen durchs All jagt, fortlaufend zu Übergängen zwischen »bio« und »geo«, zwischen lebend und nicht, die unter anderem dazu führen, dass Sie gerade diese Zeilen lesen. Denn die Elemente strömen nicht nur um Sie herum, sondern auch durch Sie hindurch.
Wenn wir Menschen sagen, wir sind ein Teil der Natur, dann meinen wir meist das Zusammenleben mit Blumen und Bienen oder Delfinen, als Teil eines Ökosystems. Aber tatsächlich ist unsere Verbindung mit der Erde sehr viel enger, inniger und wesentlicher, als wir uns das normalerweise bewusst machen. Deswegen tragen wir sie auch in unserem Namen: Homo sapiens. Homo, das lateinische Wort für Mensch und Mann, ist verwandt mit humus, lateinisch für Erde und Erdboden. Humus, die Erde, steckt auch in human und im englischen humble für demütig und bescheiden. Eine ähnliche Verwandtschaft gibt es auch im Hebräischen: ādām ist der Mensch, adāmā die Ackererde.2 Alles, was wir essen, trinken, atmen, ist von dieser Erde. Wir sind von dieser Erde. Und diese Erde steht niemals still.
Meine erste bewusste Begegnung mit dieser niemals stillen Erde war in der Muldeaue bei Dessau, wo ich Jahre meiner Ausbildung als Biologin verbracht habe. Dort, im heutigen Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe, gibt es einen der wenigen noch nahezu intakten Auwälder in Deutschland.
Das an sich ist schon etwas Besonderes, denn die Mulde war in ihrem Unterlauf jahrzehntelang biologisch praktisch tot, schwer belastet unter anderem durch die Abwässer aus dem Chemiekombinat Bitterfeld und das Sümpfungswasser, das aus den nahen Tagebauen des Mitteldeutschen Braunkohlereviers abgepumpt wurde. Die Aue dagegen, das Überflutungsgebiet rund um den Fluss, hat diese Zeit strukturell erstaunlich intakt überstanden, paradoxerweise gerade wegen der Schadstoffe im Wasser und in den Sedimenten, denn durch sie war eine Bewirtschaftung der Auenböden kaum möglich, und die Aue konnte sich beinahe naturbelassen entwickeln. Ein kostbares Habitat für alle, die nicht auf Böden oder Sedimente angewiesen sind. Und so stand ich zwei Sommer lang in Watstiefeln im Schlamm.
Die Arbeit war weder die schlickigste noch die mückigste noch die stinkigste, die ich je verrichtet habe. Sie sticht jedoch hervor durch die glorreiche Kombination aller drei Merkmale, nicht zuletzt, weil sich für einige meiner Insektenfallen mehrere Tage alte Schweineleber als der beste Köder erwies.
Mein Ziel war es, zu verstehen, wie die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften von Wasserkäfern in einer Flussaue zustande kommt. Doch gelernt habe ich etwas ganz anderes. Zwei Jahre lang habe ich ein komplexes und dynamisches System intensiv und aus nächster Nähe begleitet, über verschiedene Jahreszeiten, Witterungen, Wasserpegel hinweg. Ich stand in halb verlandeten Altarmen, offenen Wiesenteichen und waldigen Tümpeln. Ich fing Wassertreter und Taumelkäfer, zangenbewehrte Gelbrandkäferlarven und fingerlange, schwarze Kolbenwasserkäfer. Ich sah, wie anpassungsfähig diese Arten waren, und auch, warum sie das sein mussten. Denn die verdammte Aue war niemals gleich.
Wo in einer Woche ein Tümpel fast trockenlag, stand in der nächsten Woche das Wasser knietief. Wo im einen Jahr das Ufer dicht bewachsen war und fest, war es im Jahr darauf weggespült und kahl. Die ganze Aue, scheinbar friedlich und still, war in ständiger Bewegung, eine mäandernde Welt aus unaufhörlich strömenden Elementen. Es ist eine Sache, von den Weisen zu hören, man steige niemals in denselben Fluss. Es ist eine ganz andere Sache, in diesem Fluss zu stehen und zu erleben, dass nichts bleibt, wie es war. Die Zeit in der Muldeaue hat meinen Blick auf die Welt bis heute geprägt. Nichts auf der Erde bleibt da, wo man es hintut. Und nichts ist jemals weg. Sondern nur woanders.
Nach dem Biologiestudium ging ich zum Film, wurde Journalistin. Andere hielten länger durch. Hartnäckig, geduldig und klug verfolgten sie weiter ihre Fragen. Es war eine interessante Zeit für Ökologinnen und Ökologen. Sie stellten sich der Komplexität und auch den Unschärfen der Natur und machten sich daran, unsere Vorstellung von der Welt und von dem, was wir »Umwelt« nennen, zu verändern. Sie verabschiedeten sich von der Idee eines statischen »Gleichgewichts der Natur« und begannen stattdessen, sogenannte »Störungen«, also Hochwasser, Feuer oder auch nur einen Fußabdruck im Moos, als normale Bestandteile von Ökosystemen zu verstehen und »Stabilität« als eine Illusion, ein Artefakt aufgrund eines Mangels an Daten, verursacht durch die relativ kurze Lebensspanne der Betrachter und mangelnde Computerleistung für ausreichend komplexe Modelle und Simulationen (und vielleicht ein Stück Wunschdenken der kurzlebigen Menschheit, die nichts so sehr zu misstrauen scheint wie dem Wandel).
Mehr und mehr gingen sie dazu über, komplexe Ökosysteme als Ganzes zu betrachten, mit all ihren dynamischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Bestandteilen. Damit war die Ökologie Teil eines Trends hin zu den sogenannten Systemwissenschaften, der sich Anfang des 21. Jahrhunderts in vielen Disziplinen entwickelte, zum Beispiel auch in den Geowissenschaften oder in der Medizin. Ihr Ziel war es nicht nur, komplexe Systeme zu verstehen, sondern möglichst auch Vorhersagen über deren Verhalten zu treffen.3 Durch ihre Arbeit haben wir ein sehr viel tieferes Wissen über die großen Stoffströme der Erde gewonnen (aber wie der Wasserkäfer seinen Tümpel wählt, wissen wir noch immer nicht …).
Einige dieser Stoffströme sind uns geläufiger als andere. Der Wasserkreislauf zum Beispiel, in dem Moleküle aus Wasserstoff und Sauerstoff beständig zwischen Erdkruste, Lebewesen und Atmosphäre hin und her fließen. Auf ihrem Weg um den Planeten dienen sie als unersetzliche Nahrung, als Lebensraum, als Transportweg oder auch dem Badespaß. Verschiebungen in ihren Pfaden spüren wir unmittelbar und oft sehr drastisch, mal als Dürre, mal als Flut. Und an vielen Verschiebungen sind wir Menschen inzwischen maßgeblich beteiligt, etwa wenn durch unsere Aktivitäten die Eiskappen an den Polen abschmelzen oder die Erdachse zu kippen beginnt, weil wir so viel Grundwasser abpumpen.4
Auch über den Kohlenstoffkreislauf wissen die meisten Menschen inzwischen mehr, als ihnen lieb ist. Kohlenstoff ist der Grundbaustein allen Lebens auf der Erde. Doch er kann auch über lange Zeiten als Kohlendioxid in der Atmosphäre verbleiben und trägt dort dazu bei, dass ein Teil der Strahlungswärme, die die Sonne zur Erde schickt, hier gehalten wird und der Planet nicht vereist. Gelangt jedoch zu viel Kohlendioxid in die Atmosphäre, etwa durch das Verbrennen von fossilen Rohstoffen, dann überhitzt der Planet. So wie jetzt.
Auch Stickstoff, Phosphor und Kalium, die drei anderen großen Bausteine des Lebens, sind beständig im Erdsystem unterwegs, mit ähnlich weitreichenden Folgen. Doch ihren Strömen schenken die meisten Menschen bisher kaum Beachtung. Dabei sind sie nicht nur für unser biologisches Überleben essenziell und für das ganzer Ökosysteme. Sie haben auf ihre stille, stetige Weise auch einen mächtigen Einfluss auf unser gesellschaftliches Zusammenleben, auf unsere Geschichte und unsere Kultur. Kriege gehen auf sie zurück, ganze Nationen verdanken ihnen ihre Existenz, sie prägen unseren Alltag, unsere Sprache, unsere Lebenswelt, bringen Wohlstand für einige und anderen Vernichtung.
Und noch etwas macht sie interessant. Ständig werden sie vom Leben verbraucht. Doch obwohl sie knapp sind, gehen sie niemals aus. Das ist kein billiger Taschenspielertrick der Erde, das hat System. Ein System, von dem wir uns eine Menge abgucken können. Ein Kreis mag nichts weiter sein als eine Abstraktion. Doch eine nützliche. Und die Kreislaufwirtschaft der Erde ist ein mehr als nützliches Vorbild dafür, wie wir unsere eigene Zukunft erhalten können.
Die drei Elemente, einmal in Bewegung gesetzt, entfalten gewaltige Kräfte, die Erde zu gestalten. Als diejenigen, die sie zunehmend in Bewegung setzen, übernehmen wir damit eine große Verantwortung. Allein deswegen lohnt es sich, sich näher mit ihnen zu befassen.
Den verschlungenen Strömen von Stickstoff, Phosphor und Kalium um die Erde zu folgen ist nicht immer ganz einfach. Aber das macht nichts.
Wir machen es wie beim Riesenrad auf dem Rummelplatz: Wir steigen an der Basis ein, beim Ursprung ihrer Kräfte. Wir sehen, wie die drei nicht nur unser Herz betreiben, sondern alles Leben auf der Erde. Und auch, dass sie nicht nur nähren, sondern auch zerstören können. Und wir lernen, dass sie Gesetzen folgen, denen auch wir unterliegen, sosehr wir uns auch mühen, sie zu beugen. Dabei tritt am Anfang der Stickstoff in den Vordergrund, weil er chemisch und historisch oft der erste ist. Doch keiner der drei wirkt jemals allein. Sie alle sind unersetzlich.
Dann beginnt die Rundfahrt. Wir steigen auf mit unserem Riesenrad, der Blick weitet sich, und wir schauen in die Geschichte. Wir sehen, was die Menschen alles darangesetzt haben, um die essenziellen Substanzen zu erlangen. Wir sehen, welche Folgen unsere Abhängigkeit von den drei Elementen hatte und noch immer hat. Und wie wir sie noch verstärkt haben, indem wir aus den lebensnotwendigen Nährstoffen weltweit gehandelte Rohstoffe gemacht haben, die bis heute nicht nur unsere Wirt- und Landschaft mitbestimmen, sondern auch unser gesellschaftliches Zusammenleben und unsere Kultur. Wir sehen, welchen Gewinn diese Rohstoffe uns gebracht haben, aber auch, welchen Schaden ihre Gewinnung mit sich bringt.
Im dritten Teil wird das ganze Ausmaß der Folgen unseres Nährstoffkonsums sichtbar. Es trifft den ganzen Planeten. Die gigantischen Ströme vor allem an Stickstoff und Phosphor, die wir in Bewegung gesetzt haben, um immer mehr Menschen zu ernähren, drohen, das System Erde an seine Grenzen zu bringen. Vor allem im Wasser, aber auch zu Lande und in der Luft. Wir haben aus den Nährstoffen Schadstoffe gemacht.
In Teil vier wenden wir uns wieder dem Boden zu, denn dort erwartet uns eine Vielzahl möglicher Lösungen. Hier unten werden Stickstoff, Phosphor und Kalium zu Wertstoffen, die wir zwar nutzen, aber nicht verbrauchen wollen. Eine solche regenerative Kreislaufwirtschaft ist möglich. Das macht uns die Erde seit vielen Millionen Jahren vor. Es wird allerdings nicht reichen, sich nur ein paar Kniffe abzugucken. Um dauerhaft im Erdsystem bestehen zu können, müssen wir uns ändern — und zwar sowohl unser Verhalten als auch den Blick auf unseren Platz in der Welt.
Die drei Elemente haben also viele Gesichter. Und mehr Macht über unser Leben, als die meisten von uns ihnen wohl zugestehen würden. Darin steckt eine Menge Zündstoff. Buchstäblich.
Interessiert? Na dann: Einsteigen bitte! Kommen Sie, sehen Sie, staunen Sie! Willkommen in der Welt von Stickstoff, Phosphor und Kalium.
Teil 1
In der großen Verkettung von Ursachen und Wirkungen darf kein Stoff, keine Thätigkeit isoliert betrachtet werden.
Alexander von Humboldt
Reiner Stickstoff ist ein farbloses, geruchloses, ungiftiges und reaktionsträges Gas. Beinahe langweilig. Und doch kann Stickstoff gewaltige Kräfte freisetzen. Am frühen Abend des 4. August 2020 tat er genau das. Auf katastrophale Weise, im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut.
Dort war in einer Lagerhalle ein Feuer ausgebrochen, ausgelöst wahrscheinlich durch ein paar fliegende Funken bei Schweißarbeiten. Eingelagerte Feuerwerkskörper gerieten in Brand, das Feuer weitete sich aus, es gab eine erste Explosion, gefolgt von einer weit heftigeren zweiten. Videos zeigen, wie der Druck dieser Explosion eine gewaltige Kuppel aus Wassernebel aufwölbt, dann rast die Stoßwelle wie eine Wand aus komprimierter Luft über die Stadt hinweg. Ganze Quartiere wurden verwüstet, mehrere Krankenhäuser mussten schließen, ein Kreuzfahrtschiff kenterte. Über 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, Hunderttausende obdachlos. Anstelle des Lagerhauses ist nur noch ein gefluteter Krater zu sehen.
An dem rotschwarzen Rauch über dem Hafen sahen Experten sofort: Das war Stickstoff. Genauer: Ammoniumnitrat, eine Stickstoffverbindung, die als Ausgangsmaterial für verschiedene Sprengstoffe dient, die vor allem im Bergbau gebraucht werden. Ammoniumnitrat ist an sich relativ harmlos, doch in Kombination mit einem Brennstoff und wenn es großer Hitze oder Druck ausgesetzt ist, kann es explodieren. Schwere Industrieunfälle in den USA und auch in China gehen auf Ammoniumnitrat zurück. Deswegen müssen bei der Lagerung normalerweise strenge Sicherheitsvorschriften beachtet werden. Doch das Ammoniumnitrat in Beirut war dort nie für eine Einlagerung vorgesehen.
Die Chemikalie kam ursprünglich aus Georgien und sollte an eine Sprengstofffabrik in Mozambik geliefert werden.1 Aus finanziellen Gründen entschied der russische Eigner jedoch, dass das Frachtschiff einen Zwischenstopp in Beirut einlegen sollte, um zusätzliche Ladung aufzunehmen. Dort setzten die libanesischen Behörden das Schiff wegen technischer Mängel fest. Das war 2013. Wenig später wurde das Schiff von seinem Eigentümer aufgegeben, mitsamt seiner heiklen Fracht. Als die Crew von Bord ging, wurden die Säcke mit Ammoniumnitrat an Land gehievt und blieben dort jahrelang schlecht gesichert in einer Halle liegen. Das marode Schiff sank später an anderer Stelle im Hafen. Viele Libanesinnen und Libanesen sahen in der Explosion das tragische Resultat von jahrzehntelanger Korruption und Misswirtschaft in ihrem Land und gingen voller Wut auf die Straße. Wenige Tage später trat die Regierung zurück. Stickstoff kann also als träges Gas in der Luft herumhängen. Oder er kann in wenigen Sekunden die Geschichte eines Landes verändern.
Und in einigen Jahrzehnten die Geschichte der ganzen Menschheit. Ausgerechnet am markantesten Wahrzeichen der Katastrophe in Beirut, an den hoch aufragenden Türmen des zentralen Getreidespeichers gleich neben dem Krater im Hafen, zeigt sich die eigentliche Gestaltungsmacht von Stickstoff. Denn dort, am Fuß der aufgerissenen Zylinder aus Stahlbeton schwelen und rotten wie ausgespien Berge aus Weizen und Mais. Diese Massen an Getreide würde es ohne Stickstoff nicht geben. Bei aller Sprengkraft, die im Stickstoff schlummert — seine wahre Superkraft liegt nicht darin, Leben zu vernichten. Sondern darin, es wachsen zu lassen.
Phosphor und Kalium führen ein ähnliches Doppelleben. Auch sie können mächtige zerstörerische Kräfte freisetzen, im Schießpulver etwa, oder in den verheerenden Phosphorbomben, die im Zweiten Weltkrieg ganze Städte verwüstet haben und die trotz internationaler Abkommen noch immer eingesetzt werden. Doch auch sie sind gleichzeitig unersetzlich für alles Leben auf der Erde. Und obwohl die drei Elemente so ein formidables Trio infernale abgeben, ist es diese, ihre nährende Kraft, die die Geschicke der Menschheit weit mehr bestimmt, als die meisten Menschen das wohl erwarten würden.
Der Getreidespeicher im Hafen von Beirut fasste in intaktem Zustand rund 100.000 Tonnen. Diese Größe war notwendig, um die regelmäßigen Getreideimporte aufzunehmen, ohne die das Land seine Menschen nicht ernähren kann. Die Mengen an Weizen, Gerste und Mais, die notwendig sind, um diesen und zahllose vergleichbare Speicher in den Häfen der Welt zu füllen, sind ohne Dünger nicht denkbar. Und in diesem Dünger sind Stickstoff, Phosphor und Kalium die wichtigsten Elemente. Die drei werden oft in einem Atemzug genannt, oft in der Kurzformel NPK, zusammengesetzt aus den chemischen Zeichen für Stickstoff (N), Phosphor (P) und Kalium (K). Gemeinsam bildet dieses elementare Dreigespann eine der entscheidenden Grundlagen für die Ernährung der Welt.
Das ist an sich keine neue Entwicklung. Die drei Elemente sind wesentlicher Bestandteil allen Lebens auf der Erde, und wir haben sie schon immer über die Nahrung aufgenommen. Doch dass Menschen die globalen Ströme von Stickstoff, Phosphor und Kalium gezielt manipulieren, um Nahrung zu erzeugen, das ist eine Neuerung aus den letzten 12.000 Jahren, als die Menschen anfingen, sesshaft zu werden und Landwirtschaft zu betreiben. Um zu verstehen, warum das ohne Dünger nicht geht, müssen wir uns vorübergehend von den Menschen ab- und den Pflanzen zuwenden.
Pflanzen sind etwas Besonderes. Anders als die meisten anderen Lebewesen können sie die Energie des Sonnenlichts einfangen und mit Wasser aus der Erde und Kohlendioxid aus der Luft in feste Masse umwandeln. Essbare Masse. Damit sind sie die Grundlage fast aller Nahrungsnetze auf dem Planeten. Auch unserer. Doch sie könnten das nicht ohne Stickstoff, Phosphor und Kalium. Natürlich haben sie keinen Pulsschlag und auch keine Nerven oder Knochen, in denen die drei Elemente zum Einsatz kommen könnten. Dafür sind sie grün. Die meisten jedenfalls. Und damit fängt es an.
Pflanzen (wie auch einige Bakterien und Algen) sind grün, weil sie den Farbstoff Chlorophyll enthalten. Das Chlorophyll dient dazu, die Sonnenenergie einzufangen, und ein zentraler Baustein von Chlorophyll ist Stickstoff. Genügend Stickstoff heißt mehr Chlorophyll, heißt mehr Energie, heißt mehr Grün. Oft sieht man den Pflanzen direkt an, wie gut ihre Stickstoffversorgung gerade ist.
Und noch an anderer Stelle im komplexen Spiel der Photosynthese ist Stickstoff essenziell: in einem Enzym mit dem großen Namen Ribulose-1,5-bisphosphat-carboxylase/-oxygenase, besser bekannt als RuBisCo oder einfach Rubisco. Enzyme sind wichtige chemische Werkzeuge im Stoffwechsel. Sie bestehen aus Proteinen, und Proteine enthalten Stickstoff. Es gibt Tausende Enzyme in jeder Pflanze, die Tausende von Reaktionen in der Sekunde in Gang setzen. Unter ihnen hat Rubisco eine Schlüsselrolle. Es steht sozusagen an der Schwelle von der anorganischen zur organischen Welt, indem es hilft, das Kohlendioxid aus der Luft aufzubrechen, sodass der darin enthaltene Kohlenstoff weiter zu Zucker verarbeitet und in der Pflanze verbaut werden kann. An Rubisco kommt keiner vorbei. Seine Reaktionen sind das Nadelöhr der Photosynthese. Doch Rubisco ist weder schnell noch präzise. Im Gegenteil. Es ist langsam und tüdelig.2 Entsprechend schlecht ist sein Ruf. Selbst unter seriösen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fallen Ausdrücke wie »Faulpelz« und »Trantüte«, wenn von Rubisco die Rede ist. Um dieses Maß an Inkompetenz einigermaßen auszugleichen, produzieren Pflanzen Rubisco en masse. Es ist wahrscheinlich das mengenmäßig häufigste Enzym der Erde. In vielen Pflanzenblättern macht es nahezu die Hälfte des gesamten Proteingehalts aus. Entsprechend viel Stickstoff brauchen die Pflanzen für seine Produktion.3
Stickstoff steckt noch in vielen anderen wichtigen Verbindungen im Pflanzenleben, nicht zuletzt im Erbmaterial der DNA. Dort hat auch Phosphor eine wichtige Funktion, denn durch seine chemischen Eigenschaften ist er in der Lage, besonders stabile Verbindungen zwischen den DNA-Bausteinen zu knüpfen und so das biologische »Gedächtnis« eines Organismus vor dem Verlust zu bewahren. Ohne eine stabile DNA würden die Zellen in eine »biochemische Amnesie« verfallen und »wüssten« nicht mehr, wie sie Enzyme und alles andere herstellen sollen oder was sie sonst noch zu tun haben.4 Phosphor ist außerdem ein wichtiger Bestandteil der Zellmembranen, die das Innere der Zelle vom Äußeren trennen. Und wie Ihre Herzzellen können auch Pflanzenzellen ohne das Energiespeicher-Molekül Adenosintriphosphat (ATP) nicht arbeiten. Auch Phosphor ist daher für das Pflanzenwachstum unerlässlich.
Kalium dagegen wird nicht direkt beim Aufbau neuer Pflanzenteile verwendet. Stattdessen reguliert es unter anderem den Wasserhaushalt der Pflanze. Eine hohe Kaliumkonzentration in den Zellen führt dazu, dass eine Pflanze viel Wasser aufnimmt. Im Leitungssystem der Pflanzen hat das zum Beispiel Einfluss auf den Wurzeldruck, der dafür sorgt, dass der Pflanzensaft mitsamt den Nährstoffen aus dem Boden nach oben strömen und die Pflanze versorgen kann. Auch in den Blättern steigt mit dem Kaliumgehalt der Druck, der sogenannte Turgor, über den die Pflanze unter anderem das Öffnen und Schließen der Blattporen steuert, durch die das Kohlendioxid überhaupt erst in die Pflanze hineinkommt (um dann von Rubisco zerlegt zu werden).
Die Elemente sind also schwer beschäftigt in der Pflanze und werden dringend gebraucht. Die Versorgung mit diesen Nährstoffen regeln Pflanzen normalerweise selbst, indem sie da sterben und verrotten, wo sie gewachsen sind, und ihre Nährstoffe so an den Boden zurückgeben zum weiteren Gebrauch für die Nachbarn und indem sie das nutzen, was auf anderen Wegen, etwa durch Verwitterung oder durch andere Lebewesen, in den Boden an ihrem Standort eingetragen wird. Und wenn das nicht reicht, dann wachsen sie eben nicht.
Landwirtschaft läuft anders. Wenn man Pflanzen anbaut, um sie anderswo zu verzehren, dann führt das dazu, dass dem Boden Nährstoffe entzogen werden. Wenn man außerdem den Boden umgräbt, etwa um neue Pflanzen zu pflanzen, wird der Humus, der organische Anteil des Bodens, in dem die meisten Nährstoffe sitzen, schneller abgebaut, und die Nährstoffe schwinden. Jede Form von Landwirtschaft muss also Wege finden, die Nährstoffbestände im Boden wieder aufzufüllen.
Diese Erfahrung machten schon die ersten Landwirtinnen und Landwirte, die es je gab. Sie lösten das Problem, indem sie nach ein paar Ernten einfach weiterzogen und an anderer Stelle neues Land umbrachen und sich so ein neues Nährstoffreservoir erschlossen. Oft brannten sie Flächen nieder, und mit der Asche kamen eine Zeit lang zusätzliche Nährstoffe ins System.
Andere frühe Bauern ließen sich die Nährstoffe bringen, etwa indem sie sich in den Überschwemmungsgebieten von Flüssen niederließen, wo Hochwasser immer wieder nährstoffreichen neuen Schlamm heranspülten.5 Doch Verbrennen und Weiterziehen ist beschwerlich und verbraucht große Flächen, und Schwemmlandschaften sind begrenzt. Die meisten traditionellen Landwirtschaften setzten daher auf irgendeine Form des Recyclings von organischem Material.
Das Naheliegendste war es natürlich, Ernteabfälle wie Halme und Spelzen gleich wieder aufs Feld zu schaffen und in den Boden einzuarbeiten. Doch das ist mühsame Arbeit (besonders zu einer Zeit, als der Pflug noch nicht erfunden war). Vor allem aber war das Stroh ein wichtiger Rohstoff für eine ganze Reihe konkurrierender Zwecke, etwa als Baumaterial, Brennstoff oder Tierfutter, und damit eigentlich zu wertvoll, um es einfach wieder aufs Feld zu geben. Das gilt für viele kleinbäuerliche Betriebe bis heute.
Eine weitere wichtige Nährstoffquelle war Dung, und zwar sowohl der von Tieren als auch der von Menschen. Im Tierdung wird ein Teil der Nährstoffe aus dem Stroh und aus allem anderen, was die Tiere gefressen haben, aufkonzentriert und kann in vergleichsweise kompakter Form wieder aufs Feld gebracht werden. Vor allem die »Waldweide«, bei der Kühe oder Schweine tagsüber mehr oder weniger frei im Wald unterwegs waren und nur nachts eingehegt wurden, war eine gute Methode, Nährstoffe aus der Umgebung »einzusammeln«. Mist als Düngemittel ist schon bei den alten Griechen beschrieben, und im alten Rom schätzte man schon vor rund 2000 Jahren Hühnerkot als den überlegenen Dünger gegenüber allem anderen Mist.6 Jeder Güllesprenger, hinter dem Sie auf der Landstraße herschleichen, ist also die Fortsetzung einer jahrtausendealten Recyclingkultur.
Ideal ist diese Form der Düngung allerdings auch nicht. Der Transport vom Ort der Tierhaltung aufs Feld ist aufwendig und ineffizient, denn ein Großteil der Masse, die transportiert werden muss, ist nicht Dünger, sondern Wasser. Das gilt vor allem, wenn wie im Fall der Gülle der Urin mit gesammelt und ausgebracht wird. Auch geht ein beträchtlicher Teil der Düngewirkung unterwegs verloren, weil sich die Nährstoffe zum Teil in die Luft verflüchtigen oder aus dem Boden ausgewaschen werden, bevor sie von den Pflanzen auf dem Acker aufgenommen werden.
Menschlicher Dung und Urin sind ebenfalls sehr reich an Nährstoffen, denn wie alle Tiere scheiden auch wir einen Großteil der mit der Nahrung aufgenommenen Nährstoffe gleich wieder aus. So finden sich zum Beispiel bei Erwachsenen 75 bis 90 Prozent der täglich aufgenommenen Stickstoffmenge direkt im Urin wieder.7
In China und auch in Japan gab es daher noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Tradition, die menschlichen Exkremente in den Städten einzusammeln und auf den umliegenden Feldern auszubringen, die sogenannte »Nachterde«, ein schöner Name für ein vielleicht nicht ganz so schönes, aber doch sehr wertgeschätztes Produkt. Doch obwohl in China in einigen Regionen bis zu 80 Prozent aller menschlichen Exkremente recycelt wurden, war die Ausbeute an Nährstoffen begrenzt. Der kanadische Umweltwissenschaftler Vaclav Smil, der viele Nährstoffströme untersucht hat, schätzt die Menge an Stickstoff, die auf diesem Weg auf die Felder kam, auf etwa 20 Kilogramm pro Hektar. Zu wenig, um eine ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren.8
Neben Ernteabfällen, Mist und Urin wurden überall auf der Welt noch viele andere organische Materialien recycelt: Rückstände aus Ölpressen, Kompost aus Markt- und Küchenabfällen, Schlamm aus Gräben, Teichen und Kanälen, alte Knochen und Abfälle aus dem Schlachthaus und alle möglichen anderen Stoffe, in denen sich Stickstoff, Phosphor und Kalium sammelten. Oft war der Nährstoffgehalt gar nicht besonders hoch — doch jeder Krümel, der half, die Fruchtbarkeit der Böden zu erhalten, war kostbar und eine Menge extra Arbeit wert. Dünger hatte man nie genug.
Wenn Recycling nicht mehr ausreicht, muss man neue Nährstoffquellen finden. Eine der wirkungsvollsten in der Geschichte war der Anbau von Hülsenfrüchtlern, den sogenannten Leguminosen. Zu dieser artenreichen Pflanzenfamilie gehören nicht nur Erbsen, Linsen und Bohnen, sondern auch Kichererbsen, Soja, Lupinen, Luzerne, Wicken und Klee. Die Wissenschaftsjournalistin Anne Preger berichtet, dass Bäuerinnen und Bauern in China schon vor mindestens 2500 Jahren Leguminosen pflanzten, um ihre Böden fruchtbarer zu machen.9 Die Methode war so wirkungsvoll, dass sie von vielen ansonsten durchaus unterschiedlichen Kulturen auf vier Kontinenten unabhängig voneinander in verschiedenen Varianten entwickelt wurde.10 Mal wurden die eiweißreichen Hülsenfrüchte als Tierfutter genutzt, mal für den menschlichen Verzehr, mal als Untersaat gepflanzt, gemischt mit anderen Kulturen, mal als Teil einer Fruchtfolge im Wechsel mit Getreide.
In Deutschland machten im 17. und 18. Jahrhundert vor allem Klee und Luzerne einen Unterschied, auch dank des rastlosen Einsatzes zweier »Klee-Influencer«, wie Preger schreibt: Dem Pastor Philipp Ernst Lüders in Schleswig-Holstein und dem Schreiber Johann Christian Schubart in Sachsen-Anhalt, der später für seine Aufklärungsarbeit sogar geadelt wurde und fortan den Namenszusatz »Edler von dem Kleefelde« tragen durfte. Beide suchten nach Wegen, die Situation der Bauernfamilien zu verbessern, von denen viele damals in großer Armut lebten. Durch den Anbau von Klee als Zwischenfrucht konnten die Bauern ihre Erträge in kurzer Zeit deutlich steigern. »Wer früher sieben elende Kühe hielt, hatte nun zwölf bis vierzehn Kühe und jede von ihnen gab mehr Milch als man ehemals von zweien erhielt«, zitiert Preger aus einem dankbaren Nachruf für den Pastor.11
Auch in England trugen die Leguminosen wesentlich dazu bei, die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. Dort nahmen zwischen den Jahren 1300 und 1800 die Ernteerträge von Weizen um gut zwei Drittel zu, die von Gerste und Hafer sogar noch etwas mehr. Ein Wissenschaftler aus Oxford schätzte 2008 in einer Studie ab, dass etwa die Hälfte dieser Zuwächse auf den Anbau von Hülsenfrüchtlern zurückzuführen ist.12 Damit verbesserten die Leguminosen nicht nur die Versorgung der Landbevölkerung. Sie bereiteten auch den Boden für die industrielle Revolution, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Städten Englands ihren Anfang nahm. Denn die zusätzlichen Erträge setzten nicht nur die notwendigen Arbeitskräfte auf den Höfen frei, die dann in die Städte ziehen konnten. Sie sorgten auch dafür, dass diese vielen neuen Arbeiterinnen und Arbeiter in den Städten ernährt werden konnten. Der Historiker G. P. H. Chorley schlussfolgert deswegen sogar, dass die innovative Wirkung der Gründüngung durch Hülsenfrüchte durchaus mit der der Dampfmaschine zu vergleichen sei.13
Doch obwohl man die Leguminosen seit Jahrtausenden erfolgreich zu nutzen wusste — der Grund für ihre gute Düngewirkung blieb lange Zeit ein Rätsel. Erst Ende des 19. Jahrhunderts fand die Wissenschaft die Antwort. Und sie ist winzig.
Die erste Erkenntnis war, dass Hülsenfrüchte den Boden mit Stickstoff anreichern, statt ihm das wertvolle Nährelement zu entziehen, wie es alle anderen Pflanzen tun. Das heißt, die Leguminosen mussten Zugriff auf eine andere Stickstoffquelle haben. Dafür kam nur der Stickstoff aus der Luft infrage. Doch wie war das möglich? Für eine Stickstoffgewinnung aus der Atmosphäre sind Pflanzen normalerweise nicht ausgestattet. Leguminosen schon. Genauer: Sie haben sich Helfer gesucht, die den Stickstoff für sie aus der Atmosphäre fischen und in den Boden ziehen können. Diese Helfer sitzen in kleinen Knöllchen im Wurzelwerk der Pflanzen. Es sind spezielle Bakterien, sogenannte Rhizobien oder »Knöllchenbakterien«, mit denen die Hülsenfrüchte in einer sehr fruchtbaren Symbiose leben. Anders als ihre pflanzlichen Partner können die Bakterien Nitrogenase herstellen, ein Enzym, das den Luftstickstoff knacken kann. Das kostet die Bakterien zwar einiges an Energie, aber im Gegenzug bekommen sie wasserlösliche Kohlenhydrate und Zucker als Nahrung von der Pflanze, und das ist für beide Seiten offenbar ein gutes Arrangement. Von dem nun auch der Mensch profitiert. Besonders gute Stickstoffsammler sind die Rhizobien von Klee und Luzerne. Der Umweltwissenschaftler Smil schätzt, dass ihr Anbau in der vorindustriellen Landwirtschaft mindestens 100 bis 150 Kilogramm Stickstoff pro Hektar zusätzlich aufs Feld brachte.14 Das ist mehr als das Fünffache von dem, was man mit Dung als Dünger bewirken konnte.
Es gab also große Fortschritte im Nährstoffmanagement. Die Erträge stiegen und damit auch die Zahl an Menschen, die ein Stück Ackerland ernähren konnte. Laut Smil wurden beim Wanderfeldbau, bei dem Menschen die Versorgung mit Nährstoffen nur in sehr geringem Maß beeinflussten, nur etwa 0,1 bis 0,6 Menschen von den Erträgen auf einem Hektar Land satt. Um einen ganzen Menschen ausreichend zu versorgen, waren unter dieser Bewirtschaftung also große Flächen notwendig. Dagegen schafften es die produktivsten traditionellen Landwirtschaftssysteme, in denen mehr als drei Viertel des Stickstoffbedarfs von den Menschen bereitgestellt wurden, pro Hektar mehr als zehn Menschen zu ernähren. In Regionen mit weniger günstigen Klimaten waren es immerhin noch fünf.15 Das sind beachtliche Erfolge. Doch der Dünger reichte noch immer nicht.
Im 19. Jahrhundert stießen die traditionellen Methoden, Nährstoffe herbeizuschaffen, an ihre Grenzen. Waldweiden und andere Flächen, die sich als Viehweide und damit als Nährstoffsammelplatz nutzen ließen, wurden immer knapper. Die intensive Nutzung menschlicher Fäkalien brachte immer stärkere gesundheitliche Belastungen mit sich, vor allem durch Parasiten wie Spul- oder Hakenwürmer. Und die Hülsenfrüchtler waren zwar wegen ihrer Düngewirkung willkommen, doch ihr Ertrag ist relativ gering. Und wenn sich auf derselben Fläche ein Vielfaches an Getreide gewinnen ließ, dann gab man diesem meist den Vorzug. Auch sind Hülsenfrüchte oft aufwendig in der Verarbeitung, sodass der Konsum zurückging, sobald andere, weniger umständliche Feldfrüchte zur Verfügung standen. All diese Entwicklungen machten deutlich: Die traditionellen Methoden der Nährstoffgewinnung und -rückgewinnung aus den eigenen Flächen heraus waren ausgereizt. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung in Europa rasant und deutlich schneller als die Erträge auf den Äckern.16 Viele Menschen hungerten, und die Frage der Bodenfruchtbarkeit beschäftigte nicht länger nur Bäuerinnen und Bauern, sondern zunehmend auch die Wissenschaft.
Auch der junge Philipp Carl Sprengel sah es als seine wichtigste Aufgabe, die Fruchtbarkeit der Ackerböden zu erhalten. Sprengel kam selbst vom Land, von einem Hof im kleinen Schillerslage bei Hannover.17 Schon mit fünfzehn Jahren begann er im nahen Celle an der Akademie von Albrecht Thaer, einem der bedeutendsten Agrarwissenschaftler seiner Zeit, zu studieren. Danach sammelte er als Berater auf großen Gütern in Sachsen, Thüringen und in Schlesien im heutigen Polen umfassende praktische Erfahrung mit verschiedenen Bodenbeschaffenheiten, Klimaten und Fruchtfolgen. Als Sprengel schließlich 1821 sein Studium der Naturwissenschaft an der Universität Göttingen aufnahm, galt er bereits als einer der erfahrensten und kundigsten Agronomen im Land. 1823 promovierte er in Chemie. 1826 widerlegte er die damals vorherrschende »Humustheorie« der Pflanzenernährung, im Widerspruch zu seinem Mentor Thaer, der einer ihrer prominentesten Verfechter war.
Nach dieser »Theorie« galt damals Humus als der Hauptnährstoff der Pflanzen, vor allem als Quelle für Kohlenstoff. Außerdem nahm man an, dass die Pflanzen eine besondere innere »Lebenskraft« hätten, mit der sie weitere wichtige Bausteine wie zum Beispiel Kalium selbst herstellen konnten. Doch mit seinen Experimenten an verschiedenen Humus-Extrakten wies Sprengel nach: Nicht der Humus ernährt die Pflanzen, sondern anorganische Salze wie Nitrate, Sulfate, Chloride und Phosphate, die im Humus lagern. Pflanzen brauchen daher auch keine besondere »Lebenskraft«, sondern ziehen sich die notwendigen Mineralstoffe aus dem Boden und den Kohlenstoff aus der Luft. Heute wissen wir, dass die organischen Verbindungen im Humus durchaus wichtige Funktionen haben. Aber Nährstoffe sind sie nicht. Die Nährstoffe sind anorganisch.
Für Sprengel war sofort klar, dass diese Erkenntnisse radikal neue Möglichkeiten der Düngung eröffneten.18 In einer Welt mit einer hungrigen und schnell wachsenden Bevölkerung konnte seine Mineralstofftheorie für viele Menschen die Rettung bedeuten. Doch in den 1820er- und frühen 1830er-Jahren, als er seine Erkenntnisse veröffentlichte, fanden sie in der breiteren landwirtschaftlichen Community wenig Resonanz.
Etwa zur gleichen Zeit war ein junger Chemieprofessor in Gießen dabei, systematisch Hunderte von Pflanzen und Pflanzenteilen und viele Organe von Tieren zu verbrennen und die Aschen auf ihre Bestandteile zu untersuchen. Der junge Mann hieß Justus Liebig (damals noch ohne »von«). Als Sohn eines »Handelsmannes« kam er aus eher kleinen Verhältnissen. Das Gymnasium verließ er ohne Abschluss, und auch seine Apothekerlehre brach er ab, wahrscheinlich, weil sein Vater das Lehrgeld nicht aufbringen konnte.19 Stattdessen half Justus im Laden, wo er unter anderem einfache Chemikalien wie Lacke und Firnisse verkaufte, die der Vater in einem kleinen Labor und im Hof seines Hauses herstellte. Zu ihren Kunden gehörte ein Chemieprofessor, der sich schließlich bereitfand, den jungen Liebig zunächst als »Famulus« in seinem Labor assistieren zu lassen, und ihm später zu einem ordentlichen Studienplatz an der Universität Bonn verhalf.
Justus Liebig erwies sich als begabter und ausgesprochen vielseitiger Chemiker. Im Laufe seiner Forschungen entwickelte er eine Reihe von neuen, hochpräzisen Messgeräten und legte so die Basis für eine neue Epoche der organischen Chemie. Wie Sprengel kam auch Liebig in seinen Analysen zu dem Schluss, dass »Mineralsubstanzen«, also Kohlensäure, Wasser, Ammoniak, sowie »Phosphorsäure, Schwefelsäure, die Alkalien, Kalk-, Bittererde, Eisen« und einige weitere die »Nahrungsmittel« der Pflanze seien.20 Und nicht Humus. Als er dies erkannte, war Liebig bereits ein weltbekannter Wissenschaftler mit einer langen Liste viel beachteter Publikationen. Sein erstes Buch über die »Agriculturchemie« erschien 1840. Es wurde sofort zu einem internationalen Bestseller mit über zwanzig Auflagen in nur wenigen Jahren.21
Warum Liebigs Buch solche Aufmerksamkeit fand, Sprengels frühere Erkenntnisse aber nicht, ist schwer nachzuvollziehen. Liebig war ein anderer Typ als Sprengel, prominent und streitbar, ein energischer und lebhafter Redner. Und wahrscheinlich war zur Mitte des Jahrhunderts auch der Druck auf die Landwirtschaft noch größer, endlich neue Wege zu finden, um die immer weiter wachsende Bevölkerung zu ernähren. Sprengel protestierte, weil Liebig seine Arbeit nicht angemessen im Buch zitierte. Doch vergebens. 1845 wurde Liebig für seine Verdienste in dem neuen Feld der Agrarchemie geadelt. Sprengels Pionierleistung dagegen geriet für viele Jahre in Vergessenheit.
Eine wichtige Erkenntnis, die ebenfalls oft mit Liebig verbunden wird, aber schon 1828 von Sprengel formuliert wurde, ist das sogenannte »Gesetz des Minimums«.22 Liebig hat es bekannt gemacht und erweitert, und es ist die entscheidende Grundregel für den Düngeerfolg auf dem Acker. Es besagt in etwa Folgendes: Für ein optimales Wachstum muss eine Pflanze ausreichend mit Licht und mit allen notwendigen Nährstoffen versorgt werden. Mangelt es auch nur an einem, dann kann man von den anderen so viel zugeben, wie man will — die Pflanze wächst trotzdem nicht so gut, wie sie könnte. Wie gut eine Pflanze wächst, entscheidet sich also an der Ressource, die bezogen auf den Bedarf der Pflanze gerade am knappsten ist, im Minimum eben. Dieser »limitierende Faktor« kann ein Nährstoff sein, aber auch Wasser oder Licht. In den Worten Sprengels: »Wenn eine Pflanze 12 Stoffe zu ihrer Ausbildung bedarf, so wird sie nimmer aufkommen, wenn nur ein einziger an dieser Zahl fehlt, und stets kümmerlich wird sie wachsen, wenn einer derselben nicht in derjenigen Menge vorhanden ist, als es die Natur der Pflanze erheischt.«23 Die Pflanzenernährung ist also wie eine Kette, und die jeweils knappste »Zutat« ist wie das schwächste Glied. Fehlt eines, bremst alles.
Dieses neue Wissen — die Mineralstofftheorie und das Gesetz des Minimums — eröffnete einen ganz neuen Blick auf die ewige Düngerfrage. Wenn man weiß, welche Mineralstoffe die Pflanze zum Wachsen braucht, dann ist es egal, woher die Nährstoffe kommen. Man muss nur genügend davon beschaffen. Und plötzlich rückten bis dahin eher obskure Substanzen in den Blick, aus bis dahin, zumindest für Europäer, eher obskuren Ecken der Welt. Zum Beispiel aus den trockenen Küstenregionen Südamerikas.
Teil 2
Seid ihr bereit, und um den Preis welchen Opfers, gut miteinander zu leben?
Bruno Latour
Kurz bevor Liebig geboren wurde, erreichte im Jahr 1802 sein künftiger Forscherkollege Alexander von Humboldt nach einem beschwerlichen Abstieg von den Anden die Westküste Perus. Nahe der Hauptstadt Lima, wo er sich aufhielt, um einige astronomische Messungen vorzunehmen, stach ihm im Hafen von Callao der beißende Geruch von Ammoniak in die Nase, der von einigen Frachtkähnen herüberwehte. Huanu nannten die Einheimischen die gelblich braune Substanz, die sie weiter südlich auf Vogelinseln vor der Küste abgruben.1 Einhellig lobten sie ihre ausgezeichnete Düngewirkung und die guten Geschäfte, die sie damit entlang der Küste machten. Humboldt nahm eine Probe mit und ließ sie, kaum dass er 1804 zurück war in Europa, von Chemikern seines Vertrauens analysieren.2
Der Huanu von den peruanischen Inseln verdankt seine Existenz einer besonderen Fügung von Umständen. Die Inseln liegen in einer Meeresregion mit ungewöhnlich nährstoffreicher Strömung, die sehr viele Fische satt macht, die ihrerseits sehr viele Seevögel ernähren. Diese siedeln in großen Kolonien auf den Inseln und produzieren große Mengen Exkrement. Und weil das Klima in der Gegend äußerst trocken ist, werden die Nährstoffe nicht ausgewaschen, sondern reichern sich auf den Inseln an. Das Prinzip ist also ähnlich wie bei der traditionellen Waldweide, nur dass es eben nicht Kühe sind, die Gras fressen, sondern Vögel, die die Nährstoffe aus der Umwelt in Form von Fischen einsammeln und als Konzentrat nutzbar machen.
Humboldts Experten in Europa kamen schnell zu dem Schluss, dass dieser »Guano«, wie sie den fremden Stoff nannten, zu einem Viertel aus Harnsäure bestand und damit ungewöhnlich viel Stickstoff enthielt. Auch der Anteil an Phosphor war hoch. Wenn diese seltsame Substanz die kargen Küsten Perus erblühen lassen konnte, vielleicht konnte sie dann auch ausgelaugte Böden in anderen Teilen der Welt wiederbeleben? Aus dieser Hoffnung heraus begann das, was der Umwelthistoriker Gregory Cushman das »Guano-Zeitalter« nennt, ein weltweiter und zeitweise höchst lukrativer Handel mit, nun ja, Vogelschiss.3
Bis der Guano-Boom so richtig in Schwung kam, vergingen allerdings einige Jahrzehnte. Der neue Dünger war im Vergleich zum heimischen Mist sehr teuer, und die Lieferzeiten waren lang. Die ersten Feldversuche in Europa scheiterten. Nach der Unabhängigkeit von Spanien Mitte der 1820er-Jahre wollte die neue peruanische Regierung die Wirtschaft fördern und sandte erneut Guanoproben nach Europa. 1840, im gleichen Jahr, als Liebig sein Buch von der »Agriculturchemie« veröffentlichte, gelang es dem peruanischen Geschäftsmann Francisco Quirós y Ampurdia, mit französischen Investoren, einem englischen Handelshaus und der peruanischen Regierung einen Deal zu schließen, der ihm die exklusiven Schürfrechte auf den Chincha-Inseln, dem reichhaltigsten Guano-Reservoir Perus, sicherte. Quirós wäre über diesem Geschäft beinahe bankrottgegangen.4 Doch in neuerlichen Feldversuchen nicht nur auf den Britischen Inseln, sondern auch an klimatisch und landwirtschaftlich so unterschiedlichen Orten wie München, Massachusetts oder Mauritius soll Guano Ertragssteigerungen von 30 bis zu sagenhaften 300 Prozent gebracht haben.5 Die Nachfrage schnellte nach oben, und Quirós und Konsorten wurden reich. Durch den Export von Nährstoffen wurde die bis dahin eher abseits liegende Region an der Westküste Südamerikas immer enger in das weltweite Handelssystem hineingezogen, mit weitreichenden Folgen für die peruanische Wirtschaft und Gesellschaft und für die Ökosysteme entlang der Küste. Mehr als die Hälfte der Einnahmen aus dem Guanohandel ging an den peruanischen Staat. Die Lizenzen für den Abbau wurden über Jahrzehnte die Haupteinnahmequelle für das Land. Viele einflussreiche Familien machten in dieser Zeit ihr Vermögen.6 Sogar die Wurzeln der heutigen Umweltbewegung lassen sich auf den Guanohandel zurückführen.7
1841 lieferten 23 Schiffe 6300 Tonnen Guano nach England. Im selben Jahr kam auch die erste große Lieferung des »köstlichen Mittels«, wie Humboldt den stinkenden Vogelmist nannte, über England nach Deutschland.8 Humboldt war mit seiner Begeisterung nicht allein. In der Zeitschrift Die Gartenlaube hieß es 1863 über den neuartigen Dünger: »Hätte einer unseren biederen ackerbautreibenden Altvordern gesagt ›Es wird eine Zeit kommen, wo der Bauer den besten Mist vom entgegengesetzten Ende der Erde, viele, viele Hundert Meilen über weite Meere her beziehen wird‹ — sie hätten ihn ausgelacht und die Richtigkeit in seinem Oberstübchen in Zweifel gezogen. Und doch ist diese Zeit gekommen, kein einsichtsvoller Landwirth lacht mehr über die Zumuthung, seine Felder mit antipodischem Dünger zu durchsetzen; der nimmer rastende menschliche Unternehmungsgeist hat das ehemals Unmögliche und Lächerliche möglich und vernünftig gemacht, tagtäglich sind viele mit Dünger schwerbelastete Schiffe auf hoher See, während der europäische Landmann mit kluger Berechnung den Mehrbetrag erwägt, den ihm das kostbare Düngmittel bei der nächsten Ernte verschaffen soll.«9
Hauptabnehmer für den antipodischen Dünger war England, gefolgt von Frankreich, Deutschland und Belgien. Parallel zu Sprengel und Liebig in Deutschland hatten auch andere europäische Wissenschaftler wie der französische Chemiker Jean-Baptiste Boussingault und die englischen Agrarwissenschaftler John Bennet Lawes und Joseph Henry Gilbert die Wirkung von Stickstoff, Phosphor und Kalium als Pflanzennährstoffe erforscht und waren zu ähnlichen Schlüssen über den Nutzen der Mineraldüngung gekommen. Die Nachfrage nach Guano stieg daher schnell. Im Jahr 1870 erreichte der Export sein Maximum mit 700.000 Tonnen.10
Doch der plötzliche Düngerreichtum währte nicht lange. Die enormen Gewinne, die der Guanohandel einbrachte, verführten dazu, möglichst viel von den Vorkommen auf den Inseln in möglichst kurzer Zeit abzubauen, ohne Rücksicht auf Menschen oder Vögel. Der Vogelkot lag knochenhart in meterdicken Schichten. Tausende chinesischer Arbeiter schufteten zwischen den stinkenden Bergen unter brutalen Bedingungen und gruben einen Rohstoff ab, der nicht so schnell nachwuchs.11 Die Seevogelbestände gingen zurück und brachen schließlich zusammen, als zu der Zerstörung ihres Lebensraums auch noch Klimaschwankungen hinzukamen. Ausgerechnet Justus von Liebig, einer der »Väter« der Mineraldüngung, warnte schon in den 1850er-Jahren davor, dass die Guanovorräte bald erschöpft sein würden.12 Die peruanische Regierung stellte die Inseln und ihre Seevögel schließlich unter Schutz, doch die Guanoproduktion erreichte nie wieder die Bedeutung, die sie im 19. Jahrhundert hatte.
Trotz seiner weithin guten Presse sollte man jedoch die absoluten Mengen an Guano, die tatsächlich auf den Feldern in Europa und Nordamerika landeten, nicht überbewerten, warnt der Umwelthistoriker Cushman.13 Eine Untersuchung von landwirtschaftlichen Wirtschaftsbüchern in England zeige zum Beispiel, dass in der Zeit zwischen 1840 und 1879 nur ein Viertel der Landwirtschaftsbetriebe Guano zum Düngen benutzte. Es waren vor allem reiche Großgrundbesitzer, die in dieser Zeit mit allen möglichen Mitteln und Methoden experimentierten, um die Erträge ihrer Ländereien zu verbessern, und die ihre Erfolge laut herausposaunten.
Doch auch wenn die Mengen anfangs noch relativ gering waren, so veränderte Guano doch das landwirtschaftliche Denken von Grund auf. Bis zum »Guano-Zeitalter«, so schreibt Cushman, seien Landbesitz und Arbeitskräfte die Grundlage für Prestige und Wohlstand gewesen. Doch schon im 18. Jahrhundert wurden mit dem Abbau von Kohle, später Öl, Erdgas und Uran, große Mengen zusätzlicher Energie verfügbar, und die Arbeitskraft wurde frei für andere Tätigkeiten, zum Beispiel in der Fabrik. Mit der Entdeckung von Guano als Dünger wurde deutlich, dass man nicht nur Brennstoffe, sondern auch Nährstoffe aus anderen Teilen der Welt heranschaffen konnte, statt sie nur aus den eigenen Flächen heraus zurückzugewinnen. Die drohende Gefahr, eine wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren zu können, schien durch die neuen importierten Dünger gebannt — oder zumindest zeigten sie einen Weg. Doch sie verschoben auch den Schwerpunkt in der damaligen intensiven Landwirtschaft von der Idee der Bewahrung der Bodenfruchtbarkeit mit eigenen Mitteln hin zu einem System, das auf Durchsatz und Verbrauch basiert.14 Die Wirkung dieses Wandels spüren wir bis heute. »Peruanischer Guano war der Einstieg in die Sucht der modernen Landwirtschaft nach Kunstdünger und anderen Inputs«, schreibt Cushman.15
Als die Guanoblase schließlich platzte, war der peruanische Staat hoch verschuldet. Seine Regierenden jedoch waren zunächst kaum besorgt. Denn der Vogelmist von den Inseln war nicht der einzige nährstoffhaltige Rohstoff, den das Land der Welt zu bieten hatte. Im Schatten der Geschäfte mit Humboldts »köstlichem Mittel« waren Kaufleute, Ingenieure und Tausende von Arbeitern dabei, ein neues und wesentlich ergiebigeres Nährstoffvorkommen zu erschließen. An einem Ort, den kaum jemand als Quell erdumspannender Fruchtbarkeit erwarten würde — im scheinbar grenzenlosen Ödland der Atacama.
Dort zieht sich über mehr als 700 Kilometer ein Band von flachen Nitratlagerstätten durch eine der trockensten Wüsten der Erde, von der Region Tarapacá im Norden bis auf die Höhe von Taltal südlich von Antofagasta. Das Caliche-Gestein, oder »Felsensalz«, enthält an einigen Orten bis zu 70 Prozent Nitrate, und auch weniger reiche Lagen boten mit 25 bis 50 Prozent Nitrat noch eine ergiebige Ausbeute.16 Im nährstoffhungrigen 19. Jahrhundert war ein solcher Rohstoff für viele kostbarer als Gold.
Der Abbau nahm schnell an Fahrt auf. Zwischen 1850 und 1870 stieg der Export von Natriumnitrat aus der Atacama von etwa 30.000 Tonnen auf über 180.000 Tonnen pro Jahr.17 In Bolivien, auf dessen Territorium ein großer Teil der Nitratvorkommen lag, versuchte die Regierung schon bald, sich über Steuern und Abgaben einen größeren Anteil an den Gewinnen zu sichern. Doch viele der Salzminen in der Wüste wurden von ausländischen Firmen betrieben, viele mit Sitz in Chile, oft mit britischen und anderen Teilhabern. Als die bolivianische Regierung 1879 schließlich versuchte, Anlagen des größten Minenbetreibers, der Compañía de Salitres y Ferrocarril de Antofagasta (CSFA), wegen angeblich nicht entrichteter Steuern zu beschlagnahmen, marschierten chilenische Soldaten im Nachbarland ein, um die Geschäftsinteressen der Kompanie zu schützen.18 Bolivien war damals über einen Freundschaftsvertrag mit Peru verbündet, darum besetzte Chile auch gleich große Teile peruanischen Territoriums, inklusive der Chincha-Inseln mitsamt ihren Guanovorkommen und der Hauptstadt Lima. Der folgende Krieg um die Wüste und ihre Schätze wurde überwiegend auf See und sehr erbittert gefochten.19 Er endete 1884 mit einem klaren Sieg für Chile. Peru musste die Region Tarapacá und einen Teil seiner Guanoerlöse abgeben. Bolivien verlor nicht nur seine gesamten Nitratvorkommen, der Krieg kostete das Land auch die Stadt Antofagasta und den direkten Zugang zum Meer. Chile dagegen gewann die alleinige Kontrolle über die größten natürlichen Lagerstätten von Natriumnitrat auf dem Planeten.20 Der kostbare Rohstoff wird seitdem unter dem Namen Chilesalpeter gehandelt.
Ihre Größe und ihr hoher Stickstoffanteil machten die unwirtlichen Salpeterfelder in der Wüste zu einer begehrten und umkämpften Ressource. Doch wie sie eigentlich entstanden waren, blieb lange ein Rätsel. Hatte es in der Atacama einmal Wasser gegeben, und die Stickstofflager sind die Überreste einer verlorenen Pflanzenwelt? Oder war es auch hier der Vogelkot aus großen Kolonien, der in prähistorische Salzseen hineinsickerte? Die Antwort fanden Wissenschaftler erst im späten 20. Jahrhundert: Nicht das Vorhandensein von Wasser war es, das zu den Ablagerungen geführt hatte, sondern im Gegenteil: die ausgeprägte Trockenheit der Wüste.21
Die Atacama liegt tausend bis dreitausend Meter über dem Meeresspiegel auf einem Hochplateau im Regenschatten der Cordillera de la Costa, dem Küstengebirge im Westen, und dem Andenmassiv im Osten. Niederschläge fallen im Schnitt nur alle drei bis vier Jahre, in einigen Regionen auch nur alle acht bis zehn. Unter diesem Regime können sich nur wenige stickstoffverzehrende Mikroorganismen und Pflanzen halten. Derweil lagern sich auch ohne Niederschläge ständig kleinste Mengen an Stickstoffverbindungen und andere Substanzen aus der Atmosphäre ab.22 Normalerweise würden diese schnell wieder von Lebewesen aufgenommen. Wenn da aber keine sind, dann reichert sich der Stickstoff langsam an. Sehr langsam. Doch die Atacama ist nicht nur eine der trockensten Wüsten der Erde, sie ist auch eine der ältesten. Der Stickstoff hatte also Zeit. Mindestens fünfzehn Millionen Jahre, vielleicht sogar noch deutlich länger.23 Da kommt einiges zusammen.
Der Abbau des Salpeters in dieser lebensfeindlichen Umwelt ist hart und gleichzeitig relativ einfach, denn das nitrathaltige Caliche-Gestein liegt nahe der Oberfläche unter einer losen Schicht Geröll, die leicht abgegraben oder gesprengt werden kann. Die rohen Brocken Felsensalz wurden in nahe gelegene Salpeterwerke geschafft, dort grob zermahlen und dann mit heißem Wasser versetzt, um die Salze auszulösen. Dann wurden sie an der Sonne getrocknet, in Säcke verpackt und in den Häfen in Iquique und Antofagasta verschifft.
Schon 1895